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02. 05. 2013 #28

Nimby stoppt sie alle


6. + 7 . Mai 2013 Berlin #rc13

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Editorial

Der gute Uli

Eigentlich ist das eine banale Feststel­ lung. Der Hinweis erscheint allerdings immer wieder aufs Neue geboten. Vor einigen Jahren war es Schrauben-Milliar­ där Reinhold Würth, den die ­Verfolgung durch die Finanzbehörden nach eigenem Bekunden deshalb persönlich besonders hart traf, weil er in seinem langen Leben als Philanthrop mehr gegeben hat als die Bewohner e ­ iner Kleinstadt zusammen an Steuern entrichten. Er empfand den Steuerprozess vor dem Hintergrund ­seines Engagements als ungerecht und unangemessen. Und auch von Mäzenen, die nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten, ist immer wieder sinngemäß zu hören: „Ich gebe gerne. Allerdings will ich selbst ent­ scheiden, wofür.“ Letztlich liegt darin ein Grundgedanke des gemeinnützigen Stiftens. Der Stifter überträgt unwie­ derbringlich einen Teil seines

Vermögens, darf dafür aber in der ­Satzung seiner Stiftung weitgehend allein über die Zwecke bestimmen. ­ Das ist gut und wichtig, weil es dem staatlichen Handeln für das Gemein­ wohl ein unternehmerisch-freies an die Seite stellt. Deshalb lassen sich Spenden und Zustiftungen auch von der Steuer absetzen. Gegeneinander aufwiegen lässt sich Engagement und Rechtstreue aber nicht. Steuern sind die einzige dem ­Gemeinwohl dienende Einnahmequelle, über deren Verwendung demokratisch entschieden wird. Deshalb ist es not­ wendig, dass sie jeder bezahlt, der dazu in der Lage ist. Wie edelmütig und en­ gagiert jemand ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Uwe Amrhein ist Herausgeber von Enter.

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Titelfoto: fotolia

Im Medientumult um Uli Hoeneß geht ein wichtiger Aspekt unter: Das Spannungs­ feld zwischen großzügigem Mäzenaten­ tum und Steuerpflicht. „Uli, wir stehen hinter Dir! Du hast ja so viel Gutes getan“, lesen wir sinngemäß in den zahlreichen Solidaritätsadressen an den gefallenen Fußball-Funktionär. Nicht nur Fans des FC Bayern verstehen da etwas grund­ legend falsch. Soziales Engagement – auch mit Millionenspenden – ersetzt nicht die Steuerpflicht. Rechtlich ohne­ hin nicht, aber auch nicht moralisch.


Weltbeweger

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Ohrenkuss ist ein ganz besonderes Projekt: Alle knapp 60 Autoren des Bonner Magazins haben das Downsyndrom, aber viel wichtiger: Sie haben etwas zu sagen und jede Menge Leser. 3.000 Abonnenten lesen den halbjährlich erscheinenden Ohrenkuss. Seit 15 Jahren. Es geht um Liebe, Musik, große und kleine Skandale, um Essen und Trinken. Die Philosophie: „Man hört und sieht ganz vieles. Das meiste davon geht zu einem Ohr hinein und sofort zum anderen Ohr wieder hinaus. Aber manches ist wichtig, und das ist dann ein Ohrenkuss.“ http://ohrenkuss.de http://weltbeweger.de/toro/resource/html#!entity.1517

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Foto: Swetlana Gasetzki

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News

News Zahl des Monats

5,1 Milliarden Dollar sollen 2013 per Crowdfunding eingesammelt werden. Im vergangenen Jahr konnten die mehr als 1 Million ­Kampagnen auf 308 verschiedenen Plattformen laut Crowdfunding Industry Report 2,7 Milliarden Dollar zusammenbringen und so zahllose Musik­alben, Kunstaktionen und soziale Projekte ermöglicht werden.

