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Rainer E. Wicke

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DAS LEHRBUCH

Die Grundlage des Deutschunterrichts

Der Beitrag widmet sich einer kurzen historischen Beschreibung der Lehrwerkentwicklung im Fach Deutsch als Fremdsprache. Die wichtigen Themen der Analyse, Auswahl und des Einsatzes von Lehrwerken im Unterricht bilden weitere Schwerpunkte. Dabei werden Möglichkeiten der Lehrwerkergänzung, aber auch der Lehrwerkersetzung durch den Einbezug von Zusatzmaterialien erörtert.

VON RAINER E. WICKE

Schlagwörter: Lerneraktivierung, Lehrwerkauswahl, Stärken-/ Schwächenanalyse, Lebensweltlicher Bezug, Textvielfalt

KURZE HISTORISCHE EINORDNUNG DER

LEHRWERKENTWICKLUNG IM FACH DEUTSCH

Lehrwerke haben in allen Ansätzen der Fremdsprachendidaktik eine wesentliche Rolle gespielt, wobei die Inhalte den jeweiligen Zielsetzungen der zu dieser Zeit aktuellen Curricula und Rahmenplänen und den jeweiligen Spracherwerbstheorien angeglichen wurden. Dies war besonders im Fremdsprachenunterricht Englisch und Französisch festzustellen, wo die entsprechenden Lehrwerke im grammatikorientierten, im audiovisuell ausgerichteten und besonders im kommunikativ-interkulturellen 978350310785© Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2021 ˜– (www.fremdsprachedeutschdigital.de) Fremdsprachenunterricht jeweils starken Veränderungen unterzogen wurden. Anders verhielt es sich im fremdsprachigen Deutschunterricht; in dem relativ jungen Fach Deutsch als Fremdsprache (DaF) wurde erst seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts und mit der kommunikativen Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts die didaktische Diskussion intensiviert aufgenommen. War es bis dahin üblich, die Schülerinnen und Schüler primär nach einem auf einer grammatischen Progression basierenden Lehrwerk zu unterrichten, so stand im kommunikativ ausgerichteten Deutschunterricht

konträr dazu die direkte Anwendbarkeit erworbener Sprachkenntnisse im Mittelpunkt. Diese wurde in einer Progression kommunikativer Situationen vermittelt, zu deren Bewältigung auch die entsprechenden Grammatikkenntnisse gehörten (Wicke 2012, 129). Mit Deutsch aktiv entstand ein Lehrwerk für den fremdsprachigen Deutschunterricht mit Erwachsenen, das in vielen Ländern, in denen Deutschunterricht erteilt wurde, Verwendung fand (Neuner et al. 1979).

Nach dieser bahnbrechenden Publikation nahm die Veröffentlichung neuer Lehrwerke – gerade und besonders auch für den schulischen Unterricht – rapide zu, so dass in relativ kurzer Zeit Verlage in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch im Ausland, Publikationen dieser Art für den Deutschunterricht anboten, die verstärkt zu einer Lerneraktivierung im schulischen Unterricht beitrugen.

Diese Entwicklung ist – auch und besonders durch den Einfluss der neuen elektronischen Medien – inzwischen so weit fortgeschritten, dass von den Fachverlagen ein breit gefächertes Angebot an Lehrwerken für den fremdsprachigen Deutschunterricht präsentiert wird, so dass die → Auswahl eines geeigneten Buches nicht leichtfällt.

In den meisten Fällen handelt es sich bei modernen Lehrwerken um Medienverbünde, in die nicht nur das → Kurs- und Arbeitsbuch sowie das Lehrer- und Lehrerinnenhandbuch, sondern auch Tonträger und Videosequenzen neben weiteren → Zusatzmaterialien, wie z.B. → online gestellten Materialien, integriert werden.

