Ein Journal
»Man muss im Ganzen an jemanden glauben, um ihm im Einzelnen wahrhaft Zutrauen zu schenken.« Hugo von Hofmannsthal
Vorbemerkung
Das sind Aufzeichnungen aus elf Jahren: Mit- oder Nachschriften von Wahrnehmungen und Anverwandlungen bestimmter Momente der Gegenwart. Und zur Gegenwart – die in mancher Hinsicht unerfreulich genug ist – gehöre die Gegenwelt! Literatur soll das Schöne bekräftigen, und dieses Schöne, Berührende, Berückende findet sich selten mittenmang, häufig am Rand. »Am Rand der Wahrnehmungen« könnten diese Aufzeichnungen also auch betitelt sein. An jenem Rand, an dem die Musik spielt: unserer Existenz, unseres Lebens in und mit der Natur. Im Hier und Da, zu Hause oder auf den wenigen Reisen, die in den Zeitraum dieser Aufzeichnungen fallen. An den Nieder schriften wurde wenig geändert, nur einiges weggelassen. »Aber das sind schwierige Dinge: so schwer, weil sie so einfach sind«, hat Friedrich Kittler einmal gesagt. Den Dingen etwas von ihrer Einfachheit zurückzugeben, war ein Anlass für diese Aufzeichnungen – die für mich nicht vorstellbar sind ohne die Menschen, Orte und Bücher, die darin vorkommen.
Volker Sielaff November 2016
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2004
Unser Bungalow, einer von mehreren auf dem Hügel über der See. Der neurotische bellende Hund, besonders nach ihrem lustvollen Stöhnen. Der Jasmin, von einem Baum hinter der Mauer gepflückt. Die giftige Wolfsmilch, die Zypressen, Oliven bäume, Orangen, Zitronen, Agaven. Der schmale Durchstieg zur Badebucht. Poröser, bröckliger, in Schichten aufeinanderliegender Kalkstein. Oberhalb der Bucht die Fenster, Fensterluken von fern. Der löchrige Zaun vor dem Pinienwäldchen. Während der Fahrt ins Gebirge der Berg (Puig de Galatzó), aus fast jeder Perspektive sichtbar. Sie, auf den K lippen sitzend, zeichnend. Sein Wunsch manchmal, er könne sich ähnlich mit Linien, S trichen, Schraffuren ausdrücken -
Am Morgen steigt die Sonne langsam über den Bergkamm. Die bellenden Hunde. – Er sieht, wie sie sich, nackt vor dem Spiegel stehend, ihren Körper eincremt -
Alles kommt hier ein wenig später an: die deutschen Zeitungen, die Busse (wenn überhaupt), und die kleinen Läden öffnen oder öffnen nicht. Zu dem schweren, süßen und minzigen Duft der
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Vegetation gesellt sich die sanfte Unzuverlässigkeit eines nicht ganz reibungslos funktionierenden öffentlichen Betriebs. Die Mattigkeit mancher Händler gefällt ihm. Das Temperament der Busfahrer, ihre Flüche -
Zeichnet sie, setzt er sich gern in ein nahe gelegenes Café, nah genug, ihr Profil noch erkennen zu können, wenn sie auf den Stufen einer Kirche sitzt, ihren Rücken an eine Mauer gelehnt und die Beine leicht angewinkelt. Er lauscht, im Café wartend, dem fremden Idiom, froh, dass er die Sprache nicht versteht -
Täglich mehrere Male die zweihundert Kalksteinstufen hinunter zum Strand. Die Kakteen im Garten. Und Blumen, die sich jeden Morgen öffnen und abends wieder schließen. Sie: »In der Zeitung ist ein Fisch.« – Weil die Zeitung hier, zusammengerollt und von einem Gummi gehalten, vor die Tür gelegt wird -
Sie lebt im Jetzt, kommt ihm vor. Dagegen er: immer beschäftigt mit Vergangenem und manchmal sich (allzu besorgt?) fragend, was später kommen werde. – »Ich möchte jetzt nicht von anderen reden«, sagt sie. Oder: »Heute bist du ganz bei dir.« Wer ist man also: der, als den man sich selbst sieht, oder der, als den die anderen einen sehen, oder keiner von beiden, ein dritter, heute so und morgen so und übermorgen ...? -
Sie stritten, weil sie Bilder im offenen Gang eines Ateliers stehen lassen wollte. Er befürchtete, dass die Bilder gestohlen werden könnten, und stellte sie ins Atelier zurück. »Das sind meine Bilder!«, sagte sie wütend
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Wieder im heimischen Garten vor ihrem Haus, die Freude, mit ihr bei den Sträuchern und Blumen zu hocken. SchöneGärtnerin! Mit ihrem Fingernagel kratzt sie an der Rinde e ines Strauchgewächses, prüft, ob darunter saftiges Grün oder m orsches Holz hervorkommt -
