Vom Zeltlager zur Stadt

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Vom Zeltlager zur Stadt Al-Rashidieh-Camp Libanon

Fatima Alzahraa Dib



„Trotz des Elends und der Einschränkungen seiner Bewohner, bevorzuge ich das Leben im Lager. Denn es ist eine Episode in unserer Geschichte.“ Ahmad, 30

Unter Betreuung von: Prof. Klaus Schäfer Prof. Dr. Eberhard Syring

Für die Unterstützung aus dem Libanon, bedanke ich mich herzlich bei: Sami El-Masri, Ahmad Muhsin, Leqaa Omari und Mohammad Abdllatif Fatima Alzahraa Dib, 2012/2013



Vom Zeltlager zur Stadt

Palästinensische Flüchtlingslager entstanden ab 1948 als Zeltlager im Westjordanland, in Gaza, in Jordanien, in Syrien und im Libanon. Der Aufenthalt im Lager sollte nur eine zeitlich begrenzte Überganssituation sein. Doch im Laufe der Jahre transformierten sich die Zeltlager in kleine, dicht besiedelte Städte. Trotz ihrer ungeplanten Entstehung, haben sich klassische Elemente einer Stadt herausgebildet. Dennoch wird die Zeltstadt nicht als Stadt angesehen, sondern als „Lager“, und ihre Bewohner werden als „Flüchtlinge“ empfunden. Dies kann wahrscheinlich darauf zurückgeführt werden, dass diese Städte keine sein dürften, da die Aufnahmestaaten nicht wollten, dass die Flüchtlinge dauerhaft bleiben. Ich selbst bin ursprünglich Palästinenserin, meine Großeltern stammen aus dem Norden Palästinas. Meine Familie ist ein Teil der Entstehung dieser Städte, dies ist der Grund, der mich zu dieser Arbeit gebracht hat.


An Nakba

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(arabisch, ‫النكبة‬ deutsch: Katastrophe oder Unglück) Deenition: Im arabischen Sprachgebrauch steht der Begriff für die Gewalt (1948) und die damit verbundene Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung. Als sehr wichtige und bekannte Symbole für die Nakba gelten Nadschi Alis „Handala“ (ein barfüßiges Kind, das immer von hinten gezeichnet ist) und der Schlüssel vom Haus in der Heimat, den die Palästinenser auf ihrer Flucht mitnahmen.

Handala, Nadschi Ali www.handala.org


An Nakba

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Geschichte

Mit der Resolution 181 der Vereinten Nationen wurde am 29. November 1947 beschlossen, Palästina zwischen Juden und Palästinensern aufzuteilen. Damals lebten 1,3 Millionen Palästinenser und 600.000 Juden in Palästina. Im Teilungsbeschluss wurden den Juden 56 % des Landes zugeteilt. Es begann die Vertreibung der Palästinenser aus den den Juden zugeteilten Gebieten. In Folge des am 15. Mai 1948 beginnenden Krieges mit den arabischen Nachbarstaaten, erlangte Israel die Kontrolle über 78 % des Landes. Im Juni 1967 (Sechs-Tage-Krieg) eroberte Israel auch die restlichen 22 % des palästinensischen Territoriums. Durch die Verschlechterung der dramatische palästinensischen Lebensverhältnisse, verlassen noch heute junge Palästinenser das Land, sofern sie eine Möglichkeit dazu bekommen.

palästinensische Gebiete von Israel besetzte Gebiete

Palästina

1947

1967

2000


An Nakba

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Heute „Al Auda“ Auf der Flucht nahmen die Palästinenser ihre Besitzurkunden und Haustürschlüssel mit. Vorübergehend, glaubten die Flüchtlinge, müssten sie außerhalb der eigenen Heimat leben. Die Besitzurkunden, die sie als Besitzer ihres Eigentums bestätigen, sowie die Haustürschlüssel werden von einer Generation zur nächsten vererbt und damit auch die Hoffnung auf eine Rückkehr – auf Al Auda. Die Vereinten Nationen sprachen den Flüchtlingen ein Recht auf Rückkehr oder Entschädigung zu. Der 15. Mai (Nakba) hat im palästinensischen Kalender eine besondere Stellung als Gedenktag. An ihm soll der Geschichte Palästinas und der historischen Ereignisse gedacht werden. Im März 2011 beschloss die Knesset* ein Gesetz, dass alle Institutionen bestraft werden sollen, die solche Gedenkfeiern abhalten oder unterstützen. An Nakba wurde von den im Exil lebenden Palästinensern in Al Auda umbenannt. Seit 2011 kommen Palästinenser aus Gaza, Jordanien, Syrien und dem Libanon immer am 15. Mai zusammen, um gemeinsam bis an die Grenze des besetzten Palästinas zu wandern und die palästinensische Flagge zu heben. Selbst in Europa rufen die Palästinenser einmal jährlich zu einer Konferenz auf, in der an das Recht auf Rückkehr erinnert wird.