Abb. 1: Die Auswahl eines geeigneten Buches fällt nicht leicht. © Peter Koslowski

BETEILIGUNG DER BILDUNGSADMINISTRATIONEN AN DER LEHRWERKAUSWAHL

Aus einigen Ländern und Regionen ist bekannt, dass die Lehrwerkauswahl dort von den Erziehungsministerien – oder durch von diesen beauftragten Gremien – vorgenommen und eine bestimmte Publikation für den fremdsprachigen Deutschunterricht verpflichtend eingeführt wird. In diesem Fall haben Fachkonferenzen an den Schulen kein Mitspracherecht bei der Auswahl.

Dass die Zusammenarbeit mit den Behörden und Lehrer- und Lehrerinnenverbänden jedoch möglich und sogar gewinnbringend sein kann, dokumentiert das Beispiel der Einführung eines landesweiten DaF-Lehrwerkes in Thailand von Jörg Klinner und Markus Stichel in dieser Ausgabe der Zeitschrift (S. 16–22). Dort stimmten sich das Erziehungsministerium und der Deutschlehrer- und Lehrerinnenverband mit dem Goethe-Institut ab und man entschied sich gemeinsam in einem längerfristigen Prozess für den Einsatz eines neuen methodisch-didaktisch aktuellen Lehrwerks.

KOSTEN FÜR DIE ANSCHAFFUNG UND ZEITLICHER RAHMEN FÜR EINEN EINSATZ DES LEHRWERKS

Nach wie vor spielt der Kostenfaktor in einigen Regionen eine Rolle, da das Budget für die Einführung neuer Lehrwerke dort begrenzt ist.

Sicherlich werden viele Schulen immer noch darauf achten müssen, dass kostengünstiges Material angeschafft wird, das möglichst lange Verwendung findet. Aber es dürfte inzwischen z.B. nicht mehr der Fall sein, dass ein Lehrwerk für Erwachsene in den unteren Klassen der Sekundarstufe eingesetzt wird, da es billig zu haben, die inhaltliche Gestaltung jedoch keineswegs auf diese Zielgruppe ausgerichtet ist und sich somit nicht an den Interessen und der Lebenssituation der Lernenden orientiert.

Eine Entscheidung für ein nur bedingt geeignetes Lehrwerk für die jeweilige Zielgruppe und die eigenen Arbeitsbedingungen führt in der Regel häufig zu einem intensiveren Arbeitsaufwand der Lehrenden, indem Inhalte verändert oder sogar zusätzliche Materialien produziert werden müssen, um es den Bedürfnissen vor Ort anzupassen (Rösler, Würffel 2014, 17).

Die in einer Klasse oder einer Lerngruppe zur Verfügung stehende Unterrichtszeit ist ebenfalls wichtig für die Auswahl. So dürfte es keine Schwie-

rigkeit sein, für einen Deutschunterricht, in dem vier bis sechs Wochenstunden zur Verfügung stehen, ein geeignetes Lehrwerk auszuwählen. Ganz anders sieht es jedoch aus, wenn für den fremdsprachigen Deutschunterricht z.B. nur zwei Wochenstunden angesetzt werden. Der Beitrag von Carol Szabolcs (S. 46–52) in diesem Heft verdeutlicht, wie digitale Angebote zum Deutschlernen, die einen lebensweltlichen Bezug für die Lernenden herstellen, erfolgreich als → Lehrwerkersatz eingesetzt werden können.

KRITERIEN FÜR DIE AUSWAHL

Viele der gegenwärtigen Lehrwerke orientieren sich an den bildungs- und sprachpolitischen

Ausführungen des Gemeinsamen europäischen

Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001) (GER). Die in diesem Grundlagenwerk enthaltenen

Skalierungen und Kompetenzbeschreibungen nach

Sprachniveaus von A1 bis C2 haben zu einer Standardisierung in den Publikationen geführt, die den jeweiligen Anspruchsniveaus entspricht. Die Tatsache, dass 2020 ein Begleitband zum GER erschien, in dem dessen Inhalte erweitert und aktualisiert werden, unterstreicht die zentrale Bedeutung des

Referenzrahmens für die Methodik/Didaktik des

Fremdsprachenunterrichts (Europarat, 2020). Dennoch – ein ideales Lehrwerk, welches allen

