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BiP Statische Beurteilung historischer Tragwerke Band 2 | Holzkonstruktionen
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Stefan M. Holzer
In Band 2 werden die handwerklichen Holztragwerke Mitteleuropas untersucht. Das Buch führt kurz in den Holzwerkstoff ein. Die grundsätzliche Vorgehensweise bei der Bestandsuntersuchung wird dargelegt, auch im Hinblick auf Identifikation und Datierung historischer Schäden und Reparaturen. Handnahe Untersuchungen und zerstörungsfreie Prüfungen werden erläutert, ebenso wie die Grundlagen der Standsicherheitsbeurteilung von Tragwerken mit langer Standzeit. Den Hauptteil des Werkes nimmt die detaillierte Diskussion der Konstruktionssysteme und Anschlüsse historischer Decken- und Dachtragwerke ein; das Tragverhalten wird an überaus zahlreichen Berechnungsbeispielen erläutert.
Statische Beurteilung historischer Tragwerke Band 2 | Holzkonstruktionen Stefan M. Holzer
Die Aufgabe der Beurteilung existierender Tragwerke stellt sich bei Umbauten oder Umnutzungen, und zunehmend auch bei der Einschätzung der Standsicherheit von öffentlich zugänglichen Bauwerken. Bei realistischer Beurteilung können Tragreserven durch Reparaturmaßnahmen aktiviert und somit die Eingriffe auf ein Mindestmaß begrenzt werden, was besonders unter denkmalpflegerischen Randbedingungen erwünscht ist.
Univ.-Prof. Dr.-Ing. Stefan M. Holzer ist Universitätsprofessor für Ingenieurmathematik und Ingenieurinformatik an der Fakultät für Bauingenieur- und Vermessungswesen, Universität der Bundeswehr München. Seit 2001 befasst er sich in Forschung, Lehre und Berufspraxis intensiv mit den Konstruktionen und dem Tragverhalten historischer Bauwerke.
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16.03.2015 19:38:44 Uhr
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Bearbeiter:
Ha.
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Vorwort
Die historischen Holztragwerke Mitteleuropas nehmen in mehr als einer Hinsicht eine einmalige Stellung ein. Einerseits sind sie hervorragende Zeugnisse für fast tausend Jahre Bau- und Konstruktionsgeschichte und dokumentierten eindrucksvoll das Können und die technischen Fortschritte vergangener Generationen. Andererseits ist es durch bloßes genaues Hinsehen und unter Einsatz einiger weniger einfacher Hilfsmittel möglich, die Bau-, Last-, Schadens- und Reparaturgeschichte allein anhand des Tragwerks selbst detailliert aufzuschlüsseln. Auch für die statische Beurteilung ergeben sich daraus einzigartige Möglichkeiten, die keine andere Gruppe historischer Konstruktionen so bietet: Die bisherige lange Standzeit der Tragwerke (meist über zwei Jahrhunderte) gewährleistet, dass das Tragwerk mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alle relevanten Lastfälle schon einmal erlebt hat. Jedes signifikante Ereignis in der Geschichte des Tragwerks hat an diesem unauslöschliche Spuren hinterlassen, die man nur abzulesen und zu interpretieren braucht. An die Stelle probabilistischer Standsicherheitsabschätzungen, wie sie beim Entwurf neuer Tragwerke erforderlich sind, können daher oft deterministische Betrachtungen treten. Die mitteleuropäische Zimmerkunst hat sich außerdem von den Anfängen bis etwa 1830 eines zugleich im Vokabular beschränkten und andererseits ungemein flexiblen und leistungsfähigen Konstruktionsrepertoires bedient, das es möglich macht, einige wenige typische Tragwerksarten zu identifizieren und deren Tragverhalten an exemplarischen Fallstudien zu analysieren. Das vorliegende Buch führt vor, wie die typischen Konstruktionen des mitteleuropäischen handwerklichen Holzbaus bis zu den Anfängen des Ingenieurholzbaus zu lesen und zu interpretieren sind. Ziel ist es, einen Beitrag zum möglichst unverfälschten Erhalt dieser faszinierenden Konstruktionen zu leisten. Trotz der langen Arbeit am Manuskript und dem Kampf mit einem fast unerschöpflichen Reichtum an Material kann das Buch natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es ist aber hoffentlich gelungen, die wichtigsten Aspekte klar herauszuarbeiten. Die Leser haben auf den zweiten Band viel länger warten müssen, als geplant war. Ihnen und ganz besonders auch dem Verlag Ernst & Sohn, vor allem Frau Claudia Ozimek, sei für die Geduld und das Durchhaltevermögen gedankt. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag war stets angenehm. Das vorliegende Werk hat nicht entstehen können ohne die Zusammenarbeit mit mehreren (ehemaligen) Mitarbeitern, die sich am Institut des Verfassers in Promotions- und Forschungsarbeiten mit historischen Holzbauten auseinandergesetzt haben. Ihnen allen sei herzlich gedankt, namentlich Herrn Dr. Bernd Köck, der barocke Holztragwerke untersucht und dem Verfasser einen wesentlichen Anstoß zum Schreiben dieses Werkes gegeben hat, Frau Anja Säbel M. Sc., die gemeinsam mit dem Autor die erhaltenen Holztragwerke des 19. Jahrhunderts in Süddeutschland erforscht hat, und Herrn Dr. Clemens Voigts, der dem Verfasser bei Rundgängen durch historische Dachwerke vielfach die Augen für unauffällige, aber wichtige Details geöffnet hat. Auch aus dem Kollegenkreis der Denkmalpfleger, Bauforscher
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VI
Vorwort
und Tragwerksplaner hat der Verfasser vielfache Hinweise und Anregungen erhalten, für die er dankt. Besonderer Dank gilt schließlich auch meiner Frau und meinen beiden Töchtern, die unter der intensiven Arbeit am vorliegenden Werk mehr als einmal zu leiden hatten und unendliche Geduld und Nachsicht haben aufbringen müssen. Ihnen ist auch dieser zweite Band gewidmet. München, im Februar 2015
Stefan M. Holzer
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort ........................................................................................................
V
1
Historische Tragwerke aus Holz ....................................................
1
2 2.1 2.2
Holz als Werkstoff historischer Tragwerke .................................. Vom Baum zum Holztragwerk ........................................................... Materialeigenschaften der wichtigsten Konstruktionshölzer .................
11 11 27
3 3.1
Untersuchung historischer Holztragwerke ................................... Grundsätzliches Vorgehen bei der Tragwerksbeurteilung historischer Holztragwerke ................................................................. Aufmaß ............................................................................................. Datierung der Bau- und Reparaturphasen ........................................... Handnahe Untersuchung und zerstörungsfreie Prüfung, Zustandskartierung ............................................................................. Berechnungsannahmen für die Berechnungsbeispiele ..........................
35
3.2 3.3 3.4 3.5 4 4.1 4.2 4.3
4.6
Deckentragwerke und flachgeneigte Pfettendächer .................... Konstruktion historischer Deckentragwerke ........................................ Konstruktion historischer flachgeneigter Pfettendachwerke .................. Rechnerische Modellierung der Anschlüsse des „italienischen“ Pfettendachbinders ............................................................................. Versatzanschlüsse .............................................................................. Hängeeisen ........................................................................................ Typische Konstruktionen und deren Tragverhalten .............................. Balken .............................................................................................. Verzahnte Balken .............................................................................. Analyse „italienischer“ Pfettendachbinder: Tragverhalten und typische Schäden ............................................................................... Zusammenfassung .............................................................................
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1
Sparrendächer ................................................................................ Binderlose Sparrendächer ................................................................... Das grundlegende System des Sparrendaches ..................................... Systeme und Details des frühen Sparrendachwerks ............................. Sparrendachwerke mit stehenden Stühlen ........................................... Das System des stehenden Stuhls ....................................................... Anschlussdetails der Dachwerke mit stehendem Stuhl ......................... Tragverhalten von Blatt- und Zapfenverbindungen mit Holznagel ....... Holznagel ..........................................................................................
