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Rote Seiten
tig in Schwung oder Kipppunkte überschritten. Und das geht schnell. Deshalb ist es auch fahrlässig, ständig die Verantwortung an die nächste Generation abzuschieben und zu denken „die Jungen werden es halt mal besser machen als wir“. Nein. Es ist Zeit, dass sich die Erwachsenen erwachsener verhalten als die Jugendlichen von Fridays for Future. Erst alles kaputt machen und dann beim Aufräumen nicht helfen – das haben wir doch im Kindergarten bereits anders gelernt, oder?
Unser Verhalten der Klimakrise gegenüber ist so ein bisschen wie wenn man nachts aufwacht mit voller Blase. Man weiß genau, was man jetzt tun müsste. Man weiß auch, es wird von allein nicht besser. Im Gegenteil. Aber wir denken ernsthaft, wenn ich die Augen nicht aufmache, dann fällt mein Körper drauf rein, dass ich eigentlich noch schlafe und es gar nicht weiß. Aber nachts im Bett wie tagsüber in der Klimakrise gilt: das Einzige, was hilft, ist Augen aufmachen, tun, was zu tun ist und spüren, wie gut uns das tut.
Wir können uns „Irreversibilität“ schwer vorstellen, deshalb eine einfache Analogie. Jedes analoge Fieberthermometer endet bei 42 Grad. Kein Zufall. Jemand, der 6 Grad über der normalen Körpertemperatur liegt, ist nicht doppelt so krank wie jemand mit 3 Grad drüber. Er ist doppelt so tot. Es gibt einen Qualitätssprung – den über die Klinge. Woran liegt das? Eiweiß stockt. Legen Sie ein Ei in Wasser mit über 40 Grad, es wird hart. Und auch wenn das Wasser abkühlt, nicht mehr weich. Es hat für immer – also irreversibel – seine Form verändert und seine Funktion. Aus einem gekochten Ei wird nie mehr ein Küken. Ein hartes Ei hat für immer die Chance auf Leben verloren. Das ist hart. Woraus besteht ein Ei? Aus Wasser, Fetten und aus Proteinen. Woraus besteht ein Mensch und insbesondere ein menschliches Gehirn? Aus Wasser, Fett und Proteinen. Wir sind aus den gleichen Bausteinen. Wir können uns aus unserer Biologie nicht freikaufen.
Wenn die Klimakrise das Fieber von Mutter Erde ist, dann ist das Artensterben ihre Demenz. Die Idee der „planetaren Gesundheit“ ist noch relativ neu. Sie bedeutet, dass wir unsere menschliche Gesundheit nur schützen können, wenn die Umwelt und die Tiere gesund sind. Artenschutz und Klimaschutz sind immer auch Gesundheitsschutz. Schon jetzt zeigen sich die gravierenden Folgen des Klimawandels und des Biodiversitätsverlustes für unsere Gesundheit durch Hitzewellen, Dürren, aber auch durch den schwindenden Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Werden die Tiere krank, übertragen sie diese Erreger auf uns. Das hat nicht zuletzt die Coronavirus-Pandemie verdeutlicht. Für uns in Europa stellt Hitze die größte unmittelbare Gefahr da: Klimakrise ist wie Sauna, ohne Tür. Auf Dauer nicht wirklich entspannt. Und auch nicht lustig.
der wie Frankreich daraus umfangreichen Hitzeschutz zur Pflicht gemacht haben. Was viele auch in diesen Tagen spüren: Allergien nehmen zu. Das liegt u. a. an invasiven Arten, die sich explosionsartig verbreiten. Auch manchen Erregern gefällt das neue Klima. Es gibt so viele Zecken wie noch nie. Gleichzeitig kommen neue Erreger, wie das West-Nil-Virus und andere, die sich durch tropische Mücken übertragen lassen und bei uns ansiedeln, weil es in der Nacht und im Winter nicht mehr kalt genug wird.