Der Kellner im Restaurant, seine unbeirrte Höflichkeit angesichts ihres vor ihm ausgetragenen Streits beinahe grotesk. Danach gehen sie zusammen in einen Supermercado, einkaufen. Üppige Auslagen mit fangfrischem Fisch. Draußen ein kleiner Hund, angekettet, zwischen Tür und Tür wie blind hin und her tapsend -
»Stört es dich, wenn ich so viel rede?« »Nein, ich mag es ja, dich dabei anzusehen.« »Aber du hörst nicht zu.« »Doch, ich höre dir zu. Aber nicht ungeteilt. Ich schaue in die Gesichter der Leute, ich sehe, wie die Kinder dort am Brunnen spielen. Ich lausche den Stimmen, sehe die Hunde. Die Sonne. Ich mag es, wie meine Füße auf deinem Arm liegen. Ich nehme alles in mich auf – und dabei höre ich dir auch zu« -
Woher kommen die Orgeltöne, lange tiefe Seufzer am Vormittag in einer kleinen, von einem Wagen der Müllabfuhr zugeparkten Straße? Woher die Stimmen, das Getuschel, das Knistern von Stanniolpapier? Das Klappern von Silberbesteck auf Tellern? Ich schließe meine Augen: Woher kommen die Orgeltöne? -
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Ein Mann tritt aus einem Café. Er hat einen Apfel im Mund. Er geht, den Apfel im Mund, quer über die Straße. Ohne seine Hände zu benutzen. Grün und rund ist der Apfel im Mund des Mannes -
Ein Mädchen, das die Lippen zusammenpresst, als fühlte es sich von jemandem beobachtet -
Der Junge mit dem steifen Bein, ganz in Schwarz gekleidet -
In ihrem Freiheitsdrang ist sie radikal, unerbittlich, gewaltsam. Und vulkanisch in ihren Reaktionen gegen alles, was diesen Drang einzuschränken versucht. Dann wird sie zum Fluchttier -
Ihr Garten: die Zitronenmelisse, der Salbei. Er schneidet die Strünke mit einer Schere, bindet sie zum Trocknen zusammen. Am nächsten Morgen nimmt sie die Strünke von der Gartenbank und hängt sie im Atelier auf -
Sein Aufgehobensein, wenn jeder von ihnen, ohne dass sie miteinander sprechen müssen, seinen Dingen nachgeht. Es genügt ihm, den Raum mit ihr zu teilen -
Über eine Person sagen, dass man nicht über sie sprechen könne.Und zur Antwort bekommen: »Aber du kannst über sie schreiben«
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Geräusch des Regens, Ganzheitsgefühl -
Seit das Kind in ihr wächst, ist sie sorgfältiger, verlässlicher -
Sie war jetzt sein Gesetz, und was auch käme, er wollte es so – sie, mit dem Kind in ihrem Bauch -
In die Lektüre versunken, legte sie, ohne von dem Buch aufzuschauen oder auch nur den Blick zu heben, ihre rechte Hand auf ihren Bauch -
Nicht vor der Dunkelheit hatte er als Kind Angst, sondern vor dem Satz seiner Mutter: »Ich mache jetzt das Licht aus« -
Der Rauch aus dem Schornstein, vom Licht der untergehenden Sonne rot, durchscheinend, flockig -
Lohengrin, Vorspiel: »Ätherische Höhen« (Wapnewski) -
Nur ein schmaler Streifen des Fußwegs vor dem Café auf der anderen Seite liegt im Sonnenlicht, die Fassaden der Häuser sind in schattiges Grau gehüllt. Er steht am Fenster und sieht die sonnenhellen Gesichter der Vorübergehenden, in Licht getaucht -
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Nach dem Herumlaufen in der eisklaren Luft schlüpft sie zu ihm ins Bett und ist mit einem Mal, im Nu, ganz da. Unter der Deck greift ihre kalte Hand nach seiner warmen -
Wie der Rollstuhlfahrer gleichzeitig mit beiden Händen den großen Rädern Schwung gibt und zusätzlich sich mit dem rechten Fuß gegen den Erdboden abstößt. Sein linker Fuß amputiert, an der Stelle blinkt jetzt das Silber einer Metallprothese. Ein Mädchen tritt aus einem Café. Ernster Blick in Richtung des Rollstuhlfahrers. Dann erblickt es seinen Vater, der etwas abseits steht. Sofort hellt das Gesicht des Mädchens sich auf – und es läuft seinem Vater vor Freude hüpfend entgegen -
»Hüte dich vor Menschen, die nur ein Buch besitzen.« Auf der Schiefertafel neben der Tür der Buchhandlung, Thomas von Aquin -
Nachdem er sie zum Abschied geküsst hat: »Ich muss erst einmal wach werden« -
Bevor man das Licht einschaltet, bei geöffnetem Fenster eine geraume Weile in der dunklen Wohnung sitzen und dem Aufbrausen des Windes lauschen -
Die samtweichen Berührungen des Katers, der mit seinen Vorderpfoten nach deiner Hand hascht -
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