סיפור חיים

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Graphic design: Niva Ezuvim

Leitung und Interviews: Motti Margalit Layout: Yehoshua Ashkenazi Grafikdesign und Technik: niva ezuvim, 054-6567209 Druck: Druck der Altstadt (Dfus haIr haAtikah) Doko – Biografien und Gedenkbücher Tel: 1700-50-62-52 www.doco.co.il Mobil: 0523-523-833 Fax 057-9321010 Übersetzung aus dem Hebräischen: Deborah Tal-Rüttger deborah@tal.ruettger.de August 2013


VORWORT

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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.

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Kapitel - Eine Glückssache Kapitel - Das Haus in Czernowitz Kapitel - Kinderspiele Kapitel - Eine Waise, allein in der Welt Kapitel - Gymnasium und erste Liebe Kapitel - Hochzeit und Kriegsbeginn Kapitel - Die Deutschen kommen in die Stadt Kapitel - Der Tod kommt näher Kapitel - Die Wende. Die Deutschen flüchten. Kapitel - Arnold und Schoschanah Kapitel - Die Flucht aus Rumänien Kapitel - „Die Pforte der Einwanderung“ – Scha’ar haAlijah Kapitel - Newe Scha’anan, Jersualem Kapitel - Etan Kapitel - Ein Leben gewidmet dem Ehrenamt und der Familie



VORWORT Als ich im Archiv der Universität gearbeitet habe, fiel mir eines Tages ein Brief der Ofenfabrik aus meiner Heimatstadt Czernowitz (rumänisch: Cernăuţi), adressiert an Adolf Eichmann, in die Hände. In diesem Brief haben die Fabrikbesitzer Eichmann vorgeschlagen, die Fabrik zu kaufen, weil „ihre Verbrennungsanlagen sparsamer im Gasverbrauch und besser als die deren Verbrennungsanlagen seien; man kann viel mehr Juden in die (Cezrnowitzer) Anlage stecken und sie ist dadurch wesentlich billiger.“ Dieser Brief hat mich erschüttert und ich dachte, ich müsste ihn den Mitarbeitern in Yad Vashem zeigen. Ich habe den Brief Yad Vashem geschenkt und später diente er als ein Beweisstück im Eichmannprozess in Jerusalem. Die Jahre vergingen und man hat mich im Yad Vashem Museum nicht vergessen. Man bat mich meine Lebensgeschichte zu erzählen und ich wurde interviewt. Vor Kurzem, und obwohl ich nicht vorhatte eine Biografie zu schreiben, fasste ich den Entschluss die Geschichte eines kleinen Sieges von einem Mädchen zu erzählen, das als Waise die Grauen der Shoa überlebt hat, Menschen gerettet hat und es ihr vergönnt ist, ein hohes Alter zu erreichen und umgeben von einer liebenden Familie zu sein. Eine Geschichte, die es wert ist erzählt zu werden, damit die Familie ihre Wurzeln und ihre Geschichte kennenlernt. Ich danke Frau Cherez, meine Nachbarin im „Hod Jeruschalajim“, für ihre Hilfe bei der Überprüfung des geschriebenen Materials. Ich danke allen, die mir geholfen haben, dieses Buch herauszugeben.



1 Kapitel – Eine Glückssache Ich bin als ein Glückskind geboren. Man kann es nicht anders sehen. Erstens, weil der erste Weltkrieg vorbei war als ich geboren wurde, und zweitens, weil ich das zehnte und das jüngste Kind in der Familie war. Ein Mädchen, das keiner wirklich wollte. Das ist schon ein Glück, oder? Wenn ich noch hinzufüge, welche Wunder mir während der Shoa geschehen sind, kann ich mich wirklich als jemand sehen, über den von oben gewacht wurde. Ich bin im Mai 1919 in Rumänien, in einem kleinen Dorf Namens Putna, geboren. Es war ein armenisches Dorf, historisch-religiös. Es lebten dort etwa 1000 Menschen. Uns, den Juden, ging es gut in Putna, denn das Dorf war umgeben von weiten Wäldern und die Häuser wurden aus dem Holz dieser Wälder gebaut. Die Juden im Dorf waren alle Holzhändler. Sie hatten Holzfabriken, Sägewerke und Transportunternehmen um das Holz über das Schwarze Meer zu bringen. Wir hatten ein üppiges Auskommen. Wenn ich von den Juden in Putna spreche, meine ich hauptsächlich die Familie meines Vaters, Familie Dollberg, mit ihren 14 Brüdern und deren Kindern, die alle im Baugeschäft tätig waren und das Auskommen gerecht unter einander teilten. Übrigens, später wurde mir das übliche Geschäftsgebaren deutlich: Die Juden, darunter auch mein Vater, spendeten den Kirchen großzügig und als Gegenleistung bekamen sie Konzessionen für das Baumfällen im Wald. Ich wurde von einer Frau geboren, die Rosa – Rejsel, geborene Tannenzapf, hieß und, die schon zwei Töchter und einen Sohn aus


einer früheren Heirat mit einem Mann namens Sabath hatte. Meine Mutter war eine moderne Frau, die sich wie eine Prinzessin kleidete. Als sie Witwe wurde, zog sie mit ihren drei Kindern auf den elterlichen Hof nahe beim Dorf. Der Vater meiner Mutter hieß Salman-Shaul und er war ein großer und starker Mann mit einem weißen Bart. Auch er starb jung und hinterließ eine junge, kinderreiche Witwe.

Meine Eltern als die etwa zwanzig Jahre alt waren

Ich kann mich kaum an diese Frau, meine Großmutter, erinnern, denn sie war schon sehr alt als ich geboren wurde. Sie hieß Himmler und ich habe mehrfach versucht zu klären, warum sie ihren Namen nicht geändert hat. Ein Photo von ihr hing in unserem Haus, das sie mit einem Kopftuch, vorn gebunden, zeigte. Sie ist nie barhäuptig gewesen, da die ganze Familie religiös war und es eine Blamage war, nicht religiös zu sein. Sie war 80 Jahre alt als sie photographiert wurde. Dem Vernehmen nach war sie eine sehr starke Frau, die sehr gut wusste wie man die Kinder erzieht und den Laden für Arbeits- und


Landwirtschaftsgeräte führt, die ihr Mann ihr hinterließ. Nach den Unterlagen der Chevra Kadischa, liegt der Vater meines Großvaters hier, auf dem Skopusberg begraben. Vor 20 Jahren hat mir ein Cousin geholfen sein Grab dort zu finden. Mein Vater hieß Fiebel Dollberg. Er war ein großer, schöner und würdevoller Mann. Dollberg war zuerst mit einer Frau aus dem Hause Gutmann verheiratet, die ihm drei Kinder gebar, bevor sie an der Tuberkulose gestorben ist. Die Heiratsvermittler im Dorf haben das Natürlichste getan: Sie sorgten für die Verbindung zwischen der Witwe mit ihren drei Kindern und dem neu verwitweten Mann mit seinen drei Kindern. Das neue Paar baute sich ein Haus und vergrößerte die Familie mit weiteren Kindern.

Meine Eltern nach ihrer Hochzeit, in den 30ger Jahren

Das Leben verlief ruhig, anscheinend sogar glücklich und im Wohlstand. Dieses Idyll wurde jäh im Ersten Weltkrieg zerstört. Mein Vater, der kein hoher Offizier in der rumänischen Armee werden konnte, da es Juden nicht gestattet war auf der militärischen Karriereleiter hochzusteigen, wurde an die Front in Serbien geschickt.


Er kehrte heil zur Mutter zurück, die auf ihn zu Hause mit den vielen Kindern gewartet hatte, und das Leben ging wieder seinen ruhigen Gang bis auf einen herausragenden Unterschied: Ich kam auf die Welt als die gemeinsame Tochter von Witwer und Witwe, das zehnte Kind im Haus und, wie es schien, das am wenigsten nützliche von allen Kindern. Sechs Jahre waren nun schon seit dem Ende des Ersten Weltkrieges vergangen; die Kinder sind älter (ich bin schon fünf) und Vater Dollberg beginnt sich um ihre Ausbildung und ihre Zukunft Gedanken zu machen. Dollberg kam zu dem Entschluss, dass es am Besten für die Kinder sei, wenn sie in dem nahen Städtchen Czernowitz zur Schule gingen. Damit sie nicht den Verlockungen der Stadt erlegen, beschloss er, dass die ganze Großfamilie nach Czernowitz umzieht. Wie es scheint, hatte Vater viel Geld, denn er kaufte von einem Grafen aus einer Adelsfamilie ein großes und schönes Haus in Czernowitz.

Mutter, ca. 1932

Czernowitz war eine österreiche Stadt, die früher unter rumänischer Verwaltung stand. Nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt (23. August 1939), die Außenminister Deutschlands und Russlands, die die Beute unter sich teilten, kam Czernowitz unter ukrainischer Herrschaft. Als das geschah, begannen die Probleme. 10


2 Kapitel – Das Haus in Czernowitz Inzwischen, bis der Tag kommt und wir als Waisen in einer Welt stehen werden, die ihren Verstand verloren hat, verläuft für uns das Leben in Czernowitz angenehm und befriedigend. Wir hatten ein großes und schönes Haus, die Familie war geschäftlich erfolgreich, meine Brüder gingen ihre Studien nach und ich folgte ihnen – Kindergarten, Grundschule und Gymnasium. Unser Haus in Czernowitz war schön und beeindruckend. Man betrat das Haus durch einen Hof, der einen Metallzaun hatte. Man schritt weiter durch einen Eingang bis zu einer Wand aus buntem Glas und Treppen, die in zwei Richtungen führten: nach oben zum zweiten Stock und nach unten zu unserem Haus.

Zweite von links: ich mit Nachbarskindern aus Czernowitz

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Das Haus hatte eine hübsche Küche, ein elterliches Schlafzimmer und ein großes Esszimmer – alle diese Zimmer hatten Möbel, die speziell aus Wien importiert wurden. Es gab auch ein Kinderzimmer, einen Platz oben für meine Schwester mit ihrer kleinen Tochter und ein Zimmer für das Hausmädchen, das bei uns lebte. Ich erinnere mich, dass als die Eltern gestorben waren, das Hausmädchen angefangen hat zu stehlen. Als wir sie dabei erwischt haben, brachten wir sie zu meinem Bruder, Heinrich, der ihr eine Ohrfeige verpasst hat. Sie lief davon und kam nie wieder zurück. Die Küche, obwohl sehr schön, verfügte nicht über den heutigen Luxus; aber es gab eine Wasserpumpe in der Küche, denn Vater weigerte sich den Brunnen im Hof zu benutzen. Nicht, dass das Brunnenwasser nicht gut war, aber eines Tages hat mein Vater mich gesehen, wie ich mich neugierig zu tief in den Brunnen beugte und in dem Moment verschloss er den Brunnen endgültig. Später haben wir eine Wasserleitung einbauen lassen, aber nur für kaltes Wasser. Es gab schon Strom aber nicht bei uns in der Küche. Stattdessen hatten wir einen großen Herd, der ein Viertel des Raumes in Anspruch genommen hat, und der mit Holz gefüttert wurde, das einmal im Jahr gebracht und im Keller aufbewahrt wurde. An Schabbat haben wir das Holz nicht angezündet und riefen das Hausmädchen, dies zu tun. Wir kannten damals weder Kohle noch Gas. Es war ein großer Herd; in dessen Mitte steckte man das Holz hinein und oben gab es Metallringe für die Kochtöpfe. Das Spülbecken hatte einen Wasserhahn. Mir erlaubte man nicht das Geschirr zu ordnen, weil ich die Spüllappen manchmal verwechselt habe und so milchiges und fleischiges im Spülbecken durcheinander gebrachte habe. Mein Vater sorgte dafür, dass im Samowar immer Wasser für den Tee vorhanden war. Er teilte jedem ein Glas mit Teeextrakt aus, denn 12


es gab noch keine Teebeutel. Jeder bekam auch einen Zuckerwürfel; meistens wurde er gelutscht, um das bittere Getränk zu süßen. Um zu baden wurde eine schwere Badewanne gebracht, die so schwer war, dass zwei sie tragen mussten. Da es kein Badezimmer gab, wurde in der Küche gebadet. Das Hausmädchen Antschka und meine Schwester haben die Wanne mit heißem Wasser gefüllt. So haben wir darin gebadet und gleichzeitig das Haus geheizt. Im großen Hof hatte Vater Apfel- und Birnbäume gepflanzt, deren Ertrag so reich war, dass es für das ganze Jahr reichte. Was wir nicht essen konnten haben wir im Keller für den Winter aufbewahrt. Dort hatte Vater saure Gurken eingelegt und aufbewahrt. Wer von den sauren Gurken oder von dem Obst essen wollte, ging in den Keller und nahm davon. Der Keller diente auch als Kühlschrank für unsere Lebensmittel, da es dort kalt war. Wir pflegten Pfannkuchen aus gekochten Kartoffeln und Eiern zu backen. An Pessach haben wir die Pfannkuchen mit Mazzemehl gemacht uns sie gebraten. Wir hatten Borscht gekocht, eine Suppe aus Roter Bete, stellten die Töpfe an die Fenster, damit die Hitze die Suppe säuert. Anschließend wurde der Borscht über das rote Fleisch gegossen. Wein haben wir zu Kiddusch und zu festlichen Anlässen getrunken; an Wochentagen begnügten wir uns mit Kaffee. Die Erwachsenen bereiteten sich morgens Kaffee und wenn jeder seinen Kaffee haben wollte, entstand ein Morgenlärm, der mich immer aufweckte. Pessach war für mich ein besonderer Feiertag. Die Stimmung im Haus änderte sich und alles wurde festlicher. Die Küche verfügte über Pessachgeschirr und über anderes Geschirr für das Jahr über. Ich habe das geliebt, weil das Pessachgeschirr immer wie neu war, 13


da es nur an Pessach verwendet wurde. Vater und die Söhne haben die Haggadah gelesen und wehe, wenn mein Bruder Heinrich Faxen machte während Vater sein Anteil an der Haggadah gelesen hat. Obwohl wir Deutsch sprachen, war die Haggadah nur in Hebräisch, ebenso die Gebetbücher. In 1926 hat Vater ein Gebetbuch für Mutter gekauft, das in Hebräisch und Deutsch geschrieben war. Ich erinnere mich, dass dieses Gebetbuch einen Umschlag aus Elfenbein mit einem goldnen Schlüssel und einem fein gestalteten Schloss hatte. Ich habe so sehr dieses Gebetbuch aufbewahren wollen, doch es verschwand einfach, als wir im Ghetto waren.