* „Die Knesset ist das Einkammerparlament des Staates Israel. Es besteht aus 120 Abgeordneten. Die Knesset trat am 14. Februar 1949 zu ihrer ersten Sitzung zusammen.“ (Wikipedia)

An Nakba-Gedenken, libanesische Grenze zur Heimat Fotos: Yasour



Diaspora1

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Nach Angaben des Palestinian Central Bureau of Statistics 2 leben heute ca. 11.220.000 Palästinenser außerhalb ihrer Heimat. 4,23 Millionen leben im Westjordanland und dem Gazastreifen, 1,37 Millionen in Israel, 4,99 Millionen in der arabischen Welt und 636.000 in anderen Ländern. In der arabischen Welt leben 60 von 100 Palästinensern als Flüchtlinge in Lagern, in Palästina 44 von 100. Die Geburtenrate (pro Jahr und 1.000 Einwohner) liegt bei 32,8, diese wird voraussichtlich bis 2015 auf 31,9 sinken. Die Haushaltsgröße hat sich von 6,4 Personen(1997) auf 5,8 Personen pro Haushalt reduziert.

Westjordanland Gazastreifen Seit 1948 besetzte Gebiete Jordanien Syrien Libanon andere arabische Staaten andere Länder

1 Diaspora: griechisch diasporá = das Zerstreuen, Zerstreuung (Duden) Damit ist die weltweite Verstreuung des palästinensischen Volkes gemeint [arabisch: schataat]. 2 Palestinian Central Bureau of Statistics (PCBS oder „PalStatc“) ist ein Palästinensisches Zentrum für Statistiken. http://www.pcbs.gov.ps/

Weltweite Verstreuung der Palästinenser Quelle: PCBS, Ramallah-Palästina, Stand Ende 2011

Registrierte Flüchtlinge Quelle: UNRWA, Stand Januar 2012


Diaspora

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Palästinensische Lager Syrien: 9 Flüchtlingslager, 510.444 Flüchtlinge, 118 Schulen Libanon: 12 Flüchtlingslager, 465.798 Flüchtlinge, 68 Schulen Jordanien: 10 Flüchtlingslager, 2.047.367 Flüchtlinge, 172 Schulen

Syrien

Libanon

Westjordanland: 19 Flüchtlingslager, 874.627 Flüchtlinge, 98 Schulen Gaza: 8 Flüchtlingslager, 1.217.519 Flüchtlinge, 243 Schulen 50.000–110.000 25.000–50.000

Jordanien Westjordanland Gaza

600–25.000

Verortung der palästinensischen Flüchtlingslager Quelle: UNRWA, Stand Januar 2012


Vom Zeltlager zur Stadt

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Die palästinensischen Flüchtlingslager entstanden ab 1948 als Zeltlager. Nach einiger Zeit begannen ihre Bewohner, zur Normalität zurückzukehren. Sie versuchten, sich langsam der Situation anzupassen. Trotz der ungeplanten Entstehung dieser Lager, haben sich klassische Elemente einer Stadt herausgebildet. Aus den 1950 914.221 registrierten Flüchtlingen sind heute etwa 4.855.200 registrierte Flüchtlinge geworden, die teilweise als staatenlos gelten. Durch die Zunahme der Flüchtlinge und den Mangel an Fläche, wird mittlerweile überwiegend in die Höhe gebaut. Im Laufe der Jahre haben sich die Zeltlager zum Teil zu kleinen Städten entwickelt. Einige dieser Städte gehören zu den am dichtesten besiedelten Strukturen der Welt. Die Bewohner der Lager möchten in angemessenen Lebensumständen leben. Dennoch halten sie an ihrem Recht auf Rückkehr ‚Al Auda‘ fest und möchten ihren Aufenthalt im Lager nicht als dauerhaft sehen.

