erklärung! 04_September_12

Page 1

das Magazin der ERklärung von bern

# 04 September_12

Ste u e r f l u c h t

St e u e rn und Entwic k l u n g

behi n de r t die

Starre Fronten geraten in Bewegung Seit Jahren betont die Erklärung von Bern die zentrale Bedeutung der Steuerthematik für Entwicklungsländer und zeigt die Schäden durch Steuerflucht auf. In der internationalen Diskussion hat das Thema enorm an Fahrt gewonnen. Endlich beim Bundesrat angekommen, müssen auf die Einsicht Taten folgen. Text_Andrea s Missba ch // F o t o _ P a n o s P i c t u r e s

Im April dieses Jahres hat der Bundesrat einen Bericht veröffentlicht, der zum ersten Mal aner­ kennt, dass es aus «entwicklungspolitischer Lo­ gik» und «zum Erhalt der Reputation des Finanz­

platzes Schweiz» nötig ist, den steuerlichen In­ formationsaustausch auch «Entwicklungsländern aller Entwicklungsstufen» zu gewähren. Im sel­ ben Bericht betont der Bundesrat, dass für ihn Doppelbesteuerungsabkommen klar den Vorrang haben vor den, für Entwicklungsländer geeig­ neteren, einfachen Informationsabkommen. Doppelbesteuerungsabkommen: Teuer und exklusiv Doppelbesteuerungsabkommen regeln nicht in erster Linie den Informationsaustausch im Rah­ men der Amtshilfe, sondern sie sollen primär die F o r ts e tz u n g > >

erklärung!_04_2012

E nt w i c k l u n g

vieler Länder des Südens – die Schweiz spielt dabei eine wichtige Rolle.


2 __ Ste uern und Entwicklung

doppelte Besteuerung von Unternehmensgewin­ nen verhindern. Die Schweiz verfolgt in diesen Verhandlungen das Ziel, die Höhe der Quellen­ steuern zu senken, welche die Partnerländer er­ heben dürfen, wenn Schweizer Konzerne von ihren dortigen Tochtergesellschaften Lizenzge­ bühren, Zinszahlungen auf konzerninterne Kre­ dite oder Dividenden erhalten. Für die Entwick­ lungsländer sind diese Steuern eine wichtige Einnahmequelle. Zudem bieten Quellensteuern auf Zinsen und Lizenzgebühren einen Schutz gegen die Steuervermeidung von Unternehmen. Sie mindern den Anreiz für multinationale Kon­ zerne, ihre Gewinne über künstlich aufgeblähte interne Lizenzzahlungen und Zinsen ins steuer­ günstigere Ausland zu verlagern. Solche über­ höhte Zahlungen sind ein gängiges Mittel für Unternehmen, die Gewinne künstlich zu vermin­ dern, wodurch den betroffenen Entwicklungs­ ländern Einnahmen aus den Gewinnsteuern ent­ gehen. Die Schweiz will zudem zuerst die bestehen­ den Doppelbesteuerungsabkommen anpassen. Da nur eine Minderheit der Entwicklungsländer – diejenigen, an denen die Schweizer Wirtschaft ein besonderes Interesse hat – bereits über ein solches Abkommen verfügt, bleibt die grosse Mehrheit aussen vor. Um den aktuellen OECD-Standard, den «In­ formationsaustausch auf Anfrage» zu vereinba­ ren, braucht es allerdings nicht zwingend neue

___«Oder beschränken wir die Weiss­g eldstrategie nur auf die Deutschen und die USA? Für Leute aus Afrka oder Asien würde das dann nicht gelten? Das geht nicht.» Oswald Grübel, früherer CEO der CS und der UBS