So wie wir Pessach genauestens gehalten haben, so wussten wir auch Purim zu feiern. Zu uns ins Haus kamen immer Juden aus dem Städtchen und der Umgebung und alle verkleideten sich auf lustige Art. Eines Tages, ich war schon 12 oder 13 und Waise, lief ich mit den verkleideten Kindern und überhörte, wie eine Frau sagte, dass sie mit mir Mitleid hat, weil ich niemand habe, der für eine Verkleidung für mich sorgen kann. Ich weiß nicht, warum sie das sagte, denn ich war genauso verkleidet wie die anderen. Wir haben in Jiddisch gesungen: „Purim ist schön wie ein Engel, wo ich feiere falle ich hin, 14


heute ist Purim, morgen ist er vorbei, gib mir Geld und schmeiß mich heraus.“… Das haben wir gesungen, um die Leute zum Lachen zu bringen. Es gab Schlachmones (Geschenksendungen zum Purimfest) und man bereitete viele süße Sachen vor. Überhaupt, wie ich schon sagte, war das Leben damals heiter. Mutter arbeitete zu Hause nicht, weil sie eine „Lady“ war. Ihre Aufgabe war es, das Hausmädchen zu beaufsichtigen. Sie überprüfte die Schränke, ob alles ordentlich war. Sie nahm saubere oder auch schmutzige Wäsche und band Seidenbänder in blau oder rosa daran, damit wir und das Hausmädchen wussten, welche Wäsche sauber ist und welche Kleider noch behandelt werden mussten. Das Hausmädchen, wie ich schon erwähnte, war in die Familie integriert. Sie konnte es nicht ausstehen, dass mein Bruder Heinrich ein wenig ungezogen war und sie manchmal in den Wahnsinn getrieben hat. Ich erinnere mich, dass das Hausmädchen einmal Teigtaschen bereitete und eine davon mit scharfer Paprika gefüllt hatte. Sie legte diese Teigtasche oben auf den Haufen der Teigtaschen, damit Heinrich genau diese nehmen sollte. Wir wussten von der scharfen Teigtasche und warteten belustigt, um zu sehen, was dem Heinrich geschehen und wie der Krieg zwischen den Beiden weitergehen würde. Außer dem Hausmädchen arbeitete bei uns ein Deutscher namens Andreas, der für den Garten, die Hühner und das Brennholz zuständig war. Er hat immer geschrien, dass der Hof unordentlich ist, obwohl er gerade aufgeräumt hätte. Als die Deutschen kamen, haben wir ihn zu unserem Haus kommen sehen und waren sicher, dass er uns umbringen würde. Als er vor der Tür stand, sagte er, dass seine Mutter ihn geschickt hätte, um uns zu schützen.

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3 Kapitel – Kinderspiele Als wir nach Czernowitz kamen, war ich, wie gesagt, fünf Jahre alt und wurde zunächst in einen jüdischen Kindergarten geschickt. In diesem Kindergarten gab es keine Spiele und wir mussten Lieder in Jiddisch singen, die ich nicht kannte, also wollte ich dort nicht bleiben. Als die Familie erkannte, dass ich dort wirklich nicht gern war, wurde ich in einen anderen Kindergarten geschickt: ins Kloster. Dort hat es mir gut gefallen, doch die Party war vorbei als Gäste ins Haus kamen und meine Eltern fragten, wo ich lerne. Ich zeigte ihnen das Kreuzzeichen mit der Hand. Es war eine große Blamage für die Familie und sie nahmen mich sehr schnell aus dem Kloster heraus.

Ich mit drei Jahren

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In der ersten Klasse besuchte ich eine Schule, die 10 Minuten Fußweg von meinem Haus entfernt war. Von dieser Schule habe ich bis heute noch Freundinnen. In der Schule waren mir alle fremd und ich war an die Gesellschaft von Kindern nicht gewohnt, da ich bis zum Alter von fünf Jahren die meiste Zeit zu Hause und nicht im Kindergarten war.

Ich in der Volksschule von Czernowitz, 4. Klasse, ca. 1928

Außerdem hatte ich von Kindheit an Probleme mit den Füßen, und bis wir in Czernowitz ankamen bin ich deswegen kaum gelaufen. Eines Tages habe ich zwei Bretter von Arbeitern, die in unserer Nähe gearbeitet haben, genommen und bastelte daraus Gehstützen. Als ich damit ins Haus kam gab es ein großes Freudengeschrei, auch ich schrie, dass „ich gehen kann!“ Wenn ich heute daran denke bekomme ich immer noch Gänsehaut. Als ich mich an die Kinder in der Schule gewöhnt hatte, habe ich begonnen sie mit Spielen aus meiner Fantasie zu beschäftigen. Zum 17


Beispiel, habe ich nach dem Unterricht eine „Klasse“ eingerichtet und lehrte meine neuen Freunde allerlei über den Schulstoff und über Spiele. Wir haben stundenlang im Hauseingang gesessen, den mit dem bunten Glas, der wie ein geschlossenes Zimmer aussah. Die Kinder kamen gern und auch die Eltern waren zufrieden. Es gab dort ein Kind, Herschelle, mit dem ich nichts anzufangen wusste, da er noch ein Kindergartenkind war und wir schon in der ersten Klasse waren. Ich habe zu ihm gesagt: „Herschelle, du wirst der Klassendiener sein.“ Er rannte davon. Gerschon, der jüdische Ladeninhaber von nebenan, hat ihn gesehen und gefragt, was los sei, und er antwortete, dass ich will, dass er ein Diener sein sollte und er will das nicht … Die Kinderspiele fanden im Hausgarten statt. Der Garten war so groß, dass man sich dort leicht verstecken konnte. Wir hatten einen Holzhaufen, der für den Winter bestimmt war, und daneben war viel Platz zum Spielen und eine Schaukel, die für uns errichtet wurde. Neben der Schaukel haben wir Theaterstücke aufgeführt, die wir im Theater gesehen hatten. Ich pflegte die Kinder „zu baden“. Eine neue Badewanne wurde angeschafft, weil die alte Badewanne nicht mehr gut war und im Garten blieb. Aus dieser Badewanne habe ich ein „Spa“ gemacht und verlangte von den Kindern Geld, die darin sitzen wollten. Meine Schwester hörte, dass ich Geld nehme, und bat Vater um Geld, damit sie auch in diese Wanne einsteigen könnte. Vater hat die Geschichte gehört, wurde sehr ärgerlich über mich und verdarb mir das Geschäft, das ich gegründet habe.

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4 Kapitel – Eine Waise, allein in der Welt Die Freude im Haus hielt nicht lange und der Witwer und die Witwe (meine Eltern), die gegenseitig Trost in den Armen des anderen gefunden hatten, starben. Der erste, der erkrankte war Vater und die Untersuchungen ergaben, dass er an Krebs erkrankt war. Mein großer Bruder fuhr mit ihm nach Wien um Heilung zu finden. Doch die Ärzte in Wien wussten damals noch nicht wie mit der Krankheit umzugehen sei, und er bekam nicht die erforderliche Pflege. Kurze Zeit nachdem der Krebs beim Vater erkannt wurde erkrankte plötzlich auch Mutter. Es geschah als meine große Schwester Elsa zu Hause eine Tanzparty für ihre Freundinnen geben wollte und Mutter dem nicht zustimmte. Elsa, die für ihren schlechten Charakter bekannt war, ohrfeigte Mutter so stark, dass Äderchen geplatzt waren und sie ein Bluterguss im Gesicht hatte. Es stellte sich heraus, dass auch bei Mutter anscheinend der Krebs schon vorhanden war, aber diese Ohrfeige löste die Krankheit aus. Ich erinnere mich an den Tag, als Mutter schon auf dem Boden lag und man mich im Zimmer eingesperrt hatte, damit ich sie so nicht sehe.

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Vater und Mutter in ihren späteren Jahren

Meine Mutter starb 1931, mit nur 51 Jahren und ich war erst 10 Jahre alt. Ihre Beerdigung war geordnet und schön, denn Vater sorgte dafür, dass ihr Grab mit schönen tschechischen Steinen geschmückt war. Vater selbst lebte noch vier Jahre mit uns bevor auch er starb.

Mein Bruder Emil

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Heinrich mit seiner Lebensgefährtin

Robert und ich im weiĂ&#x;en Kleid, etwa 12 Jahre alt

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Meine Schwester Elsa

Emil und ich in Czernowitz 1938

So war ich schon im Alter von nur 14 Jahren Vollwaise. Die meisten meiner Geschwister waren schon verheiratet. Zuhause blieb ich mit Robert und Heinrich, die mich sehr verwöhnten, und mit noch einer Schwester, die mir in schlechter Erinnerung geblieben ist, Elsa. Heinrich war sieben Jahre älter als ich und als wir Vollwaisen wurden ging er noch zur Schule. Zu meinem Bedauern starb er ein Jahr später. 22


5 Kapitel – Gymnasium und erste Liebe In das Gymnasium kam ich wieder als neue Schülerin und habe wieder niemand gekannt. Ich war schon Vollwaise. Es waren meine älteren Brüder, insbesondere Robert, der den Haushalt führte, die darauf geachtet haben, dass ich ordentlich in das Gymnasium ging. In jenen Jahren haben wir in der Schule Metrologie, Psychologie und viel Latein gelernt. Die Rumänen wollten das damals so, aus der Vorstellung heraus, dass sie dem ‚lateinischen’ Volk näherstehen als den Russen oder den Polen. Es gab damals eine Art „Romanisierung“, eine Art Nationalismus. Bis heute kann ich lateinische Verse rezitieren, weil unsere Lehrerin, Frau Karol, mir Latein eingetrichtert hat, was bis heute anhält. In der Schule haben wir Schuluniformen getragen. Diese ähnelte den Schuluniformen, wie sie bei den Österreichern üblich waren: dunkelblaue Bluse und Rock; der Rock war ein Faltenrock und die Bluse hatte einen Matrosenkragen. In den letzten zwei Schuljahren herrschte die italienische Mode in der Schule. Die Schuluniform bestand aus schwarzem Satin mit weißer Stickerei. Es gab keine besonderen Schuhe aber wir mussten ein schwarzes Haarband aus einem weichen, angenehmen Stoff tragen und wehe, wenn wir ohne dieses Haarband gesichtet wurden. Wir hatten auch eine Nummer, gestickt in der goldenen Farbe der Schule. Es war keine jüdische Schule aber auch Jüdinnen besuchten sie. Es war ein Lyzeum. Wenn die Lehrerin die Klasse betrat, standen wir alle auf bis man 23


die Erlaubnis bekam, sich wieder hinzusetzen. Wir haben die Lehrer Herr und Frau genannt. Strafen schlugen sich in den Noten wieder. Ich, z.B., bekam eine Strafe, weil ich mit einer Gruppe Mädchen am Nachmittag ins Theater gegangen bin und die Schulsekretärin sagte, sie hätte mich gesehen. Als Strafe wurde ich für eine Woche aus dem Schulunterricht ausgeschlossen, was einen großen Lernverlust bedeutete. Um 8.00 Uhr begann der Unterricht und man durfte nicht zu spät kommen. Eine Glocke verkündete Anfang und Ende der Unterrichtsstunde. Der Unterricht endete um 13.00 oder 14.00 Uhr und freitags um Mittag. Auch am Samstag fand der Unterricht statt und nur am Sonntag hatten wir frei. Es gab religiöse Mädchen, die am Schabbat nicht geschrieben haben, so wie die Tochter des Oberrabbiners. Sie bestand darauf am Schabbat nicht zu schreiben. Ihren Vater haben die Rumänen als ersten von allen Juden in der Gegend getötet. Als wir 16-17 Jahre alt waren ging es mit den Partys los. Es gab einen Studentenklub und ich begann Angebote für Freundschaften mit Jungen zu bekommen. Es gab Bälle und eine Tanzschule und ich lernte zu tanzen. Bei uns im Haus erschienen jüdische Burschen, die eine besondere Studentenmütze trugen, mit einem kleinen Schirm, der die jeweilige Zugehörigkeit zu einem Studentenklub zeigte. Jeder Studentenklub hatte seine eigenen Farben. Sie kamen zu uns nach Hause mit Einladungen zu Aktivitäten und Tänzen, die immer in den jeweiligen Klubfarben waren. Ich hatte auch christliche Freunde, die später nicht mehr mit mir reden wollten, damit man nicht annehme, wir gingen miteinander. Ich schloss mich der Jugendbewegung „Lewanonijah“ an und später der hebräischen „Chaschmonijah“. Der Sportplatz hieß damals „Makkabi“ und als die Deutschen kamen, haben sie meine Freunde dorthin versammelt, weil es der größte 24


