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Kapitel 1
Die Sonne schien schon den ganzen Tag auf die Dächer der kleinen Hütten in Allerland. Sie spiegelte sich in den Fensterscheiben. Auf dem Dorfplatz spielten zwei Jungen Fußball. Ein Mädchen schaute verträumt auf einer Blumenwiese einem Schmetterling hinterher, bis dieser in den hohen Gräsern -3-
verschwand. Anka wandte sich von dem Anblick ab und versuchte den beiden Jungen etwas zu sagen.
»Hallo Jens, hallo Paul«.
Anka wich einem von Jens etwas zu fest geschossenen Ball aus und ging auf die beiden zu.
»Könnt ihr eigentlich nichts anderes als Ball spielen?«
Paul lief rasch dem verunglückten Pass seines Freundes hinterher und rief:
»Doch, wir haben heute schon ein Kaninchen gejagt. Mario bereitet es gerade zu.«
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Mario war der Älteste in der kleinen Ortschaft, die keinen Namen hatte. Er würde nächstes Jahr alt genug sein, um durch das Tor zu gehen, welches die Welt der Kinder von denen der Erwachsenen trennt. Danach würde Anka ihn nie wieder sehen. Sie wurde etwas betrübt bei diesem Gedanken. Sich eine Träne aus dem linken Auge abwischend, schlenderte sie zu der Hütte, aus deren Kamin Rauch emporstieg. Sie klopfte an die Tür.
»Mario? «, fragte sie, »darf ich reinkommen?«
Von innen kam ein kurzes »Ja« und sie drückte die Türklinke herab. Innen führte sie ihr Weg schnurstracks in die Küche. -5-
Mario stand am Herd, ein junger Mann von siebzehn Jahren, dessen dunkelbraune Haare durch den Dampf des Kaninchenbratens fast nicht zu sehen waren. Er war sehr groß und musste sich in seiner eigenen Küche schon bücken, damit er sich nicht den Kopf an der Decke stieß.
»Was willst du, Anka? «, fragte er. »Siehst du nicht, dass ich zu tun habe? «
»Mario«, erwiderte Anka, »in zwei Wochen wirst du durch das Tor gehen. Wer soll für uns sorgen, wenn du weg bist? Jens und Paul spielen den ganzen Tag nur Ball und von den anderen Kindern ist niemand alt genug!«
»Na, du.« Anka trat einen Schritt zurück. »Du bist die Einzige, die Eierkuchen braten -6-
kann. Außerdem weißt du, wie man einen leckeren Gurkensalat zubereitet und deine Apfelringe sind absolut großartig.«
»Wenn du nicht mehr da bist, wer heizt im Winter unsere Hütten, wer geht das Holz aus dem Wald holen und wer jagt uns ein Kaninchen? Wer näht uns Kleider und wer ... ???«
»Vor drei Jahren, war ich so alt wie du. Als damals Sanne durch das Tor ging, war ich derjenige, der ihr diese Frage stellte. Anka, man wächst mit seinen Aufgaben. Nur du wirst es schaffen! So, jetzt hilf mir die Kartoffeln abzugießen und stell die Teller auf den Tisch.«
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Kapitel 2
Der nächste Tag war noch heißer und die Kinder hielten sich fast alle im Schatten auf. Einzig Anka nutzte den naheliegenden Wald um einen Spaziergang zu machen. Immer wieder dachte sie an Mario und an den Tag, der unaufhaltsam näher kam. In Gedanken versunken wanderte sie umher und kam schließlich auf einer Lichtung zum Stehen. Was sie dort sah konnte sie kaum glauben. Zwischen den Gräsern sonnte sich ein violettes Pferd mit einer langen Mähne. Es sah wunderschön aus. Auf der Stirn des stolzen Rosses befand sich ein ungefähr zwanzig Zentimeter langes Horn...Ein Einhorn... -8-
»So etwas habe ich noch nie gesehen.«, dachte Anka, »normalerweise kommen die doch nur in Märchen vor.« Märchen, die sie den jüngeren Kindern immer vorlas. Das Fabelwesen drehte sich um und sagte mit einer Stimme, die wie ein Glockenspiel klang:
»Hallo Mädchen, ein schöner Tag nicht wahr? «
»Hallo Einhorn, was machst du hier alleine im Wald?«, erwiderte Anka.