Lernenden und Lehrenden bzw. deren individuellen

Anforderungen und den jeweils konkreten Unterrichtssituationen vor Ort gerecht wird, gibt es nicht und wird es niemals geben. Auch ein modernes

Lehrwerk ist immer nur eine (gute) Grundlage, mit der im Unterricht experimentiert werden kann und muss. Daher empfiehlt sich eine entsprechende kritische Sichtung potenziell geeigneter Lehrwerke. Eine kritische Auseinandersetzung mit Lehrwerken findet in vielfältiger Form statt, seit es

Lehrwerke gibt: Die Entscheidung der Lehrenden oder einer Institution, ein bestimmtes Lehrwerk zu verwenden, beruht auf der Anwendung mehr oder weniger bewusster Beurteilungs- und Auswahlkriterien (Krumm 2010,1218). Grundsätzlich empfiehlt es sich, eine solche → Analyse, Sichtung und Bewertung eines Lehrwerks im Team oder arbeitsteilig in der Fachkonferenz durchzuführen, denn die Entscheidung für die

Einführung wird am besten nicht von Einzelpersonen, sondern im Kollegium herbeigeführt. Welche Hilfsmittel in Form von Checklisten usw. dabei Verwendung finden können und wie man die Auswahl handlungsorientiert und teilnehmerzentriert gestalten kann, zeigt der Beitrag von Pascal

Schweitzer (S. 11–15) exemplarisch in diesem Heft. 978350310785 In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Weiterentwicklung von solchen Analysekriterien und Materialien ein ständiges Desiderat ist (Krumm 2010, S. 1222).

Hilfestellung bei der Analyse leisten das (angestrebte) Curriculum oder der Rahmenplan, das oder der für den fremdsprachigen Deutschunterricht verbindlich ist. Nach einer solchen Stärken- und Schwächenanalyse wird deutlich, ob die Streichung bestimmter Kapitel und Themen und/oder deren Erweiterung durch den Einbezug von Zusatzmaterialien sinnvoll ist.

Für den Beginn einer solchen Analyse empfiehlt sich zunächst die Prüfung der Komponenten eines neuen Lehrwerkes.

Das Lehrbuch, manchmal auch → Kursbuch, Schülerbuch, Lernerbuch oder Hauptbuch genannt, bildet zusammen mit dem → Arbeitsbuch und dem Lehrer- und Lehrerinnenhandbuch den Kern des Lehrwerks. Manchmal bestimmt der Einsatz dieser drei Lehrwerkkomponenten die Aktivitäten im Klassenzimmer/Kursraum, manchmal sind sie eine Quelle neben anderen (Rösler, Würffel 2014, 20).

Dies gilt auch für den Bereich der Zusatzmaterialien, denn viele Lehrwerke bieten außer den oben genannten Komponenten weitere an, zu denen z.B. Video- und Audiomaterialien, → Glossare, Prüfungstrainer und auch Online-Angebote gehören. Die © Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2021 ˜– (www.fremdsprachedeutschdigital.de)

Abb. 2: Die Entscheidung für ein Lehrwerk wird am besten nicht von Einzelpersonen, sondern im Kollegium herbeigeführt. © Peter Koslowski

Auswahl der Komponenten eines Lehrwerks ist für die eigene Arbeit an den Schulen / in den Fachschaften von besonderer Bedeutung, da viele der heutigen Lehrwerke aufgrund der vielfältigen Zusatzangebote derart komplex sind, dass die Berücksichtigung aller Materialien aufgrund der limitierten Unterrichtszeit kaum möglich ist. Ein rechtzeitiger und umfassender Überblick über alle Bestandteile eines Lehrwerks ist im Hinblick auf einen adressatengerechten motivierenden Einsatz der Materialien notwendig.