Platz war – und dort haben sie alle umgebracht. Das Gymnasium beendete ich 1938, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Abschlussexamen fanden schon im Krieg statt. Robert hatte mir nicht erlaubt mit dem Lernen aufzuhören und schickte mich zu Privatlehrern. Bei einem von ihnen – Frau Grossmann, gab es einen wunderbaren Preis, wenn man im Englischunterricht erfolgreich war – eine schöne Portion Schokolade. Nachdem ich viermal die Woche zum Unterricht gegangen war, entstand die Notwendigkeit einer Zahnbehandlung wegen der Schokolade. Auf dem Weg zum Zahnarzt bemerkten meine Freundinnen und ich einen jungen Mann, der seine Augen nicht von mir lassen konnte. Meine Freundinnen kannten ihn und stellten uns einander vor. Von dem Tag an verfolgte er mich und wollte mich heiraten. Er hieß Edmund Fischer. Er war natürlich Jude, 1,70 m groß und als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, war ich sehr beeindruckt, denn er sah aus wie Kinostar. Er kam aus einem guten Haus, aber ich kannte die Familie als eine, die sich für ‚High Society’ hielt ohne einen Groschen zu besitzen, und ich erinnerte mich, dass seine Mutter und die Schwestern Kreuze am Hals trugen. Die Hochzeit fand sehr bescheiden und ohne eine große Zeremonie auf dem Rathaus statt. Anwesend waren nur seine kranke Mutter und einige seiner merkwürdigen Schwestern. Den Rabbiner konnte man kaum sehen, da er sich hinter einem Wandschirm fast versteckt hatte. Wir wurden im Rathaus registriert, unterschrieben die Dokumente und bekamen die Heiratsurkunde. Eine richtige Hochzeit hatte ich mit einem anderen Mann, nach dem Krieg.

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6 Kapitel – Hochzeit und Kriegsanfang Am 1. September begannen plötzlich die Polen aus ihrem Land zu fliehen und kamen durch unsere rumänische Stadt Czernowitz. Wir wussten, dass es eine Folge des Ribbentrop-Molotow-Abkommens war, das den Anfang der Tragödie in Czernowitz einleitete. Die Russen bekamen Besitzrecht in der Stadt und russische Soldaten siedelten sich darin an. Sie begannen Einwohner nach Sibirien zu schicken, um ihnen die Häuser abzunehmen. Der Krieg selbst hatte uns noch nicht erreicht und wir haben die Katastrophe noch nicht kommen sehen. Wir haben uns weiterhin in Jugendklubs vergnügt ohne zu begreifen, dass man dabei war uns aus unseren Häusern zu vertreiben. Genau in dieser Zeit buhlte mein zukünftiger Mann, Edmund, um mich. Noch vor dem Krieg hatte er den Russen einen Brief geschrieben, in dem er erklärte, er sei bereit freiwillig in die russische Armee einzutreten. Wahrscheinlich hatte er diesen Brief ohne zweimal zu denken geschrieben, und dafür teuer bezahlt. Für mich bedeutete dieser Brief ein großes Glück. Seinetwegen bekam ich später Arbeit, dann eine Wohnung. Dank dieses Briefes ist es mir gelungen mich und einige Familienmitglieder vom grausamen Todesschicksal auf dem Höhepunkt der Shoa zu retten. Nach der Hochzeit mit Edmund wurde ich schwanger. Er bekam Arbeit als Direktor eines Kurhauses in Slawa im sowjetischen Gebiet und wir mussten dorthin umziehen. In jenen Tagen lebten wir in großer Angst, nicht vor dem Tod sondern vor der Verschickung nach Sibirien, wie es vielen Juden ergangen ist, deren Häuser die Russen haben wollten. Die Monate gingen im Schatten des Krieges 26


vorüber, bis mich Edmund eines Abends tränenüberströmt rief. Die Russen hatten sein freiwilliges Angebot sehr ernst genommen und am folgenden Tag rückte er an die Kriegsfront aus. Ein russischer Offizier erschien im Kurhaus und fragte ihn nach seinem Namen. Als er mit „Edmund Fischer“ geantwortet hatte, sagte der Offizier: „Sie sind eingezogen.“ Als Edmund in den Krieg zog waren wir weniger als ein Jahr verheiratet, und es war auch das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Es gab welche, die zurückkamen, doch er kam nie zurück. Manchmal dachte ich bei mir, er sei einfach dort geblieben und lebte mit einer Anderen. Er kehrte nicht zurück, und ich blieb allein; eine junge Frau mit fortgeschrittener Schwangerschaft und konnte nirgendwohin gehen. Als Edmund zum Militärdienst eingezogen wurde, bekam ich Arbeit in einem Büro, in dem man Passports ausstellte. Eines Tages bricht der Krieg aus und ein Tumult entsteht. Menschen holen ihre Passporte ab, laden ihr Hab und Gut auf Pferdewagen und gehen weg. Plötzlich steht vor mir ein Arzt, der mit Edmund im Kurhaus gearbeitet hat und Rotes Kreuz Besuche durchgeführt hat. Ich habe ihm Edmunds Brief an die Russen gezeigt und er sagte, ich solle schnell die Stadt verlassen und zurück nach Czernowitz gehen. Ich sagte ihm, ich sei schwanger und werde aus Slawa bis zur Geburt nicht weggehen. Doch er hörte mir gar nicht zu. Er rief einen Wagen heran, setzte mich darauf, stellte meinen Koffer dazu und befahl dem Kutscher mich sofort von Slawa wegzubringen. Anscheinend wusste dieser Arzt etwas, was die anderen nicht wussten, denn nach zwei Tagen blieb kein Jude in Slawa übrig, weil alle an einen unbekannten Ort gebracht wurden. Der Kutscher stieß einen Pfiff aus und die Holzräder des Wagens 27


bewegten sich. Wir kamen vorwärts und die fliehenden Russen kamen uns entgegen. Ein Russe hielt uns an und sagt zu mir: „Wir haben dich nicht überfahren, aber es kommen nach uns Panzer und sie werden dich mitsamt dem Wagen platt fahren.“ Ich stieg vom Wagen in einen Kanal ab und ging von dort in den Wald und begann fast 17 Kilometer den Weg nach Czernowitz zu laufen. Plötzlich gab es ein Höllenlärm über mir –eines nach dem anderen sanken Flugzeuge herab, warfen Bomben und setzten alle Wälder in Brand. Ich lief schnell durch die Bäume und versuchte nicht gesehen zu werden und war von den Bombenschlägen erschrocken. Als ich das Haus in Czernowitz erreicht hatte, fand ich heraus, dass die Russen die Stadt schon verlassen, und die Deutschen sie noch nicht eingenommen hatten. In der Zwischenzeit, riefen die Deutschen die Rumänen dazu auf, so viele Juden zu töten wie sie können. Die Rumänen hatten jedwede menschliche Würde verloren. Sie vergaßen, wer ihre Nachbarn waren, wer ihnen immer geholfen hatte, und wer lange Jahre ihre Freunde waren. Die ganze Nacht suchten die Rumänen Juden in der Stadt. Sie zerrten sie aus ihren Häusern, zogen sie aus den Betten auf die Erde wie Lumpen und brachten sie um. Am Morgen danach kamen die Rumänen auch in unsere Villa. Zum Glück haben sie gedacht wir wären Rumänen, da wir wie sie Rumänisch sprachen, und sie mit der Mesusah und andere Symbolen nichts anfangen konnten. Sie schrien, wir sollten die Tür aufmachen und meine Schwester Elsa, die es geschafft hatte, ruhig zu wirken, hat ihnen im freundlichen Ton vorgeschlagen: „Kommt doch herein zu uns.“ Sie gab ihnen zu trinken und bewirtet sie mit gezwunger Freude. Diese Rumänen saßen bei uns und sagten: „Wir sind müde. Die ganze Nacht haben wir Juden umgebracht.“ Ich hatte keine Wahl; auch ich habe mein Zimmer verlassen und spielte vor, dass ich mich wirklich freue sie zu sehen – bis sie weggegangen waren.

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7 Kapitel – Die Deutschen kommen in die Stadt Als die Deutschen in die Stadt kamen, haben wir schon gehört, dass sie Rabbiner Mark umgebracht hatten. Schon in den ersten Stunden holte man die Reichen aus ihren Häusern, band sie an Pferdewagen und begann, sie durch die Stadt zu hetzen. Man erzählte sich, dass die Deutschen getöteten Menschen in Haufen auf Wagen gebracht hatten, um uns zu demoralisieren. Sie gingen von Haus zu Haus und brachten die Juden um, die sie dort fanden. Unser Haus stand geschlossen hinter einem hohen Zaun und wir sahen, wie sie versuchten hinein zu kommen. Wir hatten furchtbare Angst, doch zum Glück gingen sie weiter. Oktober 1941. Der Winter nahte und somit der Geburtstermin. Eines Tages kam der Befehl von den Deutschen unser Haus bis 17.00 Uhr desselben Tages zu verlassen und in das jüdische Viertel von Czernowitz, das zu einem hermetisch geschlossenen Ghetto wurde, umzuziehen.