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5.100.000.000 $ Pistolen zu Pflugscharen

Der Rapper Snoop Dog (inzwischen „Snoop Lion“) ist immer für eine Überraschung gut. Gerade hat er eine Schmuck-Kollektion herausgebracht, die aus eingeschmolzenen illegalen Waffen gefertigt wird. Ein Teil des Umsatzes von Jewelry for a Cause soll den Rückkauf von unerlaubten Waffen finanzieren.

Foto: imago

www.jewelryforacause.net

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News

Plötzlich reich

Fühlen Sie sich reich? Ein Besuch auf www.globalrichlist.com könnte Ihre ­Perspektive verändern. Die Homepage errechnet für jeden, der sein Einkommen eingibt, die persönliche Position auf einer weltweiten Einkommensskala. Bei einem Verdienst von 36.000 Euro im Jahr schafft man es schon auf Platz 99.095.653 der Forbes-Liste für jeder­ mann. Wer plötzlich merkt, nicht ganz so arm zu sein, wie er glaubte, kann auf der Website sofort etwas spenden

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www.pfand-gehoert-daneben.de www.Change.org

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Foto: CC BY-NC-ND 2.0 / Sean Bluemink / Flickr / Baisikeli / privat

Echt daneben

Der Unterschied zwischen Arm und Reich, so der Macher von „Pfand gehört daneben“, zeige sich nirgendwo deutli­ cher als beim Pfand. Die einen werfen die „wertlosen“ 15 Cent in den Müll, die anderen sind auf das Geld angewie­ sen und durchwühlen die Mülleimer danach. Da dies demütigend und gefährlich sei, macht sich die Initiative um Mischa Karafiat dafür stark, Flaschen neben die Mülleimer zu stellen und kreative Halterungen für die Pfandflaschen zu montieren.


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Kampfeinsatz „Nimby“ steht für „Not in my Back Yard“ – nicht in meinem Hinterhof. Es ist eine neue Selbstbezogenheit, die sich gern als Engagement tarnt, tatsächlich aber das genaue Gegenteil von selbstloser Freizeitbeschäftigung ist. Der „Nimby“ hat nichts gegen Veränderung, es sei denn vor der eigenen Tür. Und genau das ist das Problem. Nimbys sind keine dogmatischen Wut­ bürger, sie sind für den Bau von Kinder­ gärten, für saubere Energie und nehmen gerne mal das Flugzeug. Mit einer ganz entscheidenden Einschränkung: Kinder sollen doch woanders lärmen, Windrä­ der dürfen die freie Sicht nicht behin­ dern und die Flugroute soll bitte auch nicht übers eigene Haus führen.

Foto: imago

Die Nimbys haben längst Deutschland erreicht. Schlechte Zeiten für Innovati­ onsprojekte wie die Energiewende. Zwar unterstützt der Nimby den Ausstieg aus der Atomkraft, er weiß, dass es ohne Windräder, Pumpspeicherwerke und neue Stromtrassen nicht geht. Doch was, wenn sich künftig in der eigenen Gemeinde Rotorenblätter drehen sollen oder Strommasten aufgestellt werden? Dann entdeckt der berufene Nimby allerlei gute Gründe, warum gerade vor seinem Haus unmöglich ein Opfer für die Energiewende gebracht werden kann. Windräder können im Winter Eis abwer­ fen und Menschen verletzen, ganz zu schweigen vom Schattenwurf der Rotor­ blätter. Stromtrassen entwickeln Magnet­ felder und das auslaufende Wasser­ becken eines Pumpspeicherkraftwerks

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kann schon mal einen ganzen Landstrich verwüsten. Kein Argument scheint absurd genug, um nicht mit überzeugen­ dem Pathos und dem ganzen Arsenal von Bürgerbegehren, Petitionen, Pro­ testmärschen und zahllosen Gutachten vorgebracht zu werden. Dass anderenorts bereits Millionen Menschen in der Nähe von Windrädern überleben, stört da kaum. Dabei ist die tatsächliche Motivation der Unbeirrbaren häufig genug ziemlich schnöder Natur: die unverstellte Sicht ins Grüne oder Abstriche beim Wer t von Haus und Grundstück. Was passiert, wenn der Aktionismus von Bürgern nicht mehr Idealismus und Gemeinsinn entspringt, sondern getrie­ ben wird von Besitzstandswahrung und eigenen Interessen? Wenn nicht mehr Überzeugung und Haltung zum gemein­ samen Handeln motivieren, sondern Angst vor Veränderung und finanziellen Einbußen? Ist das noch Engagement im eigentlichen Sinne? Bürgerschaftliches Engagement zeichnet sich gerade dadurch aus, dass


