ZOE 04/2011 - Schwerpunktthemen

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Inhalt |

OrganisationsEntwicklung Nr. 4 |2011 | 30. Jahrgang

30 Jahre OrganisationsEntwicklung

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Bernd Kessel Transdisziplinär und atmend — Ausblicke auf das Change-Geschäft von morgen In Bezug auf die Konzeptbildungen zum Thema «Change-Management» vollzieht sich gerade ein tiefgreifender Wandlungs- und Übergangsprozess.

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Otto Scharmer Change Management Morgen — 13 Thesen Quer durch die Institutionen sehen sich Führungskräfte neuartigen Herausforderungen und Umwälzungsprozessen gegenüber. Welche Rolle nehmen Führungskräfte und das Change Management innerhalb dieser Entwicklungen ein?

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Dirk Baecker und Bernhard Krusche Die (mögliche) Zukunft der Organisationsentwicklung Wohin müssen sich Organisationen in 20 Jahren entwickeln? In einem Email-Dialog werden zukünftige Ent­ wicklungen von Organisationen und ihrem Management beleuchtet und mögliche Umbrüche fokussiert.

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Stefan Bergheim Geld oder Leben? Erfolg wird immer umfassender definiert und gemessen Sinnvolles Change Management braucht Ziele. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für Städte und ganze Staaten.

Schwerpunkt

Die Jubiläumsausgabe: Zukunft des Change Managements Professionals über das Change Management der Zukunft Die OrganisationsEntwicklungCommunity im Diskurs In 21 Beiträgen diskutieren Experten zukünftige Trends im Change Management. 4

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Joachim Freimuth und Thomas Barth 30 Jahre Organisationsentwicklung Von den Ursprüngen der OE bis zur Gegenwart: Die Autoren reflektieren wichtige Stationen, Strömungen und Einflüsse der OE im deutschsprachigen Raum und wagen einen Ausblick auf die weitere Entwicklung des Change Management. Rudi Wimmer, Karsten Trebesch, Eckard Minx, Klaus Doppler, Christoph Lauterburg Die Zukunft des Change Management Sie sind ausgewiesene Spezialisten im Thema und haben die Zeitschrift über viele Jahre geprägt. Hier disku­ tieren die ehemaligen Herausgeber der «OrganisationsEntwicklung» die Zukunft des Change Management.

Redaktionsbüro Zeitschrift OrganisationsEntwicklung Bettina Keppler (verantwortlich i.S.d.P.) Postfach 15 05 06, D-80044 München Tel. +49 (0)89 719 98 -852, Fax. -851 E-Mail: zoe.redaktion@fachverlag.de Redaktion Prof. Dr. Martin Eppler E-Mail: martin.eppler@unisg.ch Caspar Fröhlich E-Mail: caspar.froehlich@froehlich-coaching.ch Prof. Dr. Heiko Roehl E-Mail: Heiko.Roehl@giz.de Dr. Brigitte Winkler E-Mail: brigitte.winkler@a47-consulting.de

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Ehemalige Herausgeber Michael Braune-Krickau Dr. Klaus Doppler Dr. Cornelia Edding Christoph Lauterburg Prof. Dr. Eckard Minx Karsten Trebesch Prof. Dr. Rudolf Wimmer Layout Priska Neuenschwander E-Mail: p_neu@bluewin.ch Druck Sächsisches Druck- u. Verlagshaus AG D-01159 Dresden

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Einblick

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Martin J. Eppler Feuerwerk der Theorien Highlights aus 30 Jahren Organisationsentwicklung

Werkzeugkiste

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Susanne Willner und Rüdiger Preißer 29. Das Systems Thinking-Playbook Durch Systemspiele werden einzelne Aspekte systemischen Denkens für die Teilnehmenden erfahrbar. Sie lernen nicht nur kurzfristig und im engeren Umfeld zu denken, sondern ganzheit­ lich alle langfristigen Wirkungen auf andere beteiligte Personen oder die Umwelt zu berücksichtigen.

Service

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Perspektiven

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30 Jahre Organisationsentwicklung Theorie und Praxis vs. Theorie oder Praxis? Mit der Entwicklung der Organisationsentwicklung (OE) im deutschsprachigen Raum am Anfang der 80er-Jahre war uns kaum bewusst, wie sehr wir bei den Versuchen, organisatorischen Wandel zu initiieren, von amerikanischen Konzepten beeinflusst waren. Mit Ausnahme der Moderation, lagen hierzulande keinerlei eigene Entwicklungen vor. Die Praktiker übernahmen die Ansätze, um ihre Fragestellungen zu beantworten, die wissenschaftliche Diskussion blieb weitgehend distanziert. Auch die systemische Wende der OE, die sich theoriegeleiteter positionierte, stand den pragmatischen Gehversuchen der OE-Pioniere recht kritisch gegenüber. Diese Kluft zwischen Theorie und Praxis lässt sich in der amerikanischen OE-Historie nicht beobachten. Auf diesen Unterschied möchten wir uns konzentrieren, um damit auch unsere eigene Lerngeschichte besser zu verstehen.

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Ursprünge Die OE war eine amerikanische und englische «Erfindung», die in den späten 40er-Jahren ihren Anfang nahm. Die ersten Pro­ tagonisten, Lewin und Bion, versuchten, die Erlebnisse des Krieges zu verarbeiten sowie die Bedingungen für eine demo­ kratisierte Gesellschaft zu untersuchen. Lewin floh aus Deutsch­ land in die USA, wo er mit gruppendynamischen Ansätzen zu gravierenden gesellschaftlichen Problemen, wie Rassismus, Gender- oder Arbeitskonflikten, in dem von ihm mit gegrün­ deten National Trainings Laboratory (NTL) in Bethel/Maine nach neuen Lösungen suchte (Marrow 1977). Am Institute for Social Research in Michigan entstand parallel dazu ein auf Be­ fragungen basiertes Feedback-Konzept für Gruppen als Aus­ löser für Reflexion und Veränderung (Bowers/Franklin 1977). Bion arbeitete mit traumatisierten Soldaten am Tavistock In­ stitut in London, bevor er zufällig auf das Potenzial sich selbst regulierender Arbeitsteams in einer britischen Mine stieß und daraus mit Kollegen den soziotechnischen Ansatz der OE ent­ wickelte (ZOE 4/90). Dieser war breiter angelegt, als die ame­ rikanischen Konzepte, weil er neben der Gruppenperspektive auch die Aufmerksamkeit auf Technologie und Strukturen rich­ tete (Trist/Murray 1993). Aber alle Ansätze (Scherer/Alban 2010) entstanden aus einem sozialkritischen Hintergrund (Bennis/ Bennis 1968) und einem Interesse an praktikablen Lösungen. Unter dem Eindruck eines zunehmenden Wandels konzent­ rierte sich die OE in der Beratung von Organisationen vorwie­ gend auf gezielte Impulse für verbesserte Produktivität und Veränderungsfähigkeit. Kennzeichnend für die industrielle Or­ ganisation war der Taylorismus, der auf der arbeitsteiligen Op­ timierung individueller Leistung durch Vorgaben und Anreize beruhte (Weisbord 1987). Lewin wie Bion erkannten, dass Grup­ pen Ziele besser erreichten, wenn man ihnen Spielraum gab und Kooperation förderte. So setzten sich ihre reformerischen Ideen der Demokratisierung und der Abkehr von autokrati­ schen Formen der Führung auch in Betrieben fort. Tayloristi­ sche Strukturierung der Arbeit erlebten sie als entfremdend und deformierend. Unter dem gleichen Eindruck entstand zeit­ gleich die Humanistische Psychologie mit ihrem Plädoyer für intrinsische Arbeitsmotivation (Rogers 1981). Die normativen Grundlagen entsprechen weitgehend denen der OE. Die Gruppendynamik war zunächst ihr Fokus, weil sich dort kollektiver Wandel unmittelbar beobachten ließ. Das Vorge­ hen war experimentell, partizipativ und pragmatisch. Zudem bildeten nicht mehr Individuen den Ausgangspunkt, sondern ihre Beziehungen. Das war ein weiterer Bruch mit der traditi­ onellen Psychologie. Sie ging in der freudianischen und der behavioristischen Ausrichtung stets von einem individuellen Problem aus, während im neuen Entwurf das Zusammenwir­ ken von Individuen im sozialen «Feld» betrachtet wurde (Roth­ well et al. 2010). Lewin bezeichnete diesen Ansatz als «ökolo­

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gische Psychologie» (Lewin 1951). Der Begriff «Organisations­ entwicklung» wurde offenbar 1957 von Beckhardt und She­ pard geprägt. Sie unterschieden zwischen «Organization Deve­ lopment» und «Organizational Development», um den Fokus der Entwicklung von Organisationen herauszustellen (Sche­ rer/Alban 2010, S. 79 f.).

«Nach diesen ersten Gehversuchen gab es zahlreiche Bemühungen, die Ansätze der OE zu verfeinern und zu systematisieren.» Erste Differenzierungen Anfänglich stellte die OE ein Ensemble unverbundener Frag­ mente dar. Ausprobieren und Überschreiten von Grenzen stan­ den im Vordergrund (Kleiner 1996). In den ersten Gehversu­ chen des NTL waren Trainings noch wenig interaktiv. Lewin und seine Kollegen entdeckten, dass intensivere Lernprozesse jenseits der klassischen Settings stattfanden, als die Tages­ ergebnisse zufällig gemeinsam mit den Teilnehmern ausge­ wertet und hier erst die Einflüsse von Beziehungen auf Lernen transparent wurden. Die sich an diese Erkenntnis anschließen­ den gruppendynamischen Trainings bildeten den Ausgangs­ punkt für alle modernen Formen interaktiven organisatori­ schen Lernens. Auch die Erhebung von Daten über soziale Sys­ teme diente traditionell in erster Linie der Erkenntnis der For­ scher. Diese Logik kehrte sich ebenso um. Aktionsforschung bedeutet, dass die Befragten und ihre Entwicklung durch die Rückkopplung von Daten im Vordergrund stehen. Daten spie­ geln die Beziehungen und den Austausch in Gruppen, den sie begreifen und als Ausgang für ihr Lernen nehmen müssen. Das Erkenntnisinteresse des Forschers tritt zurück, er wird zum Katalysator zur Förderung von Selbstreflexion. Veränderungen basieren auf kollektiven Lernprozessen. Lewin betrachtete sie als «Kraftfeld» von hemmenden und fördernden Kräften. Nach diesen ersten Gehversuchen gab es zahlreiche Bemühungen, die Ansätze zu verfeinern und zu systematisieren. Als Beispiel kann die Ausdifferenzierung des Phasenmodells für organisa­ torischen Wandel genannt werden, das im ursprünglichen Ent­ wurf von Lewin (Auftauen, Verändern, Stabilisieren) recht holz­ schnittartig war. Es entstanden genauere Vorstellungen über die Diagnose von Problemen sowie neue Vorgehensweisen für Interventionen in soziale Systeme (Lawrence/Lorsch 1969), etwa bei der Lösung von Konflikten (Beckhard 1969 und Wal­ ton 1969). Die Modelle wurden in Organisationen erprobt und in reichen Diskussionen der in den 60er-Jahren entstandenen OE-Expertengemeinschaft weiter ent­ wickelt (Bennis et al. 1969). Das Konzept der Prozess-Beratung bzw. der Begleitung dieser Prozesse durch einen neutralen Beobachter erhielt

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Konturen. Zum besseren Verständnis dieser Rolle und der Me­ thoden hat Schein (1969) beigetragen. Er betonte die Bedeu­ tung einer gemeinsamen Analyse mit dem «Klientensystem» sowie die Erzeugung von «Selbsteinsicht» als Ausgangspunkt für Wandel und grenzte dieses Modell von der Expertenbera­ tung bzw. der Arzt-Patientenbeziehung ab. All diese Innovatio­ nen blieben schließlich nicht ohne Einfluss auf das autoritäre Verständnis von Führung. Wenn sich durch Kooperation und Beteiligung Leistungen verbessern, muss Füh­rung mehr Spiel­ räume geben und Kontrolle kann in Selbstkontrolle übergehen. Eine bleibende Bedeutung für die Erhellung dieser Aspekte wird Likert (1961) behalten, der systematisch den Zusammen­ hang zwischen Beteiligung und Kommunikation im Führungs­ verhalten zur Motivationsverbesserung von Mitarbeitern nach­ gewiesen hat.

«Wird die kollektive Denkbewegung der OE rückblickend betrachtet, lässt sich eine klare Entwicklungslinie rekonstruieren.» Ein weiterer Schritt waren die Erkenntnisse von Katz/Kahn (1966), die differenzierter den Zusammenhang zwi­schen Or­ ganisationsstrukturen und ihrem Umfeld untersuchten. Orga­ nisationen beschrieben sie als offene Systeme, die sich im stän­ digen Austausch mit ihrem Umfeld befinden. Um die erfor­ derliche Komplexität abzubilden, werden innere Struk­turen, Muster und Beziehungen ständig an­­ gepasst. Dass es eine optimale Struktur gibt, ist daher unwahrscheinlich. Vielmehr kommt es darauf an, die Antwortfähigkeit als eigentliches Ziel von OE zu begreifen. Dieser sog. Kontingenz-Ansatz ist fol­ genreich. Er schließt die rationale Be­gründbarkeit von Struk­ turen und Entscheidungen aus. Sie sind das Ergebnis von Ei­ nigung und daher nicht voraussagbar, sie könnten auch an­ ders ausfallen und müssen dennoch auf Geltung bestehen. Für Entscheidungen und ihre Legitimation multipliziert sich so der kommunikative Aufwand. Für die OE entstand daraus die Erkenntnis, dass Veränderung nicht «von un­ten» initiiert werden kann, sondern im Zusammenhang mit Führungspro­ zessen zu konzipieren ist. Alle diese Konzepte der OE sind schließlich 1975 von Huse/Cummings in einem umfänglichen Lehrbuch zusammengestellt worden. Die neue Dis­­ziplin wur­ de damit lehrbar. Wird die kollektive Denkbewegung der OE rückblickend betrachtet, lässt sich eine Entwicklungslinie re­ konstruieren: beginnend mit dem Fokus auf persönlicher Ent­ wicklung, hin zur Gruppe und zur Organisation sowie der Ent­ wicklung von Führung. Sie endet in einem Konzept von Orga­ nisation als offenes System, das sich einerseits abgrenzt, an­ dererseits die vom Umfeld abgeforderte Komplexität handhab­ bar machen muss, um dort sinnvolle Beiträge zu liefern.

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Diffusion Die wesentlichen Konzepte der OE entstanden an Instituten in reflektierter Praxis. Das Tavistock Institut wurde 1946 aus einer Klinik heraus gebildet, die Hinwendung zur Gruppendy­ namik und OE erfolgte vor allem durch eine Entdeckung 1949 im englischen Steinkohlebergbau. Durch eine auf Gruppen basierte Form der Arbeitsorganisation hatten Arbeiter hier selb­ ständig eine neue Technologie erfolgreich eingeführt. Die Na­ tional Training Laboratories (NTL) wurden 1947 von Lewin gegründet und war eine Wiege der Gruppendynamik bzw. der OE. Kennzeichen der hier geleisteten Arbeit war die Integrati­ on von Forschung, Lehre, Selbsterfahrung und Praxis. Es wa­ ren Orte, wo sich Innovatoren versammeln, «Schulen» bilden und neue Wege probieren konnten. Sie zogen magisch Adop­ toren an, die die Erkenntnisse weiter entwickelten und ver­ breiteten. Bis heute werden dort Qualifizierungen durchge­ führt, um Vorgehensweisen und Verständnis der OE zu verein­ heitlichen. Zur Verbreitung und Ausdifferenzierung der OE trugen natürlich auch Beratungsprojekte bei, die partiell aus der amerikanischen Großindustrie kamen. Schließlich wurde die Selbstverständigung und Darstellung der OE durch zahlreiche Publikationen vorangetrieben. Beson­ ders die 60er-Jahre waren eine Zeit intensiver publizistischer Aktivitäten. Viele dieser Werke wurden ins Deutsche übersetzt. Es handelte sich dabei nicht immer um differenzierte Mono­ grafien, sondern auch darum, Erfahrungen und Überzeugun­ gen pragmatisch und verständlich auf den Punkt zu bringen. Zuweilen wirkten sie polarisierend (Theorie X und Theorie Y), vereinfachend (das Phasenkonzept von Lewin) und idealisie­ rend (der ideale Führungsstil im Grid-Modell). Neben der Ab­ grenzung und Selbstdefinition gab es verkäuferische und di­ daktische Gründe, die Konzepte in der beschriebenen Weise zu präsentieren. So wurden sie auch in Deutschland in unzäh­ ligen Trainings auf Folien oder Flipcharts gemalt und repro­ duziert.

Theorieentwicklung — Erste Phase Ein Bezugsrahmen der OE war der amerikanische Pragmatis­ mus (Menand 2001), als deren hier wichtigster Repräsentant Dewey zu nennen ist. Als Philosoph und Pädagoge hatte er starken Einfluss auf das amerikanische Verständnis von Wis­ senschaft, Erziehung und Demokratie. Psychologie war für ihn angewandte Wissenschaft, die menschliches Handeln un­ terstützen müsse, Gewissheiten könne es nicht geben. Päda­ gogische Konzepte müssen auf Erfahrungslernen beruhen und sollen einen Beitrag zur Demokratisierung leisten. Es ist unschwer zu erkennen, wie sehr der Pragmatismus dem OE-

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Verständnis entspricht (Richter 1994 und Gairing 1996), etwa in der Aktionsforschung, dem Fokus auf Lösungen und der Forderung nach Öffnung. Diesen Aspekt betonen wir, weil OE in Deutschland u.a. wegen fehlender Wissenschaftlichkeit kri­ tisiert wurde, obwohl die Wurzeln in der amerikanischen Wis­ senschaftskultur lagen, die sich praxeologisch und normativ verstand. Den zweiten Bezugsrahmen der OE bildeten die frühen Konzepte der Systemtheorie und Kybernetik. Ihre Entstehung beruhte auch auf dem Interesse einer Neufassung humanwis­ senschaftlicher Erkenntnis vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Gesellschaft (Kleiner 1996). Treiber war eine in­ terdisziplinäre Gruppe von Intellektuellen, die Heims (1991) als «Cybernetics Group» bezeichnete. Zu ihnen gehörten u. a. Norbert Wiener, Heinz v. Förster und Gregory Bateson. Sie sa­ hen die Notwendigkeit, disziplinäre Grenzen zu überwinden und kritisierten Reduktionismus und Positivismus. In der Na­ turwissenschaft waren es Elemente, in den Humanwissen­ schaften Individuen, die den Referenzpunkt der analytischen Betrachtung bildeten. Dieses Paradigma wurde nun in eine systembezogene Herangehensweise umgekehrt. Das Interesse richtete sich auf natürliche und soziale Systeme, auf den Aus­ tausch mit ihrem Umfeld, auf Feedback und Kommunikation sowie ihre inhärente zirkuläre Dynamik, die mit dem Denken in linearen Kausalitäten nicht einzufangen war. Das OE-Schlüs­ selwerk von Katz/Kahn (1966) nahm diese Perspektive am Klars­ ten auf. Sie führten aus, dass Organisationen den Zumutun­ gen aus ihrem Umfeld natürlich Widerstand entgegen setzen, aber selbst Widerstand bedeute schon Lernen und eine Verän­ derung gegenüber dem Ausgangszustand. Diese zentrale The­ matik der System/Umweltdifferenz und die Abkehr von einem monistischen Bild der Organisation finden sich auch im so­ ziotechnischen Systemansatz wieder. Emery und Trist unter­ schieden in einem 1963 präsentierten Papier unterschiedliche Ausprägungen organisatorischer Umwelten und warfen die Frage auf, wie Komplexität in ‚turbulenten Kontexten’ mit aus­ geprägtem technologischen Wandel abgebildet und verarbei­ tet werden könne. Sie nennen als Option eine Matrix-Struktur, in der Perspektiven abgewogen und Entscheidungen verhan­ delbar seien (1997, S. 62 f.). In einem späteren Text analysierte Emery (1967) Trends zum Ende des Jahrtausends und plädiert angesichts des erwarteten Wandels etwa in der Kommunika­ tionstechnologie (!) für ein organisatorisches Design, das auf sich selbst regulierenden Einheiten mit genügend Redundanz beruht, um Antworten zu geben, die in einem hierarchischen System nicht möglich wären (1997, S. 87). Die amerikanische OE und auch der soziotechnische An­ satz vereinigten entsprechend frühzeitig und zwanglos einen differenzierten systemtheoretischen Hintergrund mit prakti­ schem Handeln in Veränderungsprozessen. Dieses Selbstver­ ständnis erhielt in den USA eine wissenschaftstheoretische Be­

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gründung durch den Pragmatismus. So lässt sich der oft zitierte Satz von Lewin, «nichts ist so praktisch, wie eine gute Theorie» verstehen. Eine weitere Grundüberzeugung bestand darin, dass die Entwicklungsfähigkeit von Organisationen nur durch mündige und beteiligte Menschen gelingen kann.

OE in Deutschland Die Pionierphase der OE in Deutschland begann am Ende der 70er- und am Anfang der 80er-Jahre. Treiber waren Personal­ entwickler, freie Trainer und Berater. Ihre Prägungen kamen häufig aus der Supervision und der Gruppendynamik mit the­ rapeutischen bzw. pädagogischen Hintergründen (Richter 1994, S. 177 ff.). Vielen waren betriebliche Themenstellungen weniger geläufig, vielleicht auch einer der Gründe für die Ak­ zeptanzprobleme. Sie verfügten bereits über Berufsverbände, Standards und eigene Zeitschriften, in denen die ersten Auf­ sätze zur OE erschienen. Die Herausgeber der Zeitschrift «Grup­ pendynamik» entschieden sich jedoch dagegen, den Namen der Zeitschrift und ihre Ausrichtung zu verändern. Weitere Impulse entstanden durch die Übersetzungen amerikanischer Standardwerke zur OE. Der erste wichtige deutsche Beitrag war 1978 das Buch von Lauterburg, «Vor dem Ende der Hierar­ chie». Er setzte sich kritisch mit den entfremdenden Arbeits­ formen, der schwerfälligen Kommunikation sowie dem auto­ ritären Führungsstil arbeitsteiliger Bürokratien auseinander und plädierte für mehr Demokratisierung und Humanisie­ rung. Die normativen und konzeptionellen Grundlagen der OE waren denen der USA insofern vergleichbar. Allerdings war die deutsche Rezeption stärker durch den Gedanken der Hu­ manisierung der Arbeit geprägt, ein Feld, das zu dieser Zeit von Gewerkschaften besetzt wurde. Entsprechend argwöhnisch wurde die OE dort beobachtet (Briefs 1990). Die reformerische Ausrichtung der OE war schließlich Teil der Kritik am autoritä­ ren Führungsstil der Nachkriegsökonomie (Freimuth/Straub 1996 und Freimuth 2005) und dem Mangel an einer tragfähi­ gen «industriellen Demokratie» (Dahrendorf 1965). Sie musste sich gegen den in der deutschen Industrie verwurzelten «rhei­ nischen Kapitalismus», der auf Autorität, Bürokratie und Kon­ trolle beruhte (Fear 2005), deutlich abgrenzen, um eigene Kon­ turen zu bekommen. Die 80er-Jahre waren ein Versuch, sich einen professionel­ len Rahmen zu schaffen. Eine berufsständische Institution, die «Gesellschaft für Organisationsentwicklung» (GOE), wurde 1980 gegründet. OE wurde als ein Entwicklungs- und Verände­ rungsprozess von Organisationen und der dort tätigen Men­ schen definiert, mit dem Ziel, Arbeitsbedingungen und Effizi­ enz zu verbessern. Die «ZOE» als Organ der GOE erschien erst­ mals 1982. Sie ist die große Konstante der OE in Deutschland und für Austausch und Konturierung des Beratungsfeldes die

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wichtigste Plattform. Die erste Ausgabe begann mit einem grund­sätzlichen Artikel von Sievers, der den ersten und seit­ dem einzigen Lehrstuhl für OE in Deutschland innehatte. Er charakterisierte OE als Lernprozess personaler und sozialer Systeme und betont die Entwicklung eines eigenständigen Pro­ blemlösungspotenzials zur Verarbeitung von Komplexität als zentrales Ziel. Der größte Teil der sonstigen Beiträge in den folgenden Ausgaben sind Fall- und Projektbeispiele, immer wie­der unterbrochen von Grundsatz-Artikeln zur OE-Ausrich­ tung. Im zweiten Heft fand Trebesch nicht weniger als 50 un­ terschiedliche Definitionen der OE, die zwar Parallelen auf­ wiesen, aber kein klares Bild erbrachten. In der GOE wurde 1984 eine Debatte über die Vereinheitlichung der Qualifika­ti­ onsvoraussetzungen für einen OE-Berater geführt. Allerdings verzichtete sie darauf, diese Qualifizierungen selber durchzu­ führen und für Qualitätskontrolle zu sorgen. So blieb die For­ mulierung der Anforderungen unverbindlich und konnte als Grundlage einer professionellen Identität nicht umgesetzt wer­ ­den. Eine zeitgleich von Trebesch ausgelöste Debatte über die normativen Grundlagen der OE blieb weitgehend ohne Wi­ derhall, ebenso sein Versuch, Kriterien für die Effizienz von OE-Maßnahmen zu diskutieren. Interessen und Beratungs­ konzepte lagen zu weit auseinander. Die Berater kamen auch aus verschiedenen Richtungen, wie der Transaktionsanalyse, der TZI, der Gestaltpsychologie oder dem Psychodrama. Zu­ dem ging ein Interessenkonflikt zwischen internen und exter­ nen Beratern durch die GOE. Diese Differenzen spiegeln sich in den Berichten der Zeitschrift über die Treffen der Mitglieder auf der zentralen und regionalen Ebene. In der Rückschau war

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diese Phase ein riesiges soziales Labor, dessen explodierende Kreativität aber nicht frühzeitig in geordnete Bahnen gelenkt werden konnte. Aus unserer Beurteilung hat das auch damit zu tun, dass viele der beteiligten Akteure mit sich selber be­ schäftigt waren, um die Enge ihrer eigenen Sozialisationen zu überwinden. Gleichzeitig erweiterte sich der Totalitätsan­ spruch der vorgelegten Entwürfe für eine bessere Gesellschaft, beginnend mit der Studie des Club of Rome zu den «Grenzen des Wachstums» (Meadows 1972) bis hin etwa zu Capras «Wen­ dezeit» (1985), in dem nichts weniger als die «Bausteine für ein neues Weltbild» ausgelobt wurden. Verglichen mit der ameri­ kanischen Entwicklung, zeigt sich das Fehlen von Attraktoren, wie das NTL. Das Quickborner Team bzw. Metaplan als Nach­ folgegesellschaft, verfügten zwar über das Potenzial, u.a. weil man sich dort schon früh mit der Problematik von Komplexi­ tät und Entscheidungen (Schnelle 1966), der Bedeutung der Kybernetik (Müller 1964) sowie der Praxeologie als Wissen­ schaft «von den Bedingungen effektiven Handelns» (Alsleben/ Wehrstedt 1966) befasste. Interne Konflikte über die Beteili­ gung der Berater an der Führung der Gesellschaft führten je­ doch zu Trennungen. Mit der Verbreitung der Moderationsver­ fahren (Freimuth 2010) ist der konzeptionelle Bezugsrahmen dieses Beratungsansatzes nur noch unvollkommen mitkom­ muniziert worden und ging verloren. Die fehlende wissenschaftliche Fundierung der OE wird bis heute beklagt. So wurde kritisiert, es handele sich um ein un­ systematisches Ensemble von Sozialtechniken. OE-Berater wür­den im ständigen Zielkonflikt zwischen Sozialreformen und Management-Anforderungen aufgerieben (Kubiczek et al.