Und bei alledem leidet die Seele mit! Wir haben in Deutschland eine Million mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen durch die Folgen von Hitze, Feinstaub sowie den Traumatisierungen durch die Extremwetter und den Verlust von Heimat. 95 % der Menschen auf diesem Planeten atmet dreckige Luft ein: Luftverschmutzung ist Killer Nummer eins weltweit. Erneuerbare Energien sind nicht nur eine Frage der Technik, sondern auch unfassbar viel gesünder für jeden, der gerne atmet oder lacht!
3. Planetare Gesundheit: ein positives Narrativ
Die Idee der „planetaren Gesundheit“ ist noch relativ neu. Sie bedeutet, dass wir unsere menschliche Gesundheit nur schützen können, wenn die Umwelt und die Tiere gesund sind. Arten schutz und Klimaschutz sind immer auch Gesundheitsschutz.
Die Klimakrise ist das größte Risiko für unsere Gesundheit im 21. Jahrhundert. Weil wir nicht die Krone der Schöpfung sind und über der Natur stehen, sondern Teil von ihr sind. Wenn wir das begreifen und – das ist entscheidend –auch danach handeln, haben wir eine Chance, das Ruder noch rumzureißen. Die More in Commons-Studie (siehe den Beitrag auf S. 6 – 9 in dieser Beilage) beschäftigt sich intensiv mit der Spaltung unserer Gesellschaft und den Einstellungen der unterschiedlichen Milieus. In fast allen Fragen gehen die Einstellungen auseinander, doch eines ist progressiven Städter:innen genauso wichtig wie konservativen Menschen auf dem Land: die Gesundheit! Die Idee der planetaren Gesundheit zeigt auf, dass wir Gesundheit nicht allein als Abwesenheit von Krankheit begreifen können. Es gibt Voraussetzungen für die menschliche Gesundheit, die unser Gesundheitswesen weder garantieren noch behandeln kann. Den Schutz der planetaren Gesundheit können wir nur als Gesellschaft zur Priorität machen. Wir sollten uns fragen, was uns wirklich wichtig ist. Dann können wir erkennen, dass der Erhalt unserer Lebensgrundlagen nicht vorrangig mit Verzicht verknüpft ist, sondern mit zahlreichen Möglichkeiten für ein gutes, ja sogar besseres Leben.
4. Wessen Freiheit?
Im letzten Jahr sind 4.500 Menschen in Deutschland durch Hitze gestorben, ohne dass darüber viel gesprochen wurde. Die nächsten Sommer werden tendenziell immer noch heißer. Wir sind miserabel darauf vorbereitet, obwohl bereits 2003 in Europa 70.000 Menschen starben und Län-
Wenn wir über „Freiheit“ und „Können wir uns das leisten?“ reden, muss uns klar sein: Die größten Einschränkungen der Freiheit kommen nicht durch Tempolimit und funktionierende Züge, pf lanzenbasiertes leckeres Essen oder Wärmepumpen. Die „Bleibefreiheit“ ist in Gefahr. Wenn wir in den Städten und grundsätzlich auf der Erde wohnen bleiben wollen, müssen wir zeigen, dass wir schlau genug sind, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Besonders gefährdet sind heute schon Menschen mit Vorerkrankungen, also all die Millionen Menschen mit HerzKreislauf-Erkrankungen, Lungenschwäche, Diabetes und Übergewicht. Aber auch kleine Kinder können ihre Hitze nicht gut regulieren. Wir brauchen also Warnsysteme und öffentliche Orte der Kühlung. Bei den Hitzeschutzplänen ist Frankreich viel weiter als wir in Deutschland. Da werden Menschen aus vulnerablen Gruppen telefonisch kontaktiert und vorgewarnt. Das rettet Leben. Auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene müssen wir beides machen: So weit wie möglich Emissionen reduzieren und natürliche Senken – wie z. B. Moore – schützen oder wiederherstellen, um die Klimakrise nicht weiter zu befeuern. Gleichzeitig aber auch in Prävention und Adaption investieren.