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am Gartenzaun es nicht auf den finanziellen Vorteil schielt, dass nicht das eigene Fortkommen zum Handeln anstiftet. Engagement bedeutet, etwas für die Gesellschaft zu leisten. Bürger packen mit an, um die Lebensverhältnisse anderer zu verbes­ sern, sie geben etwas und nehmen nicht. Die Energiewende ist nichts anderes als ein Lackmustest, ob ein großes Gemein­ schaftsprojekt heute noch von allen mitgetragen wird. Kann ein solches Vor­ haben gelingen, wenn auch den Kom­ fortzonen der Republik etwas Solidarität abverlangt wird – gegenüber den vielen Landstrichen in Schleswig-Holstein oder Brandenburg, die schon einen enormen Beitrag leisten und Teile der Landschaft verspargelt haben? Egal, welche Argumente vorgeschoben werden: Das Denken des Nimbys endet am Jägerzaun und lässt alles vermissen, was einmal als Vision von bürgerschaft­ licher Partizipation existierte: Es fehlen Horizont und Offenheit von lokalen Agenda 21-Gruppen, das Engagement für soziale Gerechtigkeit vieler Bürger­ stiftungen oder die Ehrenamtsstärkung der Freiwilligenagenturen.

Dabei braucht es solidarisches Engage­ ment, um die echten Probleme anzuge­ hen, von denen es mehr als genug gibt: Abwanderung, Überalterung, Verein­ samung. Es gibt genug zu tun! Enter hat mit zwei Fachleuten über das Phäno­ men Nimby gesprochen, die zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen: Gerhard Matzig, Kulturre­ porter der Süddeutschen Zeitung, hat die Absurdi­ täten des Nimbys jahre­ lang beobachtet und erklärt, warum dessen Protest egoistisch, innovationsfeindlich und unsolidarisch ist. Protestforscher Die­ ter Rucht ist ganz unterschiedlichen Gründen für Protest gegen die Energie­ wende begegnet und meint: Dieser leiste einen wertvollen Bei­ trag. Diesen Beitrag kommentieren

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Foto: privat

Was aussieh

Enter: Wie kommen Sie zu ihrem drastischen Befund? Gerhard Matzig: Durch die Tugend der Beobachtung. Ich war als Kulturreporter immer wieder an den Schauplätzen, an denen sich wutbürgerliche Energie ent­ laden hat. Gerade der Protest gegen Projekte der Energiewende – Pumpspei­ cherkraftwerke oder Windkraftanlagen – hat mich interessiert. Ich war also an vielen Orten, an denen es um die Gestal­ tung der Zukunft ging. Wer protestiert dort und aus welchen Motiven macht er das? Aus den Beobachtungen vor Ort habe ich dann ein Buch destilliert. Enter: Wie steht es mit der Motivation dieser Protestierenden? Matzig: Man muss unterscheiden zwi­ schen dem ganz normalen demokratisch gesonnenen Mitbürger, der an der Gestaltung der Zukunft ein großes Inter­