4.3.1 4.3.2 4.4 4.4.1 4.4.2 4.5
35 46 57 61 68 75 75 79
96 96 99 101 101 101 108 113 115 115 115 126 133 133 141 145 145
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VIII
5.3.2
Inhaltsverzeichnis
5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5
Mechanisches Verhalten mittelalterlicher zimmermannsmäßiger Holzverbindungen .............................................................................. Typische Konstruktionen und deren Tragverhalten .............................. Tragverhalten binderloser Dachwerke ................................................. Tragverhalten von Dachwerken mit stehendem Stuhl .......................... Dachkonstruktionen ohne durchgehende Zerrbalkenlage ...................... Tragverhalten eines Hallenkirchendachwerks ...................................... Vorläufiges Fazit zur Schnittgrößenermittlung ....................................
150 160 162 165 175 180 183
6 6.1 6.1.1 6.1.2 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 6.4.6 6.5 6.5.1 6.5.2
Dachwerke des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit ........... Dachwerke mit liegendem Stuhl ......................................................... Das System des „liegenden Stuhls“ .................................................... Entwicklungsgeschichte und Varianten des liegenden Stuhls ............... Hängewerke und ihre Kombination mit dem liegenden Stuhl .............. Hängesäule, Überzug und Binder ....................................................... Anschlusspunkte von Hängesäulen ..................................................... Dachwerke ohne durchgehende Zerrbalkenlage ................................... Tragverhalten typischer Konstruktionen .............................................. Liegender Stuhl ................................................................................. Liegender Stuhl mit Hängewerk ......................................................... Mehrstöckige Anordnung von stehenden und liegenden Stühlen .......... Dachwerk der Wandpfeilerkirche ....................................................... Dachwerk der Saalkirche mit Gewölbe ............................................... Fazit der Berechnungsbeispiele .......................................................... Weitere Konstruktionen ..................................................................... Sparrendachwerke mit Graten und Kehlen: vom Walm zum Turmhelm Importe ausländischer Dachformen und Dachkonstruktionen ...............
185 185 185 193 201 202 207 215 220 220 224 226 227 231 233 234 234 242
7 7.1 7.2 7.3 7.4
Ausklang: Holzbau im 19. Jahrhundert ........................................ Weiterleben der Tradition im Holzbau des 19. Jahrhunderts ................ Vom Holzgewölbe zum Bohlendach .................................................. Typische Elemente von Pfettendachwerken des 19. Jahrhunderts ......... Schlusswort .......................................................................................
247 251 254 263 268
8
Literatur .......................................................................................... 271
Stichwortverzeichnis ................................................................................... 291
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3
Untersuchung historischer Holztragwerke
3.1
Grundsätzliches Vorgehen bei der Tragwerksbeurteilung historischer Holztragwerke
Historische Tragwerke können aus unterschiedlichsten Gesichtspunkten betrachtet werden. Wenn die Sanierung und Ertüchtigung eines historischen Baudenkmals ansteht, sind meist die Vertreter mehrerer Disziplinen beteiligt. Zum Beispiel liegt bei kirchlichen Baudenkmälern die Baulast und somit die Bauherrschaft seit der Säkularisation meist beim Staat, der typischerweise durch einen Architekten eines Hochbauamtes vertreten ist. Die subsidiäre Baulast hat oft die Kirche, die bei Baumaßnahmen an historisch bedeutsamen Baudenkmälern einen Vertreter der Nutzer sowie ggf. einen kirchlichen Architekten oder Denkmalpfleger entsendet. Die staatliche Denkmalpflege ist bei unter Denkmalschutz stehenden Bauten ebenfalls zu beteiligen, und zwar in Person eines Denkmalpflege-Referenten, der normalerweise von der Ausbildung Kunsthistoriker ist, eventuell mit Spezialisierung auf Architekturgeschichte. Im Rahmen der Voruntersuchungen wird bei bedeutenden Baudenkmälern des Weiteren in der Regel ein Historiker beauftragt, der im Vorfeld Archivrecherchen zur Bau- und Ausstattungsgeschichte anstellt, jedoch dem Bauwesen fachlich üblicherweise nicht nahesteht. Aus Sicht der Denkmalpfleger und des Tragwerksplaners durchaus wünschenswert ist ferner die Beteiligung eines Vertreters der „historischen Bauforschung“ (so die durchaus unglückliche deutsche Bezeichnung), also eines archäologisch geschulten Architekten, der anhand genauester handnaher Untersuchung und genauen Aufmaßes des Bauwerks (daher die französische Bezeichnung archéologie d’élévation für die historische Bauforschung) das Bauwerk als Quelle zu dessen eigener Geschichte zu interpretieren versucht. Wichtige Aufschlüsse für die Schadensgeschichte kann oft auch ein Restaurator (von der Ausbildung typischerweise Kirchenmaler) beisteuern, der im Rahmen der Untersuchung der Farbfassungen des Innenraums oft detaillierte Beobachtungen zu Rissen und deren sukzessiver Reparatur machen kann. Zu allen diesen Experten tritt der Tragwerksplaner und es ist dringend anzuraten, als Tragwerksplaner die Augen und Ohren offenzuhalten für die Erkenntnisse der anderen Spezialisten. So unterschiedlich wie die fachliche Heimat der Projektbeteiligten und die Ziele der Untersuchungen sind auch die Methoden und Vorgehensweisen. Was aus Sicht der Denkmalpflege oder der Bauarchäologie unbedingt erforderlich ist, muss nicht automatisch auch für den Tragwerksplaner notwendig, sinnvoll oder auch nur ausreichend sein. Die Vorgehensweise sollte sich an der Zielstellung orientieren. Das vorliegende Buch richtet sich in erster Linie an Tragwerksplaner, die mit der Beurteilung des Zustands und der Standsicherheit eines historischen Tragwerks betraut sind. Ziel ist eine nicht nur qualitative, sondern auch durch Berechnung abgesicherte Aussage zur Tragfähigkeit der vorgefundenen Struktur. Die Aufgabe, ein historisches Holztragwerk hinsichtlich seiner Standsicherheit zu beurteilen, unterscheidet sich sowohl von der Untersuchung eines historischen Mauerwerk- oder Stahltragwerks als auch von der Bemessung eines modernen HolztragStatische Beurteilung historischer Tragwerke. Band 2: Holzkonstruktionen. 1. Auflage. Stefan M. Holzer © 2015 Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Published 2015 by Ernst & Sohn GmbH & Co. KG.