»Na, ich sonne mich. Willst du dich neben mich setzen? Ich heiße übrigens Lila. «
»Lila ist ein schöner Name«, stellte Anka fest. »Ich bin Anka. Wollen wir zusammen -9-
spielen? Die Jungs in meinem Dorf sind langweilig, immer wollen sie nur Fußball spielen.«
»Was magst du denn spielen?«, fragte Lila. Sie blinzelte seine blauen Augen und sah fast aus, als würde es lachen.
»Verstecken«, antwortete Anka, »ich verstecke mich und du suchst mich und danach machen wir es umgekehrt!«
Anka raste los, während Lila seelenruhig in eine andere Richtung sah. Das Mädchen umrundete einen Strauch, voller Brombeeren und kletterte auf einen kleinen Baum.
»Du kannst kommen«, rief es. »Such mich doch! « - 10 -
»Gefunden«, ertönte die glasklare Stimme Lilas von oben. Anka sah in die Blätter des Baums am Stamm hoch und dort saß Lila auf einem Ast.
»Wie geht denn das?«, wunderte sich Anka.
»Nun, ich bin ein Einhorn und die können bekanntlich zaubern«, erklärte Lila.
»Zaubern... «, dachte Lila, »vielleicht ergibt sich eine Möglichkeit, um... «
»Gedankenlesen kann ich übrigens auch, was geht in deinem kleinen Köpfchen vor?«, fragte das Einhorn erstaunt.
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Kapitel 3
Lila und Anka standen vor dem großen Zaun, der die Welt der Erwachsenen von der Kinderwelt trennt. Sie hatten das Tor zur anderen Welt mühelos gefunden. Anka spreizte ihre Finger und versuchte zu messen, wieviel ihr fehlte, bis sie groß genug war das Tor zu durchschreiten. »Wenn Mario erst mal auf der anderen Seite ist, gibt es kein Zurück«, schluchzte Anka. »Wir müssen irgendwie auf die andere Seite kommen, um mit den Erwachsenen zu reden. Vielleicht leben meine Eltern ja auch dort.«
Lila sah an dem Zaun empor, er war so hoch, dass sie sein Ende mit ihren EinhornAugen nicht erblicken konnte. - 12 -
»Vielleicht gibt es eine Möglichkeit dieses Tor zu passieren?«, dachte sie laut.
»Dafür müsste ich soviel grösser sein«, antwortete Anka und spreizte erneut ihre Finger.
»Das ist das kleinste Problem«, erklärte Lila, »aber was willst du dann tun? Wenn du drüben bist?«
»Ich weiß es nicht... «, Anka blickte enttäuscht zu Boden. »Vielleicht gibt es in der Welt hinter dem Zaun einen König, den muss ich finden und ihm erklären, dass die Kinder wieder zu ihren Eltern wollen. Jetzt, nicht erst, wenn sie alt oder groß sind.«
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Lila dachte nach. Dann sagte sie: »Anka, ich werde dich um dieses kleine Stückchen vergrößern und dich durch das Tor senden. Ich selbst werde einen Zauber auf mich sprechen, der nur dreimal ausgesprochen werden kann. Dadurch wachsen mir Flügel und ich könnte über den Zaun zu fliegen. «
»Das wäre großartig«, freute sich Anka und wurde mit einem Male nervös, »Wie lange wird es dauern, bis du den Zaun überquert hast?«
»Vieleicht ein paar Minuten, ein paar Stunden, oder ein paar Tage, ich weiß es nicht, aber auf jeden Fall ist das die einzige Möglichkeit dir zu helfen.«
Anka nickte. - 14 -
ÂťLass es uns tunÂŤ, sagte sie.