panos pictures

>>Fortset zung von S eit e 1

oder revidierte Doppelbesteuerungsabkommen. Die Schweiz könnte auch einfache Steuerinfor­ mationsabkommen abschliessen, die ausschliess­ lich den Informationsaustausch in Steuerfragen regeln. Damit liesse sich der Doppelstandard zwischen den Industrieländern und der grossen Mehrheit der Entwicklungs- und Schwellenlän­ der bei der Gewährung von steuerlich relevanten Informationen aufheben. Im Gänsemarsch Richtung automatischer Informationsaustausch Mit der Bereitschaft zum Informationsaustausch auf Anfrage und mit den bilateralen Zugeständ­ nissen an die USA ist die Schweiz seit 2009 von der absoluten Verweigerung der Amts- und Rechtshilfe bei Steuerhinterziehung abgerückt. Aber die Anforderungen an eine Anfrage sind hoch: Um von der Schweiz Amtshilfe zu bekom­ men, müssen die ersuchenden Staaten Angaben machen, die sie häufig nicht haben. Die Informa­ tionen, die einen Verdacht auf Steuerhinterzie­ hung begründen und erhärten könnten, sind zwar in der Schweiz vorhanden, können aber nicht erfragt werden. Dies gilt insbesondere für Entwicklungsländer mit begrenzten Ressourcen. Seit der Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz Anfang Jahr den automatischen Informationsaustausch als Option für die Schweiz in die Diskussion ge­

Za h l e n sagen mehr a l s W o r t e... Die illegalen Geldflüsse aus Entwicklungsländern in Steueroasen betragen laut der OECD jährlich.

850 Mia. US-$

60 % dieser illegalen Geld­

flüsse stammen aus Steuerflucht von Unternehmen und Privaten.

490 Mia. US-$

Steuerfluchtgelder aus Entwicklungsund Schwellenländern liegen in der Schweiz, sie verursachen einen jährlichen Verlust von

Die Entwicklungsländer verlieren durch Steuerflucht jedes Jahr mögliche Steuereinkünfte.

284 Mia. US-$

7,35 Mia. US-$.

erklärung!_04_2012


Ed i to __ 3

worfen hat, ist diese EvB-Kernforderung salon­ fähig geworden. Bundesrat und Bankenlobby sind allerdings noch nicht so weit. Mit den mit Grossbritannien, Deutschland und Österrei­ ch ausgehandelten Abgeltungssteuerabkommen versucht die Schweiz, die Anonymität auslän­ discher Steuerhinterzieher zu wahren und durch die hiesige Besteuerung für die Herkunftsländer akzeptabel zu machen. Dass dies aber für Ent­ wicklungsländer nicht vorgesehen ist, fiel sogar Oswald Grübel, dem früheren CEO der CS und der UBS, auf: «Oder beschränken wir die Weiss­ geldstrategie nur auf die Deutschen und die USA? Für Leute aus Afrika oder Asien würde das dann nicht gelten? Das geht nicht.» Dabei wäre eine Besteuerung der in der Schweiz parkierten Gelder für Entwicklungslän­ der als Zwischenlösung bis zum automatischen Informationsaustausch durchaus sinnvoll. Eine «Abgeltung», wodurch diese Gelder als steuer­ lich «weissgewaschen» behandelt werden, sollte aber damit nicht verbunden sein. Während früher vor allem die EU den auto­ matischen Informationsaustausch forderte, er­ hält dieses Mittel gegen Steuerflucht inzwischen auch aus den Ländern des Südens Unterstüt­ zung. Indien ist die neue treibende Kraft, die in­ nerhalb der G­-20 (Gruppe der 20 grössten Indus­ trie- und Schwellenländer) den Druck auf Steu­ eroasen für Transparenz und Informationsaus‑ tausch verstärkt hat. In der Schlusserklärung des G­-20-Gipfels von Mexiko verpflichteten sich die Staatsoberhäupter im Juni 2012, mit gutem Bei­ spiel bei der Umsetzung des automatischen In­ formationsaustauschs voranzugehen.

Eine ausführliche Broschüre zum Thema sowie ergänzende Factsheets finden Sie unter www.evb.ch/factsheetsteuern.

erklärung! 4/2012 Auflage 21 600 Exemplare Erklärung von Bern (EvB), Dienerstrasse 12, Postfach, 8026 Zürich, Telefon 044 277 70 00, Fax 044 277 70 01, info@evb.ch, www.evb.ch Re­da ­ k ­tio n ­Susanne Rudolf, Angela Birrer ­Gesta lt ung Clerici Partner Design, Zürich D r uck ROPRESS Genossenschaft, Zürich; gedruckt mit Bio­farben auf Cyclus Print, 100 % Altpapier, klimaneutraler Druck Impr essu m