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3 Untersuchung historischer Holztragwerke
werks grundlegend. Die wichtigsten Gesichtspunkte bei der Beurteilung eines historischen Holztragwerks sind folgende: – Ein sinnvoll entworfenes und bemessenes, intaktes historisches Holztragwerk bleibt im Wesentlichen unter allen maßgebenden Einwirkungen im (ggf. nichtlinear) elastischen Bereich (elastische Wiederbelastung, reversibel). – Holz weist keine relevanten Alterungserscheinungen auf, die nicht durch Augenschein oder einfache Untersuchungsmethoden erkannt werden könnten. Im Gegensatz dazu hat z. B. Stahl ein ausgeprägtes Ermüdungsverhalten, das nicht ohne Weiteres durch optische Inspektion erkannt werden kann (Wöhler-Linie, Bruchmechanik). – Einmal eingetretene Überlastungen einer Holzstruktur können anhand bleibender Verformungen bzw. Schäden im Nachhinein erkannt und dokumentiert werden. – Die üblichen langen Standzeiten historischer Tragwerke stellen sicher, dass die bemessungsrelevanten Lasten mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits einmal aufgetreten sind. – Falls einzelne Tragwerksteile bereits einmal Überlastungen erfahren haben, stellt die statisch unbestimmte, redundante Tragwerksstruktur in der Regel sicher, dass das Tragwerk dennoch einen wirksamen Lastabtragsmechanismus entwickeln kann. Im Gegensatz dazu sind ingenieurmäßige Tragwerke (z. B. Stahltragwerke) seit dem 19. Jahrhundert typischerweise nicht redundant und Mauerwerksstrukturen zerlegen sich unter dem Einfluss der Last irreversibel von selbst in statisch bestimmte Teilstrukturen mit geringem Redundanzgrad (vgl. Band 1 des vorliegenden Werkes). Ziel der Standsicherheitsuntersuchung eines historischen Holztragwerks ist es, festzustellen, ob es einen über lange Zeit wirksamen Lastabtragmechanismus gibt oder gegeben hat, bei dem die auftretenden Lasten ohne progressive Schädigung des Tragwerks sicher abgetragen werden können bzw. konnten. Gibt es einen solchen Mechanismus, so ist dieser in seiner Wirksamkeit wiederherzustellen, wenn er durch Schäden wie Pilz- oder Insektenbefall oder unsachgemäße Änderungen am Tragwerk (z. B. Wegnahme von Konstruktionsteilen) verlorengegangen ist. Gibt es keinen ursprünglich wirksamen Mechanismus des Lastabtrags, so muss die Standsicherheit durch ein Zusatztragwerk hergestellt werden. Der letztgenannte Fall ist selten und muss zwingend zu einer kontinuierlichen Folge historischer Schäden sowie Reparatur- und Ertüchtigungsmaßnahmen geführt haben, die am Bauwerk selbst ablesbar sind. Die für die Planung und Bemessung von Neubauten gültigen Normen müssen davon ausgehen, dass an einer bemessungsrelevanten Stelle des neu herzustellenden Tragwerks die Bemessungslast (typischerweise der 95%-Fraktilwert der tatsächlich auftretenden Lasten, also eine Last, die mit 95 % Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird) mit dem schlechtesten gerade noch zu tolerierenden Widerstand des Tragwerks zusammentrifft (also z. B. mit dem 5%-Fraktilwert der Festigkeit, einem Wert, von dem erwartet werden kann, dass er nur in 5 % der Fälle von irgendeinem Bauteil des gesamten Tragwerks unterschritten wird). Bei einer isolierten Betrachtung eines einzigen Punktes eines Tragwerks ergibt sich aus der Eintrittswahrscheinlichkeit der höchsten zu berücksichtigenden Last und des niedrigsten anzusetzenden Tragwerkswiderstands (unter der Voraussetzung bekannter Verteilungen der Lasten
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3.1 Grundsätzliches Vorgehen bei der Tragwerksbeurteilung historischer Holztragwerke
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und Widerstände, meist als Gauß’sche Normalverteilung angenommen) eine Versagenswahrscheinlichkeit des Bauteils an diesem Punkt. Um die Versagenswahrscheinlichkeit quantitativ bestimmen zu können, benötigt man Kenntnisse über die Art der zugrunde liegenden Wahrscheinlichkeitsverteilungen sowie alle notwendigen Bestimmungsstücke der Verteilung (Erwartungswerte, Streuungsmaße). Bei einem wirtschaftlichen, rational auf ingenieurwissenschaftlicher Grundlage entworfenen und bemessenen Tragwerk, das überall denselben Ausnutzungsgrad bzw. dieselbe Bruchsicherheit aufweist, also keine überdimensionierten oder redundanten Elemente enthält (statisch bestimmtes System), ist das Versagen eines einzelnen Punktes gleichbedeutend mit dem Versagen des gesamten Tragwerks. Dem modernen Ingenieurholzbau liegt dieses Prinzip zugrunde. Zur gesellschaftlichen Akzeptanz des wirtschaftlich bemessenen Tragwerks ist dessen Planung eine Versagenswahrscheinlichkeit zugrunde zu legen, die gesellschaftlich konsensfähig ist. Da das Bauwerk erst nach der Planung und Bemessung ausgeführt wird, muss die gesamte Bemessung auf Grundlage statistischer Prognosen erfolgen. Bei der Beurteilung der Standsicherheit eines Bestandsbauwerks stellt sich die Situation grundsätzlich vollkommen anders dar. An die Stelle von Wahrscheinlichkeiten treten wegen der langen Standzeit des Bauwerks und der Möglichkeit einer Inspektion des Ist-Zustands Gewissheiten. Diese betreffen zum einen die Einwirkungen:
Bild 3.1 Wahrscheinlichkeiten für das mindestens einmalige Eintreten seltener Ereignisse während langer Wartezeiten bis 300 Jahre. Dargestellt sind die Beispielkurven für 20-jährige Ereignisse (p = 0,05) und 100-jährige Ereignisse (p = 0,01).
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3 Untersuchung historischer Holztragwerke
Bei einem Tragwerk, das schon viele Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte existiert, kann man davon ausgehen, dass die bemessungsrelevanten zufälligen Belastungen „nahezu sicher“ bereits mindestens einmal eingetreten sind. Die Aussage „nahezu sicher“ kann, wie hier gleich gezeigt werden soll, unschwer durch eine rechnerische Bestimmung der entsprechenden Wahrscheinlichkeiten quantifiziert werden (Bild 3.1). 1 Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Ereignis, das im Mittel alle Jahre eintritt, p während einer Wartezeit von n Jahren tatsächlich mindestens einmal stattfindet (also, statistisch gesprochen, „nicht (k = 0)-mal“), kann statistisch mit Hilfe der Binomialverteilung Bðn; pÞ bestimmt werden (Eintrittswahrscheinlichkeit 1 Fðk ¼ 0ÞBðn; pÞ Þ. Zum Beispiel findet man mit Hilfe der Binomialverteilung (Bild 3.1), dass ein Ereignis, das im Mittel alle 20 Jahre eintritt (p ¼ 0,05), nach einer Wartezeit von n ¼ 100 Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,4 % mindestens einmal eingetreten sein wird. Nach n ¼ 200 Jahren beträgt die Wahrscheinlichkeit schon 99,99 %. Selbst ein Ereignis, das man im Mittel nur alle 100 Jahre erwartet, tritt innerhalb von 200 Jahren Wartezeit schon mit einer Wahrscheinlichkeit von 86,6 % mindestens einmal ein, innerhalb von 300 Jahren mit 95,1 % Wahrscheinlichkeit. Bei den meisten historischen Holzkonstruktionen beträgt die Standzeit bereits mindestens 200 Jahre. Der Ansatz eines „Sicherheitsfaktors“ entsprechend einer 95%-Fraktile der Lasten kann daher bei solchen Bauwerken entfallen, da man mit weitaus höherer Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass die Bauwerke bereits einem experimentellen Test mit dieser Laststufe unterzogen worden sind und man dessen Folgen somit vor Ort besichtigen kann. Auch bei der Ermittlung des Tragwerkswiderstands treten an die Stelle der Auswertung statistischer Verteilungen bei der Untersuchung eines historischen Holztragwerks deterministische Aussagen, da eine optische Begutachtung Aufschluss über Schäden gibt. Am Bauwerk kann geprüft und mit Sicherheit ermittelt werden, ob das betrachtete Bauteil oder der betrachtete Anschluss an der bemessungsrelevanten Stelle tatsächlich eine Überlastung erlitten hat oder nicht, da eine solche Überlastung bleibende Verformungen hinterlässt. Bild 3.2 zeigt als Beispiel den Anschluss einer druckbeanspruchten Strebe mit einem Stirnversatz. An der Versatzstirn sind unter Überlastung ausgeknickte Fasern und ein beginnender Riss in der Scherfuge zu sehen und an der Abbundmarke ist das Maß der gesamten bleibenden Relativverformung des Anschlusses ablesbar, das hier mehrere Millimeter beträgt, also auf jeden Fall mehr, als man aus Sicht des modernen Holzbaus als zulässige Relativverschiebung betrachten würde (nach [Möhler 1986, S. 214] beim Versatzanschluss zulässig 1,5 mm). Die Verbindung hat aus moderner Sicht also versagt. Der Anschluss ist jedoch trotzdem nicht unwirksam, sondern besitzt noch eine erhebliche Resttragfähigkeit. Selbst für die Situation, dass alle gleichartigen Anschlüsse des untersuchten Tragwerks komplett ausfallen, gibt es außerdem möglicherweise noch einen alternativen Lastabtragmechanismus, bei dem die überbelasteten Streben überhaupt nicht benötigt werden. Diese Gesichtspunkte müssen bei der Standsicherheitsbeurteilung einfließen. Die Beurteilung kann nicht lokal und punktuell allein an dem geschädigten Anschluss erfolgen, sondern benötigt einen historischen und statischen
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3.1 Grundsätzliches Vorgehen bei der Tragwerksbeurteilung historischer Holztragwerke
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Bild 3.2 Durch Überlastung dauerhaft geschädigter Versatzanschluss einer Strebe in einem historischen Dachwerk.