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1980). Umgekehrt hatte die OE eher ein praktisches Interesse an Wissenschaft. Die Distanz war wechselseitig (Sievers 1977). Die BWL stand unter dem Einfluss des neoklassischen Ansat­ zes von Gutenberg, der keinerlei humanwissenschaftliche As­ pekte berücksichtigte und normative Fragen ausblendete, die vor dem Krieg von Nicklisch noch prominent vertreten wur­ den. Anfang der 80er-Jahre begann die BWL zögerlich, sich Themen wie Kommunikation, Entscheidungen, Führung oder Veränderung zu widmen (Rühli 2002). Staehle (1973) unter­ nahm einen frühen, jedoch wenig bemerkten Versuch, eine plu­ ralistische Organisations- und Führungslehre als angewandte und normative Wissenschaft zu etablieren (Bendixen et al. 1968). Kirsch et al. (1979) legten unter Rückgriff auf die ameri­ kanische OE ein Konzept für eine «fortschrittsfähige Organi­ sation» vor, allerdings eher im Sinne einer Sozialtechnik, um Widerstände gegen Wandel in den Griff zu bekommen. Bartöl­ ke (1978) war der erste Betriebswirt, der das Potenzial der OE würdigte, entsprechend der OE-Tradition aber mit dem Fokus auf Humanisierung der Arbeit. Staehle (1985) widmete in sei­ nem wichtigen Lehrbuch «Management» der OE ein ausführ­ liches Kapitel. Er merkte an, dass OE als angewandte Sozial­ wissenschaft naturgemäß nur ein pragmatisches Theorieinte­ resse haben könne, nur füttere es das Bestreben in Unterneh­ men nach schnell wirkenden Rezepten. Es sei an der Zeit, die verstreute Kompetenz der OE zu systematisieren, zu evalu­ ieren und es in lehrbares Wissen zu verwandeln. Das erste ausführlichere deutsche Buch über OE stammte von Gebert (1974). Er knüpfte an die amerikanische Diskussion an und stellte den gruppenbezogenen und strukturellen Ansatz von Veränderungen als zwei Säulen von OE nebeneinander. Der Fokus lag jedoch auf Verhalten, wie auch in dem Band von French/Bell (1977). Sie verstehen unter OE «die langfristige Bemühung, Problemlösungs- und Erneuerungsprozesse in Or­ ganisationen zu verbessern». Das verbreitete Buch von Glasl/de la Houssaye (1975) geht auch in diese Richtung, aller­ dings auf einer anthroposophischen Grundlage. Einige der amerikanischen Übersetzungen aus der OE zeitigten auf­ grund ihrer verführerischen Vereinfachungen lediglich Mar­ keting-Erfolge, wie das Grid-Modell von Blake/Mouton (1964). Letztlich konnte sich die OE in der BWL nicht durchsetzen und hatte keinen Einfluss auf die akademische Qualifizierung des Führungsnachwuchses. Es blieb die Kluft zwischen Theo­ rie und Praxis. Angesichts dieser Historie verwundert es nicht, dass sich 1997 die GOE auflöste. Das kann als Symptom für eine miss­ lungene Professionalisierung gesehen werden, so dass am En­ de eine «Profession ohne Professionalität» zurückblieb (Kühl 2001, Bohn/Kühl 2004 und 2010). Die Gründe liegen sicherlich darin, dass die Systematisierungsversuche gescheitert sind. Das Verhältnis zu ökonomischen Fragen blieb ambivalent. Es gelang nicht, die Spannung von strukturellen und humanzen­

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trierten Ansätzen aufzulösen. Deutlich wird das etwa an den Versuchen, Anfang der 80er-Jahre, Lernstatt, Qualitäts- bzw. Werkstattzirkel einzuführen (Engel 1981). Sie blieben Ein­tags­ fliegen, weil die strukturellen Bedingungen industrieller Pro­duk­ ­tion nicht angetastet wurden. Zudem hatte man die Rechnung ohne die Meister gemacht, die diese Ansätze behinderten. Der aus unserer Sicht entscheidende Grund für das Schei­ tern der OE-Professionalisierung liegt jedoch darin, dass sie, noch viel mehr, als in den USA, an den Grundfesten einer Füh­ rungskultur rüttelte, die für eine Öffnung keinesfalls bereit war (Freimuth 2005). Der Statthalter dieser Kultur war die akade­ mische BWL. Noch Mitte der 80er-Jahre bemerkte Staehle über Wöhe, mit dessen Lehrbuch Generationen von Führungskräf­ ten ausgebildet wurden, dass dieser in seinem 1336 Seiten um­ fassenden Werk der so genannten «Betriebsführung» ganze 92 Seiten widmete, während er dazu ein Buch mit nahezu 800 Seiten geschrieben habe. Allerdings enthält auch sein Band primär angelsächsische Importe, was darauf hindeutet, dass zum Thema «Führung und Wandel» in Deutschland bis dato nichts Eigenständiges geschaffen wurde. Um in diese Festun­ gen vorzudringen, bedurfte es radikalen Denkens, Normen­ brüche und Polarisierung, um die Unterschiede zu markieren. Wir betrachten diese Phase der OE als eine soziale Innovation, wo es darum ging, gesellschaftliche «Einstellungen, Erwartun­ gen und Verhaltensweisen zu verändern und Zweifel, Vorur­ teile und Furcht zu überwinden» (Bornstein 2005, S. 68). Die Durchsetzung solcher Transformationen benötigt Generatio­ nen. Der Impuls der OE war anfänglich mehr ein «weg von» als ein «hin zu», orientiert an Öffnung, weniger an Schließung. Eine schnelle Professionalisierung und ein situierter Berufs­ stand, hätten zu einer Verengung der Konzepte geführt und der Prozess des Gärens wäre nicht zu Ende gekommen.

«Die OE-Pioniere haben ein Virus in die Welt gesetzt, das sich im Repertoire der Führungskonzepte manifestiert hat.» Was bleibt? Aus professionssoziologischer Sicht kann man zu der Erkenntnis kommen, dass die Professionalisierung der OE gescheitert ist, aber deswegen ist die OE nicht gescheitert. Ihre Pioniere haben ein Virus in die Welt gesetzt, das sich inzwi­ schen im Repertoire der Führungskonzepte festgesetzt, sich dort vervielfältigt, unterschiedliche Formen angenommen und über eine Generation hinweg gleichsam den «Marsch durch die Institutionen» angetreten hat. Trotz bzw. wegen der unor­ thodoxen Entwicklung der OE gibt es in dem Wildwuchs an Kon­ zepten auch etwas, was man als Familienähnlichkeit (Witt­ genstein 1982) bezeichnen kann. Das ist eine Form der Klassi­ fizierung, wenn Begriffe unscharfe Grenzen haben und «der

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Verstand sich Beulen holt» (ebd. S. 119), weil taxonomische Anstrengungen die Komplexität der Thematik nicht zu erfas­ sen vermögen. Zu den Gemeinsamkeiten gehört die Entwick­ lung der Lernfähigkeit von Organisationen, Teamentwick­lung, Reaktion auf Wandel, kommunikative Führung, Reflexion oder Feedback. Das sind Elemente eines Paradigmas, mit Begriffen, Konzeptansätzen und Werten, die sich in Beschreibungen von Organisationen festgesetzt und bis heute weiter entwickelt ha­ben (Trebesch 2004). Die hauptsächlichste Wirkung der OE be­steht darin, dass Kommunikation zu einem Thema von Füh­ rung und Organisation wurde, an dem keiner mehr vorbei kann (Baecker, 2003, S. 137). In nahezu allen großen Organisa­ tionen entstanden spezialisierte Abteilungen für OE, teilweise als interne Beratungen oder in Kombination mit Personalent­ wicklung. Sie trieben mit externen Kollegen zahlreiche Verän­ derungsprojekte voran.

«Die große Wirkung der OE besteht darin, dass Kommunikation zu einem selbstverständlichen Thema von Führung und Organisation wurde.» Eine Ironie der Geschichte besteht darin, dass es McKinseyBerater waren, die das Gedankengut der OE mit dem Bestsel­ ler «Auf der Suche nach Spitzenleistungen» (Peters/Waterman 1983) zu einem Durchbruch in den Führungsetagen verhal­ fen. Sie führten unter anderem an, dass Kultur, Werte und Ler­ nen zu den Erfolgsfaktoren der Unternehmensführung gehö­ ren. Lauterburg kommentierte (ZOE 3), «man könnte meinen, das Buch sei von OE-Fachleuten geschrieben worden», ob­ wohl Referenzen dazu nicht vorkommen. Der Erfolg dieses Buches reflektiert eine weitere Schwäche der OE, den Zusam­ menhang zur strategischen Unternehmensentwicklung nicht hergestellt zu haben.

Theorieentwicklung — Zweite Phase Im Gegensatz zu Deutschland ist die OE in den USA ein aner­ kannter Teil der angewandten Sozialwissenschaften gewor­ den. Die systemischen Ansätze der Kybernetik zweiter Ord­ nung wurden völlig unaufgeregt integriert (Weick 1985) und stellten keinen Bruch dar zu den Anfängen der OE (Weisbord 1987). Das kann darauf zurückgeführt werden, dass viele ihrer wichtigen Vertreter mitunter Hochschullehrer waren, die über Erfahrungen aus Projekten verfügten. Sie verstanden es, ihre Konzepte in einer verständlichen Form darzustellen, die dazu führt, ihre Substanz zu unterschätzen (Willke 1994, S. 77). Die­

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ses entspannte Verhältnis zwischen Theorie und Praxis ist ei­ ner der Gründe, dass eine neue Klasse von Interventions­ formen, zu denen vor allem die verschiedenen Varianten der Groß­gruppen-Moderation zu zählen sind (Freimuth 2010 so­ wie Bunker/Alban 1997), wiederum aus den USA kamen und nahtlos in Deutschland adaptiert wurden. Die Ursprünge systemischer Konzepte gehen zurück auf interdisziplinär ausgerichtete Naturwissenschaftler, die das Überleben und den Austausch von Systemen mit ihren Um­ welten studierten. Die Grundlagen wurden wieder in Instituti­ onen im engen Austausch von Theorie in Praxis entwickelt. Zu nennen sind die Schule von Palo Alto (Marc/Picard 1991) so­ wie die Mailänder Schule der systemischen Familientherapie (Selvini Palazzoli et al. 1987). Aus der Psychotherapie kom­ mend, entwickelten sie ein neues Verständnis von Kommuni­ kation und ihrer Bedeutung für die Stabilität sozialer Systeme sowie mit der zirkulären Fragetechnik ein Repertoire von In­ terventionen, um gestörte Kommunikation zu irritieren und in neue Richtungen zu lenken. Die aus systemischer Perspek­ tive postulierte relative Geschlossenheit von sozialen Systemen führt zu der Konsequenz, dass die Beraterrolle sich verändert. «Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt» (Foerster 1993, S. 84). Berater verfügen also nicht über eine be­sonders ausgewiesene Position, nur über eine von vielen möglichen. Sie machen demzufolge auch keine klassischen Diagnosen mehr, sondern «Schnappschüsse» (Weisbord 1987, S. 197), spiegeln diese zurück und können nur warten, was passiert. Die Rolle von Beratern wird bescheidener. Sie treffen Unterscheidungen, können dabei aber ihre eigene Differenz nicht beobachten. Es schließt Selbstbeobachtung nicht aus, sie muss nur von der «Reproduktion der Einheiten des Systems (Autopoiesis) un­ terschieden werden» (Luhmann 1987, S. 61). Folglich steht ih­ nen nicht das Mandat zu, eine ihnen angemessen erscheinen­ de Form von Organisation zu forcieren, sie müssen lernen, loszulassen und auf die Lernfähigkeit ihrer Klienten zu ver­ trauen (Owen 2001, S. 114 ff.). Organisationen sind ein spezieller Typ sozialer Systeme, zu deren Erforschung Luhmann (1987 und 2000) bahnbrechende Beiträge geleistet hat. Sie bilden sich durch die Abgrenzung von jenen Umweltsegmenten, für deren Probleme sie Lösun­ gen produzieren. Andererseits müssen sie für diese Zwecke interne Vorkehrungen treffen, mit denen das zunächst Ausge­ schlossene wieder eingeschlossen wird. In diesem Kreislauf erfinden sie sich immer wieder neu, jedoch ohne ihre Identität zu verlieren. Im Gegensatz zu natürlichen Systemen vollzieht sich die Reproduktion von sozialen Systemen durch Kommu­ nikation, die Information beinhaltet, die mitgeteilt, verstan­ den wird (Luhmann 1987, S. 196 ff.) und auf die Andere sich beziehen können. Diese Formen des Austausches verfestigen und kristallisieren sich zu kulturellen Mustern. Strukturen in Organisationen legen Rahmenbedingungen fest, nach denen

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sich Akteure verhalten sollen (Luhmann 2000, S. 262 ff.). Ent­ scheidungen sind notwendig, weil sich Organisationen in ei­ nem «Dauerzustand der Unsicherheit über ihr Verhältnis zur Umwelt befinden» (ebd. S. 46) und Vorkehrungen zu treffen sind, diese Unsicherheit – bis auf weiteres – zu absorbieren. Schließlich begreift Luhmann Personen nicht als Teil von Or­ ganisationen, sondern als eigene Systeme, die sich zur Orga­ nisation verhalten, wie ihre Umwelt, weil sie als psychische Systeme oder Experten selber operational geschlossen agie­ ren (ebd. S. 279). Dieser Entwurf ist folgenreich für die OE. Das betrifft etwa die System/Umwelt-Differenz oder die paradox erscheinende Darstellung von Handelnden in Organisationen als Umfeld. Diese letzte Unterscheidung lässt jedoch zu, die übliche Personalisierung von Problemen zu ersetzen durch die Sicht auf dysfunktionale Systemdynamiken. Der berateri­ sche Fokus kann sich auf die Beobachtung kommunikativer Operationen in Organisationen richten, die durch das Anre­ gen von Selbstbeobachtung zur internen Debatte gestellt wer­ den können. Das vordergründige Ziel ist nicht die Verbesse­ rung des Klimas oder der Beziehungen, in der Hoffnung auf bessere Ergebnisse. Die Schlüsselfrage ist, wie Organisationen Themen aus ihrem Umfeld aufgreifen, wie sie diese verhan­ deln und ihre innere Komplexität konfigurieren, immer ah­ nend, dass die getroffenen Entscheidungen auch anders hät­ ten ausfallen oder sich in kurzer Zeit überholen können. Diese quälende Unsicherheit ist eine neue Dimension des Wandels, die nicht spurlos an der OE vorübergehen konnte. Die syste­ mische Ausrichtung hat dafür neue Antworten gegeben. Die Rezeption systemischen Denkens in der OE verlief mehr­ schichtig. Luhmanns Ansätze entstanden aus theoretischer For­schung und wurden anfänglich kaum verstanden. Für den ersten Transfer sorgten wiederum Institute und Beratungen (Krizanits 2009), wie die Heidelberger Familientherapeuten (IGST) sowie die österreichischen Beratergruppen OSB, Co­nec­ ta und Neuwaldegg. Sie versuchten, systemische Ansätze für die OE fruchtbar zu machen und theoriegeleitete Beratungs­ formen zu entwickeln (Königswieser/Exner 1998, Ahlemeyer/ Königswieser 1998). Viele Berater nutzten die zahlreichen sys­ temischen Bildungsangebote (z. B. ISB Wiesloch) und verban­ den die Neuerungen mit ihren Erfahrungen. Wenngleich diese Prozesse auch nicht sehr systematisch verliefen, lässt sich doch ein gewisser Professionalisierungsschub beobachten, das Vorgehen wurde bewusster und reflektierter. Parallel ist beob­ achtbar, dass systemische Konzepte langsam in die BWL und Managementlehre integriert werden. Schweizer Hochschulen erwiesen sich dabei als wegweisend (Malik 2002). Change Ma­ nagement wird aus Sicht von Picot (2002) dennoch nur zöger­ lich diskutiert. Schaut man in Standardwerke zum strategi­ schen Management (Müller-Stewens/Lechner 2003), bestätigt sich der Eindruck. Vorhandene OE-Ansätze werden lediglich referiert, ein eigenes Konzept ist nicht erkennbar. Es bleibt der

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Bedarf nach einer Vermittlung zwischen Theorie und Praxis und damit zusammen hängend zwischen OE und Fachberatung. Der Versuch einer so genannten Komplementärberatung (Kö­ nigswieser et al. 2006), blieb bei einem Nebeneinander beider Ansätze stehen.

Lernende Organisation und Organisationskultur Systemische Beratungskonzepte entstanden im Kontext des ra­dikalen wirtschaftlichen Wandels gegen Ende des letzten Jahrhunderts. Stark betroffen von der Transformation war die westliche Autoindustrie, die unter der japanischen Konkur­ renz litt. Das Interesse richtete sich daher auf die «Geheimnis­ se» der schlanken Produktion in Japan. Ausgelöst wurde es durch das Buch «Die zweite Revolution in der Automobilindu­ strie», in dem schlankes Management, ständiges Lernen, Pro­ blemlösung und Gruppenarbeit als wesentlicher Unterschied markiert wurde (Womack et al. 1991). Es entstand eine breite Diskussion über Unternehmensentwicklung sowie Versuche, diese Konzepte anzuwenden. Hier wird deutlich, wie schade es war, den sozio-technischen Ansatz der OE nicht ausgebaut zu haben. Das japanische Konzept beruht auf diesem Gedan­ ken. Nachdem Lean-Konzepte mangels fehlender Change-Kom­ petenz scheiterten und der Kostendruck zunahm, erfanden Be­ rater eine neue Wunderwaffe, das Reengineering (Hammer/ Champy 1994). Der Untertitel des Bandes, «Eine Radikalkur für das Unternehmen», verrät, worum es ging. Viele Unterneh­ men erlebten Restrukturierungen, die zu beträchtlichen so­zia­ len Erosionen führten. Die OE blieb in Bezug auf diese The­ men weitgehend sprachlos.

«Es bleibt der Bedarf nach einer Vermittlung zwischen Theorie und Praxis und damit zu­sam­ menhängend zwischen OE und Fachberatung.» Während in den Unternehmen oftmals kein Stein auf dem an­ deren blieb, entzündete sich eine polarisierende Diskussion zur Abgrenzung der frühen OE und den systemischen Konzep­ ten. Die aus den USA stammenden neuen Ansätze zeichneten sich hingegen durch gewohnten Pragmatismus aus. Argyris/ Schön (1974) sahen früh, dass Veränderungen oft nicht nach­ haltig sind. Besonders wenn Akteure unter Druck geraten, könne man wieder alte Muster beobachten. Die Erklärung lag für sie in der Differenz zwischen der proklamierten und wirk­ samen Theorie. Die eine drückt aus, wie Akteure sein wollen, die andere, wie sie sind. Wandel müsse also an den wirksamen Modellen ansetzen, an den «Hauptprogrammen» (Argyris 1997,

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S. 58). Um diese nachhaltig zu verändern, griffen sie auf ein Konzept von Bateson (1985) zurück, die Unterscheidung zwi­ schen instrumentellen Lernen und Lernen über das eigene Ler­ nen. Die Beobachtung des eigenen Lernens könne erst zu ei­ ner Veränderung der Annahmen führen, die der wirksamen Theorie zugrunde liegen. Der Ansatz wurde auch von Senge in seinem Buch «Die fünfte Disziplin» (1996) übernommen. Für ihn sind es mentale Modelle über die Wirklichkeit, die Verhal­ ten in Organisationen steuern und folglich müssten dort In­ terventionen ansetzen. Er geht noch klarer von einem syste­ mischen Verständnis von Organisationen aus und zeigt, wie etwa Entscheidungen bedingt durch die relative Schließung mentaler Modelle nach stets gleichen Mustern getroffen wer­ den. Werden Akteure damit konfrontiert, entstehen «defensive Routinen» (Argyris), die effektiv wirken, weil sie sich gleichsam in der Sprache verstecken und nur schwer erkannt werden (Senge, 1996, S. 303 ff.). Unterbrechbar seien sie durch «Refle­ xion und gegenseitiges Erkunden» (ebd. S. 311). Der Erfolg dieses Buches erklärt sich durch die Zusammenfassung unter­ schiedlicher Konzepte der OE aus systemischer Perspektive, aber mit einer ausgesprochenen Praktikabilität. Ganz Ähnli­ ches gibt es zu den Vorschlägen von Schein zu sagen. Neben den Beiträgen zu Interventionen im Rahmen von Wandlungs­ prozessen stellt sein Strukturmodell von Organisationskultur (1995) einen wichtigen Impuls für das Verstehen von Organi­ sationen, Lernen und Veränderung dar. Kulturbasierte Verän­ derungen in Organisationen müssen – so Schein – mit menta­ len Tiefenstrukturen rechnen, die ihre Identität ausmachen. Wandel muss bei der kollektiven Reflexion dieser Konstrukte ansetzen, um sie mit den Anforderungen instabiler Umfelder wirksam zu justieren (ebd. S. 296 ff.). Beide Autoren haben ei­ ne Erweiterung des Repertoires an Interventionen, zu denen imaginative und narrative Formen gehören, ausgelöst (Bate 1997). Der Fokus richtete sich zudem mehr auf die eigenen Ressourcen von Organisationen und bildet so einen Gegen­ satz zu den eher auf Defizitvermutungen beruhenden Ansät­ zen der frühen OE (Cooperrider et al. 2003). In Deutschland bediente das verbreitete Buch von Doppler/Lauterburg über Change Management den praktischen Bedarf nach konkreten Handreichungen für den Umgang mit Wandel. Es basiert auf ihren langen OE-Erfahrungen. Sein Erfolg verweist auf die nach wie vor bestehende Differenz zwischen Theorie und Praxis.

Die neue Professionalisierungsdebatte In der ZOE wurde durch Trebesch 1999 angesichts des radika­ len Wandels und der Kritik durch systemische Ansätze eine neue Debatte zur Zukunft der OE angestoßen. Am prägnan­ testen fielen die Worte von Schreyögg aus (ZOE 3/99). Er kriti­

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siert vor allem das episodenhafte Konzept von Wandels und die damit verbundene «naive Konzeption von Steuerung» Es werde übersehen, dass Wandel eine ständige Herausforde­ rung der Unternehmensführung und in ihrer Steuerungslogik zu verankern sei. Hinweise könne man etwa von der Theorie der lernenden Organisation bekommen. Er konstatiert das grö­ ßere Fassungsvermögen einer systemischen Steuerungslogik für praktisches Management, ohne Gefahr zu laufen «zu ei­ nem konzeptionslosen Sammelbecken von Praxisproblemen zu werden» (2002 S. 216). Offen bleibt, wie genau dieses alte deutsche Problem des Verhältnisses von Theorie und Praxis aufgelöst werden kann. Wimmer (2004a, 2004b und 2009) un­ terstreicht die von Schreyögg geäußerte Kritik und verweist dabei auf die normativen Wurzeln der Pionierphase der OE sowie ihre veralteten Vorstellungen von Hierarchie bzw. Or­ga­ nisation, die mit den inzwischen komplexen Strukturen am Anfang dieses Jahrhunderts nicht mehr kompatibel seien. Er betont die enorm gestiegene Binnenkomplexität von Organi­ sationen, die ständig zur Disposition stehe, die Frage nach ih­ rem «Selbst» zu einem beständigen Thema mache und Han­ delnde an persönliche Grenzen bringe. Dass demzufolge Ler­ nen und gelingende Kommunikation zu Leitthemen der OE werden müssen, ist nicht überraschend. Die Anforderung an gelingende Beratung bestehe nunmehr darin, die traditionelle Trennung zwischen Fach- und Prozessberatung zu überwin­ den. Man müsse mit Klienten auf Augenhöhe an den Sachthe­ men arbeiten, ohne in die traditionelle Expertenrolle zu ge­ hen. Dabei sei mitlaufend die soziale Dynamik der Themen zu beobachten. Die Systemtheorie biete sowohl für die Beobach­ tung der Kommunikation, als auch für das Verständnis von Organisationen eine geeignete Hintergrundfolie. Neuerdings sieht sich der systemische Ansatz nun selber einer kritischen Beobachtung aus der Soziologie gegenüber. Unter anderem wird dort hervorgehoben, dass das Konzept der relativen Geschlossenheit von Organisationen systemische Berater aus der Verantwortung für die Ergebnisse ihres Han­ delns befreie (Moldaschl/Kühl 2010). Die Autoren weisen auf Aporien im systemischen Denken hin und versuchen den Strukturationsansatz von Giddens ins Feld zu führen. Die deutsche Diskussion überbietet sich nach wie vor in der wech­ selseitigen Kritik. Irgendwie fühlt man sich an einen Spruch erinnert, den ein Berliner Kunde in seinem Büro hängen hatte: «Wie et nich jeht, weeß ick von alleene».

Fazit: Theorie oder Praxis vs. Theorie und Praxis? OE ist angewandte Wissenschaft oder Praxeologie. Darin ist sie der Medizin oder dem Engineering vergleichbar, die sich einer breiten Akzeptanz erfreuen. Hier wie dort kann man auf

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verschiedene Theorieansätze zurückgreifen, es gibt nicht den «einen besten Weg». Die praktischen Fragen in modernen Or­ ganisationen sind zudem derartig komplex und heterogen, dass es keine Möglichkeit gibt, sie in ein einheitliches Konzept zu zwingen. Die pragmatische Verknüpfung von wis­sen­schaft­ licher Führungsausbildung und Beraterwissen ist in Deutsch­ land nur ansatzweise gelungen. Die BWL, die hier zuerst ge­ fragt wäre, erwies sich bislang als wenig lernbereit; die Gründe dafür haben wir dargelegt. Paradoxerweise hatte sie keine Pro­ bleme, die vielen Neuerungen der fachlich orientierten Bera­ tungen, etwa im strategischen Management, zu übernehmen, die ebenfalls aus Praxiswissen erwachsen sind. Sie berühren jedoch nicht substantiell die Führungskultur, wie das OE ge­ tan hat und tut. Betrachtet man die letzten 30 Jahre der OE, gibt es für uns dennoch keinen Zweifel, dass das Verständnis von Organisationen und auch die Beratungskonzepte reicher geworden sind, Reflexionsbereitschaft und Professionalität sind ausgeprägter. Wir kennen jedenfalls keinen Kollegen, der sich noch auf Lewins Phasenschema beruft. Was fehlt ist ein ex­pli­zites Bekenntnis dazu, unser Wirken als Praxeologie zu be­schreiben, als rekursiv theoriebezogenes und reflektiertes Handeln.

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Literatur • Argyris, C. und Schön, D. (1999). Die lernende Organisation. Klett-Cotta. • Bennis, W. G., Benne, K.D. und Chin, R. (Hrsg.) (1969). Änderung des Sozialverhaltens. Klett. • Bohn, U. und Kühl, S. (2010). Beratung, Organisation und Profession. Die gescheiterte Professionalisierung in der Organisationsentwicklung, systemischen Beratung und Managementberatung. In: Kühl, S. und Moldaschl, M. (Hrsg.) Organisation und Intervention. Hampp. S. 63—84. • Emery, F. und Trist, E. (1997). The Causal Texture of Organizational Environments. In: E. Trist, /F. Emery/H. Murray, Eds. The Social Engagement of Social Science. A Tavistock Anthology. Vol. III., University of Pennsylvania Press. S. 53—65. • Freimuth, J. (2010). Moderation. Hogrefe. • Kleiner, A. (1996). The Age of Heretics. Warren Bennis Signature Books • Kühl, S./Moldaschl, M. (Hrsg.) (2010). Organisation und Interven­ tion. Hampp. • Luhmann, N. (2000). Organisation und Entscheidung. Leske & Budrich. • Luhmann, N. (1987). Soziale Systeme. Suhrkamp.

Prof. Dr. Joachim Freimuth

• Scherer, J. L. /Alban, B. (2010). On the Shoulder of Giants: The Origins of OD. In: Rothwell, W. J./Stavors, J. M. /Sullivan, R. L./Sullivan, A. (Eds.). Practicing Organizational Development. Jossey Bass. S. 71—93.

ist Professor für Personalmanagement und Wirtschaft. Er unterrichtet an der Hochschule Bremen und ist freiberuflicher Berater.

• Schreyögg, G. (2002). Unternehmensführung — Eine Disziplin im Wandel. In: Gaugler, E./Köhler, R. (Hrsg.). Entwicklungen der Betriebswirtschaftslehre. Klett-Cotta. S. 199—221.

Kontakt: joachim.freimuth@t-online.de

• Senge, P. (1996). Die fünfte Disziplin. Klett Cotta. • Trebesch, K. (Hrsg.) (2000). Organisationsentwicklung. Klett Cotta. • Trebesch, K. Hg. (1980). Organisationsentwicklung in Europa. 2 Bde. Haupt.

Dipl.-Ök. Thomas Barth ist Inhaber und Geschäftsführer von DECIVIA Change Management. Kontakt: barth@decivia.com

• Weisbord, M. R. (1987). Productive Workplaces. Jossey-Bass. • Wimmer, R. (2009). Systemische Organisationsberatung — Organi­ sationsverständnis und künftige Herausforderungen. In: Pühl, H. (Hg.). Handbuch Supervision und Organisationsentwicklung (3. Auflage). VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 213—230. Hinweis: Eine ausführliche Literaturliste können Sie über Herrn Professor Freimuth joachim.freimuth@t-online.de oder durch unsere Redaktion zoe.redaktion@fachverlag.de erwerben.