Fawar Camp, Westjordanland Foto: UNRWA


Vom Zeltlager zur Stadt

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Die Verbürgerlichung des Lagers zur Stadt Durch die Abgrenzung des Lagers von seiner Umgebung, wurde die palästinensische Kultur und Sprache aufrechterhalten. Palästinensische Lagerbewohner sehen sich als Flüchtlinge und ihre „Stadt“ als Flüchtlingslager. Anders als bei klassischen Städten, ist das Flüchtlingslager keine „geplante Stadt“. Im Anfangsstadium war die Hoff nung auf Rückkehr in die Heimat noch spürbar und machte das Leben für die meisten Flüchtlinge im Lager als „vorübergehend“ erträglich. Die steigende Zahl der Bevölkerung und der Planungsmangel im Lager führten im Laufe der Zeit zu erschwerten Lebensbedingungen, vor allem in den am stärksten besiedelten Flüchtlingslagern. Diese Lebensumstände führten dazu, dass die meisten der Bewohner heute zwar die Rückkehr als unmöglich betrachten, sich dennoch ein Leben außerhalb des Lagers wünschen. Das führt wiederum dazu, dass sich die „neuen Städte“ nach 65 Jahren immer noch im Entstehungsstadium beenden. Die herrschende Struktur des Lagers ist weder demokratisch noch theokratisch. Das Lager hat weder Oberhaupt noch Staatschef. Wichtige Entscheidungen trifft das Volkskomitee. Es wird in der Regel durch alle Parteien des Lagers bestimmt und ist somit unabhängig. Das Volkskomitee trifft wichtige Entscheidungen für das Zusammenleben der Lagerbewohner und arbeitet mit dem libanesischen Staat zusammen, um Lösungen bei Kon-ikten unter den Lagerbewohnern oder mit dem libanesischen Staat zu suchen.

In den meisten Lagern haben sich die Märkte an den Hauptstraßen entwickelt, zumal diese einfach zu erreichen sind, vor allem für Menschen, die außerhalb des Lagers leben. Da in den Lagern nie eine verbindliche Parzellenstruktur festgelegt wurde, ist es heute zu einer hohen Verdichtung gekommen. Parzellenbesitzer erweiterten die eigene Parzelle nach Belieben, ohne das allgemeine Interesse zu berücksichtigen.

1950

1960

1970

1980

2010

Burj Barajneh Camp, Beirut Fotos aus dem Buch: Haj Ali, Ahmed Ali, Der Schatten von Tod und Leben



Palästinensische Flüchtlingslager im Libanon

Meine Großeltern üchteten 1948 aus Palästina in den Süden Libanons. Hier schlugen sie ihre Zelte in einem Flüchtlingslager auf. Einige Jahre später wurde ich in Shatila, einem weiteren Flüchtlingslager in Beirut, geboren. Im Burj Barajneh Lager im Süden Beiruts besuchte ich die erste dort gegründete Kindertagesstätte. Ein Großteil meiner Familie sowie Freunde und Bekannte leben bis heute in den Flüchtlingslagern im Libanon. Die Lebensumstände der Palästinenser innerhalb und außerhalb der palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon sind mir hierdurch gut bekannt. Deshalb habe ich mir den Libanon als Bearbeitungsort ausgewählt. Seit 65 Jahren leben palästinensische Flüchtlinge, zum Teil bereits in der dritten Generation, im Libanon. Zurzeit sind es 465.798 Flüchtlinge. Die meisten von ihnen wohnen in den 7 Versammlungsorten und 12 Flüchtlingslagern, die über das Land verteilt sind. Ursprünglich gab es 15 palästinensische Flüchtlingslager, doch zwischen 1974 und 1976 wurden drei dieser Lager zerstört, dabei sind die überlebenden Bewohner in die naheliegenden Lager geeüchtet. Die palästinensischen Flüchtlingslager gelten als exterritorial, um sie herum bilden sich Grenzen. Diese Grenzen sind meist mit Kontrollpunkten der libanesischen Armee sowie weiteren Kontrollpunkten palästinensischer Parteien, wie beispielsweise der PLO, ausgestattet. Vor und hinter der Grenze beenden sich zwei sehr differenzierte Welten, was auf die schlechte Integration der Zeltstädte in ihre Umgebung zurückzuführen ist.