Kontext. Dies unterscheidet die Standsicherheitsbeurteilung einer historischen Holzkonstruktion von der Bemessung einer neu herzustellenden Konstruktion. Ist das betrachtete Bauteil bzw. der Anschluss schadfrei, so bedeutet dies, dass der Widerstand an der betreffenden Stelle hoch genug war (möglicherweise systematisch, möglicherweise aber auch nur „durch Zufall“), um die Last aufnehmen zu können. Hat sich der Anschluss während der bisherigen Standzeit des Tragwerks nicht verschlechtert und hat die Belastung des entsprechenden Bauteils nicht durch Ausfall anderer Tragwerksteile inzwischen erhöhte Belastungen aufzunehmen, so wird das historische Tragwerkselement auch in Zukunft in der Lage sein, alle relevanten Belastungen aufzunehmen, wenn sich der Widerstand nicht progressiv durch mechanische Beanspruchung verringert, was beim Holztragwerk wegen der nicht vorhandenen Materialermüdung nicht zu erwarten ist. Nur im außerordentlich unwahrscheinlichen Fall der Überschreitung der bisher aufgetretenen Maximallasten wird das Bauteil möglicherweise schadhaft; diese Feststellung gilt aber in genau demselben Umfang auch für das neu erstellte, nach Norm bemessene Bauteil. Absolute Sicherheit gibt es zwar nicht, doch ist das kalkulierbare Restrisiko für das historische Bauteil genauso gering wie für das moderne. Wird ein historisches Tragwerk auf Grundlage einer modernen Bemessungsnorm für geplante Neubauten nachgerechnet, so stellt sich häufig heraus, dass an einer Vielzahl von Stellen des Systems die nach Norm anzusetzenden Tragfähigkeiten rechnerisch zu deutlich mehr als 100 % ausgenutzt sind. Ein derartiges Berechnungsergebnis begründet aber keineswegs per se die Notwendigkeit einer Ertüchtigungsmaßnahme! Leider sind die bisherigen Handrechnungen zu diesem Thema wenig differenziert, so dass z. B. [Lißner/Rug 2004, S. 22] für historische und denkmalgeschützte, jahrhundertealte Tragwerke im Hinblick auf die heutigen Normen pauschal fordern: „Die Nachweise im Grenzzustand der Tragfähigkeit sind unbedingt einzuhalten“. Durch eine solche Herangehensweise werden in der Praxis häufig Ertüchtigungen veranlasst, die bei detaillierter Tragwerksanalyse nicht notwendig gewesen wären. Der Nachweis der Standsicherheit nach der Norm wie bei einem Neubau ist nach Auffassung des Verfassers aus den soeben dargelegten Gründen mathematisch nicht sinnvoll und auch nicht einfach pauschal notwendig. Allerdings setzt der Verzicht auf einen kompletten Nachweis nach Norm voraus, dass der Ist-Zustand des Bauwerks
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3 Untersuchung historischer Holztragwerke
und dessen Schadens- und Reparaturgeschichte tatsächlich umfassend geprüft und dokumentiert worden ist. Eine Tragwerksanalyse in Anlehnung an die Erfordernisse der Norm wird man dennoch zunächst anstellen, denn sie gibt wertvolle Hinweise, welche Orte des Tragwerks näher inspiziert werden sollten. Sind an einer rechnerisch überlasteten Stelle keine Schäden feststellbar, so bedeutet dies, dass „durch Zufall“ an der bemessungsrelevanten Stelle ein höherer Tragwerkswiderstand vorliegt als der minimal anzusetzende. Dies ist nicht weiter überraschend: Bei einer symmetrischen Verteilungsdichte der Tragwerkswiderstände (z. B. Normalverteilung) sind immerhin 50 % der Bauteile nicht nur besser als die 5%-Fraktile, sondern sogar besser als der Mittelwert aller Festigkeiten! Ist in einem Tragwerk eine größere Zahl gleichartiger Bauteile vorhanden, so würde man nach einem bereits einmal eingetretenen Belastungsereignis nur bei einem entsprechenden Prozentsatz dieser Bauteile Schäden erwarten. Hat die Belastung die Größe der mittleren Festigkeit erreicht, würde man erst bei rund 50 % der betroffenen Tragwerkselemente Überlastungsspuren finden! Alle übrigen Bauteile derselben Klasse sind zufällig besser und daher unbeschädigt. Sie brauchen daher auch nicht ertüchtigt zu werden, denn sie haben bereits experimentell bewiesen, dass sie mit Sicherheit die aufzunehmende Belastung schadensfrei tragen können. Eine Ertüchtigung der schadensfreien Bauteile ist daher sowohl unnötig als auch unsinnig! Insbesondere sind Ertüchtigungen dann fragwürdig, wenn sie Umlagerungen der Beanspruchung auf bisher weniger stark ausgelastete Tragwerksteile mit sich bringen (Änderung der Steifigkeitsverhältnisse im Tragwerk). Damit werden im schlimmsten Fall neue Schäden provoziert. Liegen in einem historischen Holztragwerk mehrere gleichartige Situationen vor, so ist aus den geschilderten Gründen oft nur ein Teil der betreffenden Anschlüsse tatsächlich schadhaft. Dass die Ertüchtigung aller rechnerisch zu mehr als 100 % ausgelasteten Anschlüsse ohne Rücksicht auf deren vorgefundenen Zustand unsinnig ist, gilt umso mehr, wenn kein einziges der untersuchten Tragwerkselemente tatsächlich schadhaft ist. Die Auswertung eines „Sicherheitsfaktors“ ist in diesem Fall irrelevant, da mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass die Anschlüsse schadfrei überlebt haben. Die Argumentation mit „Versagenswahrscheinlichkeiten“ und „Sicherheitsfaktoren“ führt in dieser Situation bei einem jahrhundertealten Bestandsbauwerk aus Holz nicht weiter und ist mathematisch unsinnig. Es liegt zudem die Vermutung nahe, dass das Berechnungsergebnis auf einer dem historischen Tragwerk nicht angemessenen statischen Modellbildung beruht. Die Planung einer wirtschaftlichen, nachhaltigen und denkmalverträglichen Reparatur setzt also voraus, dass bei Vorhandensein mehrerer gleichartiger Tragwerksteile jedes einzeln als „Individuum“ untersucht, dokumentiert und repariert wird. Die Ausführung sogenannter „Regeldetails“ widerspricht diesem Grundsatz diametral und ist strikt abzulehnen! Ist der in Bild 3.2 dargestellte Anschluss tatsächlich statisch unbedingt notwendig, so muss er ertüchtigt werden – nicht jedoch der gleichartige, aber unbeschädigte Anschluss im Nachbargespärre! In Widerspruch zu einem solchen Konzept werden in der Praxis – aus Mangel an analytischer Sorgfalt, Unkenntnis, Angst oder Profitgier – leider auch völlig unbeschädigte Anschlüsse in
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3.1 Grundsätzliches Vorgehen bei der Tragwerksbeurteilung historischer Holztragwerke
41
Bild 3.3 Unsinnige „Ertüchtigung“ eines 500 Jahre alten, absolut intakten historischen Anschlusses im Rahmen der Ausführung von „Regeldetails“.