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Erfahrung | Schwerpunkt | Die Zukunft des Change Management | Rudolf Wimmer

Die Zukunft des Change Management Sie sind ausgewiesene Spezialisten und Experten, gleichzeitig Realisten und Visionäre. Hier diskutieren die ehemaligen Herausgeber der «OrganisationsEntwicklung» die Zukunft des Change Management. Was denken ehemalige Herausgeber der ZOE zum Thema «Change Management der Zukunft»? Wir freuen uns, dass wir für diese Jubiläumsausgabe fünf ehemalige Herausgeber der ZOE gewinnen konnten, die in pointierten Beiträgen ihre Sichtweisen auf die Entwicklung der OE darstellen. Während Rudi Wimmer die Frage aus theoretischer Sicht be­ leuchtet, Eckard Minx zusammen mit Karsten Trebesch einen Überblick über die Entwicklung der OE geben, erläutert Klaus Doppler, welche Schwerpunkte er in heutigen Change Projekten ganz pragmatisch anders setzt. Christoph Lauter­ burg wiederum reflektiert die großen aktuellen Veränderungsprozesse auf gesellschaftspolitischer Ebene und leitet daraus Lernpunkte für die Gestaltung von Veränderungsprozessen in hierarchischen Systemen ab.

Kontinuität und Wandel im Changemanagement Es ist der unbestrittene Verdienst von Klaus Doppler und Chris­ toph Lauterburg, mit dem Kunstbegriff «Changemanagement» ein Themenfeld besetzt zu haben, das in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Auseinandersetzung um die Leis­ tungsfähigkeit von Organisationen nichts an Aktualität einge­ büßt hat. Zwar haben sich die Angebote der einschlägigen

Prof. Dr. Rudolf Wimmer Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen an der Universität Witten/Herdecke und Geschäftsführender Gesellschafter der osb Wien Consulting GmbH Kontakt: rudolf.wimmer@osb-i.com

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Pub­likationen und Beratungsgesellschaften, worauf es bei die­ sem «Change» letztlich ankommt und welches konkrete Vor­ gehen im Einzelnen erfolgsversprechend ist, in immer kürzer werdenden modischen Zyklen abgewechselt: angefangen vom Leanmanagement über das Process-Re-Engineering bis zu den diversen Restrukturierungsansätzen, die im Gefolge der jüngs­ ten Weltwirtschaftskrise wieder Hochkonjunktur hatten. Un­ ge­achtet der wachsenden Vielfalt unterschiedlicher Change­ ansätze haben die in der Praxis beobachtbaren Herausforde­ rungen für Management und Beratung eher zu- als abgenom­ men. Glaubt man den empirischen Forschungen zum Verlauf und den Ergebnissen organisationsbezogener Veränderungs­ vorhaben, so bleiben die Einschätzungen über die Jah­re hin­ weg durchwegs sehr kritisch. Das Scheitern solcher Vorhaben, woran auch immer dies in jedem Einzelfall festgemacht wer­ den kann, scheint empirisch wahrscheinlicher zu sein als die Erfolgsaussichten. An diesem ernüchternden Befund hat die wachsende Changeliteratur und das dort angebotene Hand­ lungswissen und die zunehmende Heterogenität der Change­ ansätze offensichtlich nichts geändert. Zur Ehrenrettung der Zunft der Changeexperten ist jedoch zu sagen, dass in den vergangenen zwei Jahrzehnten die orga­ nisationsexternen wie auch die organisationsinternen Rahmen­

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Rudolf Wimmer | Die Zukunft des Change Management | Schwerpunkt

bedingungen für organisationalen Wandel sehr viel anspruchs­ voller geworden sind. Unternehmen beispielsweise, müssen sich heute in Märkten und in einem Wettbewerbsumfeld bewäh­ ren, das sich dramatisch von den Erfolgsvoraus­setzungen der siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts. unter­ scheidet. Ähnliches lässt sich für Organisationen des Gesund­ heitswesens, der öffentlichen Verwaltung, sozialer Einrichtun­ gen, etc. sagen. Überall stehen die historisch gewachsenen Or­ganisationsverhältnisse unter einem nicht abreissenden Ver­ änderungsdruck, der in diesem Intensitätsgrad seit dem Be­ ginn des Industrialisierungs- und Modernisierungsprozesses unserer Gesellschaft keine vergleichbaren Vorbilder hat. Gleich­ zeitig haben die meisten der betroffenen Organisationen in den zurückliegenden Jahrzehnten bereits ganz erheblich ihre Eigenkomplexität erhöht, um den wachsenden Anforderun­ gen an ihre Antwortfähigkeit gerecht zu werden. Damit sind in vielen Bereichen organisationsinterne Rahmenbedingungen entstanden, die es auf Grund ihres Kom­plexitätsgrades nicht erleichtern, diesem Dauerdruck in Richtung Flexibilität erfolg­ reich zu entsprechen. Mit anderen Worten, das Changemana­ge­ ment der beginnenden Neunzigerjahre ist nur schwer mit den heutigen Herausforderungen vieler der betroffenen Organisa­ tionen in Wirtschaft und Gesellschaft vergleichbar. Der heutige Anspruch an die Wandlungsfähigkeit von Or­ ganisationen hat den «Change» zu einer Daueraufgabe dersel­ ben werden lassen. Damit sehen sich die verantwortlichen Entscheidungsträger mit einer grundlegenden Paradoxie kon­ frontiert. Einerseits beruht die Leistungsfähigkeit von Organi­ sationen ganz grundlegend darauf, dass sie Strukturen und Pro­zesse stabil halten, d.h. dass sie rund um ihre Aufgabenfel­ der herum effiziente Routinen ermöglichen und diese gegen­ über laufenden Störimpulsen abschirmen. Gleichzeitig wird heute erwartet, dass Organisationen letztlich gar keine Routi­ nen mehr aufkommen lassen, sondern Strukturen und Pro­ zesse ständig flexibel halten und mit der Fähigkeit zur Selbst­ dynamisierung ausstatten. Die Gleichzeitigkeit des Erforder­ nisses effizienzsteigernder Routinisierung mit der Permanenz organisationalen Umbaus schafft schon seit einiger Zeit fun­ damental widersprüchliche Gestaltungsherausforderungen, für die es noch in den wenigsten Organisationen einen «routi­ nierten» Umgang gibt. In der gekonnten Bearbeitung dieser wohl nicht mehr wegzukriegenden Paradoxie liegt zweifelsoh­ ne die zentrale Herausforderung, wenn es heute um die Wand­ lungsfähigkeit von Organisationen geht.

Dominante Ausprägungen von Changemanagement Es ist der besondere Charme des Changemanagementbegriffes, dass er in der Praxis für sehr unterschiedliche Problemstellun­ gen und Lösungsansätze anschlussfähig ist. Genau in dieser Fähigkeit, ausgesprochen heterogene Bedeutungshorizonte zu integrieren, liegt wohl seine ungebrochene Attraktivität, die of­

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fensichtlich in der Lage ist, abwechselnde modische Ausprä­ gungen zu überdauern. So ist zu beobachten, dass sich im Kontext der großen, expertenorientierten Unternehmensbe­ ratungen der Begriff Changemanagement inzwischen stets an Stellen eingebürgert hat, wo es darum geht, eine von den Be­ ratern entwickelte Organisationslösung, ein Sollkonzept also, das vom Topmanagement befürwortet wird, im Organisations­ alltag umzusetzen. Alle Aktivitäten, die darauf zielen, eine mit Hilfe spezifischer Tools entwickelte Blaupause des Soll-Zustan­ des der Organisation tatsächlich in die Umsetzung zu brin­ gen, werden in diesem Professionszusammenhang gerne mit dem Begriff «Changemanagement» belegt. Es geht also um Be­mühungen, auf den Ebenen des mittleren und unteren Ma­ nagements sowie in der Belegschaft als Ganzes, die Einsicht in die «Alternativlosigkeit» des Veränderungsvorhabens zu ver­ ankern und damit ein engagiertes Mittun in der Realisierung der von den Experten entwickelten Blaupause sicherzustel­ len. Die etablierten Expertenberatungen reagieren mit diesen Anstrengungen auf die seit langem anhaltende Kritik von der Seite ihrer Kunden, in der konkreten Umsetzung ihrer Kon­ zepte zu wenig professionelle Unterstützung zu leisten. Chan­ gemanagement steht folglich für den «missing link» zwischen den organisationalen Soll-Konzepten der Berater und deren praktischer Umsetzung. Dem Rückgriff auf solche Lösungen liegt stets die mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Annahme des Topmanagements zugrunde, dass die betroffe­ nen Führungskräfte wegen ihrer starken Gebundenheit an ei­ gene Interessenslagen und Machterhaltungsbedürfnisse für die Entwicklung und Umsetzung solch’ weitreichender Verän­ derungsvorhaben ungeeignet sind.

«Der Begriff Changemanagement steht folglich für den «missing link» zwischen den organisationalen Soll-Konzepten der Berater und deren praktischer Umsetzung.» Auf der anderen Seite hat sich auch in der professionellen Com­ munity der Organisationsentwicklung das Label «Change­ management» für den Einsatz ihres tradierten Interventions­ repertoires bei der Begleitung von Veränderungsvorhaben al­ ler Art durchgesetzt. Auch in dieser Tradition wird das zu be­ wältigende Kernproblem im Kommunikations- und Führungs­ verhalten der involvierten Linienvorgesetzten gesehen. Dieser Mangel wird hier allerdings durch speziell eingerichtete Parti­ zipationssettings zu bearbeiten versucht, in denen ausgewähl­te Funktionsträger in wechselnder Zusammensetzung hierarchieund bereichsübergreifend an der Lösung der anstehenden Veränderungsherausforderungen arbeiten. Es wird erwar­tet, dass sich in solchen meist breitflächigen Beteiligungsprozessen

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sowohl tragfähige Organisationslösungen sowie neue Kom­mu­­ ni­­kationsroutinen herauskristallisieren, die bei den Betrof­fe­nen auf Akzeptanz und Engagement in ihrer Umsetzung stoßen. Nach wie vor nimmt in diesem Changeverständnis das Kon­ zept des Widerstandes einen zentralen Platz ein. Analog zu den persönlichen Verarbeitungsmustern, wie sie bei Individuen zu beobachten sind, wenn sie Ereignisse zu verarbeiten haben, die ihre bisherige Identität nennenswert bedrohen, so wird auch in Organisationen auf ganz ähnliche Weise die Bewälti­ gung des Wandels gedacht. Deshalb kommt es bei anspruchs­ vollen Changeprozessen vor allem darauf an, kreative Kom­ munikationsarrangements zu entwickeln, die es den Beteilig­ ten ermöglichen, ihre Veränderungsangst und die damit ver­ bundenen persönlichen Widerstände zu überwinden. Das wird in dem Maße erleichtert, in dem die Betroffenen auch in die Mitverantwortung für das Finden geeigneter Organisationslö­ sungen gehen können. Auch in den neueren Ausformungen dieser Denktradition, steht die Bewegung auf der persönlichen Ebene weg von der eingefleischten Tendenz zur Reproduktion des Bestehenden und hin zur inneren Öffnung für das Neue sowie hin zu dessen kreativer Verankerung in zukunftsfähigen Organisationslö­ sungen im Zentrum des professionellen Bemühens. Welche Varianten auch immer in dieser Tradition propagiert werden, sie spiegeln in irgendeiner Form den klassischen Dreischritt der Organisationsentwicklung, wie er letztlich auf Kurt Lewin zurückgeht: Auftauen, Neuformieren, Wiederverankern. Das Festhalten am Widerstandskonzept und das Denken organi­ sationaler Veränderungen primär aus der Perspektive der be­ troffenen Individuen heraus lassen wahrscheinlich keine an­ deren Lösungen zu.

«Die Entwicklung kreativer Kommunikationsarrangements forciert die Effizienz des Changeprozesses.» Trotz aller Gegensätzlichkeiten in den geschilderten Ansät­ zen, es treffen sich die heute gebräuchlichen Ausprägungen des Changemanagements doch in einem wesentlichen Punkt: In der Grundannahme, dass die Linienverantwortlichen in ih­ rem Zusammenspiel über die Hierarchieebenen hinweg un­ geeignet sind, um einen ernsthaften Wandel ihrer Organisa­ tionsverhältnisse zu stemmen. Auch wenn die Gründe für die­ se Unfähigkeit sehr unterschiedlich konzeptualisiert werden, so laufen die zur Anwendung kommenden Vorgehens- und Lö­sungskonzepte im Kern doch darauf hinaus, sich im We­ sentlichen auf Bypass-Strukturen zur etablierten Hierarchie zu stützen, wenn es um weitreichende Organisationsverände­ rungen geht.

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Als Schlussfolgerung lässt sich die These wagen: Es sind genau diese professionell eingespielten Lösungsmuster, die heutzu­ tage das Scheitern anspruchsvoller Veränderungsvorhaben wahrscheinlich machen. Wie lässt sich diese These begründen?

Das angestammte Methodenrepertoire ist stumpf geworden Organisationen als soziale Systeme lernen in den seltensten Fällen aus vorangegangenen Veränderungsbemühungen. Sol­ che Projekte werden fast nie gründlich und systematisch aus­ gewertet, was verhindert, dass ordentlich reflektierte und ver­ gemeinschaftete Lernerfahrungen die Grundlage für darauf aufbauende neue Changevorhaben bilden könnten. Diese of­ fenkundige or­ga­ni­sationale Lernresistenz gegenüber zurück­ liegenden Changeerfahrungen hat zur Folge, dass viele Orga­ nisationen in der Herangehensweise bei Veränderungen ihre bisherigen Grundmuster kontinuierlich wiederholen. Man tauscht vielleicht die zum Einsatz kommenden Beratungsfir­ men und Topmanager aus. Ansonsten wiederholen sich aber die Dinge. Im Unterschied dazu besitzen die betroffenen Or­ ganisationsmitglieder geradezu ein Elefantengedächtnis, was ihre persönlichen Erfahrungen in solchen Changeprozessen betrifft. Vor allem die in solchen Prozessen enthaltenen Zu­ mutungen und persönlich erlittenen Verletzungen graben sich tief in den emotionalen Haushalt der Betroffenen ein. So verfestigen sich im Laufe der Jahre ganz bestimmte Bilder im Bewusstsein der Organisationsmitglieder, die die Basis dafür abgeben, mit welcher in­neren Haltung und Einstellung die Personen organisationsintern neuen Changeinitiativen be­ gegnen. Vor allem wenn sich auf einer breiteren Basis die Be­ obachtung durchsetzt, dass wiederholt aktivierte Changevor­ haben mehr dem Selbstdarstellungsbedürfnis von Topmana­ gern entspringen als tatsächlich nachvollziehbaren strategi­ schen Herausforderungen, dann verdichtet sich eine kollektiv getragene innere Gewissheit, die einen äußerst kritischen Bo­ den für neue Initiativen des Wandels abgibt. Der Verdacht auf Manipulation ist inzwischen in vielen Organisationen zur uni­ versellen Begleiterscheinung bei der Ankündigung weitrei­ chender Veränderungsvorhaben geworden. Man hat gelernt, solche Initiativen nur mehr bedingt als glaubwürdig ernst zu­ nehmen, sie führen in der Regel zwar zu einigen persönlichen Machtverschiebungen auf den höheren Führungsrängen, an­ sonsten weiß man sich unauffällig zu verhalten und abzuwar­ ten bis die nächste Initiative gestartet wird mit einer mögli­ cherweise ganz gegenteiligen Entwicklungsrichtung. So dege­ neriert das Changemanagement zur sich wiederholenden In­ szenierung der Selbstwirksamkeit des Topmanagements, das auf diese Weise sich selbst und ganz bestimmten externen Sta­ keholdern das eigene kompetentsein vor Augen führt, wäh­ rend der Rest der Organisation Schadensminimierung be­ treibt, um die operative Leistungsfähigkeit der Organisation

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aufrechtzuerhalten. Dort, wo letzteres immer we­niger gelingt, beschleunigt sich die Aneinanderreihung von Veränderungs­ initiativen mit der Folge einer immer weiteren Schwächung des organisationalen Leistungsvermögens. Nicht­­zuletzt dieses «Reflexivwerden» des Changemanagements spricht dafür, die damit verbundenen Interventionskonzepte stärker als bisher mit den reichhaltigen Forschungen zur Lern­fähig­keit von Or­ ganisationen zu verknüpfen.

Die ständig wachsende Binnenkomplexität von Organisationen ist zur zentralen Herausforderung für das Changemanagement geworden Speziell Unternehmen haben sich in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten veranlasst gesehen, im Dienste der Aufrechterhal­ tung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ihre Eigenkomplexität Schritt für Schritt zu steigern. Sie haben ihre Organisation mehr und mehr internationalisiert und mit dieser wachsenden Vielfalt externer Anforderungen in ihrem Inneren qualitativ ganz neue Entscheidungsnotwendigkeiten produziert. Sie haben ihr Leis­ tungsportfolio erweitert und stehen gleichzeitig unter einem noch nie dagewesenen Innovationsdruck, um dieses Portfolio schneller als die Mitbewerber ständig weiterzuentwickeln. Des­ halb gewinnt heute die Zeitdimension, d.h. das Integrieren ganz unterschiedlicher Zeithorizonte in den relevanten Unter­ nehmensentscheidungen ein immer größeres Gewicht. Sie fol­ gen außerdem dem unhinterfragten Dogma des permanenten Wachstums als ihrem obersten Leitstern und schaffen sich auf diesem Wege nicht selten durch unverdaute Übernahmen jahrelang energiezehrende Folgekosten. Sie schwingen getrie­ ben vom Wachstumsgedanken ziemlich unreflektiert mit der immer stärkere Ausschläge produzierenden Zyklizität der Welt­ wirtschaft mit. Radikales Downsizing folgt dem hektischen Kapazitätsaufbau und umgekehrt in immer kürzeren Zeitab­ ständen. Diese Komplexitätstreiber lassen sich gut und gerne um eine Reihe weitere Dimensionen ergänzen. Letztlich werden diese Entwicklungen heute von der Grunderfahrung der Entschei­ dungsträger begleitet, dass sie zielgerichtet handeln müssen, obwohl ihnen relevante Informationen, um die Ausgangslage von Entscheidungen vollständig beschreiben zu können, feh­ len. Die persönlichen Risiken haben angesichts dieser wach­ senden Ungewissheit für die Verantwortlichen auf allen Füh­ rungsebenen dramatisch zugenommen. Wir nutzen hier den Komplexitätsbegriff als Maß für die Unbestimmtheit und für die Unkalkulierbarkeit der Folgen von Entscheidungen. Diese zunehmend belastenden Komplexitätserfahrungen werden zu­ dem durch den Umstand verstärkt, dass für tragfähige Wei­ chenstellungen in der Unternehmensentwicklung eine wach­ sende Anzahl von Aspekten, die von ganz unterschiedlichen Führungskräften und Leistungsträgern in der Organisation ver­ antwortet werden, Berücksichtigung finden müssen. Dieser

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wachsende horizontale Abstimmungsbedarf, der sachlich in den von der Organisation auszutarierenden Zielkonflikten be­ gründet liegt, überfordert in den meisten Fällen im Zusammen­ spiel mit der gestiegenen Unsicherheit die eingespielte Füh­ rungspraxis und die dieser Praxis zugrundeliegenden mentalen Modelle. Alle etwas weiterreichenden Veränderungsinitiativen mobilisieren unweigerlich dieses subtile Netzwerk wechselsei­ tiger Abhängigkeiten von Funktionsträgern, die in ihren eige­ nen Erfolgsbedingungen auf die verlässliche Aufgabenerfüllung der jeweils anderen angewiesen sind. Jede etwas tiefgreifende Veränderung berührt die bisherige Aufgabenidentität der Sub­ einheiten, die Logik der organisationsinternen Arbeitsleitung und damit auch die Formen und Regeln ihres Zusammen­ spiels. Damit wird immer auch in das Rollenprofil der Stellen­ inhaber, d.h. in ihr erprobtes Einflusspotenzial, in ihr bisheri­ ges Beziehungsnetz und in den sozialen Status innerhalb des­ selben eingegriffen. Die mit dem Komplexitätsgrad heutiger Organisationen verbundenen internen Abhängigkeiten schaf­ fen auf vertikaler wie auf horizontaler Ebene ein wechselseiti­ ges Einfluss- und Sanktionspotenzial zwischen den relevanten Leistungsträgern einer Organisation, dem mit dem üblichen heroischen Machtgehabe von Topmanagern nicht angemes­ sen beizukommen ist. Auch die zur Zeit sehr beliebten Zen­tra­ lisierungsanstrengungen schaffen da keine wirkliche Lö­sung. Mit solchen «einsamen» Entscheidungen, ob beratergestützt oder nicht, werden organisationsintern stets Machtauseinan­ dersetzungen losgetreten, die in ihrem Ergebnis die Leistungs­ fähigkeit des Gesamtsystems unweigerlich schwächen. Die Gefahr, dass Changeprozesse heutzutage den Anlass bie­ ten, die vielfach organisationsintern breit verteilte Positions­

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macht dafür zu nutzen, verdeckte persönliche Interessenslagen zu optimieren, ist nicht von der Hand zu weisen. In jedem Fall wird es in der Zurechnung von Handlungsmotiven immer schwieriger, im Einzelnen zwischen der Sorge, um die künfti­ ge Leistungsfähigkeit des sozialen Ganzen und der nackten Verfolgung persönlicher Interessen zu unterscheiden. Des­ halb liegt die zentrale Herausforderung des Changemanage­ ments heute im klugen Umgang mit der Konfliktdynamik in­ nerhalb des organisationsinternen Netzwerks erfolgskriti­ scher Entscheidungsträger. Diese Aufgabe ist aber im Kern ein nicht delegierbares Leadershipthema. Auf der Grundlage einer sorg­fältig vergemeinschafteten strategischen Ausrichtung gilt es, bei als notwendig erkannten Veränderungsschritten in den ge­nannten Führungsnetzwerken einen Transparenz schaffen­ den Aushandlungsprozess zu steuern, der die Gelegenheit schafft, die involvierten Konfliktlagen offen bearbeitbar zu machen. Nur in solchen ernsthaft geführten Aushandlungs­ prozessen wird die heute so erfolgskritische Bearbeitung der Paradoxie zwischen der Steigerung der Effizienz schon einge­ spielter Routinen einerseits und dem permanenten Wandel grundlegender Strukturen und Prozesse andererseits sinnvoll möglich. Ansonsten kommt es zu der bekannten Spaltung, der­ zufolge sich die Spitze für den Wandel zuständig fühlt und die Ebenen darunter für die Funktionstüchtigkeit des Status quo.

Literatur

• Baumöl, U. (2008). Change Management in Organisationen. Situa­tive Methodenkonstruktion für flexible Veränderungsprozesse. Gabler. • Doppler, K. und Lauterburg, Ch. (2008). ChangeManagement. Den Unternehmenswandel gestalten. Campus. • Fink, D., und Hartmann. M. (2009). Das Missing-Link-Prinzip. Schließen Sie die Lücke zwischen Strategie und Umsetzung. Hanser. • Jorgensen, H.H. und Albrecht, J., Neus, A. (2007). Making Change Work. IBM Studie 2007. • Kotter, J.P. (2009). Das Prinzip Dringlichkeit. Schnell und konsequent handeln im Management. Campus.

«Die Herausforderung des Changemanagements liegt im Umgang mit der Konfliktdynamik innerhalb des organisationsinternen Netzwerks erfolgskritischer Entscheidungsträger.»

• Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme — Grundriss einer allgemeinen Theorie. Suhrkamp.

Solche Führungsleistungen, die an der Unternehmensspitze von Persönlichkeiten erbracht werden, die sich glaubwürdig ohne persönliche Eitelkeit ausschließlich der künftigen Ant­ wortfähigkeit der Gesamtorganisation verpflichtet fühlen, sind in der Praxis noch allzu selten beobachtbar. Deshalb hat das Changemanagement in erster Linie bei der Stärkung und funk­ tionalen Ertüchtigung des Führungssystems (gemeint ist die Kooperations- und Kommunikationsqualität der Führungs­ verantwortlichen in vertikaler und horizontaler Hinsicht) an­ zusetzen und nicht bei der Kompensation seiner Mängel. Da­ für braucht es eine angemessene Weiterentwicklung sowohl des Führungs- wie auch eines dazu passenden Beratungsver­ ständnisses, das den geschilderten Komplexitätsherausforde­ rungen von Organisationen heutigen Zuschnitts gerecht wird. Unserer Beobachtung nach gibt es in Theorie und Praxis für die Bearbeitung dieser Fragen bereits eine Reihe durchaus er­ mutigender Beispiele, an die bei der Weiterentwicklung des Changemanagement-Knowhows angeknüpft werden kann.

• Schäcke, M. (2006). Pfadabhängigkeit in Organisationen. Ursache bei Reorganisationsprojekten. Duncker & Humboldt.

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• Oltmanns, T. und Nemeyer, D. (2010). Machtfrage Change. Warum Veränderungsprojekte meist auf Führungsebene scheitern und wie sie es besser machen. Campus. • Petersen, D., u.a. (2011). Den Wandel verändern. Change-Management anders gesehen. Gabler.

• Scharmer, C.O. (2009). Theorie U. Von der Zukunft her führen. Carl Auer. • Wimmer, R. (2004). Wider den Veränderungsoptimismus. Zu den Möglichkeiten und Grenzen einer radikalen Transformation von Organisationen. In: Wimmer, R. Organisation und Beratung. Carl Auer. S. 155—189. • Wimmer, R. (2007). Die bewusste Gestaltung der eigenen Lernfähigkeit als Unternehmen. In: Tomaschek, N. (Hrsg.): Die bewusste Organisation. Steigerung der Leistungsfähigkeit, Lebendigkeit und Innovationskraft von Unternehmen. Carl Auer. S. 39—62. • Wimmer, R. (2009). Kraftakt radikaler Umbau: Change Management zur Krisenbewältigung. In: Zeitschrift für Organisationsentwicklung. Heft 3/2009. S. 4—11.

OrganisationsEntwicklung Nr. 4 |2011


Karsten Trebesch, Eckard Minx | Die Zukunft des Change Management | Schwerpunkt

Die OE: Von der Hoffnung des Verstehens zur Steuerung von Systemen Als Mitbegründer und Mitherausgeber dieser Zeitschrift haben wir die Entwicklung der OE im deutschsprachigen Raum nicht nur begleitet, sondern auch zu gestalten und reflektieren ver­ sucht. Ein Motiv dieser Zeitschrift war ja die Professionalisie­ rung der OE, die mit der damals ebenfalls gegründeten Gesell­ schaft für Organisationsentwicklung (GOE) gescheitert ist. Lei­ der hat sich auch die betriebswirtschaftliche oder sozialwissen­ schaftliche Forschung nie ernsthaft mit der OE auseinander­ gesetzt, so dass der OE ein entscheidendes Fundament der Wei­terentwicklung fehlte. Das ist zu beklagen, aber auch ver­ ständlich, weil sich diese Wissenschaften als gebrannte Kinder sehr schwer mit dem Idealismus und Dogmatisierung tun. Die Überzeugungen des Alltags und die radikal-konstruktivisti­ schen Überziehungen bleiben ebenfalls suspekt. Wir sind aber weiterhin der Meinung, dass es der OE gelingen kann, die ei­ gene Zukunft, also ihren Nutzen zu entwickeln. In der Mitte der letzten Dekade hat sich diese Zeitschrift um eine breite Diskussion über den Stand und die Zukunft der OE bemüht. Das Fazit war eher ernüchternd, bzw. von der Auf­forderung geprägt, die OE in eine für das Veränderungs­

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management relevante Zukunft zu bringen. Es bleibt aber frag­ lich, ob die OE ein WIR, eine community wurde, die experimen­ tierend neue Ziele und Methoden entwickelte. Wir haben die Kollektivierung der Idee nicht realisieren können, wie es unse­ re Vorstellung war. Stattdessen finden wir heute eine Spaltung in die Organisationsentwicklung als professionelles Konzept der Veränderung und ein Change Management als Werkzeug aufgrund der Kundenbedürfnisse vor.

Wie lief die Entwicklung?

Geschäftsführender Gesellschafter der TREBESCH & Asociados GmbH, Beratung für Unternehmensentwicklung und Veränderungsmanagement

Wir wollen die Entwicklung der OE der letzten 45 Jahre grob in drei Phasen skizzieren: Die Periode von 1975 – 1985 war ge­ prägt von der sozialen Dynamik innerhalb der Organisationen. Man wollte partizipativ Kooperationen und Kommunikation optimieren. Die Gruppendynamik trug dazu bei und in deren Folge die Teamarbeit. Man wollte Hierarchien abbauen und ging normativ vor. Effizienz und Menschlichkeit waren die pos­ tulierten Ziele, die gleichzeitig realisiert werden sollten. Zwischen 1990 und 2000 kam die OE unter Druck, um die Anschlussfähigkeit an die Entwicklungen der Umwelt nicht zu vernachlässigen. Die Ökonomisierung dominierte das Gesche­ hen in Organisationen. Es war die Zeit der Marktorientierung, des Lean Management und der Prozessoptimierung. Das Kos­ tenmanagement dominierte auch die Veränderungsziele und –Verfahren. Ab 2005 waren die Veränderungsbemühungen auf System-Umwelt-Verknüpfungen gerichtet. Die sich verbrei­ tende Systemtheorie förderte diese Entwicklung. Das strategi­ sche Management, die Marktanpassung und Kundenorientie­ rung waren die Leitgrößen für Veränderungsziele und -not­ wendigkeiten. Hier zeichneten sich die Defizite der Organisa­ tionsentwicklung noch stärker ab, die auch durch den Mangel an Expertenwissen verursacht wurden. Es entwickelte sich pa­ rallel das Change Management.