Heraus­geberin

« e r k l ä r u n g ! » e r s c h ei n t 4 - bis 5 - ma l j ä h r l i c h . M it­g l iede r beitrag: Fr. 60.– pro ­Kalenderjahr (inklusive Abonnement «erklärung!» und EvB-­D okumentation). Postkonto 80-8885-4

erklärung!_04_2012

Wem soll Entwicklungs­ zusammenarbeit dienen? Susanne Rudolf

Weshalb betreibt die Schweiz Entwicklungszusammenarbeit? Diese Diskussion ist in der Schweiz wieder neu entfacht. Nach Meinung verschiedener PolitikerInnen der Mitte- und Rechtsparteien muss Entwicklungshilfe auch dazu dienen, die Auswanderung aus südlichen Ländern in die Schweiz einzudämmen. Eine neue Studie der Denkfabrik «foraus» besagt allerdings das Gegenteil: Entwicklungshilfe begünstige die Auswanderung aufgrund der verbesserten finanziellen Lage der Bevölkerung. Soll die Entwicklungshilfe nun an gewisse Bedingungen geknüpft werden? Entwicklungszusammenarbeit mit den Eigeninteressen der Schweiz zu verknüpfen, ist nach Ansicht der EvB falsch. Entwicklungshilfe dient vor allem der Armutsminderung vor Ort. Der Kerngedanke – «geben», nicht auch «nehmen» – muss im Vordergrund stehen. Solidarität ist wichtiger als die Hoffnung auf Vorteile der Schweiz. Dem anzufügen ist, dass Entwicklungszusammen­ arbeit für sich alleine nicht genügt, um die globale Armut – eine der vielen Ursachen für Migration – zu bekämpfen. Nebst ausländischer Hilfe brauchen Entwicklungsländer dringend auch höhere eigene Einnahmen – in Form von Steuern. Durch Steuervermeidung verlieren sie nämlich jährlich 284 Milliarden US-Dollar Einnahmen. Das ist mehr als doppelt so viel wie die weltweit geleistete Entwicklungshilfe 2011 (125 Mia. US-$). Die fehlenden Steuereinnahmen sind vorwiegend auf die Steuerflucht von Privatpersonen in Steueroasen und die aggressive Steuervermeidung multinationaler Konzerne zurückzuführen – Praktiken, bei denen die Schweiz eine sehr unrühmliche, aber zentrale Rolle spielt. Möchten Schweizer PolitikerInnen wirklich etwas gegen die Ursachen von Migration unternehmen, dann muss nicht die Entwicklungszusammenarbeit an Bedingungen geknüpft werden, sondern die Schweiz müsste konsequent gegen Steuerflucht vorgehen.


4 __ i n e igener Sa che

Er b s c haft

Ihr Vermächtnis für eine gerechtere Welt Mit einem Testament können Menschen Organisationen und Personen berücksichtigen, die ihnen besonders am Herzen liegen. Text_Marion G ra ber

Was würde mit ihrem Vermögen ge­ schehen im Falle eines Flugzeugab­ sturzes? Das fragten sich die beiden Schwestern Erna* und Adele* vor Jah­ ren auf einem Flug nach Afrika. Kurz vor der Reise hatte Erna ein grösseres Vermögen von ihrem verstor­ benen Ehemann geerbt, und da beide Schwestern kinderlos waren, kam diese Frage auf. Sie waren sich einig, dass Geld nur positiv ist, wenn es für einen guten Zweck verwendet wird. Wieder zu Hause, erstellte Erna des­ halb umgehend ein Testament. Darin

hielt sie fest, dass ihre Schwester einen Teil des Vermögens erben sollte, um einen gesicherten Lebensabend ver­ bringen zu können. Den anderen Teil sollte diese im eigenen Ermessen ge­ meinnützig verteilen. 25 Jahre nach der gemeinsamen Afri­ kareise starb Erna letztes Jahr. Adele, in­ zwischen 88-jährig, verteilte die Hälfte der Erbschaft – wie im Testament fest­ gehalten – an gemeinnützige Organisati­ onen. Unter anderem fiel die Wahl auf die EvB, wo Adele seit vielen Jahren Mitglied ist. Während ihrer Afrikareisen hatte Adele Rohstoffminen besucht und die schlechten Arbeitsbedingun­ gen hautnah miterlebt. Deshalb bescher­ te ihr die Lektüre des EvB-Rohstoff­ buchs fast schlaflose Nächte. Mit dem Vermächtnis ihrer Schwester ermöglicht

sie der EvB, die Aktivitäten im Rohstoff­ bereich kurzfristig auszuweiten. Für Adele ist klar, dass auch sie ihr Vermögen an gemeinnützige Organisa­ tionen vermacht. Um der Gesellschaft nicht allfällige Pflegekosten aufzubür­ den, verteilt sie ihr Geld jedoch nicht jetzt, sondern erst testamentarisch. Mit einem schalkhaften Lachen meint sie zum Älterwerden: «Alle wissen, dass sie alt werden, ausser sie sterben vorher.» * Name n au f Wu n sch geändert.