kompletten historischen Tragwerken systematisch „ertüchtigt“ (Bild 3.3) – oft, wie im gezeigten Beispiel, mit der Folge einer realen Schwächung des vorhandenen Tragwerks. Ob sich an einer Stelle des Tragwerks rechnerisch ein Ausnutzungsgrad von mehr als 100 % ergibt, hängt überdies oftmals wesentlich von den Modellierungsentscheidungen bei der Abbildung des Tragwerks ab. Die Berechnung des Tragwerks wird umso wertvoller sein, je realistischer sie die tatsächliche Tragwirkung wiedergibt. Eine realitätsnahe Berechnung kann den Tragwerksplaner gezielt an diejenigen Stellen des Tragwerks führen und ihn zu einer genauen Untersuchung derjenigen Anschlüsse veranlassen, an denen möglicherweise tatsächlich Schäden vorhanden sind, auch wenn diese auf den ersten Blick vielleicht übersehen worden sind. Speziell auf den historischen Holzbau bezogen bedeutet „realitätsnahe Berechnung“ vor allem die Berücksichtigung der Nachgiebigkeiten der Anschlüsse. Um die Nachgiebigkeit eines Anschlusses rechnerisch berücksichtigen zu können, müssen Details zu Anschlusstyp, Anschlussgeometrie und eventuellen Klaffungen bekannt sein. Diese Daten müssen bei der Bauaufnahme – individuell für jedes Gespärre – erhoben werden. Wenn ein historisches Tragwerk Schäden aufweist, so ist es nach der soeben vorgestellten Logik der Analyse von herausragender Bedeutung, wann diese Schäden entstanden sind. Ein Schaden führt bei einem redundanten Tragwerk mit Tragreserven dazu, dass die Lasten von der schadhaften Stelle weg auf andere Tragwerksteile umgelagert werden. Bei historischen Holztragwerken ist die Umlagerung im Allgemeinen möglich, weil historische Holztragwerke insgesamt verformungsweich und duktil sind. Ist die „Umlagerung“ schon seit Jahrhunderten aktiv (alter, unreparierter
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oder statisch unwirksam reparierter Schaden), so hat auch das „geschädigte“ oder „unvollständige“ Tragwerk das Experiment einer jahrhundertelangen Standzeit überlebt, so dass die oben angeführten Überlegungen uneingeschränkt weiter Anwendung finden können. Bild 3.4 zeigt eine defekte Verbindung an einem Kopfband an einem Dachwerk des 18. Jahrhunderts. Der Schaden ist durch Drehwüchsigkeit des Holzes und dadurch ausgelöste Tordierung des Stabes beim Schwinden entstanden – wohl schon bald nach Einbau! Die Nachrechnung ohne Ansetzung des geschädigten Anschlusses zeigt, dass das Dachwerk auch ohne den nicht mehr kraftschlüssigen Anschluss standsicher ist. Eine Ertüchtigung ist hier nicht erforderlich, auch wenn es gerade dem Laien – und leider auch vielen Bauingenieuren – schwer vermittelbar ist, dass ein derart offensichtlicher Schaden kein Handeln erfordert.
Bild 3.4 Alter, unreparierter Schaden an einem statisch wenig wirksamen Anschluss. Eine Reparatur ist wenig sinnvoll, weil der Anschluss auch in repariertem Zustand nur geringe Lasten aufnehmen kann und die Gesamtstruktur auch mit dem Schaden standsicher ist.
Ist der Schaden jedoch rezenter Natur – unabhängig von der Ursache, die auch biologisch bzw. bauphysikalisch sein kann –, so gilt das Argument der langen Standzeit nicht mehr! In diesem Fall muss mindestens wieder ein Zustand hergestellt werden, in dem das Tragwerk zuvor durch längere schadensfreie Standzeit seine Standsicherheit erwiesen hat, obwohl das Tragwerk möglicherweise auch ohne die Reparatur noch standsicher wäre. Noch schwieriger ist der Fall von Tragwerken, an denen sich über die Jahrhunderte akkumulierte, progressive Schäden nachweisen lassen. Solche Tragwerke weisen mit hoher Wahrscheinlichkeit von Anfang an Probleme auf und sind nur dank wiederholter Interventionen bis heute stehengeblieben. Sind auch die historischen Reparaturen schon wieder schadhaft, beweist dies, dass die Sicherungsmaßnahmen nicht ausreichend wirksam gewesen sind. Sind die Reparaturen hingegen unbeschädigt, so kann man nach entsprechend langer Standzeit davon ausgehen, dass sie ausreichend dimensioniert waren. Leider ist es ein feststehender Topos, bei aktuellen Renovierungen alle älteren Maßnahmen pauschal als „ungeeignet“ oder „schädlich“ abzuqualifizieren. Wie wohl die nächsten Generationen über heutige Maßnahmen urteilen werden? Im Falle eines historischen Holzbauwerks mit jüngeren Schäden oder mit von Anfang an unzureichend ausgelegtem Tragwerk ist es notwendig, einen standsicheren Zustand erstmals oder wieder herzustellen. Gelingt es, das Tragwerk mindestens wieder auf ein Niveau zu heben, in dem es nachweislich für längere Zeiten schadensfrei existiert hat, so spricht man besser von „Reparatur“ als von „Ertüchtigung“. Ziel der Maßnahme ist es in diesem Fall, das Tragwerk wieder in einen Zustand zurückzuführen, der dem lange schadfreien Zustand äquivalent ist. In diesem Falle
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3.1 Grundsätzliches Vorgehen bei der Tragwerksbeurteilung historischer Holztragwerke
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sind alle zu reparierenden, also materiell neu herzustellenden Anschlüsse nach Maßgabe der modernen Norm für Neubauten zu konzipieren, während bei schadfreien Stellen, die unverändert ins reparierte Tragwerk übernommen werden können, kein rationaler Grund zu sehen ist, weshalb diese Anschlüsse oder Elemente rechnerisch nachgewiesen werden sollen. Leider wird in der Praxis genau dies häufig gefordert (Aussage: „Alle Bauteile, die mit der neu hergestellten Konstruktion im Zusammenhang stehen, sind rechnerisch nachzuweisen“). Nur bei einer Änderung des Tragverhaltens wäre nach Meinung des Verfassers ein umfassender Nachweis der „ertüchtigten“ Konstruktion notwendig. Wenn es einen funktionierenden historischen Zustand gegeben hat, sollte man sich aber davor hüten, aus Besserwisserei nunmehr einen neuen, geänderten Lastabtrag zu erzwingen! Bild 3.5 zeigt ein Beispiel eines allerdings von Anfang an statisch ungeschickt konzipierten barocken Dachwerks, das im 20. Jahrhundert durch Hinzufügung von zangenartigen neuen Streben in einen Fachwerkträger moderner Art umgebaut worden ist. Die Unterscheidung zwischen den oben genannten Situationen ist für die Planung einer wirtschaftlichen, nachhaltigen und denkmalverträglichen Maßnahme elementar. Leider ist sie aber keineswegs einfach und sie übersteigt in vielen Fällen den Kompetenzbereich des Tragwerksplaners allein. Relativ leicht ist natürlich die Situation eines schadfreien Tragwerks zu erkennen. Auch ein Tragwerk, das offenkundig keine statischen Schäden durch Überlastung aufweist, aber z. B. defekte Anschlüsse wegen Pilz- oder Insektenbefall, also ohne großen Aufwand und Kosten und ohne Gesamtnachweis nach Norm „repariert“ werden kann, ist noch relativ einfach zu erkennen. Echte Schwierigkeiten bereitet hingegen die Analyse der Schadens- und Reparaturgeschichte eines vielfach veränderten oder „ertüchtigten“ Tragwerks sowie die Beurteilung der Wirksamkeit der vorhandenen Ertüchtigungen und die zweifelsfreie Identifikation eines früheren Zustands, in dem das heute schadhafte Tragwerk längere Zeiträume überlebt hat. Eine pauschale Erhöhung der rechnerisch anzuset-
Bild 3.5 Inzwischen auch schon wieder historische Ertüchtigung (20. Jh.) eines barocken Dachwerks. Das Tragwerk wurde statisch in einen Fachwerkträger moderner Art umgebaut.