Palästinensische Lager im Libanon

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Beddawi Tripoli

Nahr el Bared

Baalbek

Dbayeh Mar Elias

Beirut

Burj Barajneh

Ein el Hilweh

50.000–110.000 25.000–50.000

El Buss Rashidieh

Sidon

Tyros

600–25.000 * „Ein Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (engl.: United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, kurz: UNRWA). Es ist ein temporäres Hilfsprogramm der Vereinten Nationen (UN), das seit seiner Gründung 1949 regelmäßig um drei Jahre verlängert wurde (zuletzt bis zum 30. Juni 2014).“ (Wikipedia)

Verortung der palästinensischen Lager im Libanon Quelle: UNRWA, Stand Januar 2012

Wavel

Shatila

Mieh Mieh

Burj Shemali


Flüchtlingslager im Libanon

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Größenverhältnis

Nahr el Bared Zweitgrößtes Lager im Libanon, 1949 durch das Rote Kreuz gegründet, ca. 198 ha, ca. 35.000 Flüchtlinge, 2007 durch Angriff der libanesischen Armee zu 95 % zerstört, 2011 Beginn des Wiederaufbaus durch die UNRWA.

Dbayeh 1956 durch die Kirche Mar Yousef gegründet, ca. 4,54 ha, ca. 4.048 christliche Palästinenser über 40 % sind im besitzt der libanesischen Staatsbürgerschaft.

Beddawi 1955 durch die UNRWA gegründet, ca. 100 ha, ca. 16.500 Flüchtlinge.

Burj Barajneh 1949 durch das Rote Kreuz gegründet, ca. 37,5 ha, ca. 19.000 Flüchtlinge.

Wavel (el Jalil) Ursprünglich ein Militärlager der Franzosen. 1948 üchteten die Palästinenser in das Lager, ca. 9,34 ha durch die islamischen Awkaf aufgekauft, ca. 3.500 Flüchtlinge.

Shatila 1949 durch das Rote Kreuz gegründet, ca. 100 ha, ca. 12.000 Flüchtlinge. Bekannt durch das Massaker von 1982, hierbei verloren über 3.500 Zivilisten ihr Leben.

google maps 2012


Flüchtlingslager im Libanon

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Größenverhältnis

Mar Elias Kleinstes Lager im Libanon, 1952 durch Dair Mar Elias gegründet, ca. 2,4 ha, ca. 7.000 Flüchtlinge.

Rashidieh 1936 für armenische Flüchtlinge gegründet, 1949 üchteten die Palästinenser in das Lager, 1963 wurde das „Neue Lager“ durch die UNRWA gegründet, ca. 250 ha, ca. 27.500 Flüchtlinge.

Ein el Hilweh Lager mit der höchsten Bevölkerungsdichte im Libanon, für die Flüchtlinge die Hauptstadt der Diaspora. 1948 durch das Rote Kreuz gegründet, ca. 120 ha, ca. 80.000 Flüchtlinge.

Burj Shemali 1955 durch die UNRWA gegründet, ca. 13,46 ha, ca. 19.500 Flüchtlinge.

Mieh Mieh 1954 gegründet, ca. 5,4 ha, ca. 4.500 Flüchtlinge.

El Buss 1939 für armenische Flüchtlinge gegründet, 1948 üchteten die Palästinenser in das Lager, ca. 8 ha, ca. 9.500 Flüchtlinge.