Bestellen Sie kostenlos, unverbindlich und vertraulich die EvB-Testaments­ unterlagen bei Marion Graber, marion.graber@evb.ch, 044 277 70 12. www.evb.ch/erben.

Ge n e r alversamm lu n g

Martin Bichsel

Gemeinsam in die Zukunft

Nach dem g r ossen F ototermin

auf die gemeinsame Zukunft an!

mit dem Team und dem Vorstand stiessen alle freudig

T e x t_ M ar i o n Gr ab e r

Der 23. Juni 2012 war ein historischer Tag für die EvB: Mit den an der Gene­ ralversammlung 2012 verabschiede­ ten Statuten gewinnt die EvB mehr Schlagkraft und einfachere Entschei­ dungsprozesse. Nachdem am Vormit­ tag in Bern-Bremgarten die drei regio­ nalen GVs stattgefunden hatten, trafen sich die Mitglieder nach einem reich­ haltigen Mittagsbuffet zur gesamt­ schweizerischen Generalversammlung. Die einstimmig angenommene Sta­ tutenrevision hebt die regionale zu­ gunsten einer gesamtschweizerischen Entscheidungsstruktur auf. Zusätzlich wurden einige Anpassungen verab­ schiedet, um dem heutigen Sprachge­ brauch und üblichen Vereinsstatuten Rechnung zu tragen. Die anwesenden Mitglieder wählten zudem alle 13 Kandidierenden in den neuen Vor­ stand sowie Pierrette Rohrbach als Prä­sidentin. erklärung!_04_2012


5 __ Ko n fe r e n z

Bi o p i raterie

Nagoya-Protokoll: Umstrittene Rolle der indigenen Gemeinschaften Vom 2. bis 6. Juli 2012 fand in De­lhi das zweite Treffen des zwischenstaatlichen Komitees für das Na­goya-Protokoll statt. 115 Länder, darunter auch die Schweiz, waren mit Delegationen vertreten, um noch offene Punkte im Protokoll zu verhandeln. Die EvB war als Beobachterin an den Verhandlungen dabei. Text_Flu rina D opp ler

In der Schweiz soll das Nagoya-Protokoll 2013 ratifiziert werden. Die Vernehmlassungsfrist für den Vorschlag des Bundesamtes für Umwelt zur Änderung des Bundesgesetzes über den Natur- und Heimatschutz lief Anfang September ab. Die EvB hat in einer Stellungnahme den Gesetzesentwurf und die Botschaft des BAFU kommentiert und Verbesserungsvorschläge eingebracht. Bis jetzt haben fünf Länder das Protokoll ratifiziert, verschiedene Länder sind wie die Schweiz im Vorbereitungsprozess.

erklärung!_04_2012

D as Na g o y a -Pr o­ to ko ll g e g e n

soll verhindern, dass indigene Gruppen leer ausgehen, wenn andere aus ihren

Biopirater ie

African Center for Biosafety

Als im Oktober 2010 das Nagoya-Pro­ tokoll gegen Biopiraterie verabschie­ det wurde, blieben zahlreiche Punkte unklar. Einer davon ist die im Proto­ koll «über den Zugang zu genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Vorteile» – wie das Abkommen offiziell heisst – fest­ geschriebene Forderung an die Ver­ tragsstaaten, die Einhaltung des Proto­ kolls zu fördern und in Fällen von Zu­ widerhandlung einzuschreiten. Letztes Jahr wurde vereinbart, dass zu diesem Zweck ein sogenanntes Compliance-Komitee eingesetzt wird. Wie dieses Gremium genau aussehen soll, war das umstrittenste Thema der Konferenz. Zwar wurden sich die Delegati­ onen rasch einig, dass das Compli­ ance-Komitee aus je drei Vertrete­ rInnen aus jeder der fünf Uno-Re­

ge netis c h e n Res source n und ihrem traditionellen Wissen Profit schlagen.