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zenden Tragfähigkeiten eines historischen Tragwerks um 25 %, wie sie in [Lißner/ Rug 2004, S. 23] zu Recht abgelehnt worden ist, ist kein Ausweg aus der im Vergleich zur Bemessung eines Neubaus komplexen Situation. Eine sture Orientierung an der aktuell gültigen Norm führt, wie hier ausführlich dargelegt worden ist, ebenfalls in die Irre. An detaillierten Einzelfallbetrachtungen führt kein Weg vorbei. Der Tragwerksplaner muss dabei den Schulterschluss mit Restauratoren, Archivforschern und Bauarchäologen suchen, um ein umfassendes Bild von der Bau- und Schadensgeschichte zu gewinnen. In den seltensten Fällen ist es notwendig, ein historisches Tragwerk in ein „perfektes“ Tragwerk zu verwandeln, wie es zuvor historisch nie existiert hat. Genau dies wird aber bei der „Ertüchtigung“ historischer Tragwerke bis heute oft praktiziert (vgl. das abschreckende Beispiel in Bild 3.5). Anschlüsse, deren Funktionsuntüchtigkeit keinerlei messbare Auswirkung auf die Gesamtstandsicherheit haben, werden „ertüchtigt“, jahrhundertealte Schäden „repariert“. Leider bleibt es bei solchen Ertüchtigungen häufig nicht bei der Wiederherstellung eines sicheren Zustands, sondern vielmehr wird das existierende Tragwerk durch die Eingriffe in Wirklichkeit mittelfristig neu geschwächt und geschädigt, so dass schon bald die nächste Generalsanierung ansteht. Solche Maßnahmen vermeiden zu helfen, ist ein wichtiges Ziel des vorliegenden Buches. Für die Praxis ist es nun noch von wesentlichem Interesse, wie im Falle der Beurteilung historischer Tragwerke mit den aktuell gültigen Normen für Neubauten umgegangen werden soll. Über die Sinnhaftigkeit des inzwischen in allen Bereichen des Bauwesen durchgesetzten sogenannten „semiprobabilistischen Nachweiskonzeptes“ unter Verwendung von Teilsicherheitsbeiwerten lässt sich streiten; für die ressourcenschonende Bemessung von Neubauten mag es hier und da sinnvoll sein. Da die Nachweisformate der neuen Normen aber äußerst kompliziert und ohne Zuhilfenahme eines Rechenprogramms kaum mehr durchführbar sind, bei historischen Bauwerken jedoch der Überblick über die Gesamttragwirkung und die Auswirkungen einzelner Schäden oder problematischer Teilkonstruktionen die essentielle Voraussetzung für eine sachgerechte und verantwortungsvolle Beurteilung der Gesamtstandsicherheit ist (eine Art „Systemidentifikation“), wird im vorliegenden Buch auf die Anwendung des aktuellen Eurocodes verzichtet und stattdessen DIN 1052 (1988) verwendet. Der Verfasser steht auf dem Standpunkt, dass eine historische Struktur, die zu ihrer Entstehungszeit nach den damals gültigen Regeln der Technik erstellt worden ist und für die nachgewiesen werden kann, dass sie bis ins späte 20. Jahrhundert auch den Anforderungen an den rechnerischen Nachweis der Standsicherheit genügt hätte, insoweit Bestandsschutz genießt. Nur für Veränderungen wie Subsidiärkonstruktionen oder andere neu hinzuzufügende Bauteile sind nach Ansicht des Verfassers die aktuellen Neubau-Normen zwingend anzuwenden. Dies erleichtert die statische Untersuchung des Bestandsbauwerks erheblich, zumal die meisten Forschungsberichte zu Tragverhalten und Tragfähigkeit historischer zimmermannsmäßiger Holzverbindungen und Holzkonstruktionen im Rahmen der seit 1933 im Grundsatz nicht einschneidend veränderten alten DIN 1052 formuliert und publiziert worden sind; bei Anwendung des Eurocodes wären alle diese notwendigen Vorarbeiten entsprechend umzurechnen bzw. umzuformulieren. Die Einführung des se-
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miprobabilistischen Nachweiskonzeptes stellt gerade im Holzbau einen radikalen Paradigmenwechsel und einen Bruch mit einer erfolgreichen 200-jährigen Tradition dar (es existieren seither so gut wie keine Schadensfälle mit statischen Ursachen!), dessen Sinnhaftigkeit erst die nächsten Jahrzehnte erweisen müssen. Die ersten Nachweise an real existierenden Holzkonstruktionen (Dachwerken) mit dem Konzept der „zulässigen Spannungen“ (wie später in DIN 1052) führte schon 1826 Nicola Cavalieri San-Bertolo [Cavalieri San-Bertolo 1826, Bd. 1, S. 102] durch, wobei er einen globalen Sicherheitsbeiwert gegen Bruch von 10 verwendete, d. h. Spannungen bis zu 1/10 der mittleren experimentell ermittelten Bruchbeanspruchungen zuließ. Derselbe Faktor wurde genau gleichzeitig auch von Claude Louis Marie Henri Navier für die Analyse von Holzkonstruktionen vorgeschlagen [Navier 1826, S. 84–85]. Die Verwendung des Faktors gewährleistete nicht nur eine ausreichende Sicherheit gegen Versagen, sondern auch einen Schutz gegen Langzeit-Auswirkungen der Last (Kriechen) und rechtfertigte die Annahme linear-elastischen Strukturverhaltens [Navier 1826, S. VII–IX]. Die Tradition des 19. Jahrhunderts wurde auf Basis weitaus umfangreicherer und sorgfältigerer Laboruntersuchungen ins 20. Jahrhundert fortgesetzt und floss in die Nachweiskonzepte der DIN 1052 (1933) ein. Die zulässigen Werte der DIN 1052 (1988) bezogen sich auf die Mittelwerte der experimentellen Untersuchungen an kleinen fehlerfreien Proben. Die zulässigen Werte liegen deutlich unter den Mittelwerten der Experimente, weil bei üblichen Bauteilen selten der gesamte Querschnitt fehlerfrei ist. Überdies nehmen die Sicherheitsfaktoren der zulässigen Beanspruchungen nach DIN 1052 Rücksicht auf die Duktilität des Versagens. Bei den relativ „gutmütigen“ Beanspruchungsarten Biegung und Druck sah man einen Sicherheitsbeiwert in der Größenordnung von 4–5 (Versagen angekündigt bzw. duktiles Nachbruchverhalten!) vor, während der Sicherheitsfaktor in der Größenordnung von 10 für reine Zugbeanspruchung aufgrund der infolge von Wuchsunregelmäßigkeiten stark streuenden Zugfestigkeit und des spröden Versagens unverändert aus dem 19. Jahrhundert in die Bemessungsregeln des 20. Jahrhunderts übernommen wurde. Jede mit Augenmaß und Ingenieurverstand sinnvoll konzipierte und handwerklich einwandfrei ausgeführte Reparatur an einem historischen Tragwerk verbessert dessen Standsicherheit gegenüber dem Vorzustand. Der absolute Wert des Sicherheitsfaktors entsprechend der aktuellen Norm kann meist nicht quantifiziert werden. Aus den im vorstehenden Abschnitt erläuterten Gründen ist die Quantifizierung beim historischen Tragwerk auch in der Regel nicht nötig. Um den Konsens aller Baubeteiligten herzustellen, ist es dennoch oft hilfreich, darauf hinzuweisen, dass mit einer technisch einwandfreien Maßnahme – und sei sie noch so minimalinvasiv – auf jeden Fall gegenüber dem bis dato ebenfalls nicht zum Einsturz geführten Vorzustand ein Sicherheitspolster geschaffen werden wird. Das Ausmaß des Sicherheitsgewinns kann durch einen Vergleich der rechnerischen Lastkapazität der reparierten Struktur mit der unreparierten grob abgeschätzt werden. Wie dargelegt, handelt es sich hierbei allerdings eher um ein psychologisch wirksames als um ein mathematisch sinnvolles Argument.
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Deckentragwerke und flachgeneigte Pfettendächer
4.1
Konstruktion historischer Deckentragwerke
Die elementarste Aufgabe des Holzbaus ist die horizontale Überdeckung eines Raumes. Die einfachste Methode, einen Raum mit einer Holzkonstruktion zu überdecken, besteht in der Herstellung einer Balkendecke. Bei einem mehr oder weniger rechteckigen Raum werden dazu über die kürzere Seite relativ dicht nebeneinander und parallel zueinander Deckenbalken ausgelegt (Bild 4.1; nach Aussage von Baukonstruktionshandbüchern des 18. Jh. soll der Balkenabstand maximal einen Meter betragen, z. B. [Voch 1780, S. 107]). Auf die Deckenbalkenlage wird sodann ein Bohlen- oder Bretterfußboden aufgenagelt, der gegebenenfalls aus mehreren gekreuzten Lagen von Brettern besteht. Sind die Abstände zwischen den Deckenbalken gering (ca. 30 cm axial), so können die Zwischenräume auch direkt durch Ziegelplatten überbrückt werden, die von einem Balken bis zum nächsten spannen und auf die Balken aufgelegt werden. Diese Variante der Balkendecke ist insbesondere im Mittelmeerraum bis heute verbreitet. Durch aufgenagelte Bohlen oder Bretter bildet sich in der Decke eine Tragwirkung in der Richtung quer zur Spannrichtung der Deckenbalken aus, so dass konzentrierte Auflasten auf der Decke auf mehrere benachbarte Deckenbalken verteilt wirken. Außerdem stellt eine vernagelte Bretteroder Bohlenlage oder eine vermörtelte Schicht von Ziegeln eine Scheibe dar, die zur Aussteifung des Bauwerks geeignet ist. Die wichtigste Schwachstelle einer Balkendecke sind die Balkenauflager. Bei Stockwerksdecken in Massivbauten binden die Deckenbalken oft ein Stück in die umschließenden Mauerwerkswände ein; durch Feuchtigkeit, die infolge der Kapillarwirkung im Mauerwerk aufsteigt, werden die nicht luftumspülten Balkenköpfe leicht
Bild 4.1 Balkendecke als Träger eines Bohlenfußbodens (Villa Barbarigo, Noventa Vicentina, Ende 16. Jh.). Statische Beurteilung historischer Tragwerke. Band 2: Holzkonstruktionen. 1. Auflage. Stefan M. Holzer © 2015 Ernst & Sohn GmbH & Co. KG. Published 2015 by Ernst & Sohn GmbH & Co. KG.
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4 Deckentragwerke und flachgeneigte Pfettendächer
schadhaft. Dieser Schwachstelle war man sich schon früh bewusst: „Etliche pflegen das Gebälk am Ende mit in die Hauptmauer bei Auflegung derselben mit einzurücken, und etwa einen Schuh lang darauf zu mauren, welches aber gar nicht gut, weil das Holz von dem Kalk pfleget angegriffen zu werden, auch selbiges mürbe machet.“ [Voch 1780, S. 106]. Alternativ zu einem Einbinden in Balkenlöcher ist daher insbesondere ab der Barockzeit häufig auch eine Auflagerung von Stockwerksdecken auf Mauerrücksprüngen anzutreffen. Um die Aussteifung des Mauerwerkskörpers auch dann noch zu gewährleisten, sind wenigstens einige der Deckenbalken mittels eiserner Anker im Mauerwerk der Umschließungswände zu befestigen, wie es auch Baukonstruktionshandbücher um 1800 in der Regel empfehlen: „Alle in einem Gebäude befindliche Gebälke werden mit den Mauern verankert [...]. Was die erste Frage betrifft: Wie viel Balken müssen in einem Gebälke eigentlich und nothwendig verankert werden? so glaube ich am zweckmäßigsten zu antworten, daß man wohl thue, jederzeit den fünften oder höchstens den sechsten Balken in jedem Gebälke zu verankern; weil, wie bekannt ist, schwache Mauern durch die mindeste Berührung zum Weichen gebracht werden können.“ [Leideritz 1800, Bd. 1, S. 133]. Ist es unerwünscht, dass die Balken an der Deckenuntersicht in vollem Umfang sichtbar werden, so werden die Deckenbalken seitlich mit Nuten versehen, in die dann Einschubbretter hineingeschoben werden können, die die Balkenzwischenräume nach unten abschließen (sog. Fehlboden). Zwischen den Balken finden sich in diesem Fall oft Schüttungen, die zum Schwingungs-, Schall- und Brandschutz und zur Abwehr von Nagetieren dienen sollten [Voch 1780, S. 107]. Verschiedene Techniken kamen zur Ausbildung der Untersicht und zum Ausfüllen der Balkenzwischenräume in Anwendung, z. B. Staken, Lehmwickel: „Über Räume von gewöhnlicher Breite, nemlich 16–18 bis 20 Fuß, legt man bekanntlich die Balken zu den Decken, 3 bis 4 Fuß von Mittel zu Mittel entfernt, neben einander, beschaalt die untere Fläche mit Zoll dicken Brettern, bedielt die obere mit 5/4 bis 6/4 zölligen Brettern und legt zwischen die Decke und den Fußboden Staaken, oder Einschiebebretter, auf welche trockene Erde geschüttet wird, oder mit Stroh durchzogener Lehm, der entweder um die Staken gewickelt oder über dieselben ausgebreitet wird.“ [Menzel 1832, S. 220]. Eine von diesen Deckenformen abweichende altertümliche, in holzreichen Gegenden jedoch bis zum frühen 19. Jahrhundert nicht selten angewendete Konstruktion ist die massive Holzdecke aus dicht an dicht nebeneinandergelegten Balken (Bild 4.2, „Mann-an-Mann-Decke“). Eine Quertragwirkung orthogonal zur Spannrichtung der Balken wird hier durch eine horizontale Verdübelung der Balken untereinander erzielt (sog. „Dippelboden“). Noch Ende des 18. Jahrhunderts empfahlen süddeutsche Baukonstruktionslehrbücher diese Konstruktion: „Die Balken können unmittelbar an einander gelegt werden; es kostet zwar auf diese Art sehr viel Holz, man erspart aber hingegen einen Träger, wodurch sonst das Gebälke gerad gehalten wird. Es ist ein solcher Boden auch sehr gut für Feuersgefahr: weil jeder Balken an den andern getäbelt ist, kann kein Feuer durchschlagen.“ ([Mayer 1782, S. 41]; ganz ähnlich auch [Voch 1780, S. 106]; Abb. einer solchen Konstruktion bei [Koller 1800, Tafel LXVI, Fig. 7–8]).
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4.1 Konstruktion historischer Deckentragwerke
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Bild 4.2 „Mann-an-Mann“-Decke (Turm der Klosterkirche St. Georg, Regensburg-Prüfening). Die Laufebene wird durch dicht an dicht nebeneinandergelegte Balken gebildet, die in der Mitte durch einen Unterzug gestützt werden (übrige Stützkonstruktionen neu).
Eine geschichtliche Evolution der Balkendecke fand nicht statt, ihre Grundform wurde über Tausende von Jahren unverändert gebaut, bis schließlich im 20. Jahrhundert die Stahlbetondecke die Holzkonstruktionen weitgehend ablöste. In historischen Lehrbüchern zum Holzbau werden häufig auch Deckenkonstruktionen dargestellt, die aus mehreren Hierarchien von Balken bestehen. Diese Konstruktionen sind im deutschen Sprachraum allerdings kaum anzutreffen. Auch kunstvolle Deckentragwerke aus rekursiv ineinander gesetzten Trägerrosten, die aus kurzen Balkenstücken bestehen, werden zwar in der deutschen historischen Holzbauliteratur oft abgebildet (z. B. sogenannter „Serlio-Fußboden“ und ähnliche Strukturen, vgl. [Serlio 1600, Teil 1, fol. 15v], [Vorlegeblätter 1835, Tafel XV], [Metzger 1847, Tafel 24], [Yeomans 1997]), sind im deutschen Sprachraum aber wohl nie ausgeführt worden. Überschreitet die Lichtweite des zu überdeckenden Raumes die Spannweite, die mit Balken bequem zu beschaffender Größen überspannt werden kann, so werden Zwischenunterstützungen der Deckenbalkenlage notwendig. Typischerweise werden in solchen Fällen großformatige Unterzüge unter der Deckenbalkenlage angeordnet (Bild 4.3). Die Unterzüge spannen meist in Richtung der kleineren Lichtweite des Raumes und zerlegen die längere Seite in kurze Abschnitte, die durch Deckenbalken normalen Querschnitts bequem überbrückt werden können (Bild 4.3). Wird eine glatte Deckenuntersicht gewünscht, so werden anstelle der Unterzüge Überzüge im Raum oberhalb der Decke angeordnet und die Deckenbalken mit zugfesten Verbindungsmitteln (hölzerne oder eiserne Bolzen) an den Überzügen aufgehängt. Letztere Konstruktion ist bei Deckentragwerken über größeren Sälen insbesondere seit der Renaissance häufig, zum Teil auch mit aufwendigen Konstruktionen als Deckenträger (vgl. [Schmidt 1987]). Befindet sich der zu überdeckende Raum in einem der obersten Stockwerke, so ist die Decke auch oft vom Dachtragwerk aus aufgehängt. Eine weitere Konstruktion zur Aufhängung weitgespannter Decken besteht in der Ausbildung darüber befindlicher Trennwände als fachwerkartiger Träger. Gerade bei Unterzügen oder Überzügen bei Decken großer Spannweite werden schnell Querschnittsgrößen nötig, für die Balken entsprechender Länge nur noch mit Schwierigkeiten zu beschaffen sind. Schon bei mittelalterlichen Konstruktionen sind daher an solchen Stellen oft mehrere übereinandergelegte Balken anzutreffen. Durch Übereinanderlegen mehrerer Balken gleichen Querschnitts vervielfacht sich zwar die Steifigkeit des Unterzugs entsprechend der Anzahl der aufeinandergelegten Balken;
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4 Deckentragwerke und flachgeneigte Pfettendächer
Bild 4.3 Balkendecke auf Unterzügen (Palazzo Communale, Viterbo).
effektiver ist es jedoch, die Balken derart miteinander zu verbinden, dass sie näherungsweise wie ein monolithischer Querschnitt wirken. Für solche Aufgabenstellungen konnte sich zunächst – wohl von Norditalien ausgehend [Badalini/Dandria 2009] – als älteste Technologie die Verzahnung etablieren (Bild 4.4). Dazu werden in die Kontaktfuge der aufeinandergelegten Balken spiegelbildlich zueinander sägezahnartige Kerben eingeschnitten, längs derer die Balken passgenau ineinandergefügt werden. Die Zahntiefe beträgt typischerweise 1–2 Zoll (2,5–5 cm; [Voch 1777, Anhang S. 19] empfiehlt 1,5 Zoll Zahnhöhe), der Zahnabstand das 5- bis 10-fache der Zahntiefe. Da die exakt passgenaue Herstellung der Zähne handwerklich sehr aufwendig ist und die Passgenauigkeit überdies durch Schwinden leiden kann, wurden in die vertikalen Kontaktfugen der Zähne häufig auch Hartholzkeile eingetrieben. Verzahnte Balken bestehen in der Regel aus mindestens drei Einzelteilen (Bild 4.4, Mitte). Der Untergurt läuft durch, der Druckgurt hingegen besteht aus zwei Teilen und ist in der Mitte gestoßen. Die Zahnkonfiguration muss beim Einfeldträger symmetrisch zur Trägermitte sein. In der historischen Baupraxis sind allerdings nicht selten auch verkehrt angeordnete Verzahnungen anzutreffen. Um
Bild 4.4 Überzug über einer Deckenbalkenlage und Konstruktion verzahnter Balken [Gilly 1822, Bd. 2]. Man beachte die fehlerhafte Konstruktion in Fig. 35 B!
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4.2 Konstruktion historischer flachgeneigter Pfettendachwerke
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eine Passgenauigkeit der Verzahnung zu erreichen, wurde vor dem Aufreißen und Ausarbeiten der Zähne der Untergurt künstlich nach oben gekrümmt. Nach Einsetzen der Obergurtstücke wurde der Untergurt dann wieder losgelassen und erzeugte durch seine elastische Rückfederung eine leichte Vorspannung, die insbesondere den passgenauen Kraftschluss der Zähne sicherstellte [Voch 1777, Anhang S. 20]. Verzahnte Balken wurden ab dem 17. Jahrhundert auch in Deutschland häufiger. Sie fehlen in kaum einem der Baukonstruktionslehrbücher der Zeit um 1800 ([Voch 1780, Tafel XI], [Leideritz 1800, Bd. 1, Tafel XIII], [Hoffmann 1802, Tafel X], [Wolfram 1824, Tafel IV]). Im deutschen Sprachraum sind verzahnte Balken vor allem als Untergurte hölzerner Brücken und bei Reparaturkonstruktionen eingesetzt worden (Bild 4.5). Zusätzlich zur Verzahnung sind solche Balken ab dem 17. Jahrhundert meist auch verbolzt (Bilder 4.4 und 4.5). Die Konstruktion verzahnter Balken zeugt oft sowohl von der Leistungsfähigkeit des traditionellen Zimmerhandwerks als auch von dessen Grenzen hinsichtlich der analytischen Durchdringung der Mechanik der Tragwerke. Zum Beispiel sind verzahnte Träger, die aus mehr als drei Teilen bestehen, nicht selten so fehlerhaft konstruiert wie das in Bild 4.4 unten dargestellte Beispiel. Hierbei ist ausgerechnet der auf Zug beanspruchte Untergurt des Trägers in der Trägermitte gestoßen, so dass das Maximalmoment in der Trägermitte allein durch Biegung des Obergurts abgetragen werden muss, ohne dass dem zeitgenössischen Autor dieses Problem aufgefallen wäre [Gilly 1822, Bd. 2, S. 64]. Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Verzahnung von Durchlaufträgern über mehrere Felder, da in diesem Fall die Richtung der Querkräfte an jedem Ort bekannt sein muss, die Bestimmung des Querkraftnullpunkts aber nur mit den Methoden der Statik möglich ist (Diskussion eines derartigen Falls in [Caston 2005, S. 144–145]). Die Verzahnung blieb im deutschen Sprachraum bis ins frühe 19. Jahrhundert üblich und wurde dann rasch durch leichter herzustellende und kostengünstigere Verbindungstechniken wie die Verdübelung (mit Hartholz- oder Eisendübeln) und durch diverse „gesprengte“ oder „armierte“ Balken abgelöst [Menzel 1832], obwohl nicht alle diese Konstruktionen sinnvoll waren.
Bild 4.5 Verzahnter Balken als Reparaturkonstruktion (Dom zu Augsburg, Westquerhaus, wohl 18. Jh.).
4.2
Konstruktion historischer flachgeneigter Pfettendachwerke
Die einfachste hölzerne Dachkonstruktion geht direkt aus der Balkendecke auf Unterzügen hervor. Sie entsteht, indem man aus der Balkendecke eine schiefe Ebene macht, wobei die Unterzüge oben auf eine schräg ansteigende (Giebel-)Mauer gelegt
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4 Deckentragwerke und flachgeneigte Pfettendächer
werden. Die Unterzüge verlaufen dann zwar immer noch horizontal, jedoch auf verschiedener Höhe. Die Deckenbalken sind in Richtung der Falllinie ausgerichtet, also geneigt. Das so entstandene Pultdach ist ein „Pfettendach“: Aus den Unterzügen der Decke werden firstparallele Pfetten (ital. arcarecci oder paradossi, frz. pannes, engl. purlins). Die in die geneigte Dachfläche geklappten Deckenbalken werden landläufig als „Sparren“ bezeichnet. Im vorliegenden Werk und im Einklang mit der gängigen Fachterminologie des historischen Holzbaus sollte jedoch der Begriff „Rofen“ (historisch auch „Rafen“ oder „Raffen“, vgl. den englischen Ausdruck rafter; frz. chevrons, ital. piane) verwendet werden. Rofen liegen lediglich auf der Unterkonstruktion und dienen der unmittelbaren Unterstützung der Dachhaut, sind jedoch kein statisch wirksamer Bestandteil der Unterkonstruktion. Stoßen zwei in Gegenrichtung geneigte Pultdächer auf Pfetten längs der Oberkante ihrer Dachflächen zusammen, so entsteht ein Satteldach in Pfettendachkonstruktion (Bild 4.6). Am First, der Verschneidungskante der beiden Dachflächen, wird sinnvollerweise eine Firstpfette (ital. colmareccio) angeordnet. Die Dachflächen werden durch weitere firstparallele Pfetten (Zwischen- oder Mittelpfetten) in Kompartimente zerlegt, die bequem durch die Rofen überspannt werden können. Auch am Fußpunkt des Daches wird auf jeder Traufseite typischerweise eine Pfette als unterstes Auflager der Rofen verwendet. Die Rofen kragen an der Traufe über die Fußpfette noch ein Stück aus und bilden einen Dachüberstand. Auch an der Giebelseite kann man durch Auskragenlassen der Pfetten leicht einen großen Dachüberstand erzeugen. Das Pfettendach ist eine Konstruktion, die eng mit dem massiven Mauerwerksbau verbunden ist; Pfettendächer sind jedoch auch die Standardlösung im hölzernen Blockbau, für den ein großer Dachüberstand als Schutz gegen Spritzwasser elementare Bedeutung hat. Die Konstruktion des Pfettendaches bietet sich vor allem dann an, wenn die Dachneigung gering ist. Bei steileren Dachneigungen droht die Dachdeckung einschließlich der Rofen abzurutschen und die Pfetten sind gefährdet, umzukippen oder längs der Giebelschräge herunterzugleiten.
Bild 4.6 Urform des Pfettendaches (Tomba Rossa, etruskische Nekropole „Le Pianezze“ bei Grotte di Castro, Latium, 6. Jh. v. Chr.).
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