google maps 2012


Flüchtlingslager im Libanon

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Lebensbedingungen

Der Libanon ist der einzige arabische Staat, der den palästinensischen Flüchtlingen faktisch keinerlei staatsbürgerliche Rechte einräumt. Den Palästinensern wird das Recht auf Arbeit und somit auch das Recht auf freie Selbstbestimmung verweigert. Viele Berufe dürfen nur von Mitgliedern der jeweiligen Berufsverbände ausgeübt werden, bei denen ein Palästinenser kein Mitglied werden kann. Für alle anderen Berufe gilt, dass ein Ausländer eine Arbeitserlaubnis braucht. Das erlangen einer solchen Erlaubnis ist jedoch sehr teuer und mit hohen bürokratischen Hürden verbunden. So erhielten z. B. 2009 lediglich 99 Palästinenser im Libanon eine Arbeitserlaubnis. Nur 37 % der palästinensischen Flüchtlinge zwischen 15 und 65 Jahren haben Arbeit. Nach der UNRWA lebt ein Großteil der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon dadurch in Armut. 2010 befasste sich das libanesische Parlament zum ersten Mal mit den Rechten der Palästinenser und beschloss ein Gesetz, dass die Arbeitssituation verbessern sollte. Bis heute ist es jedoch nicht in Kraft getreten. Die Planung und Entwicklung der Flüchtlingslager sind stark durch die Regierung beschränkt. Der Transport von Baumaterialen in die Lager ist verboten. Durch Zahlung von „Schmiergeldern“ werden dennoch Materialen illegal transportiert. Infolgedessen entstehen sehr hohe Baukosten. In den 70er Jahren erlangten die Lager durch die Bewaffnung von Widerstandskämpfern ihre Unabhängigkeit. Seither gelten die Lager als exterritorial. Wenn es z. B. dazu kommt, dass jemand festgenommen werden soll, so greift die Kooperation zwischen dem palästinensischen Volkskomitee und dem Libanesischen Staat. Ist das Volkskomitee mit der Verhaftung einverstanden, gewährt es der libanesischen Armee Einlass in das Lager, um die beschuldigte Person festzunehmen. Ist das Volkskomitee der Meinung, die Armee habe im Unrecht gehandelt oder möchte jemanden aus politischen Gründen verhaften, wird seine Anwesenheit im Lager z. B. geleugnet. In diesen kleinen palästinensischen „Staaten“ spielt das libanesische Gesetz keine Rolle mehr. Ein Palästinenser kann in einem Lager alle Berufe ausüben. Illegale Praxen, Apotheken, Frisörsalons usw. werden hier eröffnet.

Frisörsalon

Rashidieh

Foto: Maher Akkawi

Bäckerei

Foto: Maher Akkawi

Foto: Mohammad Abdllatif


Flüchtlingslager im Libanon

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Lebensbedingungen

Kontrollpunkt, Ein el Hilweh

Foto: Laji

Haifa Hospital (Nach Heimatstadt benannt), Burj Barajneh

Foto: Laji

Jugendprojekt „Ich bin aus Palästina“, Rashidieh Foto: Ahmad Muhsin

Kinder im Lager, Rashidieh

Foto: Leqaa Omari

Sportplatz der UNRWA Schule, El Buss

Foto: Maher Akkawi

Geschosswohnungsbau , Baddawi

Foto: Ahmad Muhsin



Al-Rashidieh-Camp

Der Großteil der Palästinenser, die im Rashidieh-Camp Zuuucht suchten, stammt ursprünglich aus dem Norden Palästinas – aus den Kleinstädten und Dörfern, die zum Bezirk der Hafenstädte Akko (Acre) oder Haifa gehörten. Das palästinensische Volk wird in drei unterschiedliche Zweige aufgeteilt: die Städter, die Falahen (Landwirte) und die Beduine. Stellt sich ein Palästinenser vor, sollte stets dazu gesagt werden, ob er ursprünglich Städter, Falah oder Beduine ist. Die Mehrheit der in Rashidieh lebenden Palästinenser sind ursprünglich Falahen. Um Al-Rashidiyeh herum befand sich eine große Fläche ungenutztes Land. Der libanesische Staat verpachtete es den Palästinensern. Die Landwirtschaft gilt bis heute noch als große Selbstversorgungsquelle für die Bewohner des Lagers. Meine Großeltern väterlicherseits stammen aus Um Al-Faraj, einem Dorf, das dem Bezirk Akkos zugeschrieben war. Als ursprüngliche Falahen konnten sie ihrer Feldarbeit nachgehen. Meine Großeltern mütterlicherseits kommen ursprünglich aus Al-Kabre, einer Stadt, die ebenso zum Bezirk Akko gehörte. Zu Beginn ihres Lebens im Lager erlernten sie die Landwirtschaft gezwungenermaßen. Doch heute geht keiner ihrer Nachfahren mehr dieser Arbeit nach. Im Rashidieh-Lager beendet sich das Um-Al-Faraj-Viertel. Dies wurde nach dem Ursprungsort meiner Großeltern benannt. Alle Bewohner dieses Quartiers gehören meiner Familie an, aufgrund dessen habe ich Al-Rashidieh als Vertiefungsort ausgewählt.