Genau genommen sind Lehrwerkauswahl und -einsatz an vielen Schulen auf die Expertise von erfahrenen Sprachlehrerinnen und -lehrern angewiesen, die die Kolleginnen und Kollegen bei der Auswahl anleiten, welche Inhalte von zentraler Bedeutung sind und keineswegs ausgelassen werden dürfen. Gleichzeitig sind die Sprachlehrer und -lehrerinnnen gut beraten, aufgrund des Überangebotes selbst mutig zu entscheiden, welche Inhalte aus ihrer Sicht obsolet sind. Da inzwischen eine Reihe von mediengestützten Lehrwerken oder sogar Online-Publikationen Verwendung finden, ist die Unterstützung durch medienkompetente Expertinnen und -experten hilfreich. Wie eine sinnvolle Verzahnung von Lehrbuchunterricht und Integration elektronischer Medien erfolgen kann, demonstriert der Beitrag von Ralf Klötzke (S. 57–60) in diesem Heft.

Ergänzend dazu demonstriert der Beitrag von Anna Grigorieva (online), dass es – gerade nach den Erfahrungen während der Covid-19-Pandemie – hilfreich ist, bei der Lehrwerkarbeit auch Formen des → Blended Learning einzusetzen.

Natürlich sind in diesem Zusammenhang auch die Handbücher für die Lehrenden von Bedeutung. Diese werden in der Regel von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen verfasst, die es verstehen, unerfahrene Sprachlehrende kompetent zu beraten und alternative Möglichkeiten des Lehrwerkeinsatzes zu vermitteln.

Auch das Layout bzw. die Gestaltung der einzelnen Seiten ist wichtig. Es muss Lehrende und Lernende ansprechen, indem sich z.B. Textteile und (farbige) Illustrationen sinnvoll ergänzen und die einzelnen Seiten nicht überladen auf den Betrachtenden wirken. Wichtig ist auch, ob authentische Fotos aus der Lebenswelt der Lernenden in den zielsprachigen Ländern Verwendung finden und Zeichnungen die Adressaten ansprechen.

Die inhaltliche Struktur eines Lehrwerks verdient besondere Aufmerksamkeit bei der Sichtung der Publikation. Hier wird deutlich, wie einzelne Lektionen oder Kapitel gegliedert sind und welcher (sprachlichen) Progression diese folgen. Die altersgerechte Gestaltung ist ebenso wichtig wie die Feststellung, ob ein lebensweltlicher Bezug der Themen für die Lernenden zu registrieren ist, der die Lernenden anspricht:

»Lehrende müssen in der Lage sein, auf Basis eines Lehrwerks Unterricht zu planen, indem sie curriculare Vorgaben berücksichtigen und Lehr- und Lernsituationen schaffen, die auf Lernende mit ihren jeweiligen Spezifika ausgerichtet sind.« (Thonhauser 2019, 165)

Ansätze zu einem fächerübergreifenden, interkulturellen Lernen sollten ebenfalls vorhanden sein.

Weiterhin kann sich die Analyse darauf konzentrieren, ob eine Rekapitulation der Inhalte im Sinne eines Spiralcurriculums festzustellen ist, nach dem diese wiederholt und nach Lernstand komplexer bearbeitet werden.

Die Lebensform in einer sogenannten PatchworkFamilie, in der geschiedene Väter und Mütter mit neuen Partnerinnen oder Partnern und den Kindern aus erster Ehe zusammenleben kann z.B. mit dem in manchen Ländern üblichen Zusammenleben in Großfamilien kontrastiv durch den Einbezug zusätzlicher erklärender Materialien behandelt werden.

Die im Lehrwerk verwendeten Texte sind eine detaillierte Sichtung wert. Wichtig ist, dass in dem Buch eine → Textvielfalt festzustellen ist und nicht nur einige wenige Textsorten Berücksichtigung finden. Länge und Schwierigkeitsgrad spielen eine ebenso große Rolle wie angebotene Verstehenshilfen – z.B. kommentierende Illustrationen, Worterklärungen usw.

Das Augenmerk sollte ebenfalls darauf gerichtet sein, ob fiktionale literarische Texte – und wenn ja in welcher Form – bereits Berücksichtigung finden. Der Beitrag von Cigdem Ünal (S. 35–41) zeigt in diesem Zusammenhang auf, wie ein im Lehrwerk enthaltener Märchentext eingesetzt und die Arbeit mit ihm intensiviert werden kann.