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Kapitel 4
Lila berührte Ankas Brust mit ihrem Horn. Es fühlte sich kalt an. Dann schloss Lila ihre Augen und das Horn begann zu vibrieren, dann zu leuchten und schließlich wurde es wärmer. Anka sah auf ihre Hände und an ihren Beinen hinab. Sie wuchs. Ihre Finger und alle Knochen schmerzten ein wenig, als sie die wohltuende Wärme des Zaubers umschloss. Sie bemerkte, wie sie durch ihre Augen das Tor kleiner werden sah und nach einigen Minuten war die Verwandlung perfekt. Lila sah etwas erschöpft aus und dann konzentrierte sie sich noch einmal und es wuchsen aus ihren Schulterblättern erst winzig, kleine dann immer grösser und - 16 -
schöner aussehende Flügel. »So«, beschloss sie, »du durchtrittst das Tor und ich werde versuchen, über den Zaun zu fliegen. Wenn alles glatt geht, sehen wir uns in ein paar Minuten auf der anderen Seite. «
Anka fühlte sich unwohl, als sie ihren rechten Fuß durch das jetzt offene Tor setzte.
Sie trat beherzt einen Schritt weiter in die Erwachsenenwelt, sah sich unsicher um und ging weiter, bis sich das Tor hinter ihr verschloss.
Sie sah nach vorne und was sie sah gefiel ihr überhaupt nicht. Große düstere Städte, ein aschgraues Meer und der Himmel war verdunkelt. - 17 -
»Sowas?«, dachte sie. »Hier sollen sich die Erwachsenen wohl fühlen? Nirgends eine Wiese, kein Baum ist zu sehen, kein Vögelchen trällert ein lustiges Lied und ... es ist kalt. «
Einige Schritte entfernt saß ein Mann auf einer alten Steinbank. Sie ging auf ihn zu.
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Kapitel 5 »
Hallo und guten Tag, mein Name ist
Anka und ich suche den König dieses Landes. Wissen Sie, wo er zu finden ist? «
Der Mann blickte nicht mal in ihre Richtung, sie näherte sich vorsichtig und da sah sie, dass seine Augen starr ins Leere sahen.
Sein Gesicht war noch recht jung, aber seine Hände sahen aus, wie die eines alten Mannes. Sein grauer Anzug und die Schirmmütze ließen ihn noch trauriger aussehen, als er sowieso schon wirkte.
Anka rief lauter:
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»Hallo, Hallo!!!« Doch der Mann reagierte nicht.
»So sind alle Menschen hier in diesem Teil der Welt«.
Lilas Stimme erschreckte sie ein wenig. Das Einhorn war unmittelbar hinter ihr aufgetaucht.
»Aber wieso? Und woher weißt du das??? « Anka war außer sich. »Irgendwer muss doch hier regieren.«
»Als ich über den Rand der Welt flog, sah ich sie durch die Augen der Wolken«, erklärte Lila. » Die wenigen Vögel, die mir begegneten sangen ein trauriges Lied. Sie berichteten mir von einer Hexe, die ganz oben auf einem Berg wohnt und diese - 20 -
hält die Leute und ihrem Zauber gefangen. Ich fragte sie in der Vogelsprache nach deinen Eltern und das wurde ihr Lied noch trauriger. Alle, die von deiner Welt in diese gelangt sind, wurden durch die Hexe verzaubert, willenlos gemacht und zur Sklavenarbeit bestimmt. Es gibt keine Hoffnung für sie, solange die böse Hexe noch in dieser Welt lebt.«
»Wir müssen etwas tun! «forderte Anka. »Du kannst doch zaubern, zaubere die Hexe einfach an einen anderen Ort.«
»So einfach geht das nicht, dafür müsste ich sie mit meinem Horn berühren und selbst, wenn das klappt, wo soll ich sie denn hinzaubern? «
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Kapitel 6
Ratlos standen das Einhorn und das Mädchen am Rande des großen Berges.
»Da kommen wir nie hoch«, vermutete Anka, doch Lila widersprach.
»Ich kann mir doch noch einmal Flügel zaubern, damit ist der Berg kein Problem mehr.«
»Aber was dann??« Anka zuckte mit den Schultern. »Wie kommen wir an die böse Hexe heran? «
»Das werden wir sehen, wenn es soweit ist.« Lila grinste zuversichtlich. »Wir sind schon so weit gekommen, der Rest wird ein - 22 -
Kinderspiel!«
Wieder schloss das magische Pferd die Augen und wieder wuchsen aus den Schulterblättern zwei wunderschöne, große Flügel.
»Setz dich auf meinen Rücken, kleine Anka, die Reise beginnt!« Anka war etwas unsicher, setzte sich aber gehorsam auf Lilas Rücken und das Einhorn erhob sich vom Boden und flog in die Lüfte. Es war ein unglaublich ergreifendes Erlebnis, sie durchquerten die Wolken, umrundeten einen Schwarm Vögel und schließlich sahen sie den Berg vor sich. Oben auf dem Gipfel befand sich das Haus der Hexe. Lila landete einige Meter davon entfernt, Anka stieg ab und versteckte sich - 23 -
sofort dahinter. Sie sah vorsichtig um den Stamm herum und zuckte zusammen. Einen Meter vor hier stand eine hässliche, alte Frau mit einem spitzen Hut. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid und über ihre Schultern hing eine nussbraune Strickjacke. In ihrem Gesicht befanden sich mehrere Warzen und ihre Hakennase war riesengroß.
»Na...wen haben wir denn da? «, fragte die Hexe.
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Kapitel 7
Die Hexe zückte einen silbernen Zauberstab und richtete ihn auf Anka.
»Sprich, Kind, was machst du hier in meinem Reich?«
Anka zuckte zusammen. Sie hatte sehr große Angst und wusste nicht, was sie sagen sollte. Leise stammelte sie:
»Mein Name ist Anka, ich komme aus Allerland. Und ich will dich bitten, dass du den Zauber von den Menschen in dieser Welt zurücknimmst. « Die Hexe lachte laut auf.
»Mein kleines Mädchen, was glaubst du, - 25 -
wer du bist und mit wem du es zu tun hast? Ich bin Abraxa, die einzige Hexe, die es in der Welt noch gibt. Kein anderes Wesen hat meine Zauberkraft, kein Mensch kann mich besiegen. Und mit einem Wort zaubere ich dich dorthin, wo der Pfeffer wächst! «
»Nein! «, Anka vernahm Lilas weiche und engelsgleiche Stimme. »Nein, du gehst dahin, wo der Pfeffer wächst.«
Dann tauchte das Einhorn, schnell wie der Wind hinter dem Baum hervor und pikste mit seinem Horn die Hexe in die Seite. Urplötzlich zerfiel die Gestalt der hässlichen Frau in kleine Pfefferkörner und aus ihrem Kleid entstanden Pfefferschoten. Anka hüpfte einen Schritt zur Seite und sah, dass der Platz, wo die Hexe eben noch stand plötzlich leer war. - 26 -
»Das hätten wir«, jubelte Lila, »die Hexe ist weg und der böse Zauber auch.«
Die Beiden sahen den Berg herunter und bemerkten, wie der große Zaun in sich zerfiel und das Tor sich einfach in Luft auflöste. Anka hüpfte vor Freude auf einem Bein herum.
»Du bist die Beste, Lila«, jubelte sie. »Lass uns ins Tal fliegen!«
»Das ist dann das letzte Mal, dass ich mir Flügel wachsen lassen kann für eine ganz lange Zeit«, erwiderte Lila, aber was soll´s? Los Anka, steig auf! «
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Kapitel 8
Anka saß auf Lilas Rücken und die Beiden schwebten gemächlich ins Tal hinab. Sie sahen, wie die Menschen auf den Straßen lachten und alle wirkten erleichtert. An einer Kreuzung sah Anka auf einmal ihre Eltern und bedeutete Lila zu landen. Die Beiden erschraken zuerst, als das Einhorn vor ihnen landete, dann aber - 28 -
entdeckten sie Anka und ihre Gesichter strahlten. Anka hüpfte galant von Lilas Rücken hinab und umarmte Mama und Papa. Sie erzählte in Windeseile was passiert war und die Beiden waren sehr stolz auf Anka. Zu guter Letzt dankten sie Lila für die Hilfe, die das magische Pferd ihrer Tochter hat zukommen lassen. Dann verabschiedeten sie sich und schlenderten zusammen nach Hause. Anka versprach Lila noch am nächsten Tag wieder zurück zu ihrer Lichtung im Wald zu kommen.
Die Welt war wieder in Ordnung.
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