Personalausweis im Ghetto Czernowitz

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Wieder hatte ich Glück in all dieser Tragödie, dass die Schwiegermutter meiner Schwester Anna, d.h., die Mutter ihres Mannes Julius, ihre Wohnung seit jeher im oberen Teil eines großen Wohnhauses in dem Viertel, das nun Ghetto geworden ist, hatte. Sie wohnte dort mit meiner Schwester und deren Mann. Es kamen noch mehr Menschen und wir alle wohnten in kleinen Zimmern. Wir hatten Glück dort zu wohnen, weil die Rumänen den unteren Teil des großen Hauses in eine Tierklinik umwandelten und so konnten wir uns leichter verstecken. Mein Mann Edmund kam nicht aus dem Krieg zurück und ich war schon im Ghetto kurz vor der Geburt. Als meine Zeit zu gebären kam, wurde ich in ein improvisiertes Krankenhaus in Czernowitz gebracht, das ebenfalls früher ein Haus einer reichen Familie gewesen war, die fliehen konnte. Die Hebamme schrie mich in der Nacht an und ich war allein; auch als ich später mitten in der Geburt ohnmächtig wurde, war sie nicht zu sehen. Später erzählte man mir, dass sie ihre Akten ordnen gegangen war, weil die Deutschen gekommen und sie mitgenommen hatten. Am Morgen stand ein Arzt bei mir und auch Julius, Annas Mann, war dort, der es wagte zu kommen, da er keine Angst hatte auf die Straße zu gehen. Er kam mit einer Decke von zu Hause und einer sehr großen Thermoskanne Kaffee, den er über die mitgebrachten Decke verschüttete. Meine erste Tochter, Schoschana, wurde in jener Nacht geboren, dem 28. November 1941; eine besonders kalte Novembernacht. Damit Ordnung herrschte, teilten uns die Deutschen Personalausweise aus. Wer diese verloren hatte, verlor das Recht zu Leben. Dazu erlaubten sie uns sogar das Ghetto zu verlassen, damit jeder seine Dokumente holen konnte, die er zu Hause hinterlassen hatte. Ich beeilte mich die Dokumente zu holen aber als ich das Haus erreichte 30


war ich entsetzt. Wir hatten zu Hause eine schöne und ordentliche Bibliothek und als ich bei diesem kurzen Besuch dem Haus näher kam, habe ich alle Bücher verstreut im Schnee im riesigen Garten gesehen. Die Razzien, die Todestransporte hörten damals im Ghetto nicht auf. Alle paar Tage sammelten die Deutschen die Juden im Zentrum des Ghettos und schickten sie auf Transport. Zu unserem Glück, hat man uns nicht abgeholt, weil der Mann meiner Schwester Anna ein Bahnexperte und die Deutschen ihn wahrscheinlich gebraucht haben. Er meldete auch mich und Schoschana als Familienangehörige an und so haben wir „Immunität“ genossen und unsere Namen wurden nicht aufgerufen, um in die Lastwagen einzusteigen. Das Leben im Ghetto war sehr hart, da es kein Essen gab und keine Bedingungen, ein Neugeborenes zu betreuen – wir mussten die ganze Zeit improvisieren. Wir hatten z.B. keinen Tee – also rieben wir Möhren auf einer Reibe und bereiteten damit, wie einen Teeextrakt, einen Ersatztee. Die Wahrheit ist, dass es uns an Geld nicht mangelte, aber man konnte wegen der schrecklichen Angst nicht einkaufen gehen. Ich hatte eine kleine Tasche mit allerlei Frauenartikeln wie Parfüm und Schminke. Es gab eine junge Frau dort, die diese Sachen sehr gern hätte. Wir schlossen ein Abkommen: Jedes Mal, wenn sie Milch für das Kind brachte, bekam sie etwas aus der Tasche. So hatte ich eine kontinuierliche Milchversorgung für Schoschana. Die ganze Zeit haben wir versucht herauszubekommen, was mit unserer Familie geschehen war. Wir wussten, dass mein Bruder, Salomon, umgebracht wurde und, dass seine 12 Jahre alten Söhne zur Zwangsarbeit als Baumfäller in die Wäldern geschickt wurden. Ich brauchte dieses Holz für Schoschana, weil sie weder ein eigenes Bett noch einen Kinderwagen hatte und ständig auf den Armen getragen 31


wurde. Die Söhne des ermordeten Bruders gaben mir eine bestimmte Adresse von einem, der Holz aus dem Müll sammelte. Dort habe ich sie vorgefunden, mit ihm zusammen Karten spielend. Ich konnte kaum glauben, wohin ich für ein bisschen Holz gekommen war, so weit weg von der Wohnung an einen elenden und furchterregenden Ort. Ich lief mit Schoschana auf den Armen und es begann zu dunkeln und es war kalt. Ich wollte nach Hause und es war alles frostig und ich hätte mit dem Kind hinfallen können, also ging ich langsam und deswegen hat man mich festgehalten, wie ich auf der Straße zur späten Stunde lief, da es verboten war draußen zu sein. Diejenigen, die mich festgehalten hatten wollten mich zur Polizei bringen, aber schafften es nicht. Sie wussten, mich mit dem Kind dahinzubringen würde sehr lange dauern. Julius, der Mann meiner Schwester Anna, war wieder für mich da, denn irgendwann begann er sich Sorgen um mich zu machen und ging los mich zu suchen. Der Kontakt mit den Tanten aus den Familien, die mit uns im Ghetto blieben, bestand weiter. Es gab auch einen Cousin, der lange mit uns zusammen blieb. Er hatte eine Art einfaches Radio gebastelt, mit dessen Hilfe wir Nachrichten hören konnten. Dieser Cousin, der als die Perle der Familie galt, wurde im Wald ermordet. Von den Brüdern meines Vaters erinnere ich mich besonders an einen namens Se’ev. Damals ging ich arbeiten, um meine Schoschana zu ernähren. Meine Arbeit bestand darin, Brot zu schneiden, weil es damals noch keine Maschinen dafür gab. Statt Geld bekam ich zwei Laibe Brote täglich. Die Hälfte eines Brotlaibes gab ich einer Apothekerin in der Nähe, die auf Schoschana aufpasste während ich zur Arbeit ging. Eines Tages sah ich auf dem Weg von der Arbeit Se’ev, der elend und armselig aussah, in einer Gruppe von Bettlern, die um Essbares baten. Ich habe ihn und seine Frau zu uns nach Hause mitgenommen und ließ sie statt der Apothekerin auf Schoschana 32


aufpassen. Auch Se’ev und seine Frau bekamen denselben Lohn – ein halbes Brot, von dem Brot, das ich verdient habe. Ich erinnere mich, dass ich eines Tages von der Arbeit kam und das Kind weinte sehr. Die beiden sagten mir: ‚Nimm sie, sie hat Angst vor uns.’ Es stellte sich heraus, dass sie sich vor ihnen wegen meines Onkels Namens fürchtete. Er hieß bei uns ‚Onkel Wolf’ und sie dachte, dass ich sie bei dem Wolf (Se’ev) lasse. Sie weigerte sich bei ihnen allein zu bleiben, weil sie dachte, er wäre der Wolf aus dem Märchen Rotkäppchen.

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8 Kapitell – Der Tod kommt näher Außer Onkel Se’ev gelang es mir damals auch Janju, Ja’akov Sabbat, den Mann meiner Schwester Rivka (die in Ramat Gan fast 100jährig verstarb) zu retten. Eines Tages bekam ich mit, dass er nach außerhalb der Stadt mit vielen anderen Juden gebracht wurde. Wir wussten, dass man von dort nicht zurückkommt, weil man dort alle umbringt. Ich und er hatten Glück, dass wir aus Putna stammten, denn dort gab es eine riesige Kristallfabrik und der Fabrikbesitzer hieß Fischer, wie der Nachname meines Mannes. Ich bin zum Platz gegangen, wo alle Juden sowie der Mann meiner Schwester hingebracht wurden, und bat darum, ihn aus der Liste herauszunehmen. Zu meiner Überraschung stimmten sie zu, denn für sie war ich ein Mitglied der Familie „Fischer von der Kristallfabrik“. Von diesem Erfolg ermutigt, bin ich zum Haus des Arztes gegangen, der mich in Slawa gerettet hatte und schlug ihm meine Hilfe bei seiner Rettung vor. Seine Familie hat abgelehnt und sagte: ‚Nein, Danke, wir haben jemand, der für ihn sorgt.’ Zu meinem Bedauern war sein Ende bitter, denn die Deutschen haben ihn umgebracht. Eines Tages weckte mich ein Freund meines Mannes auf und erzählte mir erschocken, dass die Razzien begonnen hätten. Seine Familie war mit christlichen Rumänen befreundet, die berichteten, dass nach Auskunft eines Rechtsanwaltes, der die Listen der Juden zusammengestellt hatte, ich mich auf einer der Listen befand. Mein Leben war in Gefahr, denn es war klar, dass von diesen Razzien niemand lebend zurückkommt. Der Freund sagte mir, dass er mich nicht von der Liste streichen könne, weil sein Leben dann ebenso in Gefahr wäre. Er schlug vor, dass ich mich mit Schoschana, die damals 34


zwei Jahre alt war, im Keller verstecken sollte. Ich habe Peskulesku, meinen Nachbarn, der sehr freundlich zu mir war, angerufen. Er sagte mir, ich solle am Morgen darauf zu Marinesku kommen und mit ihm reden. Marinesku war wie der deutsche Himmler; ein grausamer Mensch, schlimmer als die Nazis. Um 9.00 Uhr stand ich vor seiner Tür in seinem Büro. Ein Zettel an der Tür besagte, dass wer Juden hilft, herausgeschmissen werde. Wie dem auch sei, dieser Marinesku hatte eine Beziehung zum Peskulesku und wollte nicht bei ihm so schlecht aussehen. Er sagte mir, dass, ich tatsächlich am Abend das Haus verlassen müsste, weil mein Ausweis, den ich für mich und für Schoschana hatte, abgelaufen sei. Dieser Marinesku gab zu, dass er diese Verordnung herausgegeben hatte und nun könne er das nicht ändern und ich sollte ihm raten, was er in dieser Sache machen könnte. Ich hatte plötzlich eine Idee und sagte zu ihm, er könnte die Verordnung etwas ändern und festlegen, dass Mütter mit Kindern auf den Armen von der Razzia befreit seien. Ich habe das meiner Schwester Elsa erzählt und sie glaubte mir nicht. Am Morgen darauf habe ich gesehen, dass man mehr und mehr Juden abholte, nur mich nicht. Am Abend begannen Wagen beladen mit Frauen und Kindern zurückzukehren. Er hatte es tatsächlich für mich getan. Unter denen, die zurückkamen, war auch eine Freundin von mir. Später, als ich sie fragte, was geschehen war, sagte sie, dass es stimmt, der Mann hatte sie freigelassen. Aber er tat es weil er „gerochen“ hatte, dass die Russen näher kamen. Meine Schwester Anna habe ich im letzten Moment vor dem Tod gerettet. Allerdings hatte ich einen Anteil an der Tatsache, dass sie überhaupt von den Deutschen abgeholt wurde. Um den Razzien zu entkommen, mussten die Juden eine Arbeitserlaubnis und eine Bestätigung, dass sie arbeiten, haben, d.h., dass sie „für das System nützlich“ sind, vorweisen. Meine Schwester bat mich für sie eine 35


Arbeit im Rathaus zu besorgen. Sie sagte, sie sei sogar bereit als Putzfrau zu arbeiten. Ich dachte, dass wäre für sie eine Demütigung und habe keine Arbeit für sie organisiert. Eines Tages kam ihre Tochter zu mir angerannt und erzählte mir voller Schrecken, dass Anna abgeholt worden sei, weil sie nicht nachweisen konnte, dass sie irgendwo arbeitet. Nun ich rannte zu meinem Direktor und sagte ihm, ich müsste meine Schwester retten. Der Direktor versuchte mich zu beruhigen und versprach mir in kürzester Zeit für sie zu sorgen. Ich bin zu Fuß nach Hause gelaufen und zu meiner großen Freude, war sie schon dort. Ich glaube, sie wurde dank des Bürgermeisters in Czernowitz, Popowitz, gerettet. Der Mann war gegen die deutschen Transporte und hat viele Juden gerettet in dem er ihnen Dokumente ausstellte. Jeder, der ein Dokument von Popowitz besaß, wusste, dass er eine Chance hatte, am Leben zu bleiben. Es ist wichtig zu erwähnen, dass dieser Bürgermeister nach dem Krieg den Titel Gerechter der Völker verliehen bekam.

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9 Kapitel – Die Wende Die Deutschen flüchten Irgendwie haben Schoschana und ich die schlimmen Lebensverhältnisse im Ghetto überstanden und die Todestransporte haben uns übergangen. Wir wussten, dass etwas mit den Deutschen geschieht und hofften, dass es alles bald hinter uns liegt. Auch die kleine Schoschana spürte irgendwie, dass etwas Gutes passierte und fing plötzlich an zu sprechen. Und dann kam der sehr große Rückzug der Deutschen durch unsere Straßen. Die Deutschen begannen in Kolonnen die Stadt zu verlassen und wir fürchteten, dass sie uns beim Rückzug umbringen würden. Wir bedauerten, dass wir keine Waffen hatten, um sie in ihrer Flucht zu treffen. Jetzt, als die Rumänen verstanden, dass die Russen der Stadt näherten, haben sie sich gewandelt und auf einmal den Juden erlaubt aus ihren Häusern und Verstecken hervorzukommen. Wir wussten, dass Fremde sich in unserem Haus niedergelassen hatten und trauten uns noch nicht Großmutters Haus, Julius’ Mutter, zu verlassen. Auch später, als die Frage des Eigentumsrechts auf das Haus vor Gericht kam, hatten wir keine Chance mehr, es zurückzubekommen. Ein kleiner Sprung nach Vorn bezüglich des deutschen Rückzuges. In den 80ger Jahren besuchte ich Ostberlin, vor der Wiedervereinigung. Ich hatte das Bedürfnis ins Museum zu gehen und traf dort auf einer Gruppe Nazis, die sich darüber beschwerten, dass russische Soldaten Milliarden nach der Shoa bekamen, während die Deutschen nichts erhielten. Ich spreche Deutsch und ohne nachzudenken sagte ich ihnen, dass dank der russischen Soldaten ich neben ihnen stehe. Zynisch fügte ich hinzu, dass ich ihren Rückzug mit Panzern gesehen 37


habe, danach mit Pferdewagen, dann mit Wagen ohne Pferde, dann zu Fuß mit Stiefeln und zuletzt flüchteten sie ohne Stiefeln. Ich konnte sehen, dass diese Deutschen kurz vor dem Explodieren waren und verspürte tiefe Befriedigung.