Kontakt: trebesch@trebesch-asociados.de

Die Ziele der OE

Karsten Trebesch

Prof. Dr. Eckard Minx Partner von Mutius Engelke Minx & Partner - DIE DENKBANK - , Berlin und Potsdam Kontakt: estmx@gmx.de

OrganisationsEntwicklung Nr. 4 |2011

Die OE war normativ orientiert. Sie postulierte die Chance der Harmonie in Organisationen. Sie wollte die Welt (in den Organi­sationen) effizienter aber auch lebenswerter machen, wozu sie entsprechende Entwicklungsmaßnahmen vorschlug. Die OE be­deutete die Wiedereinführung der Kommunikation in die Unternehmen, wie es Edgar F. Schein so prägnant for­ muliert hat. Es ging nicht mehr allein um die top down-Kom­ munikation, sondern um eine emanzipatorische Beziehung zwischen den Sendern und Empfängern. Die OE sollte die bis dahin in den bü­rokratischen Strukturen nicht als notwendig betrachtete Kom­munikation revitalisieren, um die heute für die Komplexität und Flexibilität so notwendige Selbstentwick­ lung und teilauto­nome Reaktionsfähigkeit in den Systemen in Gang zu setzen. Es ging also nicht mehr um die stabile Erfüllung der not­ wendigen organisatorischen Anforderungen, wie sie damals

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verlangt wurden, sondern darum, die Organisation in einen Entwicklungszustand zu bringen und zu halten.

Was hat sich verändert? Die Welt – die organisationale Umwelt – hat sich seit den ers­ ten Realisierungen der OE sehr stark verändert. Auf diesen Wan­ del hat sich die OE aber nicht ausreichend eingestellt. Einmal hat das von Kurt Lewin postulierte Phasenmodell der Verän­ derung, was bis heute die OE prägt - «auftauen – verändern – einfrieren», – seine Relevanz und Gültigkeit verloren. Unter der Bedingung der Dynamik des Wechselspiels von Systemen und dem gesellschaftlichen Umfeld befinden wir uns in einem Zustand kontinuierlicher und permanenter Anpassung, bzw. Ver­änderung. Das Einfrieren findet nicht mehr statt, es gibt höchstens noch die für den Wandelprozess dramaturgisch wich­tigen Verschnauf- und Reflektions-Phasen. Dies ist nur ein Beleg dafür, dass die OE mit ihrem tradierten Ansatz, ihren Wer­ ten und Methoden nicht immer mit den Umfeldentwicklun­ gen Schritt halten konnte.

«Organisationsentwicklung war ein großer Hoffnungsträger für die Entwicklung von Unternehmen aller Art.» Die OE hat auch zu spät erkannt, dass die Organisation als funktionale Einflussgröße ein entscheidender Wettbewerbs­ faktor geworden ist. Kurz: Sie wird nicht ausreichend der Dy­ namik gerecht, die der Veränderungsdruck innerhalb der Sys­ teme und in der Beziehung zum Umfeld auslöst. Das hängt auch damit zusammen, dass die OE sich sehr schwer tut, die Komplexität sozialer Systeme zu erfassen und zu nutzen. Die OE müsste einen Beitrag zur Entwicklung einer innerorgani­ satorischen Komplexität leisten, die mindestens so hoch ist, wie die Umweltkomplexität, um sie verarbeiten zu können.

Die Spaltung in Organisationsentwicklung und Change Management OE war ein Hoffnungsträger für die Entwicklung von Unter­ nehmen aller Art. Sie war aber ideologisch basiert und hat da­ mit ihre Anpassungsfähigkeit, bzw. Veränderung zu geforderten Leistungen reduziert. Sie hat die Ideologie, bzw. ParadigmenKorrektur unterschätzt. Diese Schwäche hat zu der parallelen Entwicklung des so genannten Change Management geführt. Das Change Management ist nicht OE und schon gar keine Pro­ fession. Change Management ist das beste Beispiel für den Er­ wartungsdruck der Kunden an die Veränderungsfähigkeit von Organisationen. Das haben insbesondere die konventionellen Berater genutzt, um Change Management als neues Problem­ lösungsverfahren in ihr Angebot aufzunehmen. Während die

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OE das gesamte System als Kunden sieht, so bietet sich das Change Management insbesondere als Unterstützung für die Führungskräfte an. Ihnen wird durch selektiv ausgewählte In­ terventionen aus dem OE-Repertoire ein als nützliches Verfah­ ren ausgerufenes Werkzeug angeboten. Change Management ist auch deshalb von Managern eher zu verdauen, weil es nicht ideologisch besetzt ist und es verspricht die Durchsetzung ih­ rer Interessen, nämlich der schnellen und kontinuierlichen Ver­ änderung, ohne die Bedürfnisse und das Wissen der Mitarbei­ ter immer ausreichend zu berücksichtigen. Change Manage­ ment wird immer mehr – nomen est omen – zur Management­ technologie. Das Change Management erfüllt nicht wirklich die Anforderung, grundlegende Änderungen des gesamten Systems zu bewirken, zu ermöglichen oder gegen Widerstän­ de durchzusetzen. Die OE hat schließlich früh erkannt bzw. ih­ ren Sinn ja gerade daraus geschöpft, dass Veränderungen des Verhaltens und nicht nur der Strukturen Zeit brauchen.

Was würden wir tun? Wenn es mit dem neuen «wording» Change Management nicht getan ist, worum geht es dann? Aus unserer Sicht braucht es eine Steuerungs-Idee, nicht nur Management-tools. Eine Steuerungs-Idee der OE gab es in der ursprünglichen Vorstellung der OE: partizipativ Kooperationen und Kommu­ nikation optimieren, lautet unsere etwas holzschnittartige Be­ schreibung. Gerade auch durch die Entideologisierung ist diese Steuerungs-Idee mehr und mehr abhandengekommen. Wenn es aber gelänge diese Grundidee den neuen Bedingungen an­ zupassen, dann wäre eine Renaissance der OE zumindest kon­ zeptionell denkbar. Nun sagt bzw. schreibt sich das leicht. Ganz anders sieht es mit der Realisierung aus. Zumal sich die grund­ sätzliche Frage nach der Vereinbarkeit – wenn nicht sogar dem Fundamentalwiderspruch – von Effizienz und Menschlich­ keit, wie auch der von Effizienz und Produktivität bzw. Effizi­ enz und Kreativität stellt. Diese Frageliste ließe sich beliebig verlängern. Eine einfache Antwort haben wir nicht und wird es nicht geben, das zeigen alle aktuellen Debatten. Aber wäre nicht gerade dieser Tatbestand der Aufsatzpunkt für die Ent­ wicklung einer – neuen – Steuerungs-Idee? Wären wir noch Redakteure der ZOE, würden wir einen Wettbewerb darüber in gesteuerter Form ausschreiben, der sich vor allem an Wissen­ schaftler – auch international – und die vielen exzellenten OEBerater wendet, mit der Frage: was wäre eine nützliche OE im 21. Jahrhundert und wie müssten ihre tragenden Pfeiler aus­ sehen? Wir würden zudem zu sehr grundsätzlichen Überle­ gungen raten, also weit über den Tellerrand – oder sollte man besser Tool-Rand sagen? – hinaus zu denken. So ähnlich wie in dem Ernst Lubitsch Film «Ninotschka»: Dort bestellt in einer Szene ein Gast einen Kaffee ohne Sahne. Worauf die Bedie­ nung ihm antwortet: «Wir haben keine Sahne mehr, darf es ohne Milch sein?»

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Klaus Doppler | Die Zukunft des Change Management | Schwerpunkt

Change Management — Zwischenbilanz und Perspektiven Gedanken eines Mitbegründers

1. Was hat mich vor dreißig Jahren bewogen, mich mit Change Management — seinerzeit noch unter der Überschrift «Organisationsentwicklung» — intensiv zu beschäftigen?

Ich arbeitete als freiberuflicher Psychologe vor allem in Form von gruppendynamischen Trainings mit dem Fokus, Men­ schen dabei zu helfen, sich im Rahmen ihrer beruflichen Steu­ erungsaufgaben als Kooperationspartner oder in der Führung von Mitarbeitern und Projekten sozialkompetent(er) zu ver­ halten. Meine ursprünglichen Wurzeln waren einerseits mei­ ne früheren pädagogischen Erfahrungen, meine tiefenpsy­ chologische Fortbildung und vor allem meine gruppendyna­ mische Qualifizierung. Mein Fokus: der Einzelne im Kontext von Teams mit den vielfältigen Erwartungen aus dem Umfeld und seinem eigenen Anspruch, sowohl als Mitglied wie auch als Leiter. Übergreifende doppelte Zielsetzung: So steuern, dass ein Team einerseits effizient arbeitet und die Mitglieder dabei ihr Engagement voll entfalten können. Im Rahmen dieser Arbeit gewann ich zunehmend den Ein­ druck, dass ein generellerer Kontext als das direkte Arbeits­ umfeld und die persönliche Kompetenz das Verhalten von Menschen direkt oder indirekt, aber auf jeden Fall wirksam, mit beeinflusst. Vor diesem Hintergrund begann ich, mich mit dem Thema Organisationsentwicklung zu beschäftigen. Im Rahmen der seinerzeit gegründeten Fachgesellschaft GOE e.V. bezeichneten wir Organisationsentwicklung als ei­ nen längerfristig angelegten, organisations-umfassenden Entwicklungs- und Veränderungsprozess von Organisationen und der in ihnen tätigen Menschen.

Dr. Klaus Doppler selbständiger Trainer, Organisationsund Managementberater in der Privat­wirtschaft und in NonprofitBereichen, Mitbegründer der Zeitschrift Organisa­tionsEntwicklung Kontakt: doppler@doppler.de

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Die Kernelemente waren: • längerfristiger ganzheitlicher Ansatz, • Betroffene beteiligen, • schrittweises Vorgehen, • Hilfe zur Selbsthilfe. Die Zielsetzung war eine doppelte, nämlich Produktivität und Menschlichkeit, wie es Horst Becker und Ingo Langosch in ih­ rem gleichnamigen Buch (1987) formulierten.

2. Was ist in der Zwischenzeit passiert und was ist von den anfänglichen Prinzipien für meine Arbeit heute noch gültig, was hat sich verändert?

Immer schneller, immer höher, immer besser Seit geraumer Zeit ist es unübersehbar, dass alle Bereiche, ob Wirtschaft, Verwaltung oder Non-Profit-Organisationen, in im­ mer enger werdenden Märkten operieren und gnadenlos um begrenzte Ressourcen konkurrieren. • Produkte und Leistungen werden immer stärker bis zur In­ dividualisierung differenziert, aber gleichzeitig erfolgt hin­ ter der differenzierten Oberfläche eine größtmögliche Stan­dardisierung, so dass immer mehr Produkte im Endeffekt mit ihren Wettbewerbsprodukten austauschbar werden. • Produktlebenszyklen werden immer kürzer, mit der Folge, forcierter Druck auf immer schnellere Neuerungen. • Veränderungen in den Rahmenbedingungen laufen nicht (mehr) in klar voneinander abgrenzbaren, aufeinander fol­ genden Wellen, sondern überschneiden sich gegenseitig. Zie­­le und Prämissen ändern sich zum Teil mitten im Han­ deln.

«Organisationsentwicklung definierte sich als ein längerfristig angelegter, organisations-umfassender Entwicklungsund Veränderungsprozess von Organisationen und der in ihnen tätigen Menschen.» • Der schnelle Wandel und die Vielzahl scheinbar unter­ schiedlicher Angebote führen zu einer steigenden Unüber­ sichtlichkeit und Unverbindlichkeit auf Seiten der Kunden. Der Kunde oder Klient ist sozusagen prinzipiell immer neu verführbar und lässt sich kaum noch längerfristig binden – weder an Marken, noch an Unternehmen. • Die Kommunikationstechnologien setzen den Kunden in die Lage, sich in Echtzeit volle Transparenz über Produkte, Leis­ tungen, Preise und sonstige Konditionen zu verschaffen.

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• Die verwirrende und unübersichtliche Vielfalt von Produk­ ten, Leistungen und Informationen führt zu einem steigen­ den Bedürfnis nach Ordnung und Klarheit beim potenziellen Interessenten. Die zahlreichen Kommunikationsangebote von Seiten der Hersteller sind aber in Wahrheit verdeckte Verführungen bzw. offenkundige Manipulationen. • Die Halbwertszeit von Unternehmen und Unternehmenslei­ tern hat sich insgesamt drastisch verringert. Mitarbeiter und solche, die es werden wollen, kämpfen um Arbeitsplätze und um den Erhalt der bis dato errungenen Arbeitsbedin­ gungen. Dieser Kampf läuft international und ist nicht auf einzelne Branchen oder Regionen begrenzbar. Flurbereinigung, oder: Rette sich, wer kann — wer untergeht, wird nicht vermisst • Viele bleiben auf der Strecke, weil sie das Tempo nicht mit­ gehen wollen oder auch nicht können. • Wer im Spiel bleiben will, ist nolens volens auf der Hut und unterzieht seine Produkte, Prozesse und Strukturen regel­ mäßig einer grundsätzlichen Überprüfung. • Die Anzahl der leistungsgeminderten Unternehmen und Per­ sonen, die aus dem von der Ökonomie dominierten Kreis­ lauf ausscheiden, nimmt zu und wird ein wachsendes ge­ sellschaftliches Problem. Weder die Renten-, noch andere

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Vorsorge-, Sozial- und Gesundheitssysteme sind in ihrer heu­ tigen Form in der Lage, diesen Herausforderungen gerecht zu werden. • Das Spiel läuft Nationen übergreifend, aber ohne das über­ greifende Steuerungssysteme, wie zum Beispiel wirksame internationale Gewerkschaften, zur Verfügung ständen. Change Management — die reaktionäre Variante Diejenigen, denen der ganzheitliche Ansatz der Organisations­ entwicklung mit der damit untrennbar verbundenen psycho­ logischen und gruppendynamischen Dimension immer sus­ pekt war, nehmen die unverkennbar härteren Rahmenbedin­ gungen als Legitimation, um auf die ursprünglichen techno­ kratischen Ansätze zurückzugreifen – immer in zeitgemäßem Management-Jargon als «Change Management» etikettiert. In diesem reaktionären Ansatz werden die Akzente im Wesent­ lichen (wieder) auf folgende Aspekte gesetzt: • Veränderungen von oben (durch den Vorstand) und/oder von außen (durch Berater) im wahrsten Sinne des Wortes «durchdrücken»; • sich isoliert auf eine einzige Dimension fokussieren – na­tür­­ lich auf diejenigen, die man beherrscht, z.B. betriebswirt­ schaftliche Kennzahlen, Strategie, Strukturen, Geschäfts­pro­ zesse, Produkte oder Technologie, Shareholder-Value ohne

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Klaus Doppler | Die Zukunft des Change Management | Schwerpunkt

Berücksichtigung der komplexen Vernetzungen im Ge­ samtsystem; • um nach außen zumindest den Anschein einer angemesse­ nen Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der betroffenen Mitarbeiter zu wahren, Nutzung isolierter ge­ brauchsfertiger Instrumente z.B.: Leitbildentwicklung, Mit­ arbeiterbefragung, Zielvereinbarung, Balanced Scorecard, Akzeptanzanalyse, «Abmelkworkshops». Change Management auf der Basis der Organisationsentwicklung Ich selbst bin nach wie vor von der Grundphilosophie der Or­ ganisationsentwicklung überzeugt. Die eingangs zitierten vier Prinzipien aus der klassischen Organisationsentwicklung bil­ den deshalb auch nach wie vor das Fundament für mein Ver­ ständnis von Führung und Steuerung von Veränderungspro­ jekten. Aufgrund der Rahmenbedingungen habe ich allerdings ge­ lernt, darüber hinaus in meinem Vorgehen folgende Aspekte stärker zu akzentuieren: • Erstens, viel stärker als bisher das Umfeld von Markt, Politik und Gesellschaft berücksichtigen, das die Chancen und Ri­ siken jedes bestehenden Systems maßgeblich mitbestimmt, sei es ein Unternehmen, eine Institution oder auch ein ein­ zelnes Individuum; • zweitens, die bisher a priori längerfristig und teilweise eher unspezifisch angelegten offenen Entwicklungsprozesse in gezielte Veränderungsprozesse umwandeln und in über­ schaubaren, klar strukturierten Projekten organisieren; • drittens, den Veränderungsprozess nicht nur am spezifi­ schen Vorgehen messen (Motto: «Der Weg ist das Ziel»), son­ dern das Vorgehen konsequent auf angepeilte, konkret wahr­ nehmbare Ergebnisse ausrichten; • viertens, die Betroffenen von vorneherein darauf ein­stim­ men, dass Entwicklungs- und Veränderungsprozesse nicht im­ mer lustvolle Entdeckungsreisen, sondern auch mit Schmer­ ­zen, Zumutungen, Unsicherheit und Angst verbunden sind; • fünftens, das vertraute Prinzip «Hilfe zur Selbsthilfe» ergän­ zen durch das «Prinzip Selbstverantwortung».

3. Worauf stelle ich mich für die Zukunft ein?

Ich erwarte folgende prekäre Entwicklungen: • Es wird zunehmend isolierte Gruppierungen geben von schamlosen Erfolgsgewinnern einerseits, von Mitarbeitern, die immer mehr an den Rand gedrängt werden, die kaputt gehen oder aussteigen andererseits und von Menschen, die überhaupt keine Chance haben, in den Arbeitsprozess ein­ zusteigen.

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• Die neuen Sozialen Medien werden genutzt werden, um sich ohne hierarchische Steuerung und Kontrolle in Eigen­ regie auszutauschen und nach dem Motto «Indignez Vous!» zu organisieren. Mögliche Folge: Radikale unstrukturierte Revolutionen von unten von Seiten der Jungen, aber später eventuell auch von Seiten der Älteren, die zu früh an den Rand geschoben werden. • Die Globalisierung wird zum Sprengstoff: Die Schwellen­ länder werden zunehmend die Regie über alte Marken und Unternehmen der ersten Welt übernehmen. Die Jungen in den so genannten Entwicklungsländern werden Wege fin­ den, aus ihren Ländergrenzen auszubrechen und in andere Länder und Arbeitsmärkte einzudringen. • Alle werden lernen müssen, sich in einem dauerhaften Aus­ nahmezustand entsprechend offen und flexibel zu verhal­ ten, sowie auf Überraschungen gefasst zu sein – entgegen dem natürlichen psycho-logischen Grundbedürfnis nach Klarheit, Ordnung und Sicherheit. • In dieser Welt voller Ungereimtheiten, Widersprüchen und chaotischen Entwicklungen wird die zunehmende Ratlo­ sigkeit von Politikern und Unternehmenslenkern mehr und mehr sichtbar und die Sehnsucht nach rettenden Hel­ den spürbar.

«Ein dauerhafter Ausnahmeszustand fordert flexibles und offenes Verhalten.» Vor diesem Hintergrund bedeutet Organisationsentwicklung oder Change Management sowohl in der Rolle von Führung als auch Beratung: • alles Handeln auf diesem größeren gesellschaftlichen Hin­ tergrund bewerten und planen; • in unterschiedlichen Logiken denken und fähig sein, ver­ schiedene Lebenswelten, Kulturen und Denkansätze zu in­ tegrieren, um auf dieser Basis die Rolle als Katalysator, Über­ mittler, Übersetzer, Transformator, Adapter einzunehmen und durch Perspektivenwechsel versuchen, Einsicht zu be­ wirken, Unterschiede deutlich zu machen, um übergreifen­ des Handeln zu ermöglichen; • damit rechnen, dass grundsätzlich immer auch die Möglich­ keit des Scheiterns besteht. … und trotz allem mit einem gehörigen Maß an Engagement, einer Spezialmischung aus Leidenschaft, Gelassenheit und innerer Heiterkeit unterwegs zu sein, ohne von vorneher­ ein zu wissen, wo der Weg endet – außer dass es gelingen muss, vielfältige zum Teil gegenläufige Interessen mitein­ ander zu verbinden.

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Wendepunkte Die Ereignisse des Frühjahres 2011 und was sie uns lehren Das Jahr 2011 ist nicht nur ein Jubeljahr für die vorliegende Zeitschrift. 2011 wird in die Geschichte eingehen als Startpunkt von drei weltpolitisch bedeutsamen Entwicklungen: den Re­ formbewegungen in der arabischen Welt; der Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, in innerpolitische Konflikte ein­zugreifen, wenn es darum geht, die Zivilbevölkerung eines Landes vor blutigen Übergriffen durch einen herrschenden Clan zu schützen; der nach Fukushima sich abzeichnenden Wende in der weltweiten Energiepolitik.

«Drei weltpolitische Ereignisse positionieren das Jahr 2011 auf besondere Weise in der Historie.» Umbruch im arabischen Raum Es begann mit der Selbstverbrennung eines tunesischen Gemü­ sehändlers. Mohammed Bouazizi war ein völlig unpolitischer Mann, aber verzweifelt, weil korrupte Beamte und Sicherheits­ kräfte ihn soweit ausgebeutet hatten, dass er keine Möglichkeit mehr sah, seine Familie zu ernähren. Der spektakuläre Tod dieses einen Mannes löste in Tunesien einen Proteststurm aus. Der korrupte Staatschef, Zine el-Abidine Ben Ali, versuchte, die Armee auf die Bevölkerung zu hetzen. Doch das Militär wei­ gerte sich, auf die eigenen Bürger zu schießen. Und ehe man es sich versah, musste der Despot sich mit seiner Familie nach Saudi-Arabien absetzen. In einer medial hoch vernetzten Welt wirkte dieser Umsturz wie ein Fanal. Zuerst im an­grenzenden Ägypten, dann in Libyen, im Jemen und schliesslich in Syrien kam es zu offenen Protestbewegungen, die zwar mit Gewalt be­ kämpft wurden, aber letztlich nicht abgewürgt werden konnten.

Christoph Lauterburg Freiberuflicher Berater für Organisationsentwicklung und Change Management Kontakt: csl@lauterburg.biz

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Im Gegenteil: der blutige Krieg der Despoten gegen die eigene Bevölkerung erzeugte nur noch mehr Wut und Empörung. Die Konflikte eskalierten. Der Schmetterlings­effekt lässt grüßen. Diese Vorgänge haben eine ganze Reihe neuer, teilweise über­ raschender Erkenntnisse gezeitigt. Da ist einmal das Ausmaß der Dekadenz und der Korruptheit von Diktatoren, die bis vor kurzem noch international geachtete und auch von EU-Mit­ gliedsländern gehätschelte Staatsoberhäupter waren. Da ist, zweitens, die Skrupellosigkeit und die Brutalität autoritärer Re­ gimes, die nicht davor zurückschrecken, unter friedlichen De­ monstranten Massaker zu veranstalten. Wir staunen, drittens, über die astronomischen Summen, um welche die Despoten und ihre Clans das eigene Land und seine teilweise in bitterer Armut lebenden Bürger betrogen haben. Da geht es um hohe zweistellige Milliardenbeträge. Alsdann eine besonders inter­ essante Überraschung: die beeindruckende, latente Energie vor allem der jungen Generation, für Freiheit und Gerechtig­ keit – nicht etwa, wie vielfach befürchtet, für islamistische Zie­ le – auf die Straße zu gehen, und sogar Risiken für Leib und Leben auf sich zu nehmen. Das hätten nicht nur die herr­ schenden Clans, sondern auch wir im Westen so nicht erwar­ tet. Und schließlich: die unglaubliche, bisher nicht für mög­ lich gehaltene, spontane Organisationsfähigkeit einer Zivilbe­ völkerung. In Ägypten haben junge Leute die Initiative ergriffen und prak­tisch aus dem Nichts heraus eine perfekte Organisation auf die Beine gestellt. Auf dem Tahrir-Platz in Kairo gab es wo­ chenlang einen Ordnungs- und Sicherheitsdienst, Wasserver­ sorgung, Toi­letten, Zelte – und ein bestens funktionierendes Informationssystem sowohl nach innen als auch ins Ausland. Möglich ge­macht haben dies das Mobilfunknetz und das In­ ternet, vorab die beiden Internet-Portale Facebook und Twit­ ter. Dies sind schlechte Nachrichten für Diktatoren. Sie haben in Zukunft nur noch die Wahl, entweder durch Blockade des Mobilfunknetzes sowie des Internets die gesamte Wirtschaft und die Verwaltung lahm zu legen – oder damit zu leben, dass die Menschen in zunehmendem Maße informiert, vernetzt und in der Lage sind, sich zu organisieren. Und dass eine breite Weltöffentlichkeit in Echtzeit erfährt, was für Verbrechen sie begehen. Die neue Fähigkeit zu spontaner Organisation zeigt sich übrigens nicht nur in totalitären Staaten. Wo immer sich ein genügendes Potenzial an Unzufriedenheit zusammengebraut hat, kann es von einem Tag auf den anderen zu einer erstaun­ lich gut koordinierten Protestbewegung kommen. So gesche­ hen in urbanen Zentren quer durch Europa. Es zeigt sich allerdings auch etwas, das wir aus der Organi­ sationsentwicklung bestens kennen: Die Voraussetzungen für erfolgreiche Veränderungsprozesse können von Fall zu Fall höchst unterschiedlich sein. Bei den Reformbewegungen in den arabischen Ländern hängt der Verlauf der Rebellionen vor

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Christoph Lauterburg | Die Zukunft des Change Management | Schwerpunkt

allem von drei Faktoren ab. Erstens, vom Leidensdruck der Zi­ vilbevölkerung. Zweitens, vom Bildungsstand vor allem der Jugend. Drittens aber, ganz entscheidend, von der Bereit­ schaft des Militärs, seine Waffen gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen.

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schlicht die Ressourcen. Ausserdem setzen derartige Aktionen ein Mindestmaß an internationaler Abstimmung voraus. Die Vorgänge um Libyen haben gezeigt, wie schwer es im Einzel­ fall sein kann, rechtzeitig einen Konsens zu erzielen. Keiner hat uns dies so einprägsam vor Augen geführt wie der deutsche Außenminister.