gionen bestehen soll, kein Konsens herrschte jedoch bei der Frage, ob und wie die indigenen und lokalen Ge­ meinschaften (ILCs) darin vertreten sein sollen. Während die Schweiz einen Sitz im Komitee für eine ILC-Vertretung vorschlug, wollten andere den Indi­ genen nur einen Beobachterstatus ge­ währen oder lehnten eine spezielle Er­ wähnung der ILCs gar ganz ab. Die von Malaysia kurz vor Ende der Verhandlungen eingebrachte Idee, dass das Compliance-Komitee bei al­ len substanziellen Fragen ein von den ILCs selbst bestimmtes Gremium kon­ sultieren soll, wurde von verschie­ denen Seiten als Kompromiss be­ grüsst, jedoch schliesslich auf Antrag der EU nicht in den Konferenztext auf­ genommen.

Damit blieb die Frage, ob die ILCs in diesem internationalen Kontrollgre­ mium vertreten sein sollen, unbeant­ wortet. Aus Sicht von Organisationen wie auch von gewissen Staaten ist ein klar geregelter Einbezug der ILCs in das Compliance-Komitee für dessen Glaubwürdigkeit zentral: Sie nehmen in dem Protokoll, das ihre Rechte be­ züglich Nutzung der genetischen Res­ sourcen stärken soll, nicht nur eine spezielle Rolle ein, sondern verfügen auch über die Expertise zu traditio­ nellem Wissen. Wie es mit dieser Frage und weiteren offenen Punkten weitergehen wird, wird die Vertrags­ staatenkonferenz der Biodiversitäts­ konvention im Oktober bestimmen.


Kampa g ne __ 6

Ha n d e lspolitik

Offener Begleitbrief für bundesrätliche Chinareise In einem prominent platzierten Schreiben an Johann SchneiderAmmann in der «NZZ am Sonntag» forderte eine NGO-Koalition ver­ bindliche Menschenrechtsklauseln im Handelsabkommen Schweiz – China. Mit Erfolg. Text_Oli ver C la ssen

Anders als etwa im angelsächsischen Sprachraum wird der «Offene Brief» hierzulande kaum als politisches Kam­ pagneninstrument eingesetzt. Viel­ leicht liegt im Überraschungseffekt denn auch eine Teilerklärung für das erfreuliche Echo, welches das Anfang Juli in der «NZZ am Sonntag» und im «Le Matin» publizierte Schreiben medi­ al und politisch fand. Absender war die von der EvB 2010 mitgegründete «Chi­ na-Plattform», zu der unter anderem auch Alliance Sud und Solidar gehö­ ren. Die freundlich, aber bestimmt for­ mulierte Erinnerung «an die menschen­ rechtlichen Pflichten der Schweiz und die häufig skandalösen Arbeitsbedin­ gungen in China» waren der Schweize­ rischen Depeschenagentur zwei Mel­ dungen wert, die wiederum diversen

Redaktionen als Anlass für eigene Be­ richte dienten. «Schneider-Ammann ist bei seinen Treffen mit chinesischen Ministern nach eigenen Angaben der Aufforde­ rung von Entwicklungsorganisationen gefolgt und hat auch die Menschen­ rechte angesprochen.»: So und ähn­ lich rapportierten diverse Schweizer Zeitungen aus Peking. Zur Resonanz dürften neben dem guten Timing auch die seriösen Trägermedien beigetragen haben. Öffentliche Aufmerksamkeit

verschafften die zwei kommerziellen Inserate zudem der von der SP-De­ legiertenversammlung jüngst verab­ schiedeten Referendumsdrohung so­ wie der spezifisch chinesischen Ver­ bindung von «Freihandel und Zwangs­ arbeit». Dies war übrigens nicht nur der Titel des offenen Briefes, sondern ist auch Leitmotiv des Schweizbe­ suchs des ehemaligen Zwangsarbei­ ters und heutigen Menschenrechtsak­ tivisten Harry Wu (Porträt S. 8).

Veranstaltung Freihandel und Zwangsarbeit. Chinesische Menschenrechtsprobleme und Schweizer Wirtschafts­interessen im Widerspruch. Referat und Diskussion mit dem chinesischen Dissidenten Harry Wu (wird simultan übersetzt).

Menschenrechte ?