Für den erfolgreichen Spracherwerb sind Aufgaben und Übungen von Bedeutung. Kommunikationsfördernde Aufgaben und Übungen, die sich an der Welt der Zielsprache orientieren, sind solchen, die lediglich abgespeichertes abstraktes Wissen abrufen, vorzuziehen: »Werden im Arbeitsbuch nur die Strukturen und der Wortschatz aus den Lektionen geübt oder gibt es eigenständige Aufgaben (z.B. Arbeitsaufträge für Projekte oder kreative Schreibaufgaben)?« (Rösler, Würffel 2014, 21)

Das Aufgaben- und Übungsangebot verdeutlicht, ob die angebotene Vielfalt an Bearbeitungsmöglichkeiten lehrerzentriertes, aber auch und besonders

lernerzentriertes, autonomes und handlungsorientiertes Lernen zulässt.

Wichtig ist auch, dass das Arbeiten in unterschiedlichen Sozialformen wie Einzel-, Partner- und Gruppenarbeit ebenso wie Plenarphasen und das Lernen an Stationen Berücksichtigung finden. Erfahrungsgemäß ziehen jüngere Jugendliche kooperative Lernformen einem Frontalunterricht vor, so dass dieser Anspruch auf einen motivierenden Deutschunterricht ebenfalls eingelöst werden sollte (Salomo, Mohr 2016, 32).

Dass Lehrwerkinhalte sogar als Ausgangspunkt für die kreative Erarbeitung von Videos durch die Schülerinnen und Schüler genutzt werden können, verdeutlicht Eva Zick (S. 53–56) in ihrem Bericht aus der schulischen Praxis in Bulgarien.

Ansätze zu einer Binnendifferenzierung sollten erkennbar sein, so dass lernschwächere, aber auch lernstärkere Schülerinnen und Schüler gefördert werden.

Der Stellenwert der Grammatik ist ein weiterer wichtiger Faktor für die Prüfung eines Lehrwerks. Es muss deutlich werden, dass der Erwerb entsprechender sprachlicher Mittel im Sinne einer Servicegrammatik erfolgt, indem die Schülerinnen und Schüler darauf vorbereitet werden, neues Wissen möglichst fehlerfrei in (simulierten) authentischen Situation anwenden zu können:

Lernende sind deutlich motivierter, wenn sie verstehen, warum sie etwas lernen (müssen) und wenn sie zudem sehen, dass sie mit dem Gelernten etwas anfangen können. (Salomo 2014, 7)

DAS LEHRWERK UND DER ÜBERGANG VON DER PRIMAR- IN DIE SEKUNDARSTUFE

Ein weiterer Aspekt, der nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die Rolle und Bedeutung von Lehrwerken beim Übergang der Deutschlernenden von der Primar- in die Sekundarstufe. Um Brüche und Redundanzen im Deutschunterricht zu vermeiden, empfiehlt sich die Absprache zwischen den Fachkonferenzen in Grundschule und Sekundarstufe an den Schulen. Sofern eine Weiterführung des fremdsprachigen Deutschunterrichts nach der Primarstufe in der Sekundarstufe stattfindet, ist die Verwendung von aufeinander aufbauenden Lehrwerken hilfreich. Da einige Verlage mittlerweile ein stufenübergreifendes Lehrwerkprogramm beginnend vom Elementarbereich anbieten, gilt es zu überprüfen, ob damit tatsächlich eine Deutschlern-Kohärenz erzeugt wird.

DAS LEHRWERK IM UNTERRICHT – MUT ZUR IMPROVISATION

Der Blick in gegenwärtige Lehrwerke bestätigt, dass diese den neusten Stand der Methodik/Didaktik des fremdsprachigen Deutschunterrichts berücksichti-

© Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2021 ˜– (www.fremdsprachedeutschdigital.de)978350310785 Abb. 3: Lehrwerkauswahl ist anspruchsvoll. Aber: nicht entmutigen lassen © Peter Koslowski