Interventionen der internationalen Gemeinschaft Dies ist das zweite bemerkenswerte Novum. Seine Bedeutung für die Zukunft kann gar nicht hoch genug eingeschätzt wer­ den. Da wird von außen massiver politischer Druck ausgeübt. Es werden Sanktionen verhängt. Und in den Fällen von Libyen und Elfenbeinküste wurde gar von außen militärisch einge­ griffen, um zu verhindern, dass ein demokratisch nicht legiti­ mierter Herrscher, der, um seine Macht zu erhalten, einen Bürgerkrieg vom Zaun gebrochen hatte, in der eigenen Bevöl­ kerung ein Blutbad anrichten kann. Militärische Interventionen von aussen hat es schon im­ mer gegeben: von den Kreuzzügen bis zum Vietnamkrieg, von der Unterwerfung der halben Welt durch die Römer bis zu den Gräueln der spanischen Konquistadoren beim Genozid an den Azteken und Inkas, von der blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes in Ungarn durch sowjetische Panzer bis hin zu hinterhältigen, verdeckten Operationen der CIA, um übelste Despoten, etwa Pinochet in Chile, in den Sattel zu hieven. Aber da ging es immer um unmittelbare Eigeninteressen. Wenn dagegen im Rahmen von Bürgerkriegen Völkermorde began­ gen wurden – von den Türken an den Armeniern, von den Na­ zis an den europäischen Juden, von Stalin und Mao Zedong an vielen Millionen Bürgern des eigenen Landes, von Pol Pot gar an einem Viertel der gesamten kambodjanischen Bevölke­ rung – dann haben sich alle in vornehmer Abstinenz geübt und hinter dem Prinzip der Nichteinmischung in innerpoliti­ sche Angelegenheiten eines so genannt souveränen Staates verschanzt. Aber nun gibt es Präzedenzfälle externer Intervention zum Schutz der Bevölkerung. Es wird zwar noch manchen blutigen Übergriff eines autoritären Regimes auf die Zivilbevölkerung geben. Aber ab sofort kann kein selbsternannter Staatschef, der sein Volk ausplündert und Proteste durch brachiale Ge­ walt zu ersticken versucht, ganz sicher sein, dass er sein blu­ tiges Handwerk völlig ungehindert zu Ende führen kann. Und humanitäre Katastrophen wie der Genozid von 1994 an der Tutsi-Minderheit in Rwanda oder, ein Jahr später, das Massa­ ker von Tausenden bosnischer Muslime durch das serbische Militär – beide, nota bene, unter den Augen der vor Ort anwe­ senden UNO-Truppen – wird es in Zukunft mutmaßlich nicht mehr geben. Wunder sind allerdings nicht zu erwarten. So wünschens­ wert es wäre, dass alle blutrünstigen Despoten in die Schran­ ken verwiesen werden – die internationale Gemeinschaft kann nicht überall eingreifen, wo Unrecht geschieht. Dafür fehlen

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Fukushima Vulkanausbrüche, Erdbeben und Meteoriteneinschläge gehö­ ren in den Bereich der so genannten «höheren Gewalt». Alle anderen Katastrophen sind von Menschen gemacht: die Ab­ holzung der Regenwälder, die Überfischung der Weltmeere, der rasante Klimawandel, und, in dessen Folge, die Häufung von Bergstürzen, Waldbränden, Wirbelstürmen und Überschwem­ mungen. Vor allem aber sämtliche Industriekatastrophen – darunter, besonders eklatant, die drei Katastrophen, welche in jüngster Zeit die Welt erschüttert haben: der Zusammen­ bruch von Lehman Brothers, die Explosion der BP-Bohrinsel Deepwater Horizon im Golf von Mexico sowie die Kern­ schmelze in mehreren Reaktoren des japanischen Atomkraft­ werkes von Tepco in Fukushima. In allen drei Fällen hat das Management bewusst wichtige Sicherheitsmaßnahmen unterlassen. In allen drei Fällen hat es lange im Voraus Warnungen gegeben. In allen drei Fällen sind die Warner mundtot gemacht, unsaubere Praktiken vertuscht, die Medien durch Täuschungen hinters Licht geführt worden. Im Falle von Fukushima ist besonders dreist gelogen, betro­ gen, gefälscht und unterschlagen worden. Und: Ein Mixtum Compositum von Inkompetenz sowie fataler Verbandelung wirt­ schaftlicher und politischer Interessen hat sämtliche staat­li­ chen Kontrollen ausgehebelt.

«Immer mehr Menschen wollen in ihren Ländern veränderte politische und gesellschaftliche Spielregeln.» Und nun ist, vorab in Deutschland, plötzlich alles anders. Die Grünen feiern Urständ. Die schwarz-gelbe Koalition macht die Laufzeitenverlängerung für Atomkraftwerke, eben erst ver­ kündet, rückgängig und peitscht unter dem Titel «Atomkon­ sens» Gesetze durch Bundestag und Bundesrat, die einen flott getakteten Atomausstieg möglich machen. Anderswo wird die Suppe zwar nicht ganz so heiß gegessen. Aber in vielen Län­ dern wollen immer mehr Menschen eine neue Marschrich­ tung und einen Fahrplan sehen. Noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar: In Japan gehen Tausende auf die Straße und verlangen, erstens, den Rücktritt der Regierung und, zwei­tens, den Atomausstieg. Es sind zwar erst ein paar Tausend. Aber es ist der Beginn einer Wende – in dem Land, das sich weltweit

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Erfahrung | Schwerpunkt | Die Zukunft des Change Management | Christoph Lauterburg

am extremsten und am kritiklosesten auf Atomenergie ausge­ richtet hatte. Es geht hier nicht darum, für oder gegen einen Verzicht auf Atomkraft zu argumentieren. Es geht darum, hinter Fassaden zu blicken und Mechanismen aufzuspüren, die, wenn man sie nicht rechtzeitig erkennt, in die Katastrophe führen können.

«Massen von Menschen, manchmal ganze Staaten, hängen vom Handeln privatwirtschaftlicher Führungsriegen ab.» Systemrelevanz Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass wir in den we­ stlichen Industrieländern zwar in demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen leben, dass die einzelnen Un­ ternehmen aber strikt hierarchisch aufgebaut und letztlich zentralen Machtverhältnissen unterworfen sind. Auch hier ist offene Kritik an der Leitung oft weitgehend tabuisiert. Auch in der Wirt­schaft dringen wichtige Informationen über Schwach­ stel­len in der Organisation oder potenzielle Gefahren im Um­ feld nicht immer bis zur obersten Heeresleitung durch. Trotz

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Gewerkschaften, Betriebsverfassungsgesetz und freier Presse: Es gibt immer wieder Fälle gigantischer, strategischer Fehlpla­ nungen sowie von Firmenzusammenbrüchen aufgrund eines fatalen Informationsdefizites an der Spitze. Manager sind auch nur Menschen – und damit grundsätz­ lich fehlbar. Wenn nun aber ein Unternehmen als Folge der Globalisierung zu überdimensionaler Größe anwächst, ist be­ sondere Gefahr im Verzug. Massen von Menschen, manchmal ganze Staaten, hängen vom Handeln privatwirtschaftlicher Führungsriegen ab, die in erster Linie die Kapitalrendite für ihre Anteilseigner sowie prächtige Einkommen für sich selbst auf dem Radar haben – und die angesichts tief gestaffelter Hier­ archien viel zu weit weg sind von den Niederungen operativer Prozesse, als dass sie immer in der Lage wären, Großrisiken realistisch einzuschätzen. Es ist nicht böser Wille, wenn es zur Katastrophe kommt. Es ist die Fahrlässigkeit von Hasardeuren. Es gilt das Motto, das Jesus Christus zugeschrieben wird: Ver­ gib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.

Lernpunkte Die Mechanismen hierarchischer Organisation bleiben sich grund­sätzlich gleich, ob im staatlichen Bereich oder in der Wirt­

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Christoph Lauterburg | Die Zukunft des Change Management | Schwerpunkt

schaft. Erst aufwendige Studien bringen manchmal ans Tages­ licht, wie es um das Klima in einer Belegschaft bestellt ist- und warum. Trotz ausgeklügelter Reporting-Systeme: Im Tagesge­ schäft wird die Information auf dem Weg von unten nach oben oft bis zur Unkenntlichkeit verzerrt und verdünnt. Hauptgrund: Offene Kritik unterbleibt aus Angst vor Sanktionen. Des­halb – und nur deshalb – gibt es «Whistleblowers». Je länger die Ursachen der Unzufriedenheit nicht beseitigt werden, je größer der emotionale Stau an der Basis und das Informationsdefizit an der Spitze, desto gefährlicher wird es für die Zukunft des Unternehmens. Denn Produktivität und Effektivität sind zentrale Erfolgsfaktoren. Und schließlich: In der Belegschaft schlummern fast immer ungeahnte Energie­ potenziale, die aktiviert werden können, wenn die Mitarbei­ tenden bei der Planung und Umsetzung von Veränderungs­ prozessen aktiv mitwirken. Die zentralen Motivatoren: Aus­ sicht auf Veränderung – und die Möglichkeit, selbst etwas da­ zu beizutragen. Manch ein Management täte gut daran, sich diese Zusammenhänge bewusst zu machen. Vor allem aber: Staatliche Kontrollinstanzen müssen in Sachen Know-how, Ressourcen und Unabhängigkeit so ausgestattet werden, dass sie in der Lage sind, ihre Aufgabe zu erfüllen. Und: Die Spitzen der Politik müssen selbst unabhängig genug sein, um auf sie zu hören. Dabei geht es nicht nur um punktuelle Störfallprophylaxe. Wenn europäische Großkonzerne wie BP, Shell oder Total in Nigeria oder Aserbaidschan mit Billigung korrupter Regierungen permanent schändlichste Umweltzer­ störungen mit weltweiten Auswirkungen anrichten, dann muss dem in Europa Einhalt geboten werden – dort, wo diese Firmen sitzen und ihre Steuern zahlen. Sonst machen wir, die westli­ chen Industriestaaten, uns der skrupellosen Ausbeutung un­ terentwickelter Länder schuldig. Globalisierte Geschäftstätig­ keiten erfordern dringend globalisierte Kontrollen. Hier steht die Politik vor gewaltigen Hausaufgaben.

Turbulenzen In der Organisationsentwicklung und im Change Manage­ ment gibt es eine weitere, ebenfalls allgemeingültige Erkennt­ nis: Veränderungsprozesse verlaufen unsauber. Der Weg von einem Organisationszustand in einen anderen ist gepflastert mit Widerständen, Konflikten, Rückschlägen, Unsicherheit und Zwei­feln. Dem so genannten «arabischen Frühling» oder dem Umstieg auf erneuerbare Energien wird es nicht anders ergehen. Zum Zeitpunkt, da dieser Beitrag geschrieben wird, befin­ den sich die Reformprozesse in Tunesien und Ägypten nach wie vor in einer schwierigen Phase. Ben Ali und seine Frau sind inzwischen wegen illegaler Aneignung von Staatsvermögen in Abwesenheit zu je 35 Jahren Haft verurteilt worden. Die Pro­ zesse wegen Folter und Mord stehen noch aus. Husni Muba­ rak und seine Söhne sind wegen vielfachen Mordes angeklagt.

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| Erfahrung

Hier droht die Todesstrafe. Gaddafi ist immer noch im Amt, wenn auch irreparabel geschwächt, per Haftbefehl des Inter­ nationalen Strafgerichtshofes gesucht und weltweit geächtet. Im Jemen droht ein Stammeskrieg. In Syrien versucht Baschar al-Assad weiterhin, sich mit Gewalt an der Macht zu halten. Mit Panzern, Scharfschützen und Kanonenbooten führt er ei­ nen blutigen Krieg gegen die Zivilbevölkerung. Zweitausend Menschen hat er schon umgebracht, viele sind nach Razzien der Geheimdienste spurlos verschwunden, Tausende sind auf der Flucht. Der Druck von außen, mittlerweile auch aus dem arabischen Raum, nimmt zu. Das Regime hat jede Legitimati­ on verloren und ist politisch isoliert. Es gibt eine ganze Reihe scheinbar uneinnehmbarer Basti­ onen der Diktatur: Algerien etwa, Aserbaidschan, Burma, Eri­ trea, Iran, Nordkorea, Saudi-Arabien, Weissrussland oder Zim­ babwe – um nur die prominentesten zu nennen. Auch Schwer­ gewichte wie China oder Russland sind nicht gerade Muster­ beispiele demokratischer Rechtsstaatlichkeit. Aber unter den herrschenden Eliten hat sich Nervosität breit gemacht. Man ver­ sucht, die Bevölkerung durch Versprechungen ruhig zu stel­ len. Man optimiert vorsorglich das Sicherheitsdispositiv. Doch auf lange Sicht haben sie alle nur zwei Optionen. Der Weg schrittweiser Reformen ist die eine; offene Rebellion – früher oder später – die andere. Satelliten-Fernsehen, Mobilfunk und Internet lassen sich nicht einfach ausknipsen.

«In der Organisationsentwicklung und im Change Management gibt es eine weitere, ebenfalls allgemeingültige Erkenntnis: Veränderungsprozesse verlaufen unsauber. Der Weg von einem Organisationszustand in einen anderen ist gepflastert mit Widerständen, Konflikten, Rückschlägen, Unsicherheit und Zweifeln.» Ausblick Man kann folgendes Fazit ziehen: Der Reformprozess in der arabischen Welt ist in die Fläche gegangen. Der «point of no return» ist überschritten. Der nächste Meilenstein ist das En­ de der Herrschaft von Gaddafi. Aber es wird lange dauern und noch viele Opfer fordern, bis in so vielen Ländern stabile Ver­ hältnisse herrschen – und Strukturen, die sich in kleinen Schritten dem annähern mögen, was wir in Westeuropa unter Demokratie verstehen. Zwischen brutaler, totalitärer Repres­ sion und parlamentarischer Demokratie westlicher Prägung gibt es viele mögliche Formen staatlicher Organisation. Kein Grund zum Jubeln also. Aber Grund zur Hoffnung al­ lemal.

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Reflexion | Schwerpunkt | Transdisziplinär und atmend — Ausblicke auf das Change-Geschäft von morgen | Bernd Kessel

Transdisziplinär und atmend — Ausblicke auf das Change-Geschäft von morgen Wir befinden uns derzeit in Bezug auf die Konzeptbildungen zum Thema «Change-Management» in einem faszinierenden und tiefgreifenden Wandlungs- und Übergangsprozess. Altes wird zu Recht in Frage gestellt. Neues ist erst dabei, sich langsam zu kristallisieren. Fünf Thesen zu möglichen Trends und Tendenzen.

These eins Dass Consultingmandate mitunter so kritisch verlaufen, hat in diesen Fällen mit mangelnder Professionalität und einer aufscheinenden Krise der Geschäftsmodelle zu tun und nicht mit der grundsätzlichen Stimmigkeit von Fachberatungsansät­ zen. Es ist das Verdienst der großen Consultingkonzepte, dass sie schon frühzeitig erkannt haben, dass Organisationen nicht allein durch individuelle Einsichtsprozesse der am System Be­ teiligten, sondern auch durch Eingriffe in die Steuerungs- und Regelsysteme verändert werden. Dieses wird Bestand haben.

«Wie können Consultants hier mehr Kompetenz und Professionalität entwickeln, ohne gleichzeitig die Eckpfeiler ihres Geschäftsmodells komplett auszuhebeln?» Um zukunftsfähig zu bleiben, werden sich die klassischen Con­ sultingansätze mit drei zentralen Herausforderungen beschäf­ tigen müssen: • Herausforderung 1: Die Geschäftsmodelle (zumindest der großen Consultants) erzwingen zunehmend, dass die Bera­ ter in Taktung und Auftragsvolumina mitunter wie schwere Baumaschinen in ihre Mandantensysteme einbrechen. Die­ ses Phänomen trägt Züge einer klassischen Erfolgskrise. Die Frage bleibt: Wie stellen Consultants in Zukunft sicher, dass sie sich wieder angemessen customized und flexibel mit ih­ ren Mandanten koppeln können?

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• Herausforderung 2: Seitdem die klassischen Consulting­ hebel nicht mehr allein im mittleren Management ange­ setzt werden, sondern vermehrt auch im Topmanagement, erlebe ich zunehmend, dass Topmanager nicht mehr bereit sind, die unterschwelligen Beschämungs- und Kränkungs­ prozesse, die mit harter Fachberatung oft einhergehen (un­ professioneller Umgang mit dem Aufdecken von unbewuss­ ten Inkompetenzen des Mandantensystems), zu dulden. Kränkungsprozesse im mittleren Management hat das be­ auftragende Topmanagement (jenseits des Umstandes, dass diese Phänomene im Management meist tabuisiert sind) noch billigend in Kauf genommen. Die Fragen sind daher: Wie können Consultants hier mehr Kompetenz und Profes­ sionalität entwickeln, ohne gleichzeitig die Eckpfeiler ihres Geschäftsmodells auszuhebeln? Wie könnten sich Consul­ tingansätze weiterentwickeln und respektvoller an die Ei­gen­­ intelligenz ihrer Mandantensysteme ankoppeln? • Herausforderung 3: Bei weiterhin zunehmendem Erfolg – den ich hier unterstelle, stellt sich die Frage, wie Consultants eine angemessene und durchgehend hohe Professionalität ihres Personals gewährleisten könnnen.

These zwei Wo immer sie sich das zutrauen, werden einige Eliten aus dem Bereich der großen Consultants eigene, kleinteilige und ex­klu­ si­ve Consulting-Boutiquen gründen – nicht zuletzt, um die struk­­turellen Restriktionen der großen Consultingorga­ni­sa­tio­ nen hinter sich zu lassen. Dieser Trend hat meiner Beob­ach­ tung nach bereits eingesetzt und es wird äußerst interessant

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Bernd Kessel | Transdisziplinär und atmend — Ausblicke auf das Change-Geschäft von morgen | Schwerpunkt

sein, ihn weiter zu beobachten. Ich gehe davon aus, dass diese Berater in ihren relevanten Märkten auf großes Interesse sto­ ßen werden. Vor allem aber gehe ich davon aus, dass Mandan­ tenseits hier eine zusätzliche systemische Kompetenz erwar­ tet wird und diese Berater Interesse und auch Know How ent­ wickeln werden, sich in ihren Mandaten mit anderen (syste­ mischen) Beratungsansätzen strategisch zu koppeln.

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dieser Change-Agenturen wird sein, transdisziplinäre Wissensund Lernprozesse im Topmanagement zu initiieren und zu be­ gleiten, die eine hohe Hebelwirkung auf die Wertsteigerung des Unternehmens haben. Diese Beratung wird einen hochgradig iterativ-investigativen Charakter im engen Schulterschluss mit den Mandanten haben. Anders als im Modell der Komple­ mentärberatung sehe ich hier eher ein Agieren in losen Kopp­ lungen mit anderen, exklusiven strategischen Partnern.

These drei Das Thema «Change-Management» wird zunehmend und ra­ dikal eine der Kernaufgaben des Managements in den Unter­ nehmen selbst werden. Unternehmen werden lernen müssen, dass die Wirkhebel auf erforderliche Änderungen im Unter­ nehmen durch das eigene Management ungleich höher aus­ fallen als durch Externe. Dieser Trend wird einen Selektionsund Segmentierungsdruck auf die klassische Organisations­ entwicklung ausüben. Vermutlich werden wir hier eine Seg­ mentierung in ein Niedrig- und Hochpreissegment erleben. Im Portfolio des Niedrigpreissegments werden wir zunächst wahrscheinlich weiterhin Umsetzungsangebote im mittleren Management wie etwa die Begleitung und Moderation von Umsetzungsworkshops sehen. Im Hochpreissegment werden neue, transdisziplinäre Beratungsansätze entstehen, die sich in ihrem Mehrwertversprechen nicht mehr an Tagessätzen, son­ dern an ihrer Hebelwirkung auf die Wertsteigerungsprozesse im Mandantensystem messen werden.

These vier Der klassischen Organisationsentwicklung war neben einem zunächst grandiosen Erfolg auch ein Scheitern in die Wiege gelegt. Historisch betrachtet, beruhte die Konzeptbildung die­ ser Ansätze – in Ermangelung einer damaligen, bestehenden Theoriebildung – u.a. sehr stark auf den großen, klassischen psy­chologischen Schulen. Die Theorie- und Methodenkonst­ ruktionen dieser Schulen fußten tendenziell auf personalen Deutungsgebungen innerhalb der Mandate. Dies hatte durch­ schlagende Erfolge in den so genannten Berufungs-Berufen (Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer...) innerhalb der sozialen Anwendungsfelder. Hier waren inhaltliche Fragestellung und Anliegen der Mandanten mit den Konzeptualisierungen und angewandten Methoden des Beratungssystems äquivalent. In der Beratung von Organisationen trifft dies nicht zu. Die Bera­ tung von Organisationen beinhaltet Inhalts- und Wissensas­ pekte (Strategie, Organisation, Systeme), die weder personal noch psychologisch deutbar sind und einer separaten Betrach­ tung bedürfen – die Beratung des kollektiven Akteurs. Zukunfts­ fähige Change-Management-Beratung im Hochpreissegment wird – in Anlehnung an eine Metapher aus dem Architekten­ bereich – durch transdisziplinäre Leitagenturen repräsentiert werden. Ähnlich der Entwicklungen im Consultingbereich wer­ den dies exklusive Boutiquen sein. Das Mehrwertversprechen

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«Zukunftsfähige Change-ManagementBeratung im Hochpreissegment wird — in Anlehnung an eine Metapher aus dem Architektenbereich — durch transdisziplinäre Leitagenturen repräsentiert werden.» These fünf Das Change-Management der Zukunft wird iterativ-investiga­ tiv und nicht mehr in sequentiellen Phasen verlaufen. In Reso­ nanz auf sich immer schneller bewegende Unternehmensum­ felder werden die alten Modelle des Planens und Durchführens radikal der Vergangenheit angehören. Die Beratungsmodelle der o.g. Leitagenturen setzen eine hohe inhaltliche, syste­mi­ sche und ethische Kompetenz der Beratungssysteme vor­aus, so dass Mandanten das Vertrauen aufbringen, sich auf nicht durchgeplante, atmende und lernende Prozessdynamiken einzulassen. Da diese Beratungsansätze das Management mit der eigenen Change-Verantwortung konfrontieren werden, wird es einen erhöhten Bedarf an immersiven, an den je aktuellen Lernbedarfen des Managements orientierten Schulungscon­ tainern geben, die in der Tendenz aus einer Hand der beglei­ tenden Agenturen, extrem schlank entlang der Entwicklungen in den Change-Prozessen stattfinden werden.

Bernd Kessel Managementberater, Geschäftsführender Gesellschafter Kessel & Kessel Managementberatung Kontakt: bernd.kessel@kesselundkessel.com

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Reflexion | Schwerpunkt | Change Management Morgen — 13 Thesen | Otto Scharmer

Change Management Morgen – 13 Thesen

Quer durch die Institutionen sehen sich Führungskräfte neuartigen Herausforderungen und Umwälzungsprozessen gegenüber. Sie resultieren aus globalen Problemstellungen wie Klimawandel, Wassermangel, Energiemangel, Nahrungsmangel und Hunger. Dazu kommen soziale Radikalisierungen und Fehlfunktionen auf institutionellen Ebenen, die gesamte Staaten gefährden. Welche Rolle nehmen Führungskräfte und das Change Management in den sich schnell ändernden Umfeldern von Unternehmen, Regierungen und der Gesellschaft ein?

Change Management muss ein integraler Bestandteil auf allen Systemebenen sein. Führungskräfte müssen sich für die Veränderung von Systemen auf vier Ebenen engagieren: (1) Persönliche Führungsstärke (Stärkung der eigenen Persönlichkeit); (2) Führung von Dritten (durch Teamarbeit), (3) organisatorische Führungsstärke (der Institution) und (4) Führungsarbeit, welche die sozialökologischen Gesamtzusammenhänge berücksichtigt. Von diesen vier Ebenen sind die zweite und die dritte Ebene gut entwickelt, die erste Ebene ist es hingegen in der Regel sehr viel weniger. Deutlich am schlechtesten ausgebildet ist die vierte Ebene, die eine konzeptionelle Einbindung aller vier Ebenen in ein gemeinsames Rahmenwerk und ihre Vereinigung unter einer praktischen Methodologie voraussetzt. Aktu­­ ell differieren die Methoden, Ansätze und das vorhandene Fachwissen auf allen vier Ebenen. Es ist zu beobachten, dass sich diese Separierung fortsetzt, statt die Vorteile eines inte­ gralen Vorgehens zu nutzen.

«Der Veränderungsprozess von Institutionen erweist sich heute als eng verknüpft mit der Entstehung sehr viel komplexerer Systeme von Tauschbeziehungen.» Um den Wandel anzustoßen, bedarf es einer Transformation des Kapitalismus. Veränderungsprozesse auf der Ebene des Wirtschaftssystems anzustoßen, setzt voraus, dass man die Muster der Zusammen­ arbeit modifiziert, welche die Nachfrage-Angebots-Beziehun-

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gen in allen Industriezweigen prägen, sowohl lokal als auch glo­bal. Der Veränderungsprozess von Institutionen erweist sich heute als eng verknüpft mit der Entstehung sehr viel komplexerer Systeme von Tausch- und Kooperationsbeziehungen. Das bedeutet häufig auch, dass sich institutionelle Durchsetzungs­ stärke neu veror­tet. Sie ist aus der Mitte der Institutionen in Netzwerke gerückt, welche aus einer Kerngruppe strategischer Partner und Verbände bestehen. Betrachtet man dies aus dem Blickwinkel der Organisationstheorie, so sehen wir das Wesen des Kapitalismus von der Freien Marktwirtschaft (1.0: Wettbewerb) und der sozialen Marktwirtschaft (2.0: Wettbewerb, Regulierung) auf dem Weg zu einem System, in dem ein dritter Mechanismus die Organisation prägt: Aufmerksamkeitsbasiertes kollektives Handeln (awareness-based collective action, ABC), welches das kommende dritte Stadium der Weltökonomie anzeigt (3.0; Wettbewerb, Regulierung und ABC).

Unternehmen sind zu klein, als dass sie große Probleme lösen könnten, und zu groß, um kleine Probleme zu lösen. Als Folge werden wir Organisationen sehen, die sich in unterschiedliche (zum Teil sich widersprechende) Richtungen entwickeln: Systemweite cross-institutionelle Plattformen auf der einen Seite und Lokalisierung sowie Personalisierung auf der anderen Seiten. Die verbleibenden Theoreme heben einige Ent­­wicklungen hervor, denen allen dieselbe Dynamik zugrunde liegt: dass sich die Ausgangspunkte von Innovation und Erneuerung und der Ort der Durchsetzungskraft vom Inneren der Organisation nach außen verlagern. D.h., sie wandern vom institutionellen Zentrum in die institutionelle Peripherie, in eine Sphäre kollaborativer Beziehungen mit Kunden,

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Otto Scharmer | Change Management Morgen — 13 Thesen | Schwerpunkt

Nutzern, Partnern, Zulieferern, Wettbewerbern, Regulatoren, Interessensverbänden und dem Gemeinwesen.

Unternehmen und Organisationen müssen sich der Generation kommender Führungskräfte und Vordenker öffnen. Meine Erfahrung in der Arbeit mit jungen Menschen, die jetzt in den Arbeitsmarkt eintreten, zeigt mir, dass diese Gruppe pauschal schwer zu beschreiben ist. Allerdings zeichnet sich ab, dass es eine Gruppierung unter den 20 bis 30-jährigen gibt, die ein starkes Bestreben hat, die Welt in pragmatischer und persönlicher Hinsicht zu einem besseren Ort zu machen. Sie lassen ih­ren Worten Taten folgen, verkörpern ihre Grundwerte und den Wandel, den sie anstoßen möchten. Sie sind unabhängig und selbstsicher, bahnen sich ihre eigenen Wege. Diese Leute suchen dringend Lösungen, mit denen auch sie sich auf den heutigen Marktplätzen wiederfinden. Was die großen Traditionsunternehmen ihnen als Karriereweg anbieten, ist für ih­ren Geschmack oft zu kleingeistig, zu espritlos, zu bürokratisch. In der Folge gründen viele ihre eigenen Unternehmen, in denen sie ihre eigenen Vorstellungen vom Wirtschaften und sozialer Verantwortung einbringen. Diese Gruppe hat eine enorme kreative Kraft, aber die alte Klasse etablierter Organisationen hat Mühe, mit ihnen zusammenzukom­ men. Viele große Unternehmen und Institutionen merken dabei nicht, dass der Zug an ihnen vorbeifährt. Obwohl sie junge Leute anstellen, verpassen sie es, diese kreative Schlüsselgruppe der nächsten Generation in ihre Führungsetagen zu holen.

Bau institutionsübergreifender Netzwerke für Lern- und Erneuerungsprozesse. In diesem Jahrhundert kann keine Institution mehr, kann kein Gesellschaftssektor mehr seine Herausforderungen in Sachen Führungsarbeit allein meistern. Wir müssen zusammen arbei­ ten, gemeinsam lernen und Innovationen entwickeln, nicht nur institutionsübergreifend, sondern auch sektorenübergreifend. Das bedeutet, dass man die Akteure von Regierungen, aus der Geschäftswelt und der Zivilgesellschaft im Hinblick auf bestimmte Probleme zusammenbringen sollte, um sich gemeinsam mit Fragen zur Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung und Nachhaltigkeit auseinanderzusetzen. Automobilbauer, zum Beispiel, können nicht alleine auf die Notwendigkeiten nachhaltiger Mobilitätskonzepte reagieren. Gesundheitsunternehmen können genauso wenig alleine auf die Kernprobleme von Gesundheit und Wohlergehen eingehen. Schulen können nicht alleine die Kernprobleme von Erziehung und Lernen lösen. Dies sind nur wenige Beispiele. Den großen Herausforderungen zu begegnen, setzt voraus, auf der Mikroebene der Akteure zu beginnen. Hier müssen die Innovationen für das gesamte System entwickelt werden.

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Gesteigerte Aufmerksamkeit: die blinden Punkte in der Führungsarbeit ausleuchten. Der blinde Fleck derzeitiger Führungskultur und Systemtheorie ist das Bewusstsein. Es ist der Grad des Bewusstseins und der Aufmerksamkeit, der die Qualität von Arbeitsergebnissen bedingt. «Der Erfolg einer Intervention hängt von der inneren Verfasstheit des Intervenierenden ab», behauptet Bill O’Brien, der ehemalige CEO von Hanover Insurance. Dieses Urteil weist darauf hin, dass die individuelle und kollektive Führungsarbeit mit Fragen der inneren Verfasstheit zusammenhängt. Es geht um die Qualität des Ursprungsortes unserer Handlungen – dies sind unsere Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Um es anders auszudrücken: Die Qualität von Ergebnislösungen in unserem System hängt von dem Grad der bewussten Umsicht ab, mit welcher die Akteure in diesem System Probleme behandeln.