Außerhalb Czernowitz

Bei den Russen in Czernowitz hatte ich eine gute Arbeitsstelle, weil ich schnell in einer besonderen Sprachschule Russisch gelernt habe. Trotzdem fürchtete ich sie, denn ich konnte mich gut daran erinnern, was sie den Juden früher angetan hatten und hatte Angst, dass sie eines Tages kommen würden und auch mich nach Sibirien schicken könnten. Deswegen wollte ich nicht bleiben und dachte, dass ich aus Czernowitz fliehen und woandershin gehen muss. Mein Bruder Robert hat mich zu sich nach Bukarest eingeladen aber ich wollte ihm nicht mit dem Kind zur Last fallen. Erst später habe ich erfahren, dass er für uns ein Haus vorbereitet hatte und sich sehr wünschte, dass wir kommen. Einige der Juden aus Czernowitz beschlossen den Weg nach Erez Israel zu nehmen und mein Bruder kaufte mir zwei Karten für die Schiffe, die nach Israel fuhren; es waren die ‚Struma’ und die ‚Maria’. Die Schifffahrt fand ohne uns statt, da der Arzt, der uns noch im Ghetto behandelt hatte, darauf bestand, dass Schoschana diese Reise wegen der Ruhr, an der sie litt und wegen des schmutzigen Wassers auf dem Schiff nicht überstehen würde. Schoschana war schon zwei oder drei Jahre alt und in unserem Haus lebten, wie gesagt, Russen, die nicht daran dachten, uns das Haus zurückzugeben. Zu meinem Glück besaß ich noch den Brief, den mein Mann Edmund an die russische Armee geschrieben hatte, in dem er seine Bereitschaft erklärt hatte, freiwillig Militärdienst zu leisten. Dieser Brief verhalf mir zu einer Wohnungsberechtigung im Auftrag der russischen Armee in einem neuen Gebäude im Stadtzentrum. Dank dieses Briefes bekam ich 38


auch eine höher gestellte Arbeit und alle meine Verwandten und Familienangehörigen verließen ihre Verstecke und meine Wohnung wurde zu einem Familienbahnhof. Ich kehrte zum Kurhaus zurück, in dem früher Edmund gearbeitet hatte. Im Auftrag der Stadtverwaltung habe ich es verwaltet und es war eine schwere Arbeit gepaart mit großem Hunger. Dann ist mir etwas sehr schlimmes passiert und ich wurde angeklagt. Ich hatte mein Haus an Verwandte aus den Lagern gegeben, weil ich noch Angst vor den Deutschen hatte, die noch gemordet hatten, und bekam für mich eine kleine Wohnung. Damals hatte meine Schwester bei der Post gearbeitet, weil sie befürchtete, nach Sibirien verschickt zu werden. Eines Tages fand sie einen Brief von meinem Mann Edmund, in dem er schrieb, dass er sich im Ural befindet und dort festgenommen wurde, nachdem er Bonbons gestohlen hatte, um Brot zu kaufen. Er bat mich eine Besuchererlaubnis zu beantragen und ihm dort zu besuchen. Es ist ein schwarzer Ort und die Menschen werden dort schwarz und ich wollte nicht dorthin gehen. Eines Tages bekamen meine Schwester, ihr Mann und ihre Tochter die Erlaubnis Czernowitz zu verlassen und zurück in unsere Stadt, Putna zu gehen. Damals bekam ich keine Arbeit als Inspektorin für Kindergärten und habe einen eigenen Kindergarten eröffnet. Ich dachte daran, dass ich zum ersten Mal wirklich allein sein werde, sagte aber nichts. Nach einer Stunde kam ihre Tochter mit einer frohen Botschaft. Es stellte sich heraus, dass sie einen Bekannten getroffen haben, der eine Reiseerlaubnis an die Grenze nach Russland für sich, seine Frau und seine Tochter beantragt hatte. Er hatte aber weder Frau noch Tochter und brauchte nun welche, um die Bedingungen der Reiseerlaubnis zu erfüllen, sonst könnte auch er nicht Czernowitz verlassen. Ich habe die Gelegenheit sofort ergriffen und sagte, dass ich Interesse hätte. Zum ersten und einzigen Mal bat ich Schoschana 39


zu lügen. Sie sollte am folgenden Tag mit mir zu Arbeit kommen und den Leuten erzählen, dass sie krank sei und ich nähme sie zum Arzt. Und so fand ich mich am nächsten Tag auf einem Wagen neben einem Menschen, den ich vorher noch nie gesehen hatte und wir beeilten uns mit dem Wagen etwa 40 Kilometer zur russischen Grenze zu kommen, mit dem Wissen, dass Eile geboten ist, weil die Russen jeden Moment die Grenze schließen könnten. Es waren die Tage von März-April 1944 und die winterliche Kälte lag noch in der Luft und als wir die Grenze gegen Abend erreichten war es eisig kalt. Es erschien ein halbzerfallener Lastwagen, der bessere Tage vor dem Krieg gesehen hatte, und den Eltern wurde verkündet, dass nur Kinder den Laster besteigen dürften, weil es nicht genügend Platz für alle gäbe. Wenn die Kinder zurückbleiben würden, bestünde wegen des starken Frostes Gefahr für ihr Leben. Ich hatte Angst mich von Schoschana zu trennen und sie vielleicht nie wieder zu sehen. Dann hatte ich eine brillante Idee. Ich erzählten den Zuständigen, dass ich Kindergärtnerin sei und die Kinder auf der Reise betreuen könnte. Sie freuten sich und fanden sogar eine Rechtfertigung für meine Mitfahrt darin, dass auf der Sitzbank im Laster ein Brett fehlte und es bestand die Gefahr, dass die Kinder mit ihren Beinen hinein gerieten und ich könnte dort liegen, wo das Brett fehlte. Wir erreichten Duroboj hinter der rumänischen Grenze nach einer schrecklichen nächtlichen Fahrt über zerstörte Brücken. Endlich hielt der Laster vor einem Schulgebäude. Es gab dort ein großes Durcheinader von Menschen, die kamen und gingen und Listen aufstellten, und für uns Betten aus Brettern machten. Ich habe verstanden, dass alle, die in der großen Wagenkolonne waren, Juden waren, und der Verantwortliche für die Kolonne war der Joint. Ich bin zu einem der Büros gerufen worden, um registriert zu werden. Ich nannte meinen Namen und die Angestellte dort sagte, dass ein anderer Angestellter denselben Namen habe. Der Angestellte sagte, ich sei eine sehr schöne Frau. 40


Es war mir unangenehm, weil ich das mitbekommen habe. Er hieß Arnold Krummholz (später Kerem) und war bekannt und aktiv beim Joint und befand sich dort um die Aufsicht im Namen des Joints zu führen. Man machte uns zwar bekannt, aber damals beachtete ich ihn wenig, weil ich sofort nach meinen Familienangehörigen forschte. Ich wusste, dass dort Verwandte meines Vaters lebten. Auch sein Bruder Jossi mit seinem Sohn und Schwiegertochter befanden sich dort. Ich erinnere mich nur, dass die Schwiegertochter mir ein Ei gebraten hat, weil ich sehr hungrig war. Sie nahm eine Ölflasche und goss davon auf die Pfanne, damit das Ei auf dem Öl liegt und mein Onkel sagte ihr, sie solle kein Öl dazu geben. Er war ein kalter und eigenartiger Mensch und freute sich nicht, dass ich gekommen war. Er fürchtete, dass ich längerer Zeit bei ihnen bleiben würde, da er nicht wusste, dass mein Bruder mich zu sich in sein Haus nehmen würde. Bei Onkel Jossi, dessen Frau früher verstarb, war das Haus immer voll mit Menschen, weil er nahe an der Grenze lebte, und er mochte das überhaupt nicht. Sein Sohn hingegen nahm mich und Schoschana freundlich und höflich auf. Wir zwei hielten uns dort nicht lange auf und machten uns auf dem Weg zu meinem Bruder Robert in Bukarest. Vorher besuchten wir noch Radautz, Putna, wo ich geboren war und wo noch Angehörige von mir lebten.

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10 Kapitel – Arnold und Schoschana

Als ich Arnold zum ersten Mal, wie vorher erwähnt, gesehen habe, war er Angestellter des Joints. Ich habe ihn in jener Nacht nicht beachtet, weil ich damit beschäftigt war, meine Verwandte zu suchen. Aber Arnold war anscheinend von mir angetan und kam bis nach Radautz, um nach mir zu suchen. Seinen Freund kannte ich von früher und er erzählte mir von jenem jungen Mann, Arnold vom Joint, der nach mir sucht. Die Geschichte hat überhaupt damit angefangen, dass meine Schwester Elsa jenem Freund erzählt hatte, dass ich Arnold kennengelernt und mich in ihm verliebt hätte, obwohl das nicht den Tatsachen entsprach. Elsa wollte einfach eine Heirat für mich arrangieren. Während ihrer 42


h채ufigen Reisen nach Bukarest (sie hatte kostenlose Bahntickets dank Julius, ihrem Mann, der bei der Bahn arbeitete) traf sie Arnold und als er sie darum fragte, antwortete sie, dass ich einverstanden w채re, ihn zu heiraten. Ihretwegen hat er ein Haus gekauft und wartete darauf, dass ich zu ihm komme. Aber ich wusste nichts davon. Eines Tages taucht er in Radautz mit Fahrkarten nach Bukarest f체r mich und Schoschana auf.

Mein Mann Arnold, ich und Schoschana

Schoschana mit ca. 10 Jahren

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Schoschana in der Armee

Schoschana im Parlament

Arnold war ein netter junger Mann. Erstens, war er sehr ehrlich und man konnte sich auf ihn verlassen. Das war mir sehr wichtig, weil ich mich immer davor f端rchtete einen L端gner zu heiraten. Er war so glaubhaft, dass man ihm vom Joint an die ungarische Grenze geschickt hatte mit der Aufgabe, Geld an Juden zu verteilen, die aus den Lagern 44


kamen. Schoschana war fünf Jahre alt als wir nach Bukarest gefahren sind, um die Wohnung zu sehen, die er für uns vorbereitet hatte. Es war eine schöne Wohnung und Schoschana, an Änderungen gewöhnt, fragte sogleich wohin wir umziehen würden, nachdem wir in dieser Wohnung sein werden. Arnold fuhr weiterhin mit Geld an die Grenze und wegen der schwierigen Lage stellte man ihm zwei Polizisten zur Seite, damit ihm nichts zustößt. Die schwierige Situation hat auch uns nicht verschont und auch wir hatten nichts zu essen. Auch mein Bruder mit all seinen Wohneigentum hatte nichts zu Essen zu Hause. Ich fuhr per Anhalter nach Bukarest, um einen Sack Mehl zu kaufen, von dem ich Brotfladen gebacken habe, und Robert kam, um davon zu essen. Eines Tages gab ich Arnold mein Gehalt mit der Bitte, Öl zu kaufen. Er kam ohne Geld und ohne Öl zurück. Er hatte die Armut der Menschen gesehen, vergaß meine Bitte und verteilte einfach das Geld an die anderen. Ich habe mich sehr geärgert aber seinen Charakter geliebt und befürchtete, nie wieder solch einen Mann zu finden. Bevor ich Arnold geheiratet habe, vermittelte Robert mir eine Arbeit als Leiterin eines Waisenhauses für Kinder im Alter von sechs bis achtzehn Jahren. Ich merkte, dass ich dafür nicht gebaut war. Es war für mich eine sehr schwere und schreckliche Zeit, weil wir sehr schmerzliche Fälle behandeln mussten. Als ich kam habe ich mitbekommen, dass die vorherige Leiterin schnell entlassen wurde, weil sie versehentlich einem Kind Mäusegift statt Zucker gegeben hatte und es starb daran. Es gab dort ein Kind, das nachts zum Schlafen zu mir ins Bett kam, weil es seine Mutter so sehr vermisste. Die Kinder kannten ihren Namen nicht. Einem Kind schenkte ich Malfarben von meinem Geld, weil ich gesehen habe, dass es begabt ist (er ist heute ein berühmter Maler in Paris). Für eine Mutter, die zu uns kam, vermittelte ich eine Stelle als Lehrerin. Ein Vater erschien eines Tages und suchte nach seinem Sohn, von dem er wusste, dass 45