Gerhard Matzigs Beobachtungen sind harter Toba der aggressiv oder depressiv anfühlt, das Hass au saturierten alten Männern, die keine Zukunft habe esse hat, und dem sogenannten Wut­ bürger, einer radikalen Minderheit die­ ser Protestierenden. Dieser verschließt sich Argumenten und will aufgrund sei­ nes Alters oder aus nostalgischen Grün­ den keine Veränderung. Wir haben es meist mit einer Gemenge­ lage zu tun: Da gibt es die egoistischen Motive – „Ich möchte nicht, dass die Flugroute über mein Haus führt“. Hinzu kommt dann oft eine moralische Argu­ mentation: „Fliegen ist ja ohnehin unöko­ logisch“. Das ist etwas, was aussieht wie bürgerschaftliches Engagement, was aber, wenn man genauer hinschaut, ein ganz egoistisches Interesse ist, zum Bei­ spiel der Erhalt des Grundstückwertes. Enter: Das berühmte Sankt-FloriansPrinzip, das im Gewand einer Bürgerinitiative daher kommt? Matzig: Es gibt ja in den USA dieses Phä­ nomen „Nimby Wars“. Nimby steht für „Not in my Back Yard“, zu Deutsch: „nicht in meinem Vorgarten“. Es beschreibt die Bürger, die Veränderungen ablehnen, wenn sie selbst unmittelbar davon betroffen sind. Sie erkennen ein größeres gesellschaftliches Interesse, zum Bei­ spiel den Bau einer Stromtrasse, von der


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wie Engagement ht, ist oft genug Egoismus

ak. Deutschland ein Land, das sich entweuf die Zukunft verspürt. Dominiert von en und deshalb jede Innovation abwürgen.

viele profitieren würden, nicht an. Sobald die unmittelbare Umgebung tangiert ist, wird das nicht akzeptiert. Früher gab es einen größeren gesellschaf tlichen ­Konsens. Dieser löst sich jetzt aber immer mehr auf – übrig bleiben Partikular­ interessen. Enter: Erleben wir heute einen Protest, der weniger altruistischer ist, als der in den 80ern? Matzig: Ich glaube, dass früher der Pro­ test politischer war. Ich war auch auf mancher Anti-AKW-Demo. Dahinter steckte eine klare politische Überzeu­ gung. Heute erleben wir einen EventProtest. Das hat etwas von einer Party für ältere Mitbürger, die es schick fin­ den, auch mal auf die Straße zu gehen. Ich habe auch Demonstranten getrof­ fen, die nicht genau wussten, wogegen gerade protestiert wurde. Enter: Wie bringen es Protestierende argumentativ zusammen, dass sie eigentlich für die Energiewende sind, aber die Stromtrasse im Ort ablehnen? Matzig: Ich bin mal einem pensionierten Apotheker aus dem Schwarzwald begeg­ net. Der führte eine Bürgerinitiative

gegen den Bau eines Pumpspeicher­ kraftwerkes an. Für die Energiewende ist das ein wichtiger Baustein, um Strom zu speichern. Dieser Apotheker hat dann ein geologisches Gutachten erstellen lassen, das feststellt, dass man sich in einem Erdbebengebiet befinde. Eine völlig absurde Argumentation. Kein Gebiet auf der Welt ist absolut erdbe­ bensicher, die Wahrscheinlichkeit, dass dort in den nächsten Tausend Jahren etwas passiert, ist an den Haaren her­ beigezogen. In einem Gespräch stellte sich dann heraus, dass es noch ein anderes wichtiges Argument gab, was aber nicht so laut postuliert wurde: Der Apotheker besitzt in der Nähe ein Feri­ enhaus, von dem aus er dann auf das Pumpspeicherkraftwerk gucken würde, und dies möchte er nicht. Der ist bis heute wütend auf mich, weil ich dies publik gemacht habe. Enter: Ist diese Form des Protestes gegen Infrastrukturmaßnahmen noch Engagement oder gesellschaftliche Teilhabe? Matzig: Es ist vor allem die Lust am Auf­ ruhr. Es ist ein Aufbegehren, es sich nicht mehr gefallen zu lassen. „Die da oben“ sind alle irgendwie bösartig, 9


4. BERLINER STIFTUNGSWOCHE 4.—14. JUNI 2013

Führungen, Vorträge, Workshops – offen für Diskussionen, offen für Berlin www.berlinerstiftungswoche.eu Die Berliner Stiftungswoche ist eine Initiative der Berliner Stiftungsrunde.