Bundesrat Johann Schneider-Ammann Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements (EVD) Bundeshaus Ost 3003 Bern

Arbeitsrechte? Minderheitenrechte? Handelsrechte?

Offener Bri ef

Zürich und Bern, 8. Juli 2012

China – Freihandelsabkommen und Zwangsarbeit Sehr geehrter Herr Bundesrat Schneider-Ammann Sie reisen heute nach Peking, um den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit China neuen Schwung zu verleihen. Wir möchten Sie in diesem Zusammenhang an die menschenrechtlichen Pflichten der Schweiz und die skandalösen Arbeitsbedingungen in China erinnern. Von der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrates haben Sie den Auftrag er-

Mittwoch, 12. September 2012, 19.30 Uhr im Volkshaus Zürich (Blauer Saal), freier Eintritt

halten, ein Nachhaltigkeitskapitel in die Verhandlungen zu integrieren, das arbeitsrechtliche Mindeststandards in Form der ILO-Kernarbeitsnormen beinhaltet. Ein besonders stossendes Beispiel für deren Verletzung sind die in China weit verbreiteten Zwangsarbeitslager. Schätzungen zufolge schuften drei bis fünf Millionen (meist politische) Häftlinge in solchen Lagern. Es darf nicht sein, dass mit Zwangsarbeit hergestellte Produkte vom Freihandelsabkommen profitieren und auf dem heimischen Markt Schweizer Erzeugnisse konkurrenzieren. Deshalb bitten wir Sie, geschätzter Herr Bundesrat, die aktuelle Menschenrechtssituation bei Ihrem Besuch ernsthaft und nachdrücklich mit an den Verhandlungstisch zu bringen. Sorgen Sie dafür, dass im Freihandelsabkommen mit der Schweiz griffige und verbindliche Bestimmungen zum Schutz der Menschenrechte in China festgeschrieben werden. Für die Umsetzung dieses Anliegens vieler Schweizerinnen und Schweizer wünschen wir Ihnen allen erdenklichen Erfolg auf Ihrer Handelsmission. Mit hoffnungsfrohen Grüssen

Sc h o k olade

Nestlé weist Kinderarbeit nach Nestlé hat seine Lieferkette für Kakaobohnen offiziell prüfen las‑ sen. Ergebnis davon ist, dass missbräuchliche Kinderarbeit nach wie vor weit verbreitet ist. Text_ Andrea H üsser

Seit Ende Juni 2012 ist er öffentlich: der Aktionsplan von Nestlé für verant­ wortungsvolle Beschaffung von Kakao aus der Elfenbeinküste. Der Konzern hatte vorgängig die Fair Labor Associ­ ation (FLA) – eine Multi-Stakeholder-

Initiative – beauftragt, seine Kakaolie­ ferkette auf Arbeitsstandards zu über­ prüfen. Ein Fokus lag auf der aus‑ beuterischen Kinderarbeit auf den Ka­ kaoplantagen, die noch immer an der Tagesordnung ist. Zum ersten Mal konnte ein direkter Bezug zwischen einem Konzern und den miserablen Arbeitsbedingungen im Kakaoanbau hergestellt werden. Nestlé ist einer der wichtigsten Abnehmer von Kakao. Er kauft allein zehn Prozent der weltwei­ ten Kakaoernte, wovon 37 Prozent aus

Erklärung von Bern

Alliance Sud

Solidar Suisse

Gesellschaft für bedrohte Völker

Gesellschaft SchweizerischTibetische Freundschaft

Thomas Braunschweig

Isolda Agazzi

Zoltan Doka

Christoph Wiedmer

Migmar Raith

EvB_Ins_Offener-Brief_D_6-12_def.indd 1

05.07.12 13:52

der Elfenbeinküste stammen. Als Re­ sultat der Studie formuliert die FLA elf Empfehlungen an Nestlé, die der Konzern in einem Aktionsplan fest­ hält. Erfreulich ist, dass der Aktions­ plan sowie die Studie samt Daten zum Konzern öffentlich sind. Schade, dass der Aktionsplan hauptsächlich auf nur 20 Prozent von Nestlés Lieferkette in der Elfenbeinküste fokussiert, Mindest­ preise werden nicht diskutiert und längerfristige Ziele fehlen.