Abb. 4: Die Arbeit am Ich-Buch motiviert Lernende. Wicke, R.: »Das bin ich – Ein Buch von mir über mich« © DW

gen. Weiterhin wurden viele dieser Publikationen adressatengerecht gestaltet, so dass relevante Themen und Inhalte präsentiert werden. Daher spricht nichts gegen einen Unterricht, der sich auf die Arbeit mit dem Lehrwerk selbst konzentriert bzw. auf den Einsatz von Zusatzmaterialien verzichtet, wenn die oben angesprochene Betroffenheit der Themen, Texte und Inhalte für die Lernerinnen und Lerner gewährleistet ist. Wertvolle Anregungen für die Unterrichtsgestaltung liefern in der Regel die dazugehörigen Lehrer- und Lehrerinnenhandbücher.

Aber die Konzentration auf die Arbeit mit dem Lehrwerk und seinen Komponenten muss keinesfalls bedeuten, dass man sich sklavisch an die vorgegebenen Vorschläge zu halten hat. Leider stellt man bei Schulbesuchen immer wieder fest, dass viele Lehrkräfte Bedenken haben, den festgeschriebenen Kanon des Lehrwerkes zu verlassen und alternativ Zusatzmaterialien einzusetzen. Auch der lehrwerkgestützte Unterricht bietet Möglichkeiten für die Nutzung von Freiräumen und die alternative Gestaltung von Aufgaben, an die man die Lehrkräfte – z. B. in Fortbildungsmaßnahmen – behutsam heranführen kann. Dies zeigt der Beitrag von Jörg Klinner und Markus Stichel (S. 16–21) auf, die sich bei der Einführung eines neuen Lehrwerks nicht auf diese beschränkt, sondern weitere längerfristige Begleitmaßnahmen eingeplant haben. Im Deutschunterricht ist es opportun, diese Möglichkeit wahrzunehmen, denn auch so genannte Routineaufgaben werden plötzlich interessanter, wenn man sie alternativ gestaltet. Eine mit einer Überraschung eingeleitete Aufgabe »motiviert die Schüler sich mit einem Thema zu identifizieren, sich mit einer Aufgabe, einem Problem auseinanderzusetzen« (Wicke 2017, 10). Entsprechende Hinweise zur alternativen Gestaltung von Lehrbuchaufgaben können dem Beitrag von Rainer Wicke (S. 29–34) zum Lehrwerk als Fundgrube für neue Ideen entnommen werden.

Wie wichtig die oben erwähnte längerfristige Begleitung der Lehrwerkarbeit ist und wie eine entsprechende Fort- und Weiterbildung in der Praxis damit verbunden werden kann, wird ausführlich im Beitrag von Ulrike Behrendt (S. 22–28) aufgezeigt.

VON DER ERGÄNZUNG VON LEHRWERK(TEIL)EN HIN ZUM LEHRWERKERSATZ

Die Erfahrung hat gezeigt, dass immer wieder Teile eines Lehrwerks so aufbereitet werden müssen, dass sie besser auf die Interessen und Potenziale einer bestimmten Lerngruppe ausgerichtet werden können (Kuss, Wicke 2016, 46). Dies kann bei einzelnen Aufgaben, Übungen oder Kapitelteilen der Fall sein:

Es ergeben sich demnach in jedem Unterricht auch mit dem besten Lehrwerk wertvolle »Lernlücken«. Eine erfahrene Lehrperson sollte diese mit passgenauem selbst erstelltem Unterrichtsmaterial füllen. (Bartholemy 2019, 422)

Claudia Bartholemy weist explizit darauf hin, dass es für Didaktisierungen keine Patentrezepte gibt und dass diese Fertigkeit der Aufbereitung von

Lehrwerken von Lehrkräften erst im längerfristigen

Eigenversuch von Erfolg gekrönt ist (a. a. O. 426). Wichtig ist, dass Fremdsprachenlehrer und -lehrerinnen in den von ihnen verwendeten Lehrwerken zunächst solche potenziellen Lernlücken identifizieren und sich bereitwillig auf eventuell notwendige Adaptionen einlassen. Hilfreich ist es, wenn eine solche Analyse und Aufbereitung von

Lehrwerk(teil)en nicht nur von Einzelpersonen, sondern z. B. gemeinsam in der Jahrgangsstufen- oder

Fachkonferenz vorgenommen werden. Ein solches

Verfahren erleichtert nicht nur die Arbeitsbelastung einzelner Kolleginnen, darüber hinaus profitieren diese voneinander, indem Bearbeitungsvorschläge diskutiert, gegebenenfalls verworfen und neue gemeinsam entwickelt werden.