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ebenso wie ‚die Wir tschaf t“, „die Medien“ oder „die Industrie“. Man selbst stilisiert sich zum David, der gegen Goli­ ath zu Felde zieht, man ist das gallische Dorf, das Widerstand leistet. Enter: Diese breite Protestfront bremst Innovationen also erst einmal aus… Matzig: Ja, das ist so. Ich war viel im Land unterwegs und habe in jeder noch so kleinen Gemeinde erfahren, dass es dort ein kleines Stuttgart 21 gebe: irgendein Projekt und sei es ein Woh­ nungsbau, der seit Jahren umstritten ist und worüber sich ganze Gemeinden ent­ zweien. In einer Gemeinde in Oberbay­ ern streitet man seit Jahren über sechs Kastanien, die gefällt werden sollen oder eben nicht. Das ist ein Riss, der durch die ganze Gemeinde geht. Enter: Ist das auch eine Form von Ressourcenverschwendung auf der individuellen Ebene, wenn man Zeit und Energie nicht mehr ins klassische Ehrenamt steckt, sondern sich für oder gegen Kastanien aufreibt? Matzig: Ja, vor allem, wenn es nicht mehr angemessen ist. Wenn es zum Bei­ spiel um die Verlegung eines Buswarte­ häuschens geht. Das kostet unglaublich viel Zeit, Energie und Kommunikation. Es ist eine Idiotie, die es nur in einem sehr reichen, wohlhabenden Land wie Deutschland geben kann, das aus sehr kleinen Problemen sehr große macht. Engagement ist richtig, aber nicht bei jedem kleinen Eingriff notwendig. Häu­ fig sind es ja für die Gesamtheit sinn­

volle Dinge, die blockier t werden. Manchmal muss man Veränderungen auch einfach akzeptieren. Das war frü­ her einfacher. Heute ist das Private unglaublich wichtig geworden und das Öffentliche ziemlich unwichtig. Enter: Perspektivisch: Steuern wir auf eine „Gerontokratie“ zu? Matzig: Im Moment sehe ich es tatsäch­ lich relativ düster. Viele Politiker schei­ nen durch die Protestfront komplett verunsichert. Sie gehen falsch mit dem Protest um, trauen sich nicht mehr, eine Haltung zu haben. Man hört kein „Dafür stehe ich“ mehr, sondern man beugt sich dieser Trillerpfeifen-Demokratie, in der sich Stimmungen ganz schnell auf­ bauen, aber auch wieder verschwinden. Das führt zu keiner guten politischen Kultur. Allerdings sind dies eben modi­ sche Mechanismen, und Moden gehen auch wieder – das wird allerdings noch dauern. Während der Energiewende wird die Lage erst noch weiter eskalieren. Gerhard Matzig ist Architekt und arbei­ tet seit vielen Jahren für das Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. In seinem Buch „Einfach nur dage­ gen“ nimmt er den empörten Protestbür­ ger aufs Korn. Diesen Beitrag kommentieren

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Von wegen Prof. Dieter Rucht hat wenige Nimbys kennengelernt. Oft gibt

es viele Gründe für ein Dagegen. Den Protest von technisch und juristisch versierten Menschen nennt er eine Bereicherung, die schon jetzt viele Defizite der Energiewende aufgedeckt und Lösungen entwickelt hat.

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Enter: Alle schienen sich einig: Nach der Fukushima-Katastrophe sollte die Energiewende kommen. Gegen die nötigen Infrastrukturprojekte wie Strom­ trassen oder Windräder gibt es nun aber massiven Widerstand vor Ort. Ist es der berühmte Wutbürger, der hier auf die Barrikaden geht?