«Der Erfolg einer Intervention hängt von der inneren Verfasstheit des Intervenierenden ab.» Diese Dimension eines Bewusstseins für den notwendigen Wan­del wurde in der Vergangenheit weitgehend vernachlässigt. Sie wird in den kommenden Jahren eine entscheidende Rolle spielen. Um ein Beispiel zu geben: In seiner hauseigenen Forschungs- und Fortbildungsabteilung (Corporate Univer­sity) beschäftigt sich Google mit Fragen der Persönlichkeitsentwicklung und bezieht dabei Konzentrationstechniken, Meditation und Yoga ein. Während wir heute durchaus zunehmend Beispiele dafür finden, dass auf der individuellen Ebene Bewusstseinsprozesse im Führungstraining integriert sind, erleben wir doch kaum, dass dieser Aspekt auf die kollektiven, auf die Systemebenen der Führungsarbeit übertragen wird.

Globale Messtechniken schaffen, mittels derer sich Systeme selber beobachten. Heutigen Change-Managern fehlt es nicht an Visionen. Auch fehlt es nicht an Strategien, an Kernwerten. Was hingegen fehlt, sind Messinstrumente, die Führungskräfte und Change Mana­ ger in die Lage versetzen, ihre Perspektive zu wechseln, indem sie sich genau so betrachten, wie sie aus Sicht ihrer Teilhaber und von den Ränderns des Systems aus wahrgenommen werden. Nicht die Spielregeln zu ändern, sondern die Blickwinkel, darum geht es. Wenn jemand sich und das umgebende System in einem größeren Kontext betrachtet, so ergeben sich aus der Betrachtungsweise neue Möglichkeiten. Widerstände reduzie­ ren sich. Inspiration und ein neues Identifikationsvermögen ergeben sich um das herum, was man dann als eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame Reise erlebt.

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Reflexion | Schwerpunkt | Change Management Morgen — 13 Thesen | Otto Scharmer

Sektorenübergreifende Übungsfelder für neue Modelle der Zusammenarbeit schaffen. Innovationen finden an konkreten Orten statt. Alle nachhaltigen Innovationsprozesse benötigen einen Raum, ein Übungsfeld, auf dem der Wandel entwickelt wird. Dieses Übungsfeld muss sicher (die Menschen müssen sich frei fühlen, dürfen kei­ ne Angst vor Sanktionen oder Bestrafungen haben), teilnehmergetrieben (damit die Teilnehmer Fragen explizit stellen, die sie beschäftigen) und handlungsorientiert (um neue Methoden und Instrumente auszuprobieren) sein. Heute sind solche Strukturen vor allem für institutionsübergreifende und branchenübergreifende Kooperationen wichtig, deren Akteure künftige Möglichkeiten des Arbeitens erkunden. Diese kollaborativen Lern- und Innovationsinfrastrukturen sind schwer zu entwickeln, weil (a) die Personalabteilungen ihre traditionelle Kontrollkraft behalten wollen und (b) Führungskräfte nicht die Zeit haben, um diese institutionsübergreifenden Partnerschaften aufzubauen. Daher gibt es diese Infrastrukturen auch just in den Bereichen nicht, wo wir sie besonders nötig haben – und zugleich ist die Schaffung genau dieser Strukturen ein Teil zukünftiger Führungskultur.

Traditionelle Unternehmensberatungen sind ein auslaufendes Modell. Da die Quelle aller Innovationen und Führungsimpulse sich aus dem Zentrum von Organisationen in dezentrale netzartige

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Partnerschaften verlagert, wird sich auch die Rolle von Unternehmensberatungen ändern. Die besten Unternehmensberatungen fungierten einmal als ein Mechanismus für den Wissenstransfer in Organisationen, bedienten vor allem die Führungskräfte im Zentrum der alten Machtgeometrie. In Zukunft wird der Aufbau von gemeinsamen Plattformen, die Neuerungen, Lernprozesse und Wissensgenerierung ermöglichen, derjenige Mechanismus sein, der den Wissenstransfer ermöglicht. Unternehmensberatungen werden sich entweder selber weiter entwickeln müssen (indem sie weniger entscheiderfokussiert sind und ganzheitlicher denken) oder sie werden in Zukunft weniger relevant sein.

Austausch und die Kunst der Generierung kollektiven Wissens sind die Schlüsselkompetenz im Umgang mit Komplexität. Will man Handeln in der Zukunft organisieren, im großen Maße bereits auch in der Gegenwart, so hat man es mit Prozessen in einem Mikrokosmos zu tun, der zugleich die globale Komplexität spiegelt. In ihm verschmelzen Funktionen, Kulturen, Mentalitäten und institutionelle Grenzen. Die Herausforderung ist es, in dieser Komplexität handlungsfähig zu bleiben, sich zu verbünden und über kulturelle, funktionale und institutionelle Grenzen hinaus zusammenzuarbeiten. Diese Grenzüber­ schreitungen erfordern dialogisches Arbeiten und die Fähigkeit zuzuhören. Dialog heißt nicht bloß, dass Menschen mitei-

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nander sprechen. Dialog heißt, sich im Kontext des gesamten Systems reflektieren zu können. So begriffen, hilft der Dialog den Teilnehmern, Komplexitäten zu erfassen und die Potenziale kollektiver Intelligenz zu bergen.

| Reflexion

ser dritten Blase beschäftigen müssen. Sie werden einen neuen Bezugsrahmen des Wirtschaftens entwerfen und Programme in den Wirtschaftsschulen aufsetzen müssen, welche unsere Kernprobleme angehen: Die Art und Weise, wie wir über Wirtschaft denken und über unsere wirtschaftlichen Beziehungen.

Effektive Führung baut auf klare Zielvorstellungen. In der Vergangenheit haben wir zwei unterschiedliche Geschäftsstrategien gesehen: Auf Produktmerkmale und auf Kos­ ten basierende. In Zukunft werden wir zwei Organisationsformen erleben: Die erste ist eine Gruppe schlanker, durchschnitt­ licher Effizienzmaschinen ohne Herz und Seele, denen es nicht gelingt, sich mit den Zielen ihrer Investoren, Beschäftigten, Partner, Kunden, sozialen Umfelder und Manager zu identifizieren. Die zweite Gruppe bilden Organisationen, die inspiriert, reflektiert und zweckorientiert handeln. Dieser Zweck kann sich in vielfältiger Form artikulieren. Aber im Kern wird er stets das Wohlergehen der Allgemeinheit im Blick haben. Was wir heute erleben, ist der Beginn einer tiefen zivilisatorischen Teilung. Eine Gruppe der Organisationen und Institutionen rauscht die Avenue als Effizienzmaschinen hinab (ohne sich ihrer Umfelder bewusst zu werden). Die andere Gruppe beginnt, von Inspiration getragene Netzwerke aufzubauen, um eine nachhaltige Weltordnung zu schaffen, die sich als be­ lastbar, gut verknüpft und quicklebendig erweist. Wir werden auf den beiden Wegen Erfolge und Misserfolge erleben und es ist die Entscheidung jeder und jedes Einzelnen, welcher Bewegung sie oder er angehören möchte.

Nach den Blasen der Ökonomie: Die Wirtschaftsschulen der Zukunft müssen Wirtschafts- und Managementtheorien neu erfinden. Wir leben in einer Zeit des Booms und der Pleiten gleichermaßen. In den frühen, boomenden Jahren des 3. Jahrtausends sind die Spekulationsblasen auf nie erlebte Weise so lange gewachsen, bis sie im Jahr 2008 platzten. Eine zweite solche Blase, die gerade einem Ende zugeht, ist diejenige der konventionellen, industriellen Landwirtschaft. Beide Blasen gründen sich in demselben Zustand: Dass die einseitige Betrachtung der Produktionsziele die Reproduktion aus dem Blick geraten lässt (von Boden und Wasser ebenso wie von der Wirtschaft als solcher). Einige wenige Akteure schöpfen die Vorteile dessen jetzt ab und riskieren, in dem sie dies tun, die Gesundheit und das Wohlergehen zukünftiger Generationen. Während diese Blasen dem Bersten nahe sind, sehen wir be­ reits eine dritte entstehen. Diese dritte Blase erklärt sich mit einer althergebrachten Wirtschaftstheorie, die soziale und Um­ weltnebenwirkungen ausgrenzt und eine enorme Ressour­cen­ verschwendung mit sich bringt. Sie ist so groß, dass die Reproduktionsraten des Gesamtsystems sie nicht kompensieren können. Das Change Management der Zukunft und zukünftige Organisationsstrukturen werden sich mit dem Platzen die-

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«Wir werden auf den beiden Wegen Erfolge und Misserfolge erleben und es ist die Entscheidung jeder und jedes Einzelnen, welcher Bewegung sie oder er angehören möchte.» Aller Anfang ist die Lücke — hier führt der Weg in die Zukunft. Ich habe immer wieder die Meinung vertreten, dass Lern- und Innovationsstrukturen von Organisationen der Zukunft systematischer, experimenteller, persönlicher, umsichtiger und pra­ xisorientierter sein müssen. Als eine Folge dürfen wir – als Füh­ rungskräfte, Wegbereiter, Berater, Beobachter und Forscher – nicht länger diese Aufgabe des Wandels an andere delegieren. Der Wandel beginnt in uns selbst. Es fängt damit an, sich selbst zu kennen: Wer bin ich? Was ist meine Mission? Ein sehr praktischer Weg, dieses tiefere Wissen zu erlangen, ist, Acht zu geben, was wir in unserem Innersten fühlen und erleben: Wo sehe ich ganz persönlich die Zukunft? Wo sehe ich eine Lücke, eine Öffnung oder Herausforderung, die in eine Zukunft weist, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden? Welche unter den vielen Möglichkeiten spricht uns ganz persönlich an? Ist diese relevant für unsere Institution? Vielleicht für andere Teilhaber? Wie können wir Räume zum Zuhören schaffen, welche diese Lücke zu weiten helfen und all die Möglichkeiten wachsen las­ sen, die sich mit ihr verbinden?

Otto Scharmer MIT Sloan School of Management Presencing Institute Kontakt: www.ottoscharmer.com www.presencing.com scharmer@MIT.EDU

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Gespräch | Schwerpunkt | Die (mögliche) Zukunft der Organisationsentwicklung | Bernhard Krusche, Dirk Baecker

Die (mögliche) Zukunft der Organisationsentwicklung Wohin müssen sich Organisationen in 20 Jahren entwickeln? Wie könnte die Zukunft der Organisationsentwicklung aussehen? Diese Frage diskutieren Bernhard Krusche, Gründer des Management Zentrum X in Berlin und Dirk Baecker, Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen in einem virtuellen Gespräch via Email. Mit ihrem lebendigen Dialog beleuchten sie zukünftige Entwicklungen von Organisationen und ihrem Management und fokussieren die Umbrüche, die der Computer als Betriebssystem der Gesellschaft auslöst.

Bernhard Krusche: Dirk, ich möchte dich gerne zu einem vir­ tuellen Plausch einladen. Der Anlass ist die 30. Geburtstags­ feier der ZOE. Was hältst du davon, wenn wir die stolze Bilanz um einen Ausblick ergänzen? Sowohl das Management Zent­ rum X als auch dein Lehrstuhl an der Zeppelin University ma­ chen sich viele Gedanken zum Thema «Next Society». Wollen wir vor diesem Hintergrund eine Prognose wagen? Mich interessiert, wie du im Computerzeitalter die Zukunft von Organisationen siehst, und welche Implikationen daraus für die Zunft der Organisationsberatung abzuleiten sind. Wenn man die gegenwärtigen Trends und «weak signals» zu einem Zukunftsbild verdichtet: auf was müssen sich Organisationen einstellen? Wird es in 15 bis 20 Jahren überhaupt noch die klas­ sischen Organisationen geben, so wie wir sie heute kennen?

«Die sicherste Prognose ist daher diejenige, dass es zu jedem Trend auch einen Gegentrend geben wird.» Dirk Baecker: Danke, für diese interessante Fragestellung. Ob­ wohl es natürlich sehr schwer ist, eine Prognose zu wagen, denn momentan ist eigentlich nur sicher, dass wir uns in 15 bis 20 Jahren sehr darüber wundern werden, was wir heute zu prognostizieren glaubten. Trotzdem rechne ich aber recht zu­ verlässig damit, dass sich die enorme Vielfalt kleiner, mittlerer und großer, chaotischer, geordneter und rigider, flacher und steiler Organisationen auch in Zukunft erhalten wird. Die si­

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cherste Prognose ist daher diejenige, dass es zu jedem Trend auch einen Gegentrend geben wird: zur Zentralisierung die Dezentralisierung, zur Horizontalisierung die Vertikalisierung, zur Verknappung der Kontrollspannen die Erweiterung der Kon­trollspannen, zur Intensivierung der Kooperation die Re­ duktion der Kooperation und so weiter. Herbert Simons «pro­ verbs of administration» aus der Public Administration Review 1946 gibt hier verlässlich die Spannweite organisationaler Ent­ wicklungen an. Erst wenn wir den Blick von der Organisation auf die Ge­ sellschaft richten, lassen sich Trends erkennen, die weniger vielfältig sind. Denn hier ist deutlich, dass die Auflösung der Zuordnung von Organisationen zu einem oder zwei Funkti­ onssystemen der Gesellschaft sich schon deshalb weiter zu­ spitzen wird, weil die Auflösung dieser Funktionssysteme sich weiter auflösen wird. Die moderne Gesellschaft weicht der nächsten Gesellschaft und damit die Differenzierung der Ge­ sellschaft in Funktionssysteme, wie sie die Soziologie von Max Weber bis Niklas Luhmann beschrieben hat, der Differenzie­ rung der Gesellschaft in Netzwerke. Funktionssysteme folgen einer bestimmten Sachordnung; Netzwerke hingegen setzen sich aus sozialen Spannungen, heterogenen Sachverhalten und unterschiedlich formatierten Zeithorizonten zusammen. Organisationen werden sich darauf einstellen müssen, zumal sie kein unwichtiger sowohl Betreiber als auch Bremser dieser Entwicklung sind. Dann bekommen wir es unter anderem mit Unternehmen in der Erziehung («EMOs», educational management schools), mit Kirchen in der Politik («tea party»), mit Universitäten in der Wirtschaft («business academies»),

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Bernhard Krusche, Dirk Baecker | Die (mögliche) Zukunft der Organisationsentwicklung | Schwerpunkt

mit Sportvereinen im Gesundheitssystem («wellness hotels») oder mit Forschungsinstituten in der Politik («think tanks») zu tun, bis man auch diese Zuordnungen aufgeben und die ent­ sprechenden Profile mit anderen Kategorien beobachten wird. Es zeichnet sich damit ab, dass Netzwerkstrukturen und Netzwerkeffekte die großen Treiber für die Organisationsent­ wicklung der kommenden Jahrzehnte sein werden. All das setzt freilich voraus, dass es zu keinen größeren und fataleren Epidemien, zu Kriegen, zum Versagen der Stromver­ sorgung, etc. kommt. In dem Fall wären wir sehr schnell wie­ der bei den sehr robusten Organisationsmodellen wie denen der Armee, der Kirche oder der Bank, die auf Disziplin, Hierar­ chie und Routine setzen und nicht auf Turbulenz, Heterarchie und riskante Wetten. Dann zeigt sich, dass die aktuellen Fun­ damentalismen vor allem im Bereich der Religion und daraus abgeleiteter politischer Ansprüche auch Organisationsmodel­ le für Arbeit und Familie definieren und damit die fall back Position einer nicht gelingenden Evolution darstellen. Bernhard Krusche: Dank’ dir für diesen ersten Aufschlag. Wenn ich dich richtig verstanden habe, konzentrieren sich zu­ künftige Organisationen auf Netzwerkstrukturen und Netz­ werkeffekte. Knüpfen wir daran die Zukunftsfähigkeit von Ma­ nagement und Organisation an, sehe ich vor allem die Konse­ quenzen aus den technologischen Entwicklungen, die uns her­ ausfordern. Stichworte wie Kontingenz und Pfadabhängigkeit, Web 2.0 und Twitter, Wissensgesellschaft und soziale Netzwer­ ke markieren da nur die Spitze eines Eisbergs. Die damit ein­ her gehende Unüberschaubarkeit der Verhältnisse unterläuft den Erfolg bestehender gesellschaftlicher Problemlösungen und leitet einen tiefgreifenden Wandel nicht nur in, sondern auch von Organisationen ein. Eigentlich läuft das darauf hin­ aus, dass dann wichtige Assets außerhalb des direkten Zugriffs durch die eigene Organisation liegen. Wie organisieren Orga­ nisationen im Netzwerk den Zugriff auf diese Ressourcen? Und findet dann der Wettbewerb weniger zwischen einzelnen Un­ ternehmen als zwischen ganzen Unternehmensökosystemen bzw. Firmenpopulationen statt? Dirk Baecker: Netzwerkstrukturen und Netzwerkeffekte sind nicht das Problem des Unternehmens, sondern die Lösung die­ ser Probleme. Es wird darauf ankommen, dass ein Unterneh­ men Strukturen aufbaut, die es befähigen, sich erfolgreich in diesen Netzwerken zu bewegen. Wir haben das letzte halbe Jahrhundert damit verbracht, den Umbau der Unternehmen von primär vertikalen auf primär horizontale Strukturen zu be­obachten. Zuvor glich das Unternehmen einer Art Säule, so dass die Leitung den Markt beobachten und das Management damit beauftragen konnte, die sorgfältig nach außen abge­ schotteten Produktionsstätten zu koordinieren. Jetzt ist das Un­ ternehmen eher mit einem Geflecht zu vergleichen, von dem

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| Gespräch

man nie genau weiß, wo Innen und wo Außen ist. Beziehun­ gen zu Lieferanten und Kunden durchziehen die einst so ge­ schützten Produktionsstätten; Wertschöpfungsketten reichen weit über die Grenzen des Unternehmens hinaus, technische Abläufe machen es unmöglich, genau zu sagen, ob man noch für das eigene Unternehmen oder nicht bereits für einen Part­ ner und damit für einen potenziellen Konkurrenten arbeitet. Die Funktionen der Unternehmensleitung haben sich im Zuge dieses Prozesses radikal gewandelt. Früher schaute man nach oben, um herauszufinden, welche Ziele den Gesamtablauf des Unternehmens integrieren, heute schaut man nach oben, um sich der Kapitalmarktfähigkeit des Unternehmens und der Corporate Identity zu vergewissern.

«Heute operiert jedes Unternehmen in seiner eigenen und heterogenen Population, in der sich Firmen aus allen möglichen Branchen finden und die alle irgendwie dazu gehören.» Wird die Netzwerkfähigkeit des Unternehmens nach Innen und nach Außen zur entscheidenden strategischen Ressource, so geht damit in der Tat eine größere Abhängigkeit von ganzen Firmenpopulationen einher. Und auch das ist komplizierter geworden als früher. Früher brauchte man sich nur in seine Branche umzuschauen, um die Frage zu klären, unter welchen Bedingungen man an welchen Produkten für welche Märkte arbeitet. Heute operiert jedes Unternehmen in seiner eigenen und höchst heterogenen Population, in der sich Firmen aus allen möglichen Branchen finden, von Rohstofflieferanten und Technologiespezialisten bis zu Rechtsanwaltbüros, Marketing­ agenturen und Beratern, die alle irgendwie dazu gehören, weil sie mit den Verhältnissen vertraut sind, aber alle unterschied­ lichen Betriebs- und Produktlogiken folgen. Bernhard Krusche: Das klingt wie eine Ablösung bestehender Zuordnungen, Grenzmarkierungen, Identitätsentwürfe und eben auch Organisationsformen. Das heißt, wir mäandern dann nur noch in einem ständigen flow überraschungsoffener Ver­ knüpfungen, changieren chamäleonartig zwischen Texturen un­ terschiedlicher Tragweite, die sich zu einmal mehr, einmal we­ niger stabilen Ausbuchtungen formen? Das ist starker Tobak. Schwer vorzustellen, dass Entscheidungsprämissen wie Hier­ archie, Personen oder Programme – von Kultur mal ganz zu schweigen – nicht mehr das Rückgrat organisierter Entschei­ dungen sein sollen. Damit würde sich ja die Organisation als soziale Errungenschaft selbst ad absurdum führen. Und selbst wenn wir annehmen, dass temporäre und damit hoch flüch­ti­ ge Kontrollprojekte ihre Funktion übernehmen: wie sieht dann der Mechanismus der Kontrolle der Kontrollprojekte aus? Das

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Gespräch | Schwerpunkt | Die (mögliche) Zukunft der Organisationsentwicklung | Bernhard Krusche, Dirk Baecker

jeweilige Medium der Funktionssysteme wird dies wohl nicht leisten können. Aber ist es nicht ein wenig leichtsinnig, hierbei nur auf Streit zu setzen? Dirk Baecker: Die Rückfrage ist berechtigt. Tatsächlich behaup­ te ich keine Ablösung oder gar Auflösung von Entscheidungs­ prämissen. Diese gibt es nach wie vor. Mit geht es darum, die Probleme schärfer zu beleuchten, deren Lösung sie sind. Pro­ gramme, Hierarchien und Personen schwimmen in einem Meer von kommunikativen Turbulenzen, in denen es ständig neue Gründe gibt, sich anders zu orientieren und deswegen laufend Entscheidungen getroffen werden müssen, sich nach wie vor an die bekannten Programme, Hierarchien und Personen zu halten oder sie auszuwechseln oder zumindest zu reformatie­ ren. Wir wissen aus der Kybernetik, dass Hierarchien nur in­ nerhalb von Heterarchien funktionieren können. Und wir wis­ sen aus der Literaturtheorie, dass Texte nur im Rahmen von Kontexten verständlich sind. Eine der Eigenschaften der Netz­ werkgesellschaft, die ich zu beschreiben versuche, besteht da­ rin, dass die Grenzen zwischen Hierarchien und Heterarchien, zwischen Texten und Kontexten flüssiger und durchlässiger ge­ worden sind. Eine vielfach gehörte Formulierung dieses Sach­ verhalts lautet, dass Organisationen die Unruhe ihrer Umwelt, die Launen ihrer Kunden, die technologischen Unsicherheiten ihrer Lieferanten, die Proteste der Umweltschützer und die War­ nungen ihrer Rechtsanwälte in die Organisation hineinholen, um sie dort rechtzeitig und vorzeitig zu bearbeiten, und nicht etwa wie früher draußen halten, um sich von ihnen überra­ schen zu lassen. Das ist es, was die Organisationstheorie zu beschreiben ver­­ sucht. Sie schaut darauf, aus welchen Impressionen und ange­ sichts welcher Unsicherheiten und im Medium welcher Risi­ ken die Organisationen ihre temporalen Formen gewinnen und wie sie die paradoxe Aufgabe bewältigen, diese Formen laufend zu erhalten, während sie sie ändern, ohne für den Erhalt oder die Änderung andere als selbst fabrizierte Evidenzen zu haben.

«Die Routinen der Routineunterbrechung sind funktionsfähig, und arbeiten sich ab an jeder Entscheidung, die im Kontext anderer Entscheidungen getroffen wird.» Bernhard Krusche: Welche Phänomene hast du denn im Blick, wenn du auf die Zuspitzung der Paradoxie einer Selbsterneue­ rung von Organisationen abzielst? Die bekannten Strategien einer Entparadoxierung – Dislozierung, Verzeitlichung, Kontext­ trennung – werden ja von Organisationen bereits heute konse­ quent genutzt. Heute hier, morgen dort; erst das eine, dann das andere – gehört dieses Springen zwischen lose gekoppelten

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Einheiten und Arbeitslogiken mittlerweile nicht zu dem Stand­ ardrepertoire eines modernen Managements? Natürlich ist man heute auf die Ausbeutung enger Nischen spezialisiert und beu­ tet gleichzeitig nicht minder leidenschaftlich die economies of scale aus. Natürlich zählt Qualität wie auch (gleichermaßen) der Preis, singt man das Hohelied der Hierarchie und setzt da­ bei ein Projekt nach dem anderen in die Welt. Dieses perma­ nente, sich wechselseitig ausschließender Präferenzen bringt Organisationen offensichtlich nicht aus dem Tritt. Und auch ihr Management hat gelernt, dies zu managen. Die Routinen der Routineunterbrechung sind funktionsfähig, und arbeiten sich ab an jeder Entscheidung, die im Kontext anderer Entscheidun­ gen getroffen wird. Dass sich diese Ausgangslage durch die Wech­selwirkung von Vernetzung und Beschleunigung verkom­ pliziert hat, ist bekannt. All dies liest man, mal mehr, mal weni­ ger kopfschüttelnd, in der aktuellen Wirtschafts­presse. Ist deine Idee, dass wir dies in 20 Jahren genauso lesen, nur ganz ohne Kopfschütteln? Und warum dann die Rede vom Computer? Dirk Baecker: In der Tat finden die wesentlichen Umstellun­ gen einer «Next Society» heute, direkt vor unser aller Augen statt. Und die Computer drohen und locken dabei mit Algo­ rithmen. Sie unterlaufen alle bisher gängigen Verfahren der Arbeitsteilung, Kooperation und Konkurrenz. Und sie setzen eine Wissenschaft unter Druck, die es jetzt nicht nur mit ei­ nem unendlichen neuen Datenmaterial, generiert aus emails, search requests und clickstreams, zu tun bekommt. Sie wird gleichzeitig auch mit rekursiven Rechenverfahren konfron­ tiert, die ausgerechnet dort, wo sich die Wissenschaft mit Blick auf eine vor-gödelsche Mathematik bisher immer verweigert hat offenbar mit größter Unbekümmertheit tummelt. In der aristotelischen Welt ist die Aussage a = a verboten, so oft sie auch in der sozialen Praxis vorkommen mag. In der Welt der Computer brauche ich nur einen Doppelpunkt vor das Gleich­ heitszeichen zu setzen, so dass ich a : = a bekomme, um eine interpretierbare Aussage zu bekommen, mit der gerechnet wer­ den kann. Die Aussage lautet dann: Gehe im nächsten Schritt davon aus, dass a nicht gleich a ist. Und schon frage ich mich, was es denn dann ist, beziehungsweise wer denn auf eine sol­ che Idee kommt oder auch wann das der Fall sein kann. Das wäre der einfachste Fall eines Algorithmus, der sachliche Vari­ anz, sozialen Streit und zeitliche Entwicklung berücksichtigt. Computer zeigen uns, in welche Richtung wir gehen können, um unsere mathematische Verfahren der Modellierung in der Wissenschaft weiterzuentwickeln. Und das ist das Mindeste, um zumindest noch mitzubekommen, wie wenig wir in Sa­ chen Datenkomplexität, Gedächtnis und Schnelligkeit (mit einem Wort: Konnektivität) mit ihnen mithalten können. Bernhard Krusche: Das ging mir jetzt etwas zu schnell. Die Com­ puter setzen nicht nur die Wissenschaft sondern offensichtlich

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Bernhard Krusche, Dirk Baecker | Die (mögliche) Zukunft der Organisationsentwicklung | Schwerpunkt

auch die Wirtschaft unter Druck – warum sonst die Rede von der Subversion von Arbeitsteilung, Kooperation und Konkur­ renz. Aber was genau passiert da, bezogen auf die Agenten der Wirtschaft – nämlich Organisationen? Hast du Beispiele vor Augen, die diesen Prozess veranschaulichen und uns eine Idee davon geben, mit was wir (tatsächlich noch wir?) bezogen auf zukünftige Organisationen rechnen müssen? Dirk Baecker: Mein Ausgangspunkt ist die Vermutung, dass weniger die Computer selber als vielmehr unser Umgang mit ihnen die Gesellschaft mit neuen Möglichkeiten konfrontiert, auf die die Organisationen und die Wissenschaft, aber auch die Politik, das Recht, die Erziehung, die Religion und die Kunst der modernen Gesellschaft allesamt nicht vorbereitet waren. Denn all diese Systeme hatten in den vergangenen fünfhun­ dert Jahren genug damit zu tun, sich auf die Herausforderun­ gen einzustellen, die die Einführung des Buchdrucks mit sich brachte. Was hier in den letzten fünfhundert Jahren passiert ist, er­ forschen die Sozial- und Kulturwissenschaften erst seit einigen wenigen Jahrzehnten, seit ihnen dämmert, dass die Moderne zur Neige geht. Insbesondere Luhmann schrieb sein großes Buch über «Die Gesellschaft der Gesellschaft» wie eine Art Denkmal für die strukturellen und kulturellen Leistungen der modernen Gesellschaft aber auch wie eine Checkliste, welche Probleme die moderne Gesellschaft wie gelöst hatte. Diese Checkliste brauchen wir jetzt, um zu schauen, wie die Com­ puter- und Netzwerkgesellschaft mit denselben Problemen, aber vermutlich neuen Lösungen zurande kommt. Mit ande­ ren Worten, wir sitzen alle im selben Boot, paddeln aber mög­ licherweise in verschiedene Richtungen, weil jeder einen an­ deren Eindruck von den Turbulenzen hat, in die die computer­ vermittelte Kommunikation an Börsen, in Krankenhäusern, in der Forschung, im Ingenieurwesen, in den sozialen Bewegun­ gen oder auf den Schlachtfeldern die Gesellschaft verwickelt. Zunächst einmal reagiert jeder nach dem eigenen Muster: Die Wirtschaft wittert Geschäfte, verweigert sich aber immer noch dem technologisch möglichen Umbau von Hierarchien. Die Politik bremst, fördert und sucht nach neuen Konsenschancen. Die Religion droht und lockt, versteift sich auf Fundamentalis­ men oder schwingt sich in den Pfingstbewegungen selbst auf die Wellenlängen elektrischer Kommunikation. Erst nach und nach wird deutlich, dass der Rückbezug auf die jeweilige Funktionslogik dysfunktional zu werden droht. Letztlich geht es dann um eine einfache Frage, die jeder Schach­ spieler laufend beantwortet: Wie kann ich ein Spiel gegen mei­ nen Gegner so aufbauen, dass ich Anfangsfehler korrigieren kann, die ich erst später bemerke? Eine analoge Fragestellung begleitet uns auf der Suche danach, welche Strukturen Unter­ nehmen und Theorien ausbilden, um Reversibilitätschancen innerhalb irreversibler Prozesse zu optimieren.