Notwendig zur → Ergänzung von Lehrwerken ist zunächst die erwähnte Bereitschaft, diese nicht als unantastbare und obligatorische Kompendien einzustufen, denen Änderungen nicht zugemutet werden dürfen. Lehrwerke werden von Autorinnen und Autoren aus einem bestimmten Kulturkreis verfasst, die dessen Einflüssen unterliegen, viel© Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2021 ˜– (www.fremdsprachedeutschdigital.de)978350310785 leicht aber auch Erfahrungen aus Auslandsaufenthalten oder Fortbildungen in einem anderen Land einfließen lassen. Dennoch wird es nicht gelingen, allen Ansprüchen weltweit zu genügen, so dass davon auszugehen ist, dass es einen bestimmten Bedarf der Adaption gibt. Wichtig ist, dass man bei der Vorbereitung des Unterrichts mit dem jeweiligen Lehrwerk lernerorientiert plant und vom Lernenden ausgehend prüft, wie und mit welchen Materialien man das jeweilige Kapitel für die eigene Lerngruppe oder Klasse attraktiv und motivierend anreichert. Es kann auch sinnvoll und gewinnbringend sein, die Schülerinnen und Schüler an der Auswahl geeigneter Materialien zu beteiligen bzw. Vorschläge der Lernenden einzubeziehen. Die Übertragung der Lerninhalte des Lehrwerks auf die Lernenden Im Folgenden wird auf einen Aspekt hingewiesen, der durchgängig in allen Lehrwerken im Bereich des fremdsprachigen Deutschunterrichts zu registrieren ist:

Lehrwerkautoren und -autorinnen bemühen sich darum, möglichst authentische Personen zu zeigen, dennoch gibt es in Lehrwerkslektionen häufig Hör- oder Lesetexte, die mit der Lebenswelt der Jugendlichen nicht sehr viel zu tun haben, eben weil sie fiktive Personen oder Figuren vorstellen. (Salomo, Mohr 2016, 76)

Diese schülerrelevanten Themen werden in der Regel zwar am Beispiel von fiktiven Lehrwerkcharakteren vorgestellt, die Lerninhalte jedoch nicht direkt auf die Lernenden selbst übertragen. Damit wird die Chance, den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit zur Identifikation mit den Lerninhalten zu geben, versäumt, indem sie erworbene Sprachkenntnisse direkt unter Einbezug ihrer Lebenswelt in authentischen Situationen anwenden. Wie dies gelingen kann – z.B. durch den Einbezug entsprechender Materialien – wird in dem Beitrag von Rainer Wicke aufgezeigt.

FÄCHERÜBERGREIFENDER DAF-UNTERRICHT? ABER JA!

Viele der Themen und Texte in einem Lehrwerk bieten Anknüpfungspunkte zu einem → fächerübergreifenden Deutschunterricht (FüDaF). Themenkreise aus anderen Fächern wie z.B. Musik, Kunst, Geographie, Geschichte, Biologie, Chemie oder Physik etc. eignen sich ebenfalls für den Einsatz im FüDaF und lassen sich bestimmten Lehrwerklektionen zuordnen.

Ein solches Vorgehen löst die Forderung ein, die Schülerinnen und Schüler nicht nur dazu zu befähigen, sich sprachlich handelnd in Alltagssituationen durchsetzen, sondern sich auch zusätzliches (Fach-)Wissen aneignen zu können (Beacco et al. 2016, 19). Dieses Wissen benötigen sie, um sich angemessen an fachlichen Diskussionen in der Fremdsprache beteiligen zu können und durch den Erwerb der sogenannten fachbasierten Diskursfähigkeit zur Wahrnehmung von augenblicklichen und zukünftigen gesellschaftlichen Bedürfnissen befähigt zu werden (Wicke 2012, 22). Dieser Aspekt ist nicht nur für die Schulen von besonderer Bedeutung, die neben den einheimischen Abschlüssen zum sogenannten International Baccalaureat führen, sondern auch für solche, an denen ein Fachunterricht in deutscher Sprache bisher nicht stattfindet. Gerade in einer immer stärker global agierenden Welt nimmt hier der fremdsprachige Deutschunterricht diese Aufgabe durch die Integration sachfachlicher Inhalte wahr. Dem Thema widmet sich der Beitrag von Claudia Bartholemy (S. 42–45) in diesem Heft.

DIE LEHRWERKE DER ZUKUNFT

Die inzwischen in vielen Ländern vorhandene Verfügbarkeit von mobilen Geräten wie Smartphone und Tablet-Computern führt zurzeit dazu, dass die Nutzung digitaler Medien im schulischen Fremdsprachenunterricht weiter voranschreitet. In einer Stellungnahme der Kultusministerkonferenz der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) werden die Vorteile dieser Medien ausführlich genannt:

Digitale Bildungsmedien zeichnen sich dadurch aus, dass ganz unterschiedliche Medienformate kombiniert werden können. Einzelne Teile können leicht durch andere ersetzt werden. Das macht die Nutzung dieser Medien sehr flexibel. Sie lassen sich modularisieren, womit eine hohe Aktualität und auch eine individuelle Zusammenstellung erreicht werden kann. Eine weitere neue Komponente ergibt sich durch interaktive Elemente. Diese ermöglichen aktive Eingriffe und Steuerung bei der Nutzung sowie direkte Rückmeldungen innerhalb von Lerngruppen sowie zwischen Lehrenden und Lernenden. (KMK 2017, 25–26)

Diese Vorteile lassen den Schluss zu, dass die Zukunft des Schulbuches allgemein und somit auch des Lehrwerkes für den fremdsprachigen Deutschunterricht »digital« sein wird (Landesregierung NRW 2016, 8). In der allgemeinen – bisher in der Bundesrepublik sehr enthusiastisch geführten – Diskussion zur Digitalisierung wird es jedoch auch zukünftig von Bedeutung sein, kritisch zu prüfen, inwieweit ein digitales Lehrwerk einem → Medienverbund oder einer Druckfassung vorzuziehen ist. Die Verfügbarkeit digitaler Medien ist keine Erfolgsgarantie, vielmehr gilt es festzustellen, wo der Mehrwert der Verwendung → digitaler Lehrwerke erkenntlich ist und diese entsprechend zu verwenden. Dies wird in dem Beitrag von Ralf Klötzke zum Einsatz digitaler Medien im Lehrbuchunterricht deutlich erläutert.

Die weltweite Corona-Pandemie hat 2020 deutlich aufgezeigt, dass die Länder, in denen bereits onlineLernplattformen und virtuelle Klassenräume den Schülerinnen und Schülern im sogenannten HomeSchooling Hilfestellung geleistet haben, eindeutig im Vorteil waren. Hier wurde den Lernenden die Möglichkeit gegeben, auch bei der Lehrbucharbeit Unterstützung zu erhalten und Probleme eigenverantwortlich zu lösen. Gerade in dieser Hinsicht, nämlich entsprechende Angebote zu entwickeln, haben viele Länder – unter ihnen auch die Bundesrepublik Deutschland – noch großen Nachholbedarf.

LITERATUR UND QUELLEN

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Lernen im DaF-Unterricht – Genese und Entwicklung. München, iudicium.

Illustrationen: Peter Koslowski

Der Verfasser ist Ulrich Lohrbach (DaF-Lehrer, Leiter der Deutschen Schule Instituto Ballester, Buenos Aires, Argentinien) und Frank Müller (DaF-/DFU-Lehrer, Leiter der Deutschen Schule Madrid, Spanien) für ihre kritische Sichtung und punktuelle Ergänzung des Basisartikels aus der Sicht der gegenwärtigen schulischen Praxis zu Dank verpflichtet.

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