Foto: imago

Dieter Rucht: Man findet den Wutbürger zwar in den Reihen der Protestierenden, aber das Bild ist stark übertrieben und geprägt von den Berichten über Bürger­ proteste wie Stuttgart 21 und einzelne, diesem Bild entsprechende Personen. Hervorgehoben werden alte, gut situ­ ierte und wertkonservative Bürger, die sich gegen jede Form von Veränderung sträuben. Dieser Typus steht sicher nicht für die Gesamtheit der Protestie­ renden. Bei Themen wie Atomkraft und Energie sind auch viele junge Leute unter den Aktivisten.

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-Sager-Republik Enter: Bleiben wir bei der Energiewende. Was treibt die Menschen an, die heute gegen den Bau von Windrädern oder neue Stromtrassen protestieren? Dieter Rucht: Die Gründe dafür sind sehr vielschichtig. Man findet alles Mögliche an Motiven, manchmal sogar in einer Person. Da gibt es auf der einen Seite das Interesse, Nachteile von sich fern­ zuhalten. Das kann beispielsweise die Grundstücksentwertung durch eine zusätzliche Flugbahn sein. Da gilt, dass einem das eigene Hemd am nächsten ist. Dies mischt sich auf der anderen Seite oft mit anderen Motiven. So kann ich eine Flughafenerweiterung aus öko­ logischen Gründen ablehnen. Die Ent­ scheidung, ob ich protestiere oder nicht, treffe ich fast nie auf der Basis eines einzigen Grundes. Enter: Werden Gemeinwohl-Argumente bei den Protesten auch vorgeschoben?

Dieter Rucht: Es kommt vor, dass Gemeinwohlinteressen vorgeschoben werden, obwohl eigentlich ein persönli­ ches Interesse hinter dem Protest steht. Man sucht dann juristische Schneisen, um Projekte insgesamt zu verhindern. Wenn Bürger die Energiewende aus rein eigennützigen Gründen hinauszuzögern versuchen, dann ist das eine bornierte Haltung. Aber häufig mischt sich diese St. Florians-Haltung mit einer Gemein­ wohlorientierung. Enter: Aber wie glaubwürdig ist das Bekenntnis zur Energiewende einerseits und der Protest gegen die Umsetzung vor Ort andererseits? Dieter Rucht: Das Gros der Protestieren­ den verschließt sich ja nicht prinzipiell der Energiewende. Es geht dann eher darum: Wie wird diese Energiewende in der Praxis vollzogen? Da gibt es groß­ technische Lösungen, aber auch dezen­ trale Visionen, die zum Beispiel keine

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längs durch ganz Deutschland verlau­ fende Stromtrassen brauchen und sinn­ voll sein können. Enter: Wenn überall Protest entsteht: Wo werden am Ende die Stromtrassen gebaut? Dort wo am wenigsten laut gebrüllt wird? Dieter Rucht: Ja, das kann durchaus passieren, wobei man nach einzelnen Vorhaben unterscheiden muss. Bei Windrädern ist es eher möglich, alterna­ tive Standorte zu finden. Dagegen sind Pumpspeicherwerke nur an bestimmten Stellen möglich. Auch können die gro­ ßen Stromtrassen schwerlich mit gro­ ßen Umwegen verlaufen; da sind die Spielräume sehr viel enger. Generell gilt aber, dass sich Politik auch danach rich­ tet, wo der geringste Widerstand droht. Enter: Was halten Sie den Protesten im Zuge der Energiewende zugute? Dieter Rucht: Die Proteste mögen punk­ tuell borniert sein, haben aber in ihrer Gesamtheit doch eine korrigierende Funktion. Sie machen auf Probleme auf­

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merksam. Die Planer beim Netzausbau sitzen oft weit entfernt von den Betrof­ fenen. Da hilft es, wenn die Leute vor Ort auf etwaige Probleme hinweisen. Letzt­ lich geht es meist um einfache Punkte wie die Frage, ob die Trasse so nahe an der Grundschule gebaut werden muss? Ein Schlenker stellt keine prinzipielle Veränderung des Vorhabens dar. Viele Initiativen behalten am Ende recht: Pla­ nungen sind oft überzogen – das hat man schon bei den gigantischen Ener­ gieplänen aus den 70er Jahren gesehen, die nachträglich erheblich zurückge­ stuft wurden. Insofern hat ein guter Teil der Proteste eine nützliche Funktion. Enter: Ist jeder Protest auch Engagement? Oder braucht Engagement eine altruistische Grundierung, eine Gemeinwohlorientierung? Dieter Rucht: Wenn sich jemand durch ein Windrad beeinträchtigt fühlt, das ihm den schönen Ausblick versperrt, dann ist das ja eher ein ästhetisches Problem. Wenn aus dieser Haltung her­ aus solche Anlagen unmöglich gemacht werden, ist das eine bornierte Haltung.


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Aber wenn man genauer hinsieht, sind es doch oft auch andere, rationale Motive. Am Ende ist Protest aber immer eine Form politischer Teilhabe. Enter: Hat Deutschland ein Problem mit Innovationen? Dieter Rucht: Eine Reihe von Umfragen hat ergeben, dass im Vergleich zu anderen Ländern die Vorbehalte gegen Innovationen in Deutsch­ land nur in sehr geringem Maße stärker sind. Eine Technikphobie lässt sich überhaupt nicht bele­ gen. Deutschland ist definitiv keine Neinsager-Republik. Viel­ leicht wird einiges verhindert, aber sehr vieles auch realisiert. Prof. Dr. Dieter Rucht war bis 2011 KoLeiter der Forschungsgruppe Zivilge­ sellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa am Wissen­ schaftszentrum Berlin für Sozialfor­ schung. Er gilt als einer der renommier­ testen Protestforscher in Deutschland. Diesen Beitrag kommentieren

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07. Juni 2013 in Köln Beim openTransfer CAMP kommen am 07. Juni 2013 soziale Innovatoren, Macher erfolgreicher Bürgerideen und Social Entrepreneurs aus ganz Deutschland in Köln zusammen. In Diskussionen, Workshops und dem Ideen-Lab geht es um die Frage, wie eine ­­­­gute Idee groß wird. Es ist die zweite Veranstaltung im Barcamp-Format zu diesem Thema.

Jetzt kostenlos anmelden! opentransfer-camp.mixxt.de | #otc13


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Best of

Ferienhaus mit Aussicht Wenn das Pumpspeicherkraftwerk Atdorf im Schwarzwald wie geplant 2019 ans Netz gehen sollte, würde es das größte seiner Art in Deutsch­ land sein. Laut der Bürgerinitiative „Lebendige Natur e.V.“ des pensionierten Apothekers Klaus Stöcklin sprechen nicht nur Arsenvorkommen oder der Erhalt der Heilquellen gegen ein Pumpspeicher­ kraftwerk: Es ist auch die Gefahr eines Erdbebens. Schließlich wackelte 1356 im nahen Basel schon einmal die Erde. Ärgerlich: In einem Gespräch mit dem SZ-Journalisten Gerhard Matzig nannte er sein Wochenendhaus mit Blick auf das geplante Pump­ speicherwerk als einen weiteren wichtigen Grund für sein Engagement.

nimby Pumpspeicherkraftwerk: Brandgefährlich, wenn mal die Erde beben sollte.

Plötzlicher Sinneswandel Bis August 2012 hielten Nachbarn und Kollegen Hans-Joachim Mengel, Professor für Politik­ wissenschaft, für einen erklärten Gegner des Baus von Windrädern in der Uckermark und war aktives Mitglied in der Initiative „Rettet die Uckermark“. Für Überraschung und Empörung sorgte der „Don Quijote der Uckermark“, der Windräder gerne als „schlimmste Verheerung seit dem Dreißigjährigen Krieg“ geißelte, als er im Sommer des vergangenen Jahres dem Windparkbetreiber Enertag erlaubte, Wind­ kraftanlagen auf seinem Grundstück zu bauen. Von 40.000 Euro Pacht im Jahr war die Rede. Gebaut wurde am Ende doch nicht: Die Vorschriften zum Mindestabstand eines Windrads zur Wohnbebauung wurden geän­ dert und schmissen Mengel aus dem Spiel. Windräder: „Die schlimmste Verheerung seit dem Dreißigjährigen Krieg“

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Feine Nasen In Markt Schwaben (Bayern) wird es vorerst keine Biogasanlage geben. Der Grund: Die Gemeinde konnte sich nicht auf einen Standort einigen. Nicht ganz unbeteiligt an dieser Patt-Situation ist eine Anwohner-Initi­ ative, die aus Angst vor Geruchsbelästigung und einem vermehrten Verkehrsaufkommen durch die Anlieferung gegen die Anlage mobilmachte. Auch die anschließend einge­ Biogasanlage: Anlieferung könnte mehr Verkehr bedeuten reichten Vorschläge einer Betreibergemein­ schaft, bestehend aus circa 25 Markt Schwabener und Finsinger Landwirten hatten es schwer. Der Gemeinderat nahm die Bedenken anderer Anwohner ernst und lehnte alle Vorschläge ab. Damit wurde der Fall in Markt Schwaben im März 2011 ad acta gelegt. Der Biogasanlage wurde schließlich im Nachbarort Finsing gebaut.

Die Bürgerinitiative Stauferland macht keinen Hehl daraus, dass es bei der Verhinderung von Wind­ kraftanlagen im Kreis Göppingen nicht in erster Line um etwaige Gesundheitsgefährdungen geht, die Bewegungsfreiheit der Fledermäuse oder Wan­ derrouten von Käfern – es geht vor allem um das dekorative „Landschaftspanorama Voralb“ und das „Fotopanorama Stauferlinien“. Die historische Landschaft verdiene „Wertschätzung und Würde“, die mit Windrädern nicht vereinbar ist. Rund 1.700 Unterschriften hat die Initiative gesammelt, die nun an Landesministerien, die Europäische Kom­ mission und den Europarat geschickt werden. „Windräder ja, aber nicht hier!“

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Fotos: imago, AFP/Getty images

Würde der Landschaft


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Wer zwischen 18 und 27 Jahre alt ist und ein ­gemeinnütziges Projekt plant oder bereits umsetzt, kann sich bis zum 14. Juni für die 17. Runde der CivilAcademy bewerben. An drei Wochenenden wird in Sachen Finanzierung, Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung gecoacht. www.civil-academy.de/bewerbung_teilnahme/ aktuelle_ausschreibung Wie kann man die auf Facebook zugebrachten Stunden für den guten Zweck nutzen? Mit der TimeSpend-App entscheiden Sie, wie viel Geld Ihnen eine Stunde auf Facebook wert ist, sammeln Ihre Zeit und spenden am Ende der Woche die Summe einem SOS-Kinderdorf. www.designmadeingermany.de/2013/6699

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R E S T E R E C H N E R

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Ab in die Tonne? Fast ein Drittel aller eingekauften Lebensmittel landen in den deutschen Müll­ eimern – verschenkte Energie, verschwendetes Geld. Der Reste­ rechner zeigt, was Sie mit dem verlorenen Rest stattdessen hätten tun können. http://resterechner.de/

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Fact-Checking wird im Netz nicht immer ernst genug genommen. Gerüchte, Unterstellungen, Unwahrheiten verbreiten sich rasant. Das Entwickler-Team um hypothes.is will für Web-Content eine Layer entwickeln, mit deren Hilfe News-Seiten, Blogs, Fachartikel, Bücher oder Gesetze kommentiert und korrigiert werden können. http://hypothes.is/


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Impressum Herausgeber: Uwe Amrhein Redaktion: Henrik Flor, Katharina Stökl Gestaltung: Simone Schubert, www.derzweiteblick.org Propststraße 1 10178 Berlin Telefon +49 / 30 - 30 88 16 66 Telefax +49 / 30 - 30 88 16 70 redaktion@entermagazin.de www.entermagazin.de Enter erscheint in Kooperation mit der Stiftung Bürgermut und dem Engagement-Netzwerk www.weltbeweger.de.


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