Al Rashidieh-Camp

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Das Lager liegt an der Küste des Mittelmeers und ist ca. 14 km von der palästinensischen Grenze entfernt. Es wurde 1936 durch die französische Besatzung für armenische Flüchtlinge gegründet. Es bestand damals aus einigen Hütten, welche die Armenier hinterließen. 1949 üchteten die Palästinenser in das Lager. 1963 wurde das „Neue Lager“, welches sich im Süden Libanons beendet, durch die UNRWA gegründet. Flüchtlinge aus Gorwad (Baalbek) wurden durch den Libanon in das Lager Al-Rashidieh eingewiesen, da der libanesische Staat Gorwad für sich beanspruchte. Auf ca. 250 Hektar Fläche leben heute etwa 27.500 palästinensische Flüchtlinge. Das Lager hat eine Bevölkerungsdichte von ca. 11.000 Einwohnern pro km². Durch die israelischen Luftwaffenangriffe und den Bürgerkrieg, wurde ein großer Teil des Lagers zwischen 1982–1987 zerstört, zudem 2006 ebenfalls einige Gebäude bei einem israelischen Angriff.

Rashidieh-Camp

Foto: Mohammad Abdallatif


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Baufelder/Bebauung

M 1:5000

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Bebauung

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Baustruktur

Ein Teil des Lagers weist eine „gewachsene“ Baustruktur auf. Dieser Teil ist sehr dicht besiedelt. Die Erschließung ist durch ihre Reduzierung auf das Notwendigste sehr ökologisch und wirtschaftlich. Die Baukörper haben unterschiedliche Größen und Höhen.

Der geplante Teil des Lagers zeigt sich ebenso dicht besiedelt. Die 1963 durch die UNRWA für die Siedlung vorgegebene Struktur ist übererschlossen. Die Baukörper weisen ungefähr gleichmäßige Baukörper und Parzellen auf. Lediglich in den Höhen variiert die Bebauung.

Zur Küste hin sowie am Ackerland kann eine sehr lockere Bebauung festgestellt werden. Diese ist auch meist nur eingeschossig.

Baustruktur „gewachsen“

Baustruktur geplant

Lockere Bebauung


Versorgung Das Lager besitzt wie alle anderen Lager im Libanon einen Stromanschluss. Je nachdem ießt der Strom mindestens drei bis maximal zwölf Stunden täglich. Diese Stunden sind über den Tag verteilt. Es gibt im Lager keine Stromzähler, da die Anschlüsse vor langer Zeit improvisiert worden sind. Damals zahlten die Bewohner monatlich einen festen Beitrag. Heute werden diese Beiträge immer noch gezahlt, aber aus einer Familie sind nun mehrere Familien geworden, die alle denselben Anschluss nutzen. Im Lager gibt es einige private Stromanbieter. Sobald der staatliche Strom entfällt, bekommen nanzkräftige Kunden Strom über diese Anbieter. Wasserquellen sind im Lager ausreichend vorhanden. Früher wurde der Abwasch direkt an den Quellen erledigt. Mit Hilfe von Krügen wurden Brauch- und Trinkwasser in die Häuser transportiert. Heute ist jeder Haushalt im Besitz von Wassertanks, die sich auf den Dächern beenden. Aus den Quellen wird das Wasser zunächst in die jeweiligen Wassertürme der Quartiere gepumpt. Von hier aus werden die einzelnen Häuser mit Wasser versorgt. Das Trinkwasser wird von den Bewohnern in Läden gekauft.

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Foto: Mohammad Abdallatif

Stromleitungen, Wassertanks, Sattelitenschüssel

Wasserturm

Foto: Ahmad Muhsin


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Abwasser

Entw채sserungsverlauf

M 1:5000

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Abwasser

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Entwässerungsverlauf

Überschwemmung bei starkem Regen

Grauwasserabbuss vom Haus

Entwässerung Straße; Grauwasser und Regenwasser

Ableitung in das Meer

Fotos: Mohammad Abdallatif

Foto: Ahmad Muhsin


Erschließung

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Ökonomisch = weniger erschlossen/Planmäßig = übererschlossen In dem ab 1936 entstandenen Teil des Lagers ist die für die islamische Welt typische verästelte Erschließung deutlich erkennbar. Die Wegentstehung erfolgte hier eher natürlich, einerseits durch die vorgegebene Topographie, andererseits durch die Altwege, die zum Ackerland führten. Die Hauptstraßen sind großzügig, die Durchgangswege wurden dagegen oft auf eine sehr geringe Raumgröße reduziert. Es kann von einer wirtschaftlichen und ökonomischen Erschließung gesprochen werden, da diese auf das Geringste begrenzt ist. Die Sackgassen sind nicht nur eng, sondern auch sehr verwinkelt. Für Fremde ist die Orientierung in diesem Teil des Lagers ohne Begleitperson unmöglich. Die Straßen haben keine Namen, dafür aber die einzelnen Viertel.