erklärung!_04_2012


Ko n s u m __ 7

Shar in g

CCC

Berufsbekleidung: Keine Ausbeutung mit Steuergeldern! Der «Kassensturz»-Bericht über die Schweizer Armee, die in Mazedonien Uniformen zu Hungerlöhnen produzieren lässt, hat das Thema der letzten EvB-Kampagne aufgegriffen und die Öffentlichkeit aufgerüttelt. Text_Christa L uginbühl

Chantal Galladé, Präsidentin der sicherheitspo­ litischen Kommission (SiK-N), sagte gegenüber dem Schweizer Fernsehen: «Wenn man einen Auftrag ins Ausland vergibt, so sollte man darauf achten, dass existenzsichernde Löhne bezahlt werden. Das ist eine Selbstverständlichkeit.» Und selbst Thomas Hurter, der SVP-Vizepräsi­ dent der SiK-N gab, mit den Missständen in Ma­ zedonien konfrontiert, zu: «So eine Situation ist relativ heikel, auch politisch heikel als Zeichen.» Die EvB-Forderung nach Existenzlöhnen und so­ zialverträglicher Beschaffung ist in Bundesbern angekommen. Während das Eidgenössische Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport in den letzten Wochen Interviews verweigerte, schritt die Schweizerische Post mit gutem Bei­ spiel voran: Am 13. Juni wurde sie Mitglied der Fair Wear Foundation, übernahm deren Verhal­ tenskodex und verpflichtet sich, den Arbeite­ rInnen einen Existenzlohn zu bezahlen. Auch Al­ biro, eine der grössten Berufsbekleidungsfirmen in der Schweiz, wurde gleichentags FWF-Mitglied. Die EvB-Forderung nach gerecht hergestellten Uniformen und verbindlichen gesetzlichen Re­ gelungen, damit Bund, Kantone und Gemeinden ihre Berufsbekleidung nachhaltig und sozialver­ träglich produzieren lassen, fand in der Öffent­ lichkeit breite Unterstützung. In nur elf Wochen haben über 15 500 Menschen unsern Aufruf un­ terschrieben. Die EvB übergab zu Beginn der Herbstsession die Unterschriften und einen offe­ nen Brief an das Parlament. Jetzt gilt es, gemein­ sam mit anderen Organisationen im anstehenden Revisionsprozess des Bundesgesetzes über das öf­ fentliche Beschaffungswesen dafür zu lobbyieren, dass Nachhaltigkeits- und Sozialkriterien fest im Gesetz verankert werden. erklärung!_04_2012

K o l u m n e A n d r ea Hüsser

Produkte-Sharing als nachhaltige Lebensform

Bei den Babykleidern funktioniert es recht gut. Säckeweise machen gebrauchte Kleider und Spielsachen die Runde unter jungen Familien. Sobald die Kleidchen nicht mehr passen, werden sie an die nächsten Neugeborenen weitergegeben. So wird der Nutzungsbedarf der Kleider von einer ganzen Personengruppe bedient. Die gemeinsame Nutzung reduziert Produktionsströme und somit den unnötigen Verbrauch von Ressourcen samt negativen Folgen auf Mensch und Umwelt in den Produktionsländern. Die sofort spürbaren Nebeneffekte im Portemonnaie, im Keller und auf der sozialen Ebene sind ebenfalls durchaus willkommen. Gelegenheiten, die Nutzung von Produkten zu teilen, gibt es vielerlei. Das bekannteste Modell ist wohl das durch Mobility massentauglich gewordene Car-Sharing-Prinzip. Das Gleiche gibt es für Segelschiffe auf Schweizer Seen. Ferner geniessen die von Anbaugemeinschaften genutz‑ ten Ackerflächen, um gemeinsam Bio-Gemüse und -Früchte anzupflanzen, grosse Beliebtheit. Bürogemeinschaf­ten, genossenschaftlich organi­ sierte Produzentengruppen oder Wohnformen, Mitfahrgelegenhei­ ten oder Gratis-Veloverleihstationen sind weitere praktizierte Formen von Produkte-Sharing. Mit innovativen Konzepten zu gemeinsamen Nutzungsformen könnte aber auch die Effizienz von Produkten, die traditionell nur ein einziger Haushalt nutzt, intensiviert werden. Denn Gummiboote, Zelte, Wintersportausrüstungen, Schlafsäcke, Gartengeräte, Raclette-Öfen, Teigknetmaschinen, Fo­ lienschweissgeräte, Nähmaschinen, Lötkolben, Bohrmaschinen und Velopumpen liegen heute zuhauf kaum benutzt in den vielen Schweizer Haus‑ halten. Die Babykleider-Dynamik könnte als Initialzündung dienen, das Produkte-Sharing auszubauen, um so ungezwungen unnötigem Konsum vorzubeugen, ohne gänzlich auf ein Produkt verzichten zu müssen.