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Bernhard Krusche: Das ist gut nachvollziehbar: Bei zuneh­ mender Pfadabhängigkeit sich ein Hintertürchen offen zu hal­ ten, um immerhin ein paar Haken schlagen zu können, wenn es eng wird – wer sehnte sich nicht danach? Gerade aus Un­ behagen, in irgendwelche Katastrophen hineinzuschlittern, we­niger aus freier Entscheidung denn unerbittlicher Verstri­ ckung so genannter Sachzwänge – sei es die der Finanzmärkte, der Vernichtung ökologischer Optionen oder bei gesellschaft­ licher Auseinandersetzungen um Geländegewinne bei Res­ sourcenfragen oder politischen Positionen. Dieser leise Zug von Erschrecken über die Geister, die man rief, ist sicher ein großer Attraktor für solcherlei Spielzüge. Und war nicht das Denken in Optionen seit jeher ein probates Mittel im Umgang mit kleinen, aber auch großen Tragödien griechischer (ausge­ rechnet!) Provenienz, Kontingenz und Pfadabhängigkeit: wä­ ren das für dich die beiden Wegmarkierungen, zwischen de­ nen sich diese «neue Gesellschaft» durchlavieren muss, im­ mer auf dem Sprung von einem Netzwerkknoten zum ande­ ren? Und sehen entsprechend so die Helden einer postheroi­ schen Zeit aus: weltgewandte Diplomaten, die im Angesicht der Einsicht des Zusammenhangs von «bewegen» und «be­ wegt werden» ein Hintertürchen nach dem anderen bauen, für den Fall der Fälle, von dem man nichts weiß, und nur ah­ nen kann, dass er unausweichlich kommen wird?

«Es geht um eine einfache Frage: Wie kann ich ein Spiel gegen einen Gegner so aufbauen, dass ich Anfangsfehler korrigieren kann?» Dirk Baecker: Ja, genau. Und es ist interessant, dass hier die jüngsten Einsichten einer Theorie komplexer, also nichtlinea­ rer Systeme nur wiederholen, was in China und Griechenland unter dem Stichwort «Weisheitslehre» und in der frühen Neu­ zeit Europas unter dem Stichwort «politischer Klugheitslehre» (Machiavelli, Baltasar Graciàn) längst bekannt war. Dennoch ist es gut, dass wir diese Einsichten wiederentdecken und sie mit unseren theoretischen Mitteln neu formulieren. Denn so bekommen wir eine Ahnung davon, worauf diese Theorien hi­ nauslaufen, und wir haben etwas in der Hand, um uns gegen die Versuchung zu wehren, unsere Welt mit simplen Kausal­ modellen oder nach dem Schema einer bloß instrumentellen Rationalität zu begreifen. Bernhard Krusche: Der Bogen, den du schlägst, wird immer deutlicher – gestatte mir eine vorläufig letzte Frage: was heißt das alles für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen solcher Netz­ werk-Organisationen? Welche Anforderungen bezüglich Bin­ dung, Leistung, und auch Arbeitszusammenhängen stellen sich aus diesen Entwicklungstendenzen? Wie kann man diese

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Gespräch | Schwerpunkt | Die (mögliche) Zukunft der Organisationsentwicklung | Bernhard Krusche, Dirk Baecker

wichtigste Ressource von Organisationen auf die kommenden Zeiten vorbereiten, welchen Vorlauf müsste man organisieren, damit ein solcher Umbau des gesamten Fundaments von Or­ ganisationen nicht in völlig fragilen, demotivierenden Zusam­ menhängen stecken bleibt? Ich denke da vor allem an die gro­ ßen Corporates (aber natürlich auch an unsere Bürokratie) hier erlebe ich (verständlicherweise) immer wieder die größte Diskrepanz zwischen kognitiver Einsicht in die Notwendigkeit eines radikalen Umbaus und der praktischen Umsetzung. Und von welchen Hinweisen profitiert in dieser Sache der Be­ raterzunft?

«Im Umgang mit Situationen verfügen Organisationen über ausreichende Ressourcen und Potenziale.» Dirk Baecker: Du kennst die Antwort des Systemikers auf die­ se Frage! Sie lautet selbstverständlich, dass die Mitarbeiter von Organisationen selber herausfinden müssen, was das für sie bedeutet. Eine Wissenschaft, die unter den Bedingungen von Komplexität, Selbstorganisation, Nichtlinearität und Rekursi­ vität arbeitet, kann keinem Gegenstandsbereich mehr vor­ schreiben oder auch nur empfehlen, wie er sich auf welcher Grundlage selber aufzustellen und mit welchen Denkfiguren und Haltungen bei Laune halten kann. Demotivation ist im­ mer möglich. Und wer mit Negationen nicht umgehen kann, sollte es mit Positionen gar nicht erst versuchen. Ein Rezept­ wissen, das irgendeine Art positiven Denkens empfiehlt, ist sicherlich das Letzte, was der beschriebenen Situation ange­ messen wäre. Ich glaube, dass Organisationen immer auch über die Ressourcen des Umgangs mit der Situation selber verfügen. Ich verlängere damit das Theorem der Komplexität, das ja lautet, dass Phänomene, die der Beobachter nicht ver­ steht, wenn es sie dennoch gibt, offenbar Phänomene sein müssen, die sich selber verstehen. Es ist nach Settings, For­ men des Gesprächs, Formen der Auseinandersetzung mitein­ ander zu suchen, in denen der Forscher die Organisation mit seinen Ideen und die Organisation sich selbst und den For­ scher mit ihren Antworten vertraut machen kann. Ein Berater kann dabei eine große Rolle spielen. Er kann als Übersetzer, Störer und Moderator diese Formen des Gesprächs und der Auseinandersetzung bereitstellen. Er kann aber auch, und das gilt wohl vor allem für systemische Berater, selber als Forscher auftreten und mit einem gewissen prozessualen Wissen um interessante Kontexte der Übersetzung, Störung und Modera­ tion eine Organisation dazu befähigen, mit sich selbst ins Ge­ spräch zu kommen. Darauf müsste der Berater zusammen mit der Organisation den Blick richten, um herauszufinden und beschreibbar zu machen, wie jede real-existierende Organisa­ tion ihre Probleme immer schon gelöst hat, denn sonst gäbe

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es sie ja nicht. Und damit verfügt sie auch bereits über die Res­ sourcen, die es ihr zusammen mit dem Berater erlauben, auch jene Probleme in Angriff zu nehmen, von denen sie glaubt, dass sie sie noch nicht gelöst hat. Es ist klar, worauf das hinausläuft. Es läuft darauf hinaus, Kommunikation nicht für Zufall zu hal­ ten. Diese Einsicht kann jedoch Abgründe eröffnen. Und in diese kann man unter Umständen nicht immer alleine hinein­ schauen. Bernhard Krusche: Ich danke dir für diesen Ausblick, an den sich natürlich weitere Fragen anschließen. Was hältst du da­ von, unsere Diskussion weiterzuführen, dafür jedoch das Me­ dium zu wechseln? Ich möchte dich gern dazu einladen, den inhaltlichen Faden im Internet weiterzuspinnen – unser Blog X unter www.mz-x.com bietet hierfür einen angemessenen Rahmen. Dirk Baecker: Das können wir gern so machen.

Dr. Bernhard Krusche Gründer und Geschäftsführer des Management Zentrums X in Berlin Kontakt: krusche@mz-x.com

Prof. Dr. Dirk Baecker Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen Kontakt: dirk.baecker@zeppelin-university.de

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Stefan Bergheim | Geld oder Leben? | Schwerpunkt

| Reflexion

Geld oder Leben?

Erfolg wird immer umfassender definiert und gemessen Sinnvolles Change Management braucht Ziele: Was wollen wir erreichen? Welchen Erfolg wollen wir? Diese Ziele umfassen längst mehr als nur Geld – und sie sind nicht nur Unterziele auf dem Weg zu mehr Geld. Beteiligung von Mitarbeitern und Bürgern wird als Ziel an sich geschätzt. Ähnlich wichtig ist eine gute Gesundheit als eigenständiges Ziel. Der Erfolg von Organisationen wird immer breiter und umfassender definiert und gemessen. Wer sich diesem Trend öffnet und ihn lebt, der wird langfristig auch den Wandel wirklich erfolgreich gestalten. Das gilt für Unternehmen ebenso wie für Städte und ganze Staaten.

Die breite Definition von Erfolg ist im Kern ein Luxusthema. Je besser die monetären und materiellen Bedingungen der Menschen sind – das pro-Kopf-Einkommen der Deutschen hat sich in den letzten 50 Jahren vervierfacht – umso mehr Bedeutung bekommen andere Faktoren. Individuelle Werte wie beispielsweise Freiheit, Selbstverwirklichung, Engagement, Lebens­­zufriedenheit oder Umweltschutz und andere nehmen auf der Prioritätenliste der Menschen einen höheren Platz ein. Die So­zial­wissenschaftler konstatieren einen Wertewandel hin zum «Postmaterialismus»: Sind die materiellen Ressourcen aus­­rei­ chend vorhanden, dann verändern sich die Werte in Richtung Selbstbestimmung, die Prioritäten erweitern sich und die Men­ schen fordern u.a. mehr Freiheits- und Mitspracherechte ein. Für Unternehmen zeigt sich dieser Trend zur breiteren Erfolgsdefinition an vielen Ecken. Zum Beispiel reicht Geld allein schon lange nicht mehr, um Mitarbeiter zu motivieren und zu halten. Ein Arbeitsklima der Wertschätzung und Ko­ opera­tion ist für viele Menschen so attraktiv, dass sie bereit sind dafür auf Gehalt zu verzichten – und das Unternehmen dadurch sogar noch produktiver wird. Gesundheitliche Vorsor­ ge umfasst heute mehr als nur Rückenschulung und Impfprogramme: das mentale Wohlergehen der Mitarbeiter rückt in den Mittelpunkt. Und wer heute nicht über seinen – immer wei­­ ter sinkenden – Ausstoß an Treibhausgasen berichtet, der wird von vielen Kunden und Mitarbeitern kaum noch akzeptiert. Für diese vielen Aspekte des Erfolgs von Unternehmen gibt es mittlerweile eine strukturierte Berichterstattung: Die Global Reporting Initiative bietet seit 2002 Richtlinien für Unternehmensberichterstattung, die neben wirtschaftlichen Kriterien auch die Themen Umwelt, Arbeit und Menschenrechte be­ rücksichtigt. In Zukunft werden sich immer mehr Unternehmen

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an diesem Berichtsstandard messen lassen, ihre relativen Stär­ ken und Schwächen damit identifizieren und ihr Handeln daran entsprechend ausrichten. Personen und Organisationen, die Change Management begleiten, werden sich darauf einstellen müssen.

«Aktive Bewerberansprache, ein gutes Arbeitsklima und eine Reputation als umweltfreundliches Unternehmen können dazu beitragen, als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben.» Von den Erfolgskriterien für Unternehmen führt ein direkter Weg zu einer breiteren Erfolgsmessung von Städten und Gemeinden. Für viele Unternehmen ist der Fachkräftemangel schon heute ein wichtiges Thema. Aktive Bewerberansprache, ein gutes Arbeitsklima und eine Reputation als umweltfreundliches Unternehmen können Beiträge dazu leisten, als Arbeitgeber attraktiv zu bleiben. Für potenztielle Mitarbeiter ist darüber hinaus auch wichtig, wie hoch die Lebensqualität am Standort des Unternehmens ist: Wie ist die Wohnsituation? Gibt es viel Kriminalität? Sind die Schulen in gutem Zustand? Wie viel kulturelles Angebot ist vorhanden? Wie steht es um den sozialen Zusammenhalt? Diese Punkte kann ein Unternehmen allein nicht beeinflussen: Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam können sie aber angehen. Um diese Erfolgsmaße für Städte zu analysieren gibt es bisher noch keinen weltweit anerkannten Berichtsstandard. Aber immer mehr Städte orientieren sich – mehr oder weniger struk­

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Reflexion | Schwerpunkt | Geld oder Leben? | Stefan Bergheim

turiert – an einer breiten Vorstellung von Erfolg. Besonders erfolgreich macht dies seit Jahren die Initiative «Vital Signs» der Bürgerstiftung im kanadischen Vancouver. Dort stellte man sich die Frage, nach welchen Kriterien die Gelder der Stiftung vergeben werden. Antwort: für Projekte, die die Lebensqualität in Vancouver am stärksten verbessern. Um diese Projekte zu iden­ tifizieren wurde ein Berichtssystem für zwölf Themenbereiche und mehr als hundert Indikatoren aufgebaut. Gemeinsam mit der Stadt, der Wirtschaft und anderen Akteuren aus der Zivilgesellschaft, versucht man nun die Bereiche aktiv anzugehen, in denen sich Vancouver noch besonders verbessern kann. Der Trend zu breiteren Erfolgsmaßen endet natürlich nicht auf der städtischen Ebene. Auch immer mehr Staaten befassen sich damit, ihren Erfolg jenseits des Bruttoinlandsprodukts zu messen. Und sie wollen diese breiten Maße nutzen, um knappe zeitliche und finanzielle Ressourcen möglichst sinnvoll einzusetzen. Auch hier gibt es noch keinen weltweit anerkannten Berichtsstandard, dafür eine wachsende Zahl von Ini­ tiativen, die immer wieder ähnliche Bereiche thematisieren. Die OECD hat im Frühjahr 2011 ihren «Index des besseren Le­ bens» vorgestellt, der jedoch bisher nur Daten für ein Jahr ausweist. Das Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt hat Ende 2010 einen «Fortschrittsindex» für 22 Länder von 1970 bis 2008 veröffentlicht. Beide Indizes berücksichtigen das Einkommen, die Gesundheit, das Bildungsniveau und die Umweltbelastung. Die OECD schaut zudem auf Themen wie Wohnen, Sicherheit und Lebenszufriedenheit, für die aber nur wenige historische Daten verfügbar sind. In Großbritannien hat Premierminister

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Cameron Ende 2010 das nationale Statistikamt damit beauftragt, das Wohlergehen der Nation neu zu vermessen. In den USA hat das Parlament ein bis 2018 ausgelegtes Projekt mit einem jährlichen Budget von sieben Millionen US-Dollar genehmigt, um ein nationales Indikatorensystem aufzubauen. In Deutschland wird die Debatte momentan vor allem im Rah­ men der Enquete-Kommission des Bundestags «Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität» geführt. Der Trend zu breiten Erfolgsmaßen wird sich vermutlich in den nächsten Jahren weiter fortsetzen. Immer mehr Unterneh­ men, Städte und Staaten werden sich darauf einlassen und die Berichterstattung wird immer mehr standardisiert werden – je­ weils mit Raum für branchen- oder länderspezifische Aspekte. Sinnvolles Change Management wird sich an diesen Erfolgsmaßen ausrichten.

Dr. Stefan Bergheim Direktor des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt e.V. Kontakt: stefan.bergheim@fortschrittszentrum.de

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☞ Online-Version unter www.zoe.ch

Einblick | Feuerwerk der Theorien | Martin J. Eppler

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In einer turbulenten und komplexen Umwelt hel­ fen uns Theorien, das Wesentliche vom Unwesent­ lichen zu unterscheiden. Sie geben uns eine Be­ schreibungs­sprache, mit der wir uns über organi­ sationale Phänomene unterhalten können. Theorie bedeutet ursprünglich Betrachtung und so liefert eine Theorie denn auch eine bestimmte (begrenzte) Perspektive auf ein Thema oder Problem. Diese Be­ trachtungsweise sollte jedoch nicht nur einen the­ matischen Fokus ermöglichen, sondern auch wis­ sen­schaftlichen Kriterien genügen: Eine Theorie soll­ te systematisch sein, d.h. Begriffe und Beziehungen widerspruchsfrei klären, und an der Realität schei­ tern können, d.h. prinzipiell widerlegbar sein. Sie soll­ te uns dazu befähigen, gewisse Phänomene be­schrei­ ben, erklären oder sogar voraussagen zu können.

Ein Feuerwerk der Theorien aus 30 Jahren OrganisationsEntwicklung

Die OrganisationsEntwicklung hat in dreißig Jah­ ren eine Vielzahl von Theorien vorgestellt und dis­ kutiert. Dieses Feuerwerk an Inspiration, Orientie­ rung und auch Irritation ist in diesem Einblicksbild schematisch zusammengefasst. Natürlich sind dazu einige (provokative) Vereinfachungen und Un­ terlassungen nötig: So ist eine Theorie wie die von Daniel Kahnemann und Amos Tversky nicht «nur» ein ökonomischer, sondern auch ein psychologi­ scher Erklärungsansatz und die Systemtheorie kann natürlich nicht auf das Gebiet der Soziologie be­ schränkt werden. Auch überschneiden sich einige Theorien stark, so etwa das Sammelsurium der Or­ ganisationstheorie und die Kultur-, Rationalitätsoder Sense Making- (Sinngebungs-) Theorien. Eine weitere Vereinfachung betrifft die Beschränkung auf die drei Domänen Ökonomie, Soziologie und Psy­­chologie und die Erwähnung jeweils nur einzel­

Kurt Lewin

ner Vertreters einer Theorie als Stern. Weitere Theo­­ rien mit hoher Relevanz für die Organisationsent­ wicklung stammen beispielsweise aus der Verwal­ tungswissenschaft, aus den Sprachwissenschaften, oder auch aus der Anthropologie. Nichtsdestotrotz kann das Bild eine einfache Na­vigationskarte durch den Dschungel OE-rele­ vanter Theorieansätze sein. Auf der interaktiven Variante des Bildes finden Sie zudem zu jeder The­ orie direkt einen entsprechenden OE-Artikel aus dem online Heftarchiv. Auch die Einblicksrubrik feiert in dieser Ausgabe übrigens ein kleines Jubi­ läum: Sie erscheint zum 20. Mal seit ihrer Einfüh­ rung vor 5 Jahren. Eini­ge dieser Einblicksbilder sind zusammen mit ande­ren soeben als Teil eines «Ma­ nagement-Atlas» erschienen.

Es gibt nichts Nützlicheres als eine gute Theorie.

Autorenname eins, Autorenname zwei, Autorenname drei, Autorenname Martin vier J.| Hier Eppler steht | Feuerwerk das Themader | Schwerpunkt Theorien

| Einblick | Rubrik

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Susanne Willner, Rüdiger Preißer | 29. Systemspiele

| Werkzeugkiste

Werkzeugkiste 29. Systemspiele Wie macht man das? Wie kann man so eine Methode an­wenden? In der Hitliste der Fragen und Wün­­sche, die uns als Berater wie Re­dakteure erreichen, steht die nach Um­set­zungs-Know-how ganz oben. Wir wollen mit dieser Rub­rik da­ zu beitragen, dass sich Bera­tungs­tätigkeit und Veränderungs­arbeit in Organisationen fundiert und pro­fessionalisiert. Zielgruppe ist der stets wachsende Kreis un­serer Leserinnen und Leser, die das Tätigkeitsfeld des Change Ma­na­ge­­ment und der Organisa­ti­ons­be­ra­tung für sich neu erarbeiten und dafür Unterstützung su­chen. Unser Werkzeugkasten wird keine einfachen Patent­lö­sun­gen für kom­­plexe Interventions­pro­ble­me bieten, sondern den Kontext und Anwendungsspezifika der Me­tho­den verdeutlichen. Letztlich liegt die Verantwortung beim An­­wender selbst. Dieser muss ent­ scheiden, in welcher Do­­sie­­­rung, zu welchem Zeitpunkt und mit welch eigener Kom­­petenz und Si­cherheit er das Instrument einsetzt.

Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Friedrich Schiller

Hintergrund und Kontext Ein Stapel Handtücher wächst, wenn wir beim Wäsche falten ein Handtuch auf das andere legen. Ab einer bestimm­ ten Höhe hören wir auf, weil sonst der ganze Stapel zusammenfällt. Mit solchen einfachen, linearen Zusammenhängen sind wir vertraut. Was aber, wenn die Zusammenhänge kom­ plexer sind – beispielsweise bei der Umstrukturierung einer Abteilung, der Entwicklung eines Teams oder der Komposi­tion eines neuen Arbeitsablaufs? Die Wirkungen veränderten Han­

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delns sind oft erst zeitverzögert sichtbar; oder sie bewirken nicht nur kurzfristig erwünschte Gewinne, sondern verursa­ chen auch Kosten; oder Entscheidungen beeinflussen sich wechselseitig und rufen Reaktionen hervor, die eine nicht be­ absichtigte, unkontrollierbare und vielleicht kontraproduk­ tive Eigendynamik entwickeln. In all diesen Fällen stößt unsere auf unseren Sinneserfah­ rungen beruhende Vorstellungskraft schnell an ihre Grenzen. Dennoch tendieren Menschen dazu, an ihren Gewohnheiten, eingefahrenen Wahrnehmungs- und Beurteilungsmustern und bewährten Handlungsroutinen festzuhalten. Die Folge ist: Selbst hochqualifizierte, motivierte und erfahrene Manager und Mitarbeiter treffen immer wieder Entscheidungen, die mit­ tel- bis langfristig enorme negative Folgen für sie selbst, ihre Organisationen oder ihre Umwelt haben. Man hangelt sich dann von Krise zu Krise, anstatt das gesamte System und seine Funktionsweise im Blick zu haben.

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Werkzeugkiste | 29. Systemspiele | Susanne Willner, Rüdiger Preißer

Genau hier setzen die Systemspiele aus dem Systems Thinking Playbook an. Sie haben zum Ziel • die Kompetenz systemisch zu denken zu fördern • die individuelle Lernfähig und die Lernfähigkeit von Teams und Organisationen weiter zu entwickeln und • Lernen aus Erfahrung zu ermöglichen.

drüben! Mehr Konzentration bitte! Aber es nützt nichts mehr: Es sind zu viele Bälle im Spiel. Die Grenzen des Machbaren, die Grenzen des Wachstums sind erreicht. Und nicht nur das, das System bricht zusammen. Kaum noch ein einziger Ball ist in der Luft zu sehen. Nach dem Spaß am Spiel macht sich Ver­ wirrung breit. Was ist hier eigentlich passiert?

Alle Systemspiele sind einer oder mehreren der fünf Kerndis­ ziplinen einer lernenden Organisation zugeordnet, die Peter Senge in seinem Buch Die Fünfte Disziplin – Kunst und Praxis der lernenden Organisation beschrieben hat: • mentale Modelle • Selbstführung und Persönlichkeitsentwicklung • Team-Lernen • gemeinsame Visionen • systemisches Denken

Lernen beim Spielen

Gemeinsam bilden sie, Senge zufolge, die Voraussetzung für kontinuierliches Lernen in jeder Organisation. Die Disziplinen bedingen sich wechselseitig und die von Senge hervorgehobe­ ne «fünfte Disziplin» – die Kompetenz, systemisch zu denken – wirkt als integrierende Disziplin, die alle anderen miteinan­ der verknüpft.

Die Konstruktionslogik der Systemspiele (hier: Group Juggle aus dem Systems Thinking Playbook) beruht auf aktuellen Er­ kenntnissen der Lehr-Lernforschung, die ihren Niederschlag im Ansatz des erfahrungsbasierten Lernens gefunden haben. Dieser Ansatz basiert auf der Annahme, dass sich Lernerfolge umso nachhaltiger auf das zukünftige Handeln auswirken, je stärker während des Lernens neben dem Verstand auch Kör­ per und Gefühle angesprochen werden. Die Teilnehmenden werden eingeladen spielerisch zu han­ deln, wobei sie leichter alte Muster ablegen und intuitiver han­ deln können. Kurz, sie werden psychologisch wahrhaftiger. Die Übungen lösen zudem Emotionen aus und sie machen Spaß. Dadurch befördern sie eine anregende, Kreativität, Dialog- und Lernbereitschaft freisetzende Atmosphäre.

Abbildung 1

Verstehen durch Erfahrungslernen

Darstellung der Methode Die 15 Abteilungsmitglieder stehen im Kreis und werfen sich gegenseitig Bälle zu. Die Stimmung ist lebhaft, alle sind konzentriert und geben ihr Bestes. Das Ziel des Teams ist es, sich gleichzeitig so viele Bälle wie möglich in einer zuvor festgelegten Reihenfolge zuzuwerfen. Sobald klar ist, dass sie die Aufgabe mit den ersten, wenigen Bällen beherrschen, be­ ginnt die Moderatorin immer mehr Bälle in den Kreis zu wer­ fen. Manch­mal fliegen auch Gummihühner durch die Luft. Die­ se werden unter viel Gelächter ebenfalls gefangen und weiter geworfen. Irgendwann verlieren die Ersten den Überblick. Ein­ zelne Bälle fallen zu Boden. Schnell bückt man sich und holt sie zurück – so verlangen es die Spielregeln: Kein Ball darf auf dem Boden liegen. Nach und nach sind immer mehr Teammit­ glieder mit dem Zurückholen der Bälle beschäftigt. Jetzt wer­ den die ersten Parolen gerufen: Vorsicht! Passt doch auf da

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Was ich höre, vergesse ich

Was ich sehe, daran erinnere ich mich

Was ich tue, verstehe ich

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Abbildung 2

Erfahrungsbasierter Lernzyklus nach Kolb (1984) Konkrete Erfahrung

Aktives Experimentieren

Beobachtung Reflexion

Abstraktion und Generalisierung

Während der Auswertung artikulieren und reflektieren die Teil­ nehmenden ihre während der Übung gemachten Erfahrun­gen, vergleichen sie mit ihrem Alltag und ziehen Schlussfolgerun­ gen für ihr zukünftiges Handeln. Dieser Ablauf entspricht dem zyklischen Ablauf des Lernens, wie ihn David Kolb, einer der prominentesten Vertreter des erfahrungsbasierten Lernens, ent­ worfen hat. Darin geschieht Lernen über zwei Transformati­ ons­modi: aktives Experimentieren (Deduktion) und reflexives Be­obachten (Induktion).

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kreise helfen, die Einflussfaktoren, die Struktur des Systems sowie seine Dynamik zu verstehen. Auch individuelle Annahmen und Gedanken kommen zur Spra­ che: «Ich dachte, wir müssten die Bälle so schnell wie mög­lich werfen», «Ich habe die ganze Zeit aufgepasst, welche Fehler die anderen machen » oder «Ich habe nicht gewagt Vorschläge zu machen – schließlich bin ich keine Führungskraft ». Systemisches Denken bedeutet nicht nur, komplexe Wech­ selbeziehungen, Zeiteffekte und Eigendynamiken in Systemen zu erkennen, sondern schließt auch die Reflexion der eigenen Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster – die sogenannten mentalen Modelle – mit ein. Mentale Modelle beeinflussen was wir sehen – oder auch nicht sehen – und wie wir es beurteilen. Damit beeinflussen sie unsere Entscheidungen und unser Ver­ halten.