er etwa drei Jahre sein musste. Ich habe ein Kind gebracht, dass ihm wie aus dem Gesicht geschnitten aussah, genauer gesagt, sie hatten sehr besondere und ähnliche Ohren. Ich habe dem Vater gesagt, er solle schnell dieses Kind nehmen, weil ich noch nie eine solche Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn gesehen hätte. Zu der Zeit brach im Waisenhaus die Scherpilzflechte aus, eine schwere Krankheit, und ich wollte nicht, dass sich Schoschana damit ansteckt. Elsa wollte unbedingt, dass Schoschana bei ihr wohnen würde und freute sich sehr als ich zugestimmt habe. Schoschana lebte dort fast ein halbes Jahr. Als ich sie abholen kam, sagte sie zu mir ‚Geh weg’ und Elsa lachte sehr, dass es ihr geklungen war Schoschana beizubringen, das zu sagen. Es hat ihr aber nicht geholfen und ich nahm Schoschana wieder zu mir, weil ich wollte, dass sie bei mir aufwächst. Die Direktorin im Waisenhaus ließ Schoschana in ihrem Zimmer schlafen, das einen hübschen Balkon hatte. Vor dem Haus gab es zwei Pferdestatuen, die sich mit erhobenen Vorderbeinen gegenüber standen – direkt vor dem Balkon der Direktorin. Eines Nachts, als die Direktorin abwesend war, kletterte ich auf eine Statue und gelangte so auf den Balkon. Schoschana schlief nicht und es war, als wartete sie auf mich. Sie weinte ‚Mama, nimm mich mit nach Hause’ und ich konnte es nicht tun, sonst hätte man mich entlassen. Am Morgen darauf kam die Direktorin an und mit ihr alle Freiwilligen aus Bukarest. Ich kam mit Schoschana zu der Sitzung und stand dort, hielt sie bei mir und sie sprachen miteinander Rumänisch und Deutsch und sagten über uns „Affenliebe“. Ich sagte ihnen, dass es genau das Gegenteil von Rabenmutter ist, die die Kleinen aus dem Nest wirft und die Eier zerbricht. In dieser Phase war ich noch nicht mit Arnold zusammen. Er arbeitete im Büro des Joints in Bukarest und dort wusste man von 46


den Menschen, die in die Stadt kamen, wo sie sich befinden und wohin sie gehen. Er war damals ohne Frau, aber mit einem Kind. Er war 17 Jahre älter als ich; er war 40 und ich etwas mehr als 20 Jahre alt. Es stellte sich heraus, dass er in der Bukowina geboren war und ich wusste sofort wer er war und er wusste wer ich war, weil wir aus demselben Ort stammten. Arnold hatte seine eigene Tragödie. Sein Vater sagte, er müsse geschäftlich wegfahren und dabei brannte er mit einer anderen Frau durch. Er verließ seine Frau mit zwei kleinen Kindern. Arnolds Bruder Karl starb noch vor dem Krieg und seine Mutter brauchte eine psychiatrische Therapie. Es war Arnold, der ständig für sie sorgte. Seine Mutter hieß Itta und deshalb beschlossen wir unseren Sohn nach ihr Etan zu nennen. Sie und die Großmutter wurden im Krieg, ziemlich bald nachdem die Deutschen sie abgeholt hatten, umgebracht. Später fanden wir heraus, dass sein Vater in die USA mit einer Schauspielerin durchgebrannt war und sie sechs Kinder bekommen hatten. Diese Geschichte erfuhren wir von der Tochter des verstorbenen Bruders Karl, die zufällig von der Jewish Agency nach Wien geschickt wurde. Sie suchte nach dem Vater von Arnold und Karl, der mit einer anderen Frau durchgebrannt war. Dieser Mann lebte nicht mehr aber es gelang ihr den Kontakt zu einem seiner Söhne herzustellen, ein Journalist. Er erzählte ihr, dass sich die Familie für den Vater nicht interessiert, weil er all sein Geld versteckt hatte und die Familie bis heute nicht weiß wo das Geld versteckt ist. Geld war eine Krankheit in dieser Familie, und im Nachhinein gesehen auch bei Arnold. Arnold hatte noch Länderein in Solga, wo er geboren war, und er wollte nicht, dass mit ihnen etwas Schlimmes passiert. Deswegen entschied er sich, die Länderein über mich zu verkaufen, damit die Rumänen nicht wissen würden, dass sie ihm gehören. Ich habe die Länderein an Menschen aus dem Dorf verkauft, die sie auch bearbeitet haben. Nach dem Verkauf bat mich Arnold das gelungene 47


Gesch채ft mit einem Gl채schen zu segnen. Die H채lfte des Geldes, das wir daraus bekamen, schickten wir Karls Witwe, die damals in Tel Aviv lebte.

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11 Kapitel – Die Flucht aus Rumänien Rumänien wurde kommunistisch und ihre Geheimpolizei begann die Jointmitarbeiter zu verfolgen. Auch Arnold wurde zum Verhör abgeholt und seine Zuckerwerte schossen in die Höhe. Er wurde deswegen krank. Wir wussten, das wir Rumänien verlassen mussten, wussten aber nicht wie. Damals war sogar Mosche Sneh in unserem Haus und auch andere aus dem Außenministerium. Soweit ich verstanden habe, kauften sie Waffen aus der Tschechoslowakei und schickten sie nach Israel. Der Druck der rumänischen Behörde wuchs und Arnold war sich sicher, dass sie ihn suchten und ihn ständig beschatteten. Eines Tages ging ich allein eine Ausreisegenehmigung zu beantragen, weil man ihn nicht sehen durfte. Ich hatte eine Freundin, die mir beigebracht hatte, was man für eine Ausreisegenehmigung tun musste: Dokumente abbilden und ordentliche Ersuchen formulieren. Es war damals ein harter und verschneiter Winter und wir hatten es schwer die Genehmigung zu bekommen, weil es lange Warteschlangen gegeben hatte. Eines Abends, der Tag neigte sich schon, fragte mich eine sehr alte und blinde Frau, ob ich Jiddisch könne. Ich bejahte und sie zog einen Passport heraus und bat mich sie zu begleiten. Ich ging mit ihr, ihren Passport in der Hand, und die Türen öffneten sich. Wir standen vor einem Juden, Leonid, der auf ihr Photo schaute, dann auf meines und das Photo Arnolds und mich fragte, wo Arnold sei. Ich konnte nicht sagen, dass er beim Verhör war und, ich weiß nicht woher ich das hatte, sagte sofort, er hätte sein Gedächtnis verloren. Nun sah ich, wie er unsere Passporte mit einer Ausreisegenehmigung stempelte und uns verkündete, dass wir Rumänien in zwei Wochen verlassen werden. Ich kam glücklich nach 49


Hause und berichtete Arnold von meinem Erfolg und er erschrak fürchterlich. „Wenn sie bis jetzt nichts gegen mich haben, werden sie jetzt mitbekommen, dass ich eine Ausreisegenehmigung habe und mich vor Gericht stellen“, sagte er. Zwei Wochen vergingen und wir fanden uns auf dem Weg nach Israel. Es war das zweite Mal, dass ich der göttlichen Vorsehung dankte. Das erste Mal war als ich Czernowitz entkommen war und das zweite Mal als jene alte Frau meinen Weg kreuzte.

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12 kapital - „Die pforte der einwanderung“-scha‘ar haalijah Arnold und ich haben 1947 geheiratet; die Hochzeit richtete mein Bruder Robert in Bukarest aus. Drei Jahre später, an Pessach des Jahres 1950, verließen wir Rumänien nach Israel. Wir bestiegen ein Schiff voller Menschen. Die Die Enge war unerträglich. Nach einer Woche erreichten wir den Hafen von Haifa, wo ein Sohn meiner Verwandten auf uns wartete und uns eine Wurst überreichte, die sie für uns mitgaben. Wir sammelten uns im Scha’ar haAlijah und ich war gerührt angesichts der Juden dort. Ich dachte, sie wären alle wie wir, aber es kamen Menschen aus Indien und Jemen, die dort Pessach feierten und ich ging um zu hören, wie sie feiern. Es hat mich sehr beeindruckt, dass es Juden gibt, die nicht wie mein Vater aussehen, und die ebenfalls Hebräisch können und den Feiertag wie wir feiern. In Scha’ar haAlijah besprühte man uns mit dem Desinfektionsmittel D.D.T. Schoschana hat sich sehr erschrocken und weinte, weil man ihr Kleid lüftete, um darunter zu sprühen. Ich sagte ihr, das sei ein Zeichen, dass wir in ein sauberes Land gekommen sind. Sie hat verstanden und freute sich, obwohl sie noch keine sechs Jahre alt war. Später hat sie in der Knesset gearbeitet (als Vize- Knesset - Sekretärin). Einmal hielt ein sephardischer Abgeordneter eine Rede im Plenum und behauptete, man hätte sie besprüht, weil sie Sepharden seien. Schoschana saß berufsbedingt neben ihm im Podium und wurde ständig photographiert. Sie schaute ihn ärgerlich an, weil auch sie auf diese Art besprüht wurde. Sie erzählte der gesamten Knesset, dass auch sie, als sie aus Rumänien gekommen war, derselben Prozedur unterworfen war. 51


Wir verblieben eine Woche in Scha’ar haAlijah. Wir hatten nicht viele Koffer, weil wir nur 70 Kilo Gepäck pro Person mitbringen durften. Zu unserem Glück befand sich dort ein Mann, der in Rumänien Arnolds Chef war. Er versprach uns zu helfen. Tatsächlich hielt er Wort. Dank ihm bekamen wir eine Zweizimmerwohnung in Newe Scha’anan in Jerusalem, in der wir bis 1960 lebten und die immer noch in unserem Besitz ist. Übrigens, die Tochter jenes Mannes kam uns einige Male in Scha’ar haAlijah besuchen und heiratete später Aharon Barak, der später Präsident des Obersten Gerichtes wurde. Kurzer Zeit nach unserer Ankunft in Israel erreichte uns ein Telegramm von meiner Schwester, dass auch sie nach Israel kommen würden und sie bat uns sie abzuholen. Genau dann bekam Arnold ein neues Auto vom Joint, weil sie ihm mehrere Monate Gehalt für seine Arbeit in Rumänien schuldeten. Ich habe einige Sachen zum Hafen mitgebracht, weil ich wusste, dass sie im Rahmen der 70 Kilo Gepäck nicht alles bringen konnten, was sie brauchten. Sie kamen zu uns nach Jerusalem und der Mann meiner Schwester erzählte, dass er die Straßen mit Steinen markierte, damit man sie pflastern könnte. Außerdem war er zuständig für die Arbeitsausrüstung. Morgens gab er den Arbeitern die Arbeitsgeräte und sie brachten diese abends zurück. Als Arnold ihn fragte, was er tue, wenn jemand die Arbeitsgeräte nicht zurückbrächte, antwortete er, dass „er einen solch ordentlichen Fluch auf Jiddisch ausstößt, dass derjenige schnell rennt und die Arbeitsgeräte zurückbringt.“ Sie kamen hier gut zu Recht, aber die verheiratete Tochter meiner Schwester lebt in Deutschland. Zuerst fiel es ihnen schwer nach Israel einzuwandern, weil es sehr teuer war und es war bequem für sie, in Deutschland zu leben. Danach musste ihre Tochter dort ihren Doktor machen. Ich habe Deutschland in den 60ger Jahren besucht, betrachtete die Menschen, und Deutschland interessierte mich nicht. 52


Der Besuch war erfolgreich, weil meine Nichte vier Jahre j端nger als ich ist, und nun sind wir beide alt und sie besucht mich ab und an.

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13 Kapitel – Newe Scha’anan Jerusalem Als wir nach Israel kamen lebten wir in Newe Scha’anan in Jerusalem. Es war eine schwere Zeit für uns weil noch eine wirtschaftliche Einschränkung herrschte, Zena. Wir hatten zwei Zimmer mit Betten von der Jewish Agency. Neben unserem Haus veranstalten Kinder allabendlich ein Picknick, weil dort die städtische Müllhalde war. Man klaubte daraus Körbe und andere Sachen, aus denen man Kaffee kochen konnte. Als ich, z.B., Kompott aus Zucchini kochte, kam mein Sohn aus dem Kindergarten und fragte mich, warum ich nicht einen ungekochten Apfel für ihn reservierte. Ich hatte mehrere Arbeitstellen um den Lebensunterhalt zu verdienen. Bevor wir Bukarest verließen, lernte ich in einer Krankenschwesterschule und wollte Krankenschwester in Israel werden. Ich konnte aber nicht genügend Hebräisch und man hieß mich zuerst die Sprache lernen. Bis heute beherrsche ich Hebräisch nicht gut genug. Zwei Jahre nach unserer Ankunft in Israel habe ich gehört, dass im Museum jemand gesucht wurde, der mehrere Sprachen beherrscht. Ich bewarb mich und wurde angenommen. Später, als ich mit Etan schwanger war, erkrankte ich und es fiel mir schwer zu Fuß zum Bus und zurück zu laufen. Die Ärzte haben mir das Laufen verboten und ich musste kündigen. Um 1955 ersetzten wir den Petroleumkocher durch einen Gaskocher. Damals schickte man uns auch, über eine Bekannte, vom Joint in den USA einen Kühlschrank. Dieser Kühlschrank war die Attraktion in Newe Scha’anan. Eine Nachbarin bekam viele Fische und 54


konnte sie nicht alle verarbeiten, also brachte sie sie zu mir. So hat jede Nachbarin mich gebeten, allerlei für sie im Kühlschrank aufzubewahren. Außer dem Kühlschrank schuldete der Joint Arnold noch Geld. Sie schickten ihm aus England einen neuen Opel, der damals ebenfalls etwas Besonderes war. Ich erinnere mich, dass wir in Ben Jehuda spazieren gingen, irgendwo eintraten, und das Auto draußen stehen ließen. Als wir heraustraten, standen alle voller Bewunderung um den Wagen herum. Als Arnold sehr krank wurde, mussten wir das Auto verkaufen, was Arnold sehr schmerzte. Wir hatten keine Waschmaschine. Wir hatten eine Hausangestellte aus Machane Jehuda, die einen furchtbaren Mann hatte. Er verließ sie mit ihren vier Kindern. Ich kannte diesen Mann, der als Nachwächter im Museum gearbeitet hatte. Ich habe einem vom Personalrat erzählt, was dieser Mann getan hatte, und er wurde entlassen. Einige Tage später erzählte mir die Hausangestellte, dass ihr Mann zu ihr gekommen war und sie anflehte ihm Geld zu geben. Er bat sie mit dem Personalrat zu sprechen, dass er seine Stelle wieder bekomme, aber es hat ihm nichts geholfen. Mein Mann Arnold war in Bukarest Bankinspektor im Auftrag des Joints und er war sich sicher, dass er auch hier weiter für diese Organisation arbeiten würde. Aber genau wie er, kamen etwa 600 Angestellte des Joints nach Israel und es gab nicht genügend Arbeit für alle. Nach einer Weile fing er an bei Bank Israel zu arbeiten und er bewies ein „gutes Auge“. 50,000 Lira sollten aus einem Bankkonto ausgezahlt werden und Arnold merkte, dass jemand sich um eine Null geirrt hatte und die Rechnung nur 5,000 Lira betrug. Somit verhinderte er einen großen Schaden für die Bank. Als Arnold bei Bank Israel zu arbeiten anfing, wurden wir aufgefordert unseren Namen zu ändern, wie es damals üblich war. Den Nachnamen Krummholz haben wir gekürzt und seither heißen wir Kerem. 1960 55


zogen wir in eine Wohnung in der Asa-Straße um. Diese Wohnung haben wir aus unseren Einkünften bezahlt.

Das Leben mit Arnold Die letzten Jahre mit Arnold waren sehr schwer. Er ging in Frühpension und entwickelte dann eine Paranoia. Er dachte, dass ihm alle Menschen verfolgten, inklusiv die aus der Bank. Als ich mit den Psychiatern gesprochen habe, erzählte ich ihnen von den Gegebenheiten, die er mir erzählte. Er erzählte von seiner Familie in Sibirien, von seiner Frau, die starb und von seinem Kind, das er von ihr hatte. Er erzählte weiter, dass er einen unverheirateten Onkel hatte, der behauptete, er sei dieses Kind. Als er mir sagte, seine Frau sei gestorben, war es das erste und einzige Mal, dass er mich belog. Denn zuerst erzählte er mir, sie sei gestorben. Später schickte sie ihm ein Telegramm, in dem sie schrieb, wenn er zu ihr zurückkommen wolle, müsse er sich beeilen. Daraufhin hat er ihr geantwortet, dass er schon verheiratet ist. Anscheinend war er während des Krieges in Asien, im heutigen Usbekistan, mit einer Frau zusammen bis ihn ihre Eltern hinausgeworfen haben. Als ich ihn kennenlernte, war er nicht verheiratet. Als Arnold dahinter kam, dass ich mit Ärzten sprach ärgerte er sich sehr. Ich aber hatte keine Wahl; die Ärzte wollten den Zeitpunkt herausfinden, an dem er gebrochen war. Im Nachhinein habe ich mehr Einzelheiten aus seiner Vergangenheit erfahren, die wahrscheinlich zu seiner Krankheit beigetragen haben. Darunter seine Arbeit beim Joint und mit den Gesandten aus Israel, die Waffenhandel betrieben, und all das während der Verhöre und Durchsuchungen des rumänischen Regimes, das ihn im Auge hatte. Arnold war in vieler Hinsicht ein harter Mann. Z.B., hatte er mich nie in den Urlaub zu den Kurhäusern mitgenommen, die er von der Gewerkschaft (Histadrut) bekommen 56


hat, weil er kein Geld ausgeben wollte. Aber er nahm diese Urlaube wahr, und wie! Wenn ich mir Eis gekauft habe, ärgerte er sich, dass ich Geld verschwendete. Wenn wir eingeladen waren, ließ er mich nicht mit ihm hingehen und hat nur eine Blume mitgebracht. Die Ärzte sagten, dieses Verhalten kam von der Paranoia. Eines Tages fiel Arnold hin und brach sich das Bein. Wie üblich, fuhr er allein zur Kur. Zufällig saß neben ihm ein Bibliothekar aus der Nationalbibliothek und erzählte ihm von seiner Arbeit. Arnold dachte sofort, dass diese Arbeit mir passen könnte und so war es auch.

1952 begann ich meine Arbeit in der Nationalbibliothek. Ich bekam die Stelle dank der vielen Sprachen, die ich beherrsche, darunter Hebräisch, Deutsch, die meine Muttersprache ist; Französisch, Englisch, Latein und Jiddisch habe ich zu Hause gelernt und ich kann Rumänisch und Russisch. Man ließ mich Sätze aus einigen Büchern aus dem Englischen ins Französische und ins Deutsche und so ähnlich in einigen anderen Sprachen übersetzen. Nur Lesen und Schreiben in Hebräisch kann ich nicht. 57


Ausflug nach Gaza 1956

Ausflug in den Negew Von recht: Schoschana, ein Beduine, ein Verwandter und ich in den 50ger Jahren

Es gab Professoren, die aus Berlin und Prag einwanderten und mit sich all die gotischen B端cher mitbrachten. Als sie in Rente gingen, kam ich und wurde sofort angenommen. Ich habe bei der Katalogisierung der B端cher gearbeitet und das war f端r mich wie im Paradies. Noch 58


in meinem Elternhaus liebte ich es, Bücher zu lesen und meine älteren Brüder haben mir viele Bücher mitgebracht. Auch im Ghetto habe ich Bücher mit einem Umschlag versehen und die ganze Zeit Belletristik gelesen. In der Nationalbibliothek arbeiteten welche, für die die Bücher nur Nummern waren. Über mich erzählte man, dass ich alle Bücher aus den Regalen der Bibliothek gelesen hätte. Nach der Arbeit besuchte ich Kurse, nahm an verschiedenen Symposien teil und lauschte Vorträgen, wie z.B. von Yig’al Alon, der über seine archäologischen Entdeckungen berichtete hatte. Ich entsinne mich einer Begebenheit, die anschaulich zeigt, woher wir kamen. 1948 ist die Nationalbibliothek vom Skopiusberg nach Terra-Santa umgezogen. Ich wurde zurück zum Skopiusberg geschickt, um einige Bücher abzuholen, die man noch nicht nach Terra-Santa gebracht hatte. Auf dem Skopiusberg lagerten UNOSoldaten und es war uns strengstens verboten mit ihnen zu sprechen. Es war ein heißer und trockener Tag und ich hatte großen Durst. Die UNO-Soldaten spielten dort Fußball und irgendwann hat man ihnen mit einem Wagen Wasser gebracht. Weil ich durstig war, folgte ich dem Wagen und bekam von einem der Soldaten eine Flasche Wasser. In dem Moment, als ich die Flasche an meinen Lippen legte, bemerkt ich einen von unseren Burschen, so einer mit einem Schnurrbart, der mich angesehen hatte. Ich hielt an und wagte es nicht zu trinken. Diese Furcht vor der Polizei oder vor einem, der einem beobachtet, ist mir von den Russen geblieben.

Arnold stirbt

Mein Mann Arnold starb 1979 als sein Zustand schon sehr schlecht war. In den letzten Tagen seines Lebens war er sehr abgemagert und in einem ernsten paranoidem Zustand. Menschen hatten ihn nach Hause gebracht, weil er in Restaurants gegessen hatte und sie ohne zu bezahlen verließ. Er lief verwirrt in den Straßen umher und fand 59


den Weg nach Hause nicht mehr. Ich habe gearbeitet und konnte nicht die ganze Zeit bei ihm sein. Ich habe deswegen einen Studenten, der ebenfalls aus Czernowitz kam, für Arnold angestellt. Aber der junge Mann rauchte Drogen und Arnold konnte es nicht verstehen. Er erzählt mir ein Mal, dass der Student ihm um Geld gebeten hätte. Ich sprach den Studenten an und er gab seine Sucht zu. Eines Tages fiel Arnold im Badezimmer hin. Bis heute weiß ich nicht, ob er selbst das Wasser aufgedreht hatte oder, ob der Wasserhahn nicht zu war, als er ins Badezimmer ging. Jedenfalls rutschte er aus und verletzte sich. Ich bin schnell zu ihm gegangen und habe so sehr geschrien, aber man konnte ihn nicht mehr retten. Er war 77 als er diese Welt verließ.

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14 Kapitel – Etan

Einladung zur Bar-Mitzwa-Feier von Etan

Etan ist 1952 in einem Café, das früher von Engländern betreiben wurde und dann eine Geburtsklinik wurde, geboren. Seine Kindheit verbrachte er in der Merchawia Schule, wohin er allein mit dem Bus gefahren ist. Er war ein ausgezeichneter Schüler. All die Schuljahre hat er getan, was nötig war, aber auch nicht mehr. 61


Schulauff端hrung, Eta steht links

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Etan

Zu Hause hatte Etan die schwierigen Verhältnisse zwischen mir und Arnold, der ein ausgezeichneter Vater aber ein schlechter Ehemann war, mitbekommen. Während eines der Krankenhausaufenthalte Arnolds wegen Paranoia sprach mich der Chefarzt, der ebenfalls aus Czernowitz stammte, an, und riet mir mich von Arnold scheiden zu lassen. Ich habe ihm geantwortet, dass nach 30 Jahren Ehe und mit einem kleinen Kind, für das man sorgen muss, ich nicht einfach aufstehen und weggehen kann. Die Schwierigkeit lag darin, dass Arnold nicht begriffen hatte, dass Etan nicht nur sein, sondern auch mein Kind ist. Obwohl er Etan vollkommen korrekt behandelt hat, hat Etan darunter gelitten, dass Arnold mich nicht gut behandelte. Eines Tages, als Etan fünf Jahre alt war, sagte er zu uns, er werde als Richter für uns handeln, weil wir über jeden Pfennig zu streiten pflegten. Mir fiel ein, dass Etan einige Tage zuvor das Lied „Mein Herr Richter“ (adoni haschofet) gehört hatte und mich fragte, was ein Richtet ist. Ich habe ihm erklärt, dass ein Richter Frieden unter den Menschen stiftet. 63


Wir haben Etan ein Fahrrad gekauft. Als ich sah, wie er zwischen den Autos Fahrrad fährt, bekam ich Angst, dass ihm etwas zustoßen könnte. Wir wussten nicht, wie wir ihn überreden könnten, kein Fahrrad mehr zu fahren, also haben wir sein Fahrrad kaputt gemacht. Ich habe ihm gesagt: „Warte noch ein wenig. Mach dein Abitur und dann kannst du Fahrrad fahren.“ Später lernte er in der Armee Autofahren und damit war die Angelegenheit erledigt. Als Kind war er sehr selbstständig, der bei jeder Gelegenheit jobbte. Er lieferte Blumen ins Haus und später kalkte er Häuser, ganz allein, drei Stockwerke hoch, auf einer großen Leiter. Etan schloss die Schule in Rechawia ab und wusste schon damals, dass er Arzt werden will. Er meldete sich zu den Fallschirmspringern in der Armee und absolvierte die Offiziersschule erfolgreich. Er erreichte den Grad eines Hauptmanns. Unter anderem absolvierte er auch einen Sanitäterlehrgang und die Arbeit gefiel ihm, weil er viele Stunden bei Arnold im Krankenhaus verbracht hatte. Die Medizin hatte begonnen ihn sehr zu interessieren.

Arbeitserlaubnis in Österreich 1973

1956, während des Kadesch-Krieges, wohnten wir in NeweScha’anan in Jerusalem und haben vom Krieg nichts mitbekommen. 64


Im Sechs-Tage-Krieg lebten wir in Jerusalem. Im Jom-KippurKrieg 1973 weilte ich in Wien im Rahmen meiner freiwilligen Tätigkeit bei der Hilfe für Einwanderer aus Russland, dank meiner Russischkenntnisse. Ich habe nicht mitbekommen, was in Israel an jenem Tag geschah. Am Abend ging ich zu einer Synagoge in der Stadt, um Kaddisch für meine Eltern zu sprechen und dort ermöglichte man mir nach Israel zu telefonieren. Arnold ging ans Telefon und sagte: „Was? Du weißt nicht, dass es Krieg gibt?“ Ich wusste, dass Etan einberufen wurde und habe sofort ein Paket für ihn mit allerlei guten Sachen, die ich hatte, wie z.B. Sardinen, gepackt und ihm an seine militärische Identitätsnummer geschickt. Ich habe sofort meine Aktivitäten in Wien abgebrochen, um schnellstens nach Hause zu fahren. Als wir uns später trafen, ärgerte er sich über das Paket mit den unnötigen Sachen und erzählte, dass er so hungrig war, dass er die Sardinendose gegessen hätte. Als ich noch in Wien war, habe ich eine Zeitung gekauft, um zu erfahren, was in Israel passiert. In der Zeitung sah ich ein Photo von Etan gesehen, wir er die Augen arabischer Kriegsgefangenen verbindet. Ich habe dann erfahren, dass er in einer Enklave in Syrien gewesen ist und dort das Kommando über seine Soldaten hatte. Er berichtete, dass die Armee von dieser Enklave nichts wusste und sie lange Zeit ohne Verpflegung waren, weil die Soldaten aus Furcht vor Schüssen nicht herauskommen konnten und die Verpflegung sie nicht erreichte. Bei seinen Urlauben von derArmee hat Etan im Krankenhaus gearbeitet und besuchte Kurse im Hadassah. Als Etan seinem Militärdienst beendete, wurde er sofort zum Medizinstudium zugelassen. Er lernte im Hadassah und arbeitete im Scha’arej-Zedek-Krankenhaus. Er spezialisierte sich in Pädiatrie und erfand ein Medikament gegen CF (Cystic Fibrosis). Diese Erfindung brachte ihn in ein kanadisches Krankenhaus, wo über CF geforscht wurde und er sein Praktikum 65


absolvieren konnte. Seine Frau Bat-Schewa, ebenfalls Professorin, die sogar eine Auszeichnung für ihre Arbeit bekam, begleitete ihn nach Kanada. Während ihres Aufenthaltes in Kanada bekamen sie zwei Töchter und ich habe sie dort ein Mal besucht. Heute ist Etan Professor und leitet die Pädiatrische Abteilungen im Hadassah En Kerem und Haddassa Har Zofim (Skopiusberg); er ist Vater dreier erfolgreichen Töchter.

Etan und Bat-Schewa

Die Älteste, Tom, heiratete ‚Tukki’, der in Schilo in den besetzten Gebieten geboren is, und sie heißt jetzt Tom Schoham. Tom ist Mutter meiner drei Urenkel – die Älteste ist Or und besucht die zweite Klasse; die Mittlere ist Ma’ajan und besucht die erste Klasse, und der Kleinste ist etwa zwei Jahre alt. Die Mittlere Tochter Etans heißt Aja und ist Psychologin für schwierigen Jugendliche. Sie ist mit Jischai verheiratet und lebt in 66


Tel-Aviv. Meine kleine Enkelin heißt, wie ich, Gila (Gili); sie hat den Militärdienst beendet und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfungen zum Medizinstudium vor. Ich habe Schoschana geholfen, so viel ich konnte. Ich habe ihr geholfen sich in der besten Straße Jerusalems niederzulassen. In all den Jahren hat sie in der Knesset gearbeitet und ist hoch aufgestiegen. Sie hat nicht geheiratet, hat zwei akademische Titel, hat ihren Platz im Leben gefunden und kann tun, was sie will. Robert, mein Bruder, ist nach mir aus Bukarest eingewandert. Er hat hier drei Söhne, die eigene Kinder haben, seine Enkel.

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15 Kapitel - Ein Leben gewidmet dem Ehrenamt und der Familie Als ich im Ausland lebte, engagierte ich mich in keinem Ehrenamt, weil das dort nicht üblich war. Jeder kümmerte sich nur um sich selbst. Als ich nach Israel eingewandert war, spürte ich, dass auch wenn ich erfolglos bliebe, ich einen kleinen Beitrag leisten wollte, um der Gesellschaft etwas zurückgeben. Und so fand ich im Laufe der Jahre Wege anderen Menschen zu helfen und verschiedene Ehrenämter zu haben. In der 50ger Jahren habe ich Menschen geholfen, Arbeitplätze zu finden und besorgte Schlafmöglichkeiten für diejenigen, die draußen blieben. Eines Abends z.B., habe ich Verwandte zur Bushaltestelle begleitet und gesehen, dass dort ein 40 oder 50jähriger Mann bitterlich weint. Es stellte sich heraus, dass er aus dem Norden kam, weil man ihm eine Arbeit bei der Jewish Agency versprochen hatte. Man hatte ihn einige Stunden warten lassen und er hatte kein Geld für die Rückfahrt, wobei der letzte Bus sowieso schon abgefahren war. Ich habe ihn mit nach Hause genommen, habe es Arnold erzählt und der Mann blieb über Nacht bei uns im Schlafzimmer. Ich dachte, dass ich ihn nie wieder sehen werde, aber eines Tages klopfte es an der Tür und dieser Mann trat mit seiner Frau und seinem Sohn ein, stellte uns vor und bedankte sich für die Hilfe. Ein anderer Fall: Meine Kinderpflegerin, Lea, brachte ihre Enkelin (dritte Schulklasse) zu uns nach Hause, weil sie kein Geld für das Ferienlager hatte. Ich will nicht sagen, ich bin so gut, sondern ich habe es aus Liebe zum Land Israel getan und ich habe ihr das Geld für das Ferienlager gegeben. Ich will es richtig stellen, ich bin keine, 68


die mit einer Tasche voller Geld jedem hilft, der sagt „Gib mir dafür oder für dieses.“ Später habe ich angefangen neuen Einwanderern aus Russland und Rumänien zu helfen, die noch nicht einmal Seder Pessach kannten. Ich habe sie zu uns für das Fest eingeladen und dafür gesorgt, dass mindestens 18 Menschen um den langen Tisch Platz fanden, der vom Eingang bis zum Balkon reichte. Man muss Arnold zu Gute halten, dass er sehr gastfreundlich die Menschen willkommen hieß, die ich nach Hause gebracht habe. Unter anderen ehrenamtlichen Tätigkeiten habe ich armen Familien geholfen, die Kinder hatten und einen leeren Kühlschrank. Ich war im Rachel-Strauß-Haus in Talpiot und habe ihnen geholfen, selbstgemachte Dinge zu verkaufen. In der ORT Schule habe ich eine Buchbinderwerkstatt eingerichtet, weil es mich ärgerte, dass die Eltern jedes Jahr neue Bücher kaufen mussten, obwohl ihnen dafür das Geld fehlte. Für diese Initiative und der Durchführung der Buchbinderwerkstatt habe ich eine Ehrenmedaille erhalten. Darüber hinaus habe ich zwei Menschen von der Kibbuzbewegung kennengelernt und sie erzählten mir, dass sie Freiwillige aus der Schweiz aufnehmen, weil sie nicht genügend Arbeitskräfte haben. Es fehlte ihnen aber an Geld einen Aufenthalt und Ausflüge in Jerusalem für die Freiwilligen zu finanzieren. Sie haben mich gefragt, ob die Freiwilligen bei mir übernachten könnten. Natürlich haben Arnold und ich zugestimmt. Wir haben den Balkon geschlossen und ihn so zu einem Zimmer umgebaut. Seitdem kamen ständig Paare oder Einzelpersonen aus dem Kibbuz und blieben bei uns; manchmal bis zu einem Monat lang. Mit einigen haben wir langjährige Freundschaften geschlossen. Eine besonders interessante Geschichte: Als ich in Mississippi angekommen war, nach einem Besuch bei Etan und Bat-Schewa, zeigten mir meine Gastgeber eine verwaiste Synagoge. Ich lernte, 69


dass es viele solche Synagogen in den USA gibt und sprach einen meiner Bekannten an, der viel Geld hatte.

Die Familie heute

Zu Hause haben Arnold und ich nicht darüber gesprochen, was wir erlebt haben. Erst jetzt liest mein Sohn Etan darüber. Manchmal sind die Erlebnisse so schlimm, dass man sie einfach verdrängen und am liebsten nicht mehr darüber nachdenken möchte.

Schoschana in den 1950 ger Jahren

Schoshana erinnert sich sicherlich an einige Begebenheiten. Wie daran, dass wir hinter einem Schrank im Nachbarhaus (es waren Familienangehörige Edmunds, meines ersten Mannes) uns verstecken mussten, und ich ihr eine Schlaftablette gegeben habe, damit sie nicht weint und die Deutschen oder die Rumänen sie hören könnten. Ein anderes Mal als kamen nachts Leute in unser Haus und erzählten, dass sie Juden umgebracht hätten und bereit wären, deren Fleisch zu essen. 70


Wegen dieser Erinnerungen habe ich mich strikt geweigert nach Czernowitz zu Besuch zu fahren. Eines Tages hat man mich zu einem Vortrag über ein Buch in Tel Aviv eingeladen. Das Buch beschreibt den Friedhof in Czernowitz, das Massengrab von 300 Juden, die dort im Juli 1941 umgebracht wurden, genau die Zeit als ich von dort geflohen bin. Alle haben das Buch gekauft und ich schätze den Autor dafür, dass er eine solche gute Arbeit geleistet hat. Zur selben Zeit haben Leute Schoschana gebeten, mich einzuladen mit ihnen zu einer Reise nach Czernowitz mitzukommen und meine Geschichte zu erzählen. Ich habe mich geweigert, weil allein der Anblick des Photos des Waldes jener Stadt mich erschütterte und ich war nicht bereit jenen Ort wieder zu sehen. Bei einer anderen Gelegenheit, wurde ich wieder anlässlich des Erscheinens eines Buches über die Bukowina eingeladen. Dabei war auch Teddie Kollek, der ehemalige Bürgermeister von Jerusalem. Während einige aus Czernowitz Reden hielten, schien er zu schlafen und nicht zuzuhören, da er immer wieder bei allen möglichen Veranstaltungen eingeschlafen war. Aber nach den Reden, nahm er die Hände aus den Hosentaschen und sagte: „Dieser verehrte Herr hat diese Einzelheit vergessen und der zweite Herr jene Tatsache nicht erwähnt.“ Obwohl er zu schlafen schien, hatte er jedem Wort zugehört. Mir scheint, ich bin die einzige in meinem Alter, die froh ist, alt zu sein und bald das Leben hinter sich zu haben. Ich habe schon meine Grabstelle gekauft; ich fürchte mich nicht vor dem Tod; ich bin Realistin. Ich habe viel gelernt, viel gelesen, habe die Welt gesehen. Ich möchte nicht in einem Zustand leben, wenn das Bewusstsein nicht mehr funktioniert und ich mich selbst nicht mehr kenne und man mich füttern muss. 30 Jahre lang hatte ich eine Nachbarin mit dem Namen Lola. Wir waren so gut befreundet, wie Schwestern, da ich keine Geschwister mehr habe und sie auch nicht. Ich habe ihre ganze Familie gekannt, und sie kannte meine. Jeden Abend wenn ich 71


von der Arbeit nach Hause kam, habe ich zuerst bei ihr reingeschaut und Hallo gesagt. Jeden Abend haben wir zusammengesessen. Wir waren gleichaltrig und letztes Jahr starb sie. Wenn ich jetzt ihre Kinder treffe, weinen wir, weil sie ihnen und mir fehlt. Irgendwann habe ich beschlossen in ein Altersheim umzuziehen. Es passte zu meinem Zustand damals. Ich habe die Wohnung in der AsaStraĂ&#x;e behalten. An den Freitagabenden komme ich zu Etan nach Hause und genieĂ&#x;e die Zeit mit den Enkeln und Urenkeln. Meine Enkel sind so lieb. Ihre Mutter Elischewa ist wunderbar und weiĂ&#x; sehr gut, wie man die Kinder erzieht.

Die Familie

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Urkunden:

Urkunde vom Roten MĂĄgen David

Urkunde vom Verein fĂźr die Soldaten

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