8 __ po Kampagnen r trät

Ha r r y Wu

Vom Zwangsarbeiter zum Menschenrechtler Er hat den chinesischen Gulag überlebt und ist heute einer der einflussreichsten Dissiden­ten: Seit 20 Jahren kämpft Harry Wu gegen das Arbeitslagersystem im Reich der Mitte und fordert nun den Einbezug der Menschenrechte in die Handelspolitik – auch von der Schweiz.

«Laogai» bedeutet «Reform durch Arbeit». Ge­ meint sind damit die weit über 1000 Zwangsar­ beitscamps, in denen heute mehrere Millionen Menschen (oft politische Häftlinge) schuften. Die­ se Schätzungen stammen von Harry Wu, dem wohl besten Kenner und schärfsten Kritiker dieser menschenverachtenden Maschinerie. 1960 ver­ schwand der damalige Student «wegen konterre­ volutionärer Agitation» für 19 lange Jahre im Lao­ gai und durchlief zwölf verschiedene Lager, wo er sich bei «mittelalterlichen Arbeits- und Lebensbe­ dingungen» in Kohleminen, Chemiefabriken und beim Strassenbau durchschlug. 1985 gelang ihm schliesslich die Ausreise in die USA. Daraufhin bemühte er sich in Kalifornien um ein normales Leben als Geologie-Professor, gründete 1992 aber «aus innerer Notwendigkeit» in Washington die heute weltbekannte Laogai Research Foundation.

___«Wenn diese Leute wüssten, in wie vielen chinesischen Produkten heute der Schweiss und die Tränen von systematisch entrechteten und misshandelten Menschen stecken, würden sie dieses Thema mit auf den Verhandlungstisch bringen.» «Unsere Informationen über Art, Anzahl und Aktivitäten der Lager beziehen wir hauptsächlich von Augenzeugen, die das gleiche Schicksal hat­ ten wie ich», sagt Wu. «Immer wieder erleichtern aber auch ehemalige Staatsdiener ihr Gewissen bei unseren Verbindungsleuten in China.» In den 90er-Jahren unternahm der Menschenrechtsakti­ vist zunächst noch eigene Forschungsreisen ins Reich der Mitte und verschaffte sich – verkleidet als US-Geschäftsmann auf der Suche nach Billig­ angeboten – selbst Zugang zu diversen Lagern.

zvg

Text_Oli ver C la ssen

1995 wurde er bei einem Einreiseversuch verhaf­ tet und für seine kühne Provokation der Regie­ rung in einem Schauprozess wegen «Diebstahls von Staatsgeheimnissen» zu 15 Jahren Haft ver­ urteilt. Dank internationalem Druck kam er kurz darauf wieder frei. Seitdem kämpft der heute 75-Jährige zwar aus der Distanz, dafür noch hart­ näckiger gegen das Unrechtssystem der Laogai. Für «unwissend bis naiv» bezüglich der aktu­ ellen Zwangsarbeitsverhältnisse in China hält Wu viele jener westlichen DiplomatInnen und Politi­ kerInnen, die derzeit mit Peking für ihr Land hochrelevante Handelsverträge abzuschliessen versuchen. «Wenn diese Leute wüssten, in wie vielen chinesischen Produkten heute der Schwei­ ss und die Tränen von systematisch entrechteten und misshandelten Menschen stecken, würden sie dieses Thema mit auf den Verhandlungstisch bringen», ist Wu überzeugt. Um diese Informationslücke zu schliessen, be­ reist Wu Mitte September (auf Einladung der EvB und ihrer Partnerorganisationen der China-Platt­ form) die Schweiz, um ParlamentarierInnen über den «chinesischen Wirtschaftsfaktor Zwangsar­ beit» aufzuklären und für «mehr handelspoli­ tische Zivilcourage» zu werben.

Harry Wu spricht bei seinem Besuch mit Schweizer ParlamentarierInnen über die M e n s c h e n re ch tssit u atio n i n C h i na .

erklärung!_04_2012


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.