Lernende Teams und Organisationen Unterstützt durch Fragen und Hinweise der Moderatorin ge­ hen die Abteilungsmitglieder nun auf die Suche nach ver­gleich­ ­baren Erfahrungen aus ihrer Arbeitsrealität. In lockerer und konzentrierter Atmosphäre werden wichtige, teilweise sensib­ le Punkte genannt.: «Wir setzen keine Grenzen und nehmen im­mer mehr Aufgaben an», «Wir nehmen uns keine Zeit für Reflexion und gegenseitiges Feedback», «Wir beschuldigen

Systemisch denken lernen Durch Systemspiele werden einzelne Aspekte systemischen Den­kens für die Teilnehmenden erfahrbar. Sie lernen nicht nur kurzfristig und im engeren Umfeld zu denken, sondern ganz­ heitlich alle langfristigen Wirkungen auf andere beteiligte Per­ sonen oder die Umwelt zu berücksichtigen. Sie werden zudem selbst zum Teil eines Systems und tragen Verantwortung für das Geschehene. Damit sehen sie sich auch einfacher als ein Teil der Lösung. Nach dem Einsammeln der Bälle bleiben die Abteilungs­ mit­glieder am Ort des Geschehens in lockerer Runde stehen. Zu Be­ginn der Auswertung wird erst mal Dampf abgelassen, Schwierigkeiten werden aufgezählt und Schuldige gesucht: die unzureichende Wurf- und Fangtechnik einiger Teammitglie­ der, die niedrige Seminarraumdecke, die mangelnde Zeit zum Üben, das Fehlen eines durchsetzungsstarken Teamleiters, die Irritation durch herumfliegende Hühner usw.. Nach und nach kommen sie mithilfe von Fragen und Hinweisen der Modera­ torin Wechselwirkungen und strukturellen Ursachen auf die Spur: je mehr Bälle geworfen werden, desto weniger Zeit bleibt dem Einzelnen zum Fangen und Weiterwerfen, desto mehr Bälle fallen herunter, desto mehr Bälle müssen zurück geholt werden, desto weniger Fänger stehen zur Verfügung, so dass immer weniger Zeit zum Fangen und Werfen bleibt usw.. Ge­ meinsam entwickelte, auf einem Flipchart visualisierte Regel­

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Kompetenzen eines «Systemdenkers»

• Abstand nehmen: das gesamte Bild sehen • Perspektiven wechseln: neue Ansatzpunkte suchen • Aufspüren komplexer Wechselwirkungen, langfristiger Folgen, unerwarteter Wirkungen • Erkennen und Reflektieren mentaler Modelle: wie sie unsere Wahrnehmung und unser Handeln beeinflussen • Suchen nach strukturellen Ursachen, nicht nach Schuldigen • Aushalten von Unklarheiten: nicht nach schnellen Lösungen suchen • Beschreiben und Visualisieren von Systemen: Modelle und Regelkreise entwerfen • Sich selbst als Teil des Systems erkennen

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die­je­nigen, die am meisten zu tun haben, anstatt selbst Ver­ antwortung übernehmen». Auf der Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten wird dem Team schnell klar, dass – auf der Ebene der Übung – eine wirk­ lich dauerhafte Verbesserung nur durch die Veränderung der Spielregeln, also der Systemstruktur, herbeizuführen ist. Also: Ab einem bestimmten Zeitpunkt keine neuen Bälle mehr an­ nehmen und heruntergefallene Bälle einfach liegen lassen. So kann auch über einen langen Zeitraum ein Maximum an Bäl­ len geworfen werden. Diese Erkenntnis regt die anschließen­ de Diskussion um die Situation in der eigenen Abteilung an: Was sind eigentlich unsere Kern-Aufgaben, welches unsere Prioritäten (Bälle oder Hühner)? Wie viele Aufgaben können wir sinnvoll verarbeiten (Grenzen des Wachstums)? Wann wird es zu viel und die Qualität unserer Arbeit nimmt ab (Zusam­ menbruch des Systems). Welche Feed-back-Schleifen brauchen wir, um unsere Arbeit kontinuierlich zu verbessern (struktu­ relle Ursachen und Dynamiken erkennen).

Systemspiele lassen sich sehr gut an unterschiedliche Themen- und Gruppenkonstellationen anpassen

Hilfreiche Fragen zur Auswahl eines passenden Systemspiels: • Welche Aspekte des Systemdenkens können einer Gruppe helfen, Herausforderungen besser zu begegnen? • Welche vorherrschenden mentalen Modelle beeinflussen das Verhalten in der Gruppe? Konkurriert man obwohl man gemeinsam in einem Boot sitzt? Geht es darum Recht zu haben obwohl die Perspektiven der anderen genauso wahr und hilfreich wären? Verschlechtert mehr vom dauernd gleichen Verhalten die Situation? Strebt man nach kurzfristigen Gewinnen und verliert langfristige Kosten aus dem Blick? • Wo im Lernprozess steht die Gruppe? Was ist vorher passiert und kann vertieft, was soll anschließend passieren und kann mit einem Systemspiel vorbereitet werden? • Ist man schon vertraut miteinander oder eher noch steif und vorsichtig? Geht es eher um Beschleunigung oder um Innehalten?

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Man verständigt sich auf eine Reihe wichtiger Veränderungen: die Zielsetzung und die Prioritäten der Abteilung sind die Messlatte, von außen neu an die Abteilung herangetragene Auf­gaben werden daran gemessen; Grenzen zu setzen ist in Ordnung; Aufgaben werden an einigen Stellen neu verteilt, und Schnittstellen optimiert; bei regelmäßigen Abteilungs­ treffen will man sich über die aktuelle Arbeitsbelastung aus­ tauschen; statt nach Schuldigen zu suchen will man gemein­ sam versuchen, Zusammenhänge zu verstehen und Abläufe zu optimieren.

Nutzen und Anwendungsfelder der Systemspiele Man kann ein soziales System, wie ein Unternehmen, eine Ab­ teilung oder eine Gruppe nur verstehen, wenn man die Regeln kennt, die das Verhalten der Personen in diesem System leiten (vgl. König, 1998). In diesem Sinne helfen die Systemspiele aus dem Systems Thinking Playbook den Teilnehmenden dieses Ver­ ständnis zu erlangen. Die Teilnehmenden werden dabei selbst zum Akteur. Die Beraterin, der Moderator bzw. der Spielleiter zum Lernprozessbegleiter. Die Systemspiele sind bestechend einfach in ihrer Durch­ führung. Gleichzeitig sind sie sehr aussagestark und konzepti­ onell komplex. Sie lassen sich damit gut an unterschiedliche Gruppen- und Themenkonstellationen anpassen und können ohne großen technischen oder organisatorischen Aufwand in Beratungs-, Trainings- oder Vortrags-Situationen eingesetzt wer­ den. Je nach Art und Umfang sind sie sowohl für kleine als auch für sehr große Gruppen mit mehreren Hundert Mitgliedern geeignet. Für die Auswahl einer passenden Übung bietet das Systems Thinking Playbook eine ausführliche und übersichtli­ che Beschreibung der Lernziele, der didaktischen Prinzipien und des Kontextes. Vorbereitung, Durchführung und Auswer­ tung, auch alternative Durchführungsformen und Anwen­ dungsbeispiele werden detailliert beschrieben. Zitate und Er­ fahrungsberichte von Trainern und Teilnehmenden runden die Beschreibungen ab.

Fallstricke bei der Anwendung der Methode Manche Auftraggeber und Teilnehmer bezweifeln die Ernsthaf­ tigkeit der Übungen und reagieren mit Ablehnung, sobald sie hören, dass sie ihrem Charakter nach Spiele sind. Spielen und Arbeiten sowie Spielen und Lernen werden häufig in einen un­ überbrückbaren Gegensatz gebracht. Man sollte dann das Wort «Spiele» besser vermeiden und von Übungen oder Experimen­ ten sprechen. Übrigens sprach auch bereits Maria Montessori, Begründerin der Montessoripädagogik für Kinder, mit Bedacht nicht von Spielen sondern von Arbeiten, um auf den wirksa­ men Charakter von Spielen für das Lernen hinzuweisen.

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Systemspiele in drei Beispielen

Daumenringen Eine lustige und sehr lehrreiche Übung. Zwei Partner «verhaken» ihre Finger ineinander und versuchen für sich selbst so viele Punkte wie möglich zu machen, indem sie mit ihrem Daumen auf den Daumen des anderen drücken. Sie haben 15 Sekunden dafür Zeit. In der Regel nimmt man an, man müsse besser als der «Gegner» sein. Diese Annahme führt dazu, dass man sich gegenseitig daran hindert, Punkte zu machen. Würde man kooperieren, würden beide individuell ein wesentlich besseres Ergebnis erzielen.

Ziele Die Übung macht erlebbar • welche Folgen Kommunikationsbarrieren haben und was man tun kann, um sie zu überwinden, • wie wichtig eine gemeinsame Zielvorstellung und der Blick fürs Ganze sind, • welche Rolle Leadership und die Übernahme von Verantwortung für ein Gesamtsystem haben.

Ziele Die Übung macht erlebbar • wie mentale Modelle unsere Wahrnehmung und unser Handeln beeinflussen, • wie die Annahme «ich muss gewinnen» zu Misstrauen, Konkurrenz und schließlich zu schlechten individuellen Ergebnissen führt, • welche Auswirkungen Zusammenhänge und Abhängigkeiten haben.

Einsatzmöglichkeiten • Förderung von Kommunikation und Zusammenarbeit in Organisationen • Teamentwicklung • Kooperationsprozesse • Führungskräfteentwicklung

Einsatzmöglichkeiten • Teamentwicklung • Kooperationsprozesse • Fusions-, Umstrukturierungsprozesse • Verhandlungssituationen Inseln Bei dieser Übung schlüpfen die Teilnehmenden in unterschiedliche Rollen. Auf drei «Inseln» verteilt (Holz-Paletten) stehen die Blinden, die Stummen und die sogenannten Ungehinderten und versuchen, alle Gruppen in einem Kreis zu versammeln. Allerdings haben nicht alle einen Überblick über die Situation und sind teilweise in Ihrer Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt. Außerdem haben nicht alle vollständige Informationen über das gemeinsame Ziel und ihre wechselseitigen Abhängigkeiten. Nur durch Engagement, Übernahme von Verantwortung und wechselseitige, verständliche Kommunikation können sie gemeinsam erfolgreich sein.

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Kreise in der Luft Eine sehr einfache und wirksame Übung. Die Teilnehmenden nehmen einen Stift in die Hand und mit nach oben ausgestrecktem Arm tun sie so als würden sie im Uhrzeigersinn einen imaginären Kreis unter die Decke malen. Nun bewegen sie ihren Arm langsam nach unten bis ihr Stift vor ihrem Bauch kreist — während sie weiterhin mit der Stiftspitze den Kreis unter die Decke malen. Blicken die Teilnehmenden nun aus dieser Perspektive von oben auf ihren Kreis, stellen sie mit Erstaunen fest, dass sich dieser plötzlich gegen den Uhrzeigersinn dreht. Ziele Die Übung macht erlebbar • wie unterschiedlich dasselbe aus verschiedenen Perspektiven aussieht, • das andere Perspektiven nicht falsch sind, sondern das Bild kompletter machen, • dass es nicht um «Schuld», sondern um unterschiedliche Sichtweisen geht. Einsatzmöglichkeiten • Dialog- und Lernprozesse • Teamentwicklung • Kooperationsprozesse • Verhandlungssituationen

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Werkzeugkiste | 29. Systemspiele | Susanne Willner, Rüdiger Preißer

Mit der Auswahl und der sorgfältigen Einpassung in den roten Faden einer Beratungssituation oder Veranstaltung steht und fällt die Wirksamkeit eines Systemspiels. Wenn sich den Teilnehmenden der Sinn der Übung nicht spätestens bei der Auswertung erschließt, kann dies zu Irritation und Verweige­ rung führen. Die Übungen sollten nicht nur um des Spielens willen an­ gewandt werden. Erst mit der Auswertung einer Übung wird ihnen Sinn zugewiesen und Lernen und Transfer in die eigene Verhaltensrealität kann stattfinden. Für diesen Transfer müs­ sen Moderatoren feinfühlig und aufmerksam sorgen. Auch passt nicht jede Übung zu jeder Spielleiterin, jedem Spielleiter. Erfahrungsgemäß gibt es Vorlieben und andere Übungen erschließen sich einem erst gar nicht. Spielleiter sol­ len sich mit «ihren» Übungen wohl fühlen – aber auch neugie­ rig neue ausprobieren, um ihr Repertoire zu erweitern. Bei gu­ ter Vorbereitung gilt in der Regel «wer wagt, gewinnt».

Literatur

Fazit Die Übungen sind konzeptionell auf dem neuesten Stand der Lehr-Lernforschung und der Forschung zu Kompetenzent­ wicklung. Sie katalysieren Lern- und Dialogprozesse, bei de­ nen systemisches Denken erforderlich ist. Eine sorgfältige Aus­ wertung bietet Chancen sowohl für das individuelle Lernen als auch für das Lernen von Gruppen und Organisationen. Die Systemspiele verbinden damit in ausgereifter Weise Erkennt­ nisse aus der Pädagogik, der Systemtheorie und der Organisa­ tionsentwicklung. Das Systems Thinking Playbook bietet eine sehr detaillierte und strukturierte Beschreibung der Systemspiele. Sie sind ein­ fach und ohne großen organisatorischen oder technischen Auf­ wand anzuwenden und gut mit anderen Methoden zu kombi­ nieren. Damit lassen sie sich in vielfältige Beratungs-, Trainingsoder Vortragssituationen einpassen. Und nicht zuletzt: die Systemspiele kommen bei den Teil­ nehmenden gut an, sie machen Spaß – und bleiben gerne in Erinnerung. Susanne Willner, Organisationsberaterin, Trainerin, Moderatorin, mail@susanne-willner.de Dr. Rüdiger Preißer, Organisationssoziologe, Kompetenzentwickler, Berater, info@ruediger-preisser.de

• Dörner, D. (2003). Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. rororo. • König, E. / Volmer, G. (2008). Handbuch Systemische Organisa­ tionsberatung. Beltz. • Königswieser, R./ Hillebrand, M. (2004). Einführung in die syste­ mische Organisationsberatung. Carl-Auer-Verlag. • Kolb. D. A./Fry, R. (1975). Toward an applied theory of experiential learning. in C. Cooper (ed.) Theories of Group Process, London: John Wiley. • Meadows, D./ Sweeney, L. Booth (2001). The Systems Thinking Playbook – Exercises to stretch and build learning and systems thinking capacbilities. Chelsea Green Publishing. • Meadows, D./ Meadows, D. (1993). Die neuen Grenzen des Wachstums. DVA. • Preißer, R. (2009). Evaluationsbericht zur Workshopreihe «Zukunft gestalten — Schlüsselkompetenzen für eine nachhaltige Entwicklung». Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ). • Senge, P. M. (2011). Die fünfte Disziplin Kunst und Praxis der lernenden Organisation. Schäffer-Poeschel.

Die Nutzung der Grafiken erfolgte durch die freundliche Geneh­ mi­gung von Linda Booth Sweeney.

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• Vester, F. (2002). Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Deutscher Taschenbuch Verlag.

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Fluch und Segen technischer Kommunikationsinstrumente; Demografischer Wandel fordert die Wirtschaft

Change Communi­ cations: Fluch und Segen technischer Kommunikations­ instrumente Intranet, Wikis, Blogs, E-Learning – die Bandbreite technischer Kommunikationsinstrumente ist groß. Aber werden sie auch adäquat eingesetzt, um Change Prozesse zu unterstützen? In einer Studie der Macromedia Hochschule für Me­ dien und Kommunikation zum Thema «Technische Kommunikationsinstrumen­ te im Change- und Kundenmanagement» wurden 70 Adressaten aus der Unterneh­ menskommunikation, dem Personalmanagement sowie Change-affinen PRAgenturen und Unternehmensberatungen zu diesem Thema befragt. Die Umfrage beinhaltete damit die Betrachtung von Change-Prozessen aus der InnenPerspektive (Unternehmen) und der Außenperspektive (Agenturen, Beratungen). Die Studie kann als Stimmungsbild, nicht aber als repräsentativ verstanden werden. Im Ergebnis zeigte sich, dass fast 80 Prozent der befragten Organisationen sich selbst als technik-affin charakterisieren. «Affinität» sagt aber noch nichts darüber aus, ob Change Management durch den Einsatz technischer Kommunikationstools besser unterstützt wird. Bei­spielsweise, indem es das Management dialogischer vorgehen lässt, um Stakeholderansprüche zu bearbeiten. Für mehr als 40 Prozent der Befragten ist es (sehr) zutreffend, dass ihre Organisation viele technisch innovative Instrumente in der internen Kommunikation einsetzt, um ihre Veränderungsprozesse zu unterstützen. Dass das aber nicht zwangsläufig dazu führt, einen effizienten Dialog und mehr Partizipation zu ge­ währleisten zeigen die folgenden, sehr ambivalenten Ergebnisse: Für rund 45 Prozent der befragten Unternehmen trifft

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es (sehr) zu, dass technische Kommunikationsinstrumente zu insgesamt mehr Dialog und Partizipation geführt haben. Umgekehrt gilt, dass für gut 20 Prozent technische Kommunikation zu keinem echten Dialog geführt hat und zehn Prozent diese Instrumente gar nicht erst ein­ setzen. Für fast 30 Prozent ist es (sehr) zutreffend, dass die IT ihres Unternehmens als eine Entprofessionalisierungsinstanz technischer Changes gilt, da sie vor allem technisch und zu wenig ganzheitlich denkt und arbeitet. Fazit: Es zeigt sich, dass die technischen Kommunikationstools eine ambivalente Rolle in Change Prozessen spielen. Einerseits haben sie in vielen Un­ter­neh­ men zu einem spürbaren Plus an Dialog und Partizipation geführt. Andererseits steht auch ein maßgeblicher Anteil der Rolle von IT-Tools kritisch gegenüber, in­ dem sie auch kritisch-provokante – und damit klare Fragen – bestätigen. Weitere Informationen: www.macromedia-hochschule.de oder JAN.LIES@JAN-LIES.DE

Demografischer Wandel fordert die Wirtschaft: Heute für übermorgen planen Im Jahre 2020 wird das Durchschnittsalter in Europa bei 40 Jahren liegen – in Deutschland sogar bei über 45. Die Altersgruppe der über 50-jährigen Deutschen wächst bis dahin um 68 Prozent; und ein Viertel der deutschen Arbeitskräfte wird in den nächsten 15 Jahren in den Ruhestand gehen. Für die Wirtschaft bedeutet dies, dass der Bedarf an qualifizierten Fachkräften voraussichtlich bald nicht mehr gedeckt werden kann. Aber auch Unternehmen in Ländern mit einer jüngeren Altersstruktur wie Brasilien, Indien oder China werden mit alternden Belegschaften und der Herausforderung

| Perspektiven

konfrontiert, ihr Wachstum angesichts eines immer knapper werdenden Arbeits­ kräfteangebots weiterhin zu halten. Um künftig wettbewerbsfähig zu sein, müssen sich Unternehmen daher bereits jetzt auf die demografischen Risiken in den Märkten, in denen sie agieren, einstellen. Zu diesem Ergebnis kommt die Boston Consulting Group (BCG) in ihrer Studie «Turning the Challenge of an Older Work­ force into a Managed Opportunity», für die weltweit rund 600 Personalmaßnahmen von mehr als 330 Unternehmen ana­ lysiert und über 70 Führungskräfte befragt wurden. Neben den demografischen Risikoprofilen von 16 großen Volkswirtschaften zeigt die Studie Best-PracticeBeispiele auf, wie Manager die Risiken bestmöglich handhaben können. Den Unternehmen droht zum einen ein Kapazitätsrisiko, wenn in den nächsten Jahren viele Mitarbeiter in den Ruhe­ stand treten und ihr wertvolles Wissen mitnehmen. Zum anderen stehen die Unternehmen vor einem Performancerisiko, d.h. der Herausforderung, ihre Wett­bewerbsfähigkeit mit einem veränderten Leistungsprofil der Belegschaft zu erhalten. Gleichzeitig muss das veränder­ te Leistungspotenzial der Belegschaft mit dem Geschäftsmodell in Einklang gebracht werden – beispielsweise durch die Anpassung von Arbeitsabläufen an die Bedürfnisse älterer Mitarbeiter. Die BCG-Studie stellt einen «SechsPunkte-Plan» vor, wie Unternehmen die drohenden Kapazitäts- und Perfor­mance­ risiken bestmöglich handhaben können: 1. Segmentierung der Mitarbeiter in un­ terschiedliche Jobkategorien, basierend auf den benötigten Erfahrungen, ihren Qualifikationen und der Austauschbarkeit von Jobs im Unternehmen. 2. Simulation der zukünftig verfügbaren Belegschaft, unter Berücksichtigung re­levanter Parameter wie Fluktuati­ons­­ raten und des Renteneintrittsalters sowie weiterer jobspezifischer Ef­fekte wie etwa Altersteilzeit­rege­lun­­gen. Dies beinhaltet auch die Bewertung

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Perspektiven | Change Management: Führungskräfte kommunizieren oft mangelhaft; Glückwunsch! Karsten ge-STEIGER-t

möglicher Implikationen der Alterung auf die Leistungsfähigkeit der einzelnen Jobkategorien. 3. Prognose des Mitarbeiterbedarfs, ab­ geleitet aus der Unternehmensstrategie und den unterliegenden Treibern, um zu bestimmen, wie sich Strategieszenarien auf den künftigen Bedarf an Mitarbeitern in den einzelnen Jobkategorien und Standorten auswirken. 4. Bewertung der Kapazitätslücken anhand eines detaillierten Abgleichs des prognostizierten Bedarfs mit der künf­

tig verfügbaren Belegschaft für un­terschiedliche Geschäftsszenarien. Die detaillierte Analyse zeigt, in welchen Jobkategorien ein Überhang oder ein Mangel an Qualifikationen zu welchem Zeitpunkt im Unternehmen auftreten wird. Engpässe an hochspezialisierten Jobs, die eine lange Qualifikationsphase erfordern, können so rechtzeitig identifiziert werden. 5. Verankerung von priorisierten Maß­ nahmenpaketen, um Kapazitätslücken zu schließen – z.B. durch die Aus­

Glückwunsch! Karsten ge-STEIGER-t

weitung des Bewerberpools (Einsatz von ähnlichen Qualifikationen auch aus anderen Branchen), durch Umschulung verfügbarer Mitarbeiter (spe­ zielle IT-Trainings lassen ältere Mitarbeiter besser mit komplizierter Soft­ware umgehen und neue Aufgaben übernehmen) oder durch Jobwechsel innerhalb des Unternehmens (Rota­tio­ nen in andere Abteilungen erweitern die Fähigkeiten der Mitarbeiter). 6. Entwicklung eines strategischen Per­ sonalplanungsprozesses, der eng und kontinuierlich an die Geschäftsziele gekoppelt ist – und keine «einmalige Übung». Für weitere Informationen: www.bcg.de.

Change Management: Führungskräfte kommunizieren oft mangelhaft

Karsten Trebesch war vom Zeitpunkt der Gründung der Zeitschrift OrganisationsEntwicklung (1981) an eine tragende Säule im Redaktionsteam und damaligen Herausgeberkreis und ist dieser Rolle in allen Phasen der weiteren Entwicklung der Zeitschrift bis zur Übernahme durch den Fachverlag der Verlagsgruppe Handelsblatt treu geblieben. Ohne seine Impulse und seine hervorragenden nationalen wie internationalen Kontakte hätte die Zeitschrift nie den exzellenten Ruf erreicht, den sie mittlerweile hat. Zu seinem 65. Geburtstag habe ich dazu nähere Ausführungen gemacht (Heft 3/2006). Was tun zum Siebzigsten, ohne mich zu wiederholen? Karsten war immer ein Fan der Steiger’schen Karikaturen, die wir über viele Jahre in der Zeitschrift platziert hatten. Deshalb habe ich die Karikaturen durchgeschaut und eine ausgewählt, die mir passend erscheint — aber mit einer neuen Überschrift: Mach weiter so! Klaus Doppler

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Unregelmäßig, nicht zielgruppengerecht, unverständlich und in vielen Bereichen weder offen noch ehrlich – so bewerten mehr als die Hälfte der Mitarbeiter in deutschen Unternehmen die Kommu­ nikation ihrer Vorgesetzten in Veränderungsprojekten. Dies ergab die Studie «Change Readiness 2010» der Mutaree GmbH. Dabei ist es eine der Kernaufgaben der Führungskräfte in einem Unternehmen, durch klare Kommunikation Akzeptanz für ein Veränderungsvorhaben zu schaffen und zu motivieren. Führungskräfte müssen ihren Mitarbeiter gerade in Veränderungsprozessen die Gründe und Ziele des Vorhabens begreifbar machen. Nur wenn die Basis ver­ steht, worum es geht und was die Zielsetzungen sind, wird sie das Vorhaben unterstützen. Die Ergebnisse der Mutaree-Studie zeigen jedoch, dass dies in Wirklichkeit nur selten der Fall ist: 70 Pro­ zent der Befragten trauen ihrem Mana­ge­

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Zum 3. Mal: Die Berlin Change Days; Tagung über Macht und Status in Gruppen und Organisationen

ment nicht zu, ein attraktives Zukunftsbild zu vermitteln und nur 29 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass ih­ re Führungskraft sie für ein Veränderungs­ vorhaben begeistern kann. Weitere Infos: http://www.mutaree.com

«Die Vernünftigen passen sich der Welt an, die Unvernünftigen versuchen sie zu verändern. Deshalb hängt aller Fortschritt von den Unvernünftigen ab.»

der autoritäre Stil von Macht schlecht und stark, der transparente gut und schwach? Solche Fragen sind im Team-Alltag oft niemandem bewusst und doch prägen und bewegen sie die Arbeitskultur. Die Geschwindigkeit der Verände­run­­ gen in Wirtschaft und Gesellschaft wird immer rasanter. Eine Reform jagt die nächste. Die Menschen erleben sich als getrieben, ihre Einflussnahme schwindet. Ohnmacht greift um sich. Doch wie es nach Watzlawick nicht möglich ist nicht zu kommunizieren, können wir

| Perspektiven

auch nicht keinen Einfluss in einem vorhandenen System nehmen. Die ChangeTagung der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW will Antworten finden auf Fragen wie «Macht Macht einsam?», «Gibt es typisch weibliche und männliche Machtspie­le?», «Bringt uns Konkurrenz weiter als Kooperation und Empathie?» oder «Welche Kom­munika­tions­ kultur gilt es in Gruppen und Organisationen zu pflegen?» Weitere Infos: www.changetagung.ch

OE Online

Georg B. Shaw Top 10 Artikel aktuell im Online-Heftarchiv der OrganisationsEntwicklung

Tagung über Macht und Status in Gruppen und Organisationen

1. Erfolgsfaktoren u. psychologische Hintergründe in Veränderungsprozessen (Heft 4/06) 2. Werkzeugkiste: 27. Intervisionsgruppen/kollegiale Fallberatung (Heft 02/11) 3. Strukturierte Großgruppenmethoden in der Praxis (Heft 03/11) 4. Neue Wege des Change Managements (Heft 02/00) 5. Change Management lernen und erfahren (Heft 01/11)

«Lust auf Macht statt Frust durch Ohnmacht» oder «Mit Wissen Macht ent­rät­ seln» sind zwei von 22 Workshops, die an der Tagung «Change trifft Teams» in Basel angeboten werden. Die zweitägige Veranstaltung der Hoch­schule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz richtet sich an Menschen, die im Team arbeiten, es führen oder erforschen. Die dritte Durch­ führung der jeweils in Kürze ausgebuchten Change-Tagung findet am 19./20. Ja­ nuar 2012 in Basel statt. Der Machtbegriff löst bei den meisten Menschen negative Assoziationen aus. Dabei bündelt er ursprünglich das Zusammentreffen von Können, Vermögen und Einflussnahme. Aber immer schwingt mit, dass Machtinhaber ihre Position aus­ nutzen. Ist es wahr, dass man Macht nur auf Kosten anderer gewinnen kann? Ist

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6. Do’s and Don’ts im Change Management (Heft 01/11) 7. Vor dem Platzen der «Leadership Bubble» (Heft 02/11) 8. Rightsizing — Ein Überblick zu Ansätzen und Methoden (Heft 03/11) 9. Perspektiven (Heft 01/11) 10. Lernen, den Wandel klug zu gestalten (Heft 01/11) (absteigend sortiert nach der Häufigkeit des Downloads im Zeitraum 10.6.2011 bis 10.9.2011)

Top 3 Artikel «Dauerbrenner» im Online-Heftarchiv der OrganisationsEntwicklung 1. Erfolgsfaktoren und psychologische Hintergründe in Veränderungsprozessen (Heft 4/06) 2. Kurzinterviews: Strategieumsetzung — die Praktikersicht (Heft 1/09) 3. Werkzeugkiste: Systemisches Fragen (Heft 01/05) (absteigend sortiert nach der Häufigkeit des Downloads im Zeitraum 1.5.2009 bis 1.10.2011)

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