Uns muss klar sein, dass die Freiheit, weiterzumachen wie bisher, auf Kosten der Freiheit anderer geht. Sie schränkt schon jetzt die Freiheit der Menschen des globalen Südens, die Freiheit vulnerabler Gruppen und die Freiheit künftiger Generationen massiv ein. Für Freiheit gibt es keinen „An und Aus“-Knopf. Sie basiert auf Grundlagen, die wir erhalten müssen. Das ist wie bei einem Fischteich: Ist der einmal leergefischt, können wir so viele Angelruten verteilen, wie wir wollen. Niemand wird mehr einen Fisch aus diesem Teich ziehen.
5. Das Wichtigste, was ein Einzelner tun kann: kein Einzelner zu bleiben
Menschen verändern sich durch authentische Begegnung. Bei mir war das die Begegnung mit Jane Goodall, der Schimpansenforscherin. Mitten im Interview drehte sie die Rollen um, schaute mich an aus diesen weisen, alten und etwas melancholischen Augen, und stellte mir diese Frage: „Wenn wir Menschen ständig betonen, wir sind die intelligenteste Spezies auf diesem Planeten – warum zerstören wir dann unser eigenes Zuhause?“
Da habe ich geschwiegen, geschluckt und verstanden: Das ist die zentrale Frage, der wir uns alle stellen müssen. Das ist die Überlebensfrage im 21. Jahrhundert. Alle, die das begriffen haben, stehen vor der Aufgabe, kontinuierlich Begegnungen zu schaffen, die dazu führen, dass es auch bei anderen Klick macht.
Als Arzt f inde ich es immer überraschend, dass die Dinge, die dem Planeten guttun, uns selbst am meisten nutzen! Wer Rad fährt, statt im Stau zu stehen, tut sich selbst das Beste. Und wer mit einer guten pflanzlichen Ernährung und ein paar Essenspausen merkt, mit wie wenig der Körper schon zufrieden ist, wenn man ihm Pausen gibt zu verdauen und aufzuräumen, lebt länger und leichter. Die nature based solutions mit allen Pflanzen, Tieren, Mooren, Mangroven, Meeren und Wäldern sind unsere größten Verbündeten, wenn wir sie lassen. Als Elon Musk einmal twitterte: „100 Millionen für eine Erfindung, die CO2 binden kann“, schrieb jemand zurück: „Dürfen sich auch Bäume bewerben?“ Das ist mein Humor. Und den zu behalten, ist gerade nicht leicht.
Ich habe für die Recherche für mein Buch „Mensch, Erde“ wirklich tolle Leute kennengelernt. Einer der beeindruckendsten war Naturschützer und letzter stellvertretender Umweltminister der DDR Michael Succow. Er hatte einen genialen Gedanken: Als die Wende kam, hat er dafür gesorgt, dass die russischen Speergebiete zu Naturschutzgebieten erklärt wurden. Ich habe ihn in Greifswald besucht und war mit ihm in einem Moor, das gerade trockengelegt wurde. Und was ich vorher nicht wusste, ist, dass Moore viel mehr können als ein Wald, da sie das CO2 dauerhafter binden. Jedes CO2 -Molekül, das wir statt in der Atmosphäre auf der Erde behalten, ist Gold wert. Und aktuell emittieren die für beispielsweise Blumenerde trockengelegten Moore mehr CO2 als der gesamte Flugverkehr in Deutschland.
Dieses Wissen lösungsorientiert, humor voll, verständlich und visionär zu kommunizieren, ist Projekt des Teams meiner Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen. Es ist schwer, ehrenamtlich die Welt zu retten, wenn andere sie hauptberuflich zerstören. Bei der Stiftung Gesunde Erde –Gesunde Menschen arbeiten deshalb Expert:innen aus verschiedenen Bereichen zusammen: Medizin und Gesundheitswesen, Klimaschutz und Nachhaltigkeit, Politik und Kommunikationsprofis. Wir pflanzen Ideen, weil die schneller wachsen können als Bäume. Wir organisieren Kongresse und Hintergrundgespräche, machen Filme, unterstützen Recherchen für Journalist:innen und Wissenschaftler:innen oder Social-Media-Kampagnen für eine enkeltaugliche Zukunft. Wir vernetzen mit viel positiver Energie alle, die es jetzt für eine schnelle Transformation braucht.
6. Kurz & Knapp
Das Wichtigste, was ein Einzelner tun kann: kein Einzelner zu bleiben. Das Teuerste, was wir jetzt tun können, ist Nichts! Die cost of inaction steigt mit jedem weiteren Zögern. In einer Studie haben Wissenschaftler:innen die finanziellen Folgen des Klimawandels in Deutschland berechnet: bis zu 900 Milliarden €. Durch Ertragsausfälle in der Landwirtschaft, durch Schäden an Gebäuden und Infrastruktur, Lieferengpässe und gesundheitliche Beeinträchtigungen. Das ist alles nicht mehr „Hysterie“, sondern Fakt. Doch auch wenn diese Summe erschreckend hoch ist, lässt sich das, worum es wirklich geht, nicht in Geld ausdrücken. Wer schon einmal um die eigene Gesundheit oder die eines geliebten Menschen bangen musste, weiß, dass die für uns das wertvollste Gut ist. Und wer meint, dass Wirtschaft wichtiger ist als Gesundheit, kann versuchen sein Geld zu zählen, während er die Luft anhält. Wenn Sie bis hierhin gelesen haben, verabschiede ich mich mit einigen Fragen: Was ist Ihnen wichtig, was ist ihnen „heilig“, was muss heil bleiben? Was hätten Sie Jane Goodall geantwortet? Und was werden Sie ihren Kindern, Enkeln oder anderen der nächsten Generation sagen, wenn wir gefragt werden: Was habt ihr gewusst? Was stand in eurer Macht – und was habt ihr getan?
Zum Thema
Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen, www.stiftung-gegm.de Götze, Susanne: Die Klimaschmutzlobby. Wie Politiker und Wirtschaftslenker die Zukunft unseres Planeten verkaufen, 2022. von Hirschhausen, Eckart: Mensch, Erde! Wir könnten es so schön haben, 2021
Klimaengagement gestalten
Kommunikation, Mobilisierung und die Rolle von Stiftungen im Klimaschutz von Felicitas von Peter, Eckart von Hirschhausen, Sven Egenter, Carel Carlowitz Mohn, Laura-Kristine Krause, Jérémie Gagné und Louis Maurice Wilß
Editorial von Dr. Felicitas von Peter (Active Philanthropy)
Gesunde Menschen gibt es nur auf einer gesunden Erde von Dr. Eckart von Hirschhausen (Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen)
1. Die gute Nachricht vorweg: Der Klimawandel ist menschengemacht
2. Die Klimakrise wirkt sich schon jetzt negativ auf unsere Gesundheit aus
3. Planetare Gesundheit: ein positives Narrativ
4. Wessen Freiheit?
5. Das Wichtigste, was ein Einzelner tun kann: kein Einzelner zu bleiben
6. Kur z & Knapp
Neuer Fokus in der Klima-Förderpraxis. Nicht nur Einzelne zu mehr Engagement
„aktivieren“, sondern kollektive Zukunftsgestaltung vorantreiben von Laura Kristine Krause und Jérémie Gagné (More in Common)
1. Vom Fokus auf den Einzelnen zur Handlungsmacht der Gesellschaft
2. Vier Gründe, warum die Klimadebatte noch nicht zündet
3. Die Menschen wollen den Klimaschutz, aber sie glauben nicht daran
4. Wo Handeln jetzt lohnt
5. Kur z & Knapp
Wofür wir Stiftungen in der Klimakrise brauchen – und wovon Stiftungen die Finger lassen sollten von Sven Egenter und Carel Carlowitz Mohn (Klimafakten.de)
1. Was Menschen denken und Stiftungen tun können
2. Der blinde Fleck der Naturwissenschaften
3. Was sich richtig anfühlt, muss nicht richtig sein
4. Kur z & Knapp
Gesellschaft bewegen, Klimaengagement gestalten. Praxiseinblicke von Stiftungen von Louis Maurice Wilß (Active Philanthropy)
1. Inklusive und diverse Ansätze als Schlüssel
2. Evidenzbasierte Narrative für den Klimaschutz: Einblicke aus dem internationalen Feld
3. Kur z & Knapp: Schlüsselerkenntnisse aus unseren Fallbeispielen