Die UNRWA gründete 1963 das „Neue Lager“ und legte ein rationales Straßensystem fest. Dieses Grid wurde unabhängig von Topographie und Natur des Ortes dem Lager aufgesetzt. Durch diese planmäßige Erschließung ist dieser Teil des Lagers übererschlossen. Auch hier sind Transporte in bestimmte Bereiche durch die Erschließungswege erschwert, da das Baugefüge eine hohe Dichte aufweist. Im „Neuen Lager“ werden die Straßen sowie die Wege mit Namen betitelt.

M 1:5000

Verästeltes Straßensystem, ab 1936

Erschließungsweg

Straße Foto: Mohammad Abdllatif 1963 durch die UNRWA festgelegtes Straßensystem

Foto: Ahmad Muhsin

Weg zu den Feldern

Foto: Mohammad Abdllatif


Erschließung

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In dem ab 1936 entstandenen Teil des Lagers ist die für die islamische Welt typische verästelte Erschließung deutlich erkennbar. Die Wegentstehung erfolgte hier eher natürlich, einerseits durch die vorgegebene Topographie, andererseits durch die Altwege, die zum Ackerland führten. Die Hauptstraßen sind großzügig, die Durchgangswege wurden dagegen oft auf eine sehr geringe Raumgröße reduziert. Es kann von einer wirtschaftlichen und ökonomischen Erschließung gesprochen werden, da diese auf das Geringste begrenzt ist. Die Sackgassen sind nicht nur eng, sondern auch sehr verwinkelt. Für Fremde ist die Orientierung in diesem Teil des Lagers ohne Begleitperson unmöglich. Die Straßen haben keine Namen, dafür aber die einzelnen Viertel.

Die UNRWA gründete 1963 das „Neue Lager“ und legte ein rationales Straßensystem fest. Dieses Grid wurde unabhängig von Topographie und Natur des Ortes dem Lager aufgesetzt. Durch diese planmäßige Erschließung ist dieser Teil des Lagers übererschlossen. Auch hier sind Transporte in bestimmte Bereiche durch die Erschließungswege erschwert, da das Baugefüge eine hohe Dichte aufweist. Im „Neuen Lager“ werden die Straßen sowie die Wege mit Namen betitelt.

Erschließungsweg

Straße

Foto: Ahmad Muhsin

Foto: Mohammad Abdllatif

Weg zu den Feldern

Foto: Mohammad Abdllatif


Erschließung

Schwer zugängliche Bereiche

M 1:5000

Schwer zugängliche Bereiche

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Erschließung

Straßennetz / Typische Taxi-Route mit hoher Kundenfrequenz

M 1:5000

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Erschließung

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Vertiefung

Für die Vertiefung habe ich mir einen für mich vertrauten Bereich ausgewählt. Als ein Familienmitglied kenne ich hier Wege, die für Fremde unersichtlich sind. Der verästelte Aufbau der Straßen und Wege ist durch seine minimale Erschließung sehr ökonomisch. Die natürlich entstandenen Wegstrukturen stammen aus den Prinzipien der islamischen Stadt und sorgen für den Schutz vor Fremden und Eindringligen. Dabei werden die Straßen und Wege immer enger. Je tiefer man in die Nebenstraßen dringt, desto privater sind diese. Einige private Sackgassen sind an der Zufahrtsstraße mit einem Tor versehen.

Hauptstraße, öffentlich

Nebenstraße, öffentlich

Nebenstraße, pivat

Pivate Erschließung mit Tor an der Straße



Öffentliche Plätze und Gebäude

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Im Flüchtlingslager gibt es generell keine großen freien öffentlichen Plätze. Als Versammlungsorte für bestimmte Ereignisse werden oft die Moscheen und Schulen genutzt. Diese liegen jedoch nicht immer zentral. Sie entstanden da, wo man eine freie Fläche zur Verfügung gestellt bekommen hat. Diese Grundstücke wurden an interessierte Verbände verkauft und oftmals als fromme Stiftung (Wakf*) zur Verfügung gestellt. Einige Familienverbände haben in ihren Quartieren große Versammlungsräume gegründet, diese werden für Hochzeiten sowie Trauerversammlungen genutzt. Auch von Familien anderer Viertel können solche Räumlichkeiten verwendet werden. Es gibt auch keinen für die arabische Welt üblichen Markt. Handelsräume wurden in den Wohnungen der Händler eröffnet. Dabei ist dieses Phänomen ausgeprägter an Hauptstraßen als in den Nebenstraßen zu beobachten. Das Gleiche gilt auch für Praxen, Frisörsalons, Kindergärten usw.

Beim Festgebet auf dem Schulsportplatz

* Waqf (arabisch)‚ ist eine fromme Stiftung. Der Stifter bestimmt einen Zweck (z.B. den Bau einer Moschee), dieser sollte vom Islam anerkannt sein. Das Stiftungsgut kann der Stifter einem Verwalter übergeben, aber auch selbst verwalten. Somit wird das Stiftungsgut Gott übergeben und für seine Ge schöpfe verwaltet.

Fotos: Ahmad Muhsin


Öffentliche Plätze

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Versamlungsorte

C

B

B

C

B A B

A

B

M 1:5000

Bereiche vor und in den Gebäuden dienen als Versammlungsorte

A=Bildungsstätte, B=Moscheen, C=Vereine


Öffentliche Plätze

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Gebetsstätten

Ursprünglich lebten im Rashidieh-Camp muslimische (sunnitische) und christliche Flüchtlinge. 1956 wurden die christlichen Palästinenser in Dbayeh, ein Lager in Beirut, einquartiert. Aus allen Flüchtlingslagern im Libanon wurden die christlichen Palästinenser hier eingewiesen. Die Mehrheit der christlichen Palästinenser ist im Besitz der libanesischen Staatbürgerschaft. Die zwei Kirchen, die damals die armenischen Flüchtlinge im Rashidieh-Camp gründeten, werden heute von niemandem genutzt. Die um die Kirchen lebenden Familien ppegen das Grundstück der Gebetsstätte und sichern diese vor anderweitiger Nutzung. Eine dieser Kirchen beendet sich direkt an einem Friedhof. Dieser war der erste Friedhof im Lager, deshalb sind hier einige christlich-armenische Gräber. Der Friedhof wurde auch von den Muslimen genutzt, ohne dass es eine Trennung nach den Konfessionen der Toten gab. Zurzeit beenden sich drei Friedhöfe im Flüchtlingslager, zwei davon sind jedoch völlig überfüllt. Außer den zwei alten Kirchen gibt es mittlerweile noch fünf Moscheen. Im Laufe der Zeit bekam der islamische Glaube eine immer größere Rolle für die Lagerbewohner. Früher wurden Probleme zwischen den Bewohnern durch damals angesehene Personen geschlichtet. Anfang der 70er Jahre waren es die Parteien, die sich um solche Angelegenheiten kümmerten. Heute wird diesen Parteien nicht mehr vertraut und die meisten sehen die Lösung ihrer Probleme im Islam.

Foto: Leqaa Omari

Friedhof, Rashidieh

Von der Moschee zum Friedhof

Foto: Ahmad Muhsin

Beim Totengebet

Foto: Ahmad Muhsin


Öffentliche Plätze/Bauten

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Gebetsstätten, Friedhöfe

M 1:5000

Moscheen

Kirchen

Friedhöfe


Öffentliche Bauten

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Im Lager existieren sehr viele unterschiedliche Verbände, Vereine und Parteien. Diese wurden entweder von unabhängigen Hilfsorganisationen oder von den Bewohnern selbst gegründet. Diese Organisationen haben dazu beigetragen, die öffentlichen Bauten im Lager zu errichten. Beispielsweise gründete die UNRWA die Schulen und die erste Arztpraxis im Lager. Das Balsam-Hospital wurde von der PLO (Fath-Partei) und dem Roten Kreuz gegründet und später auch mit Unterstützung der UNRWA betrieben. Die Tahrier-Partei gründete eine Einrichtung für körperlich und geistig Behinderte. Eine Feuerwehr gibt es nicht, aber die Familienverbände (diese sind nach Herkunftsort unterteilt) haben Gelder gesammelt, mit denen Lösch- und Rettungsgeräte angeschafft wurden. Diese wurden auf verschiedene Häuser verteilt. Den Nachbarschaften ist bekannt, bei wem die Rettungsgeräte liegen. Die Kindergärten, Sportplätze, Kultureinrichtungen, Moscheen sowie zwei Bibliotheken wurden durch Stiftungen gegründet.

* „Ein Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (engl.: United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East, kurz: UNRWA). Es ist ein temporäