Europas neue Territorialpolitik oder Die ungleichen Räume, die uns zum Leben, Atmen, Bewegen und Sterben bleiben von Niccolò Milanese Europe’s Futures-Stipendiat 2019/2020
Die politische Geografie Europas ist bekanntermaßen ungewiss und umstritten. Der Luxus und die Bürde, der einzige Kontinent zu sein, der sich selbst einen Namen gegeben hat, besteht darin, dass seine Grenzen nicht definiert sind und sich die europäische Geschichte insgesamt – sowohl von „innen“ als auch „außen“ gesehen – als eine berüchtigte Folge von Ereignissen erzählen lässt, bei denen es um die Beanspruchung, Zurückweisung, Verteidigung oder Aufspaltung von Ländern, Wurzeln, Kulturen, Namen und Symbolen geht, die alle mit ihr in Verbindung gebracht werden könnten. Um ihre Geschichte derart zu erzählen, bedarf es freilich mindestens zweier Erzählweisen, einer „europäischen“ und einer „nicht europäischen“, wenn es denn nur möglich wäre, a priori zu bestimmen, welche die eine und welche die andere ist. Mit dieser unentrinnbar gespaltenen Geschichte riskiert ein Handeln im Namen Europas stets, Partei zu ergreifen, aber auch die offensichtliche Fragilität unlösbarer innerer Widersprüche, das Hervortreten abtrünniger Renegaten und Rebellen in den eigenen Reihen. Lässt sich Territorium auch jenseits dieser militärischen Metaphern denken?
oder der Realpolitik war, zu einer administrativen und juristischen Kompetenzstreitigkeit in einer stratifizierten, aber konvergenten Landschaft politischer Autorität gemacht wurde. Die Voraussetzungen für diese Integration waren mannigfaltig: Am Anfang standen das vernichtete Nachkriegseuropa und die Notwendigkeit des Wiederaufbaus, der Zugang zu den europäischen Kolonien und ihren Ressourcen, die weiterhin relativ sicheren Energie- und Industriewerkstoffquellen und die Klimastabilität, der allgemeine militärische Schutz durch die USA, der privilegierte Zugang zu den internationalen Finanzmärkten und lang anhaltende Perioden globalen Wirtschaftswachstums.
Lässt sich Territorium auch jenseits militärischer Metaphern denken?
Als Friedensprojekt erhebt die Europäische Union – jenes gefeierte „nicht identifizierte politische Objekt“ – einen starken und berechtigten Anspruch auf die Überwindung von Grenzkonflikten und weiterreichenden Territorialkonflikten, zumindest in ihren „Kernländern“, allen voran Frankreich und Deutschland. Mittels verschiedener Formen der Integration (funktional, energiepolitisch, juristisch, monetär, bildungspolitisch usw.) hat man die Ursachen dieser Konflikte verdrängt und aus dem Fokus genommen, indem das, was eine Frage der Außenpolitik, der militärischen Macht 58
Stand die Geopolitik in den ersten Jahrzehnten der europäischen Integration bis 1989 im Vordergrund, so ermöglichten es der Zerfall des Sowjetimperiums und die „Wiedervereinigung“ der Europäischen Union, ihre Teleologie als die Verwirklichung einer „immer engeren Union“ zu artikulieren, die zugleich mit der Osterweiterung verbunden war. Die nach wie vor ungelösten Territorialkonflikte, insbesondere an der immer östlicheren Grenze, sollten „später“ behandelt werden. Die grausamen Kriege in Jugoslawien wurden rasch vom Namen „Europa“ abgegrenzt – die Balkanhalbinsel wieder ein Ort, zu dem Europa noch nicht vorgedrungen war, was es den Mehrheiten in Westeuropa ermöglichte, dem makellosen Narrativ des neuen, unberührt und konfliktfrei wiedergeborenen Europas treu zu bleiben. Die „Stunde Europas“ lag in der Zukunft. Die vernachlässigte Geschichte dieser ersten Jahrzehnte der europäischen Integration ist die Verdrängung der kolonialen Interessen Euro-