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Leseprobe »Meylensteine« – Heimat
»Douce France«, 2004»Mein Land«, 2002
HEIMAT
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Deutschland und Frankreich sind Meys zwei Heimatländer – und diese beiden Lieder erscheinen als Liedpaar wie die zwei Seiten einer Medaille: glänzend erhellt und dunkel schattiert.
Nach zwei deutschen Angriffskriegen gegen Frankreich ist die deutsch-französische Versöhnung (1963) noch Zukunftsmusik, als Reinhard Mey Mitte der 1950er- Jahre als Austauschschüler nach Paris reist. Auf privater Ebene war die deutschfranzösische Freundschaft für Meys Eltern schon lange selbstverständlich – und von einer Sommerfreundschaft in Frankreich 1954 erzählt er 2002 in »Weißt du noch, Etienne«. »Douce France« nun, 2004 erschienen, ist ein hochinteressantes biografisches Dokument, singt Mey doch erstmals in einem Lied ausführlich davon, wie er in Frankreich sozialisiert und für seinen Werdegang ganz entscheidend geprägt wurde. Das Paris der Erinnerung ist das Paris der Dichter, die Welt von Georges Brassens, Yves Montand und Boris Vian, den Mey noch selber hörte, bevor Vian 1959 starb. »Douce France«, das ist der akkordeongeschmückte, verklärte Bogen von vier Strophen, in den nur als Mittelteil ein düsteres Intermezzo von Prostitution und Pflastersteinen dringt. »Douce France« ist DAS Schlüsselerlebnis in Meys Jugend und selbstverständlich idealisiert; es ist nicht das Paris der späteren Banlieues, sondern das der versöhnlichen Wahlheimat. Und als solche heilt »la douce France« Wunden: »Da war nie ein Wort der Feindschaft, nie eine Demütigung, / Nur so ein gewisses Lächeln in meiner Erinnerung. / Manchmal, wenn ich an mir leide, dann machst du mich wieder heil, / von meiner schweren, dunklen Seele bist du der helle, der federleichte Teil.«
Zu diesem Erinnerungsraum passt, wie jede Strophe über 20 lang gezogene Takte kunstvoll und mit Wärme ausgebreitet wird, in einem fast zärtlich wiegenden, ausgedehnten, sich harmonisch vorwärtsbewegenden Erzählstrom. Dazu passt auch, wie das Stück in einem Wechselspiel von leuchtendem A-Dur und melancholisch angehauchtem fis-Moll changiert und die Klangpalette von den Akkorden der Kreuztonarten, von h über cis zu gis, eingefärbt wird. Nur ein ultrakurzer Refrain, gegen Schluss des Stückes von einem Accelerando-Tanz ergänzt, schließt die Strophen ab. Ein zweifaches Fazit »Douce France!« ist es, das alles aussagt, das erste Mal auf der Grundkadenz von A-Dur, das zweite Mal auf der Grundkadenz von fis-Moll niederschwebend. Mit dem Titel »Douce France« (gutes / liebliches Frankreich) spielt Mey sicherlich auch auf Charles Trenets berühmtes gleichnamiges Chanson aus den 1940er-Jahren an. Dort heißt es: »Douce France, cher pays de mon enfance / Bercée de tendre insousciance / Je t’ai gardée dans mon cœur!« (Liebliches Frankreich, geliebtes Land meiner Kindheit / In zärtlicher Sorglosigkeit geborgen / Ich habe dich in meinem Herzen bewahrt!) Diese Zeilen treffen auch auf Mey selbst zu, der mit diesem Lied auf dem Album »Nanga Parbat« sein ganz eigenes »Douce France« komponiert hat.
Ist die Liebe (zu Frankreich) die glänzende Seite der Medaille, so ist das Leiden (an Deutschland) die dunkle Seite. Neben der schwebenden Hommage an Meys Wahlheimat steht die grüblerische Reflexion über sein Mutter- und Vaterland. Dass dieses Liedpaar so verstanden werden kann, »Douce France« als Gegenstück zu »Mein Land«, dafür ist auch die Instrumentierung ein Indiz. Denn symbolisiert das Akkordeon in »Douce France« die Grande Nation, so gesellen sich in »Mein Land« ganz ungewohnt Violine und Violoncello zur Gitarre. Doch wieso diese beiden Instrumente, und wieso lassen der Anfang der Versmelodie von »Mein Land« und die Streicherzwischenspiele eine Ahnung von etwas ganz anderem anklingen?
Spurensuche! Mey singt »Mein Land« in G-Dur, in derselben Tonart, in der auch das Adagio aus Joseph Haydns »Kaiserquartett« op. 76/3 notiert ist – die Melodie dieses Streichquartett-Satzes wurde bekanntlich zur Melodie des »Deutschlandliedes«. Reinhard Mey nun, der vom Land der Opfer und der Täter singt, von Heuchelei, Widersprüchen und den fehlenden, obwohl lang versprochenen blühenden Landschaften: Er verwendet als Fragment aus dem »Deutschlandlied« genau jene Noten, die dort zu »Blüh im Glanze« [dieses Glückes] verwendet werden. Und die Streicherzwischenspiele verwenden bei Mey die darauffolgenden Noten, die zu den Worten »[blü]-he deutsches Va-[terland], blüh im Glanze« erklingen. Welch feinsinniger melodischer Bezug, bei dem die beiden Streichinstrumente zusätzlich auf die historischen Wurzeln des »Deutschlandliedes« als Streichquartett verweisen! Auf der Grundlage dieser Bezüge schreibt Reinhard Mey (der 1983 und 2001 das Bundesverdienstkreuz erhielt) also sein ganz eigenes »Deutschlandlied«, ein Lied, das dem Pathos der Nationalhymne entsagt, ja, ihm eine Gegenwelt des Haderns, Zweifelns und der Fragen gegenüberstellt: »Ich häng an dir, und bin in deinen Brüchen, / Im Guten, wie im Schlechten dir verwandt, / Ich bin dein Kind in deinen Widersprüchen, / Mein Mutterland, mein Vaterland, mein Land.« Zweifellos gilt auch: Wo man näher dran ist, fällt Negatives stärker ins Gewicht. Die zeitlich-biografische und geografische Distanz zu Frankreich, das kaum mit weniger Problemen als Deutschland zu kämpfen hat, verklärt und idealisiert und verschiebt die Gewichte zu Ungunsten des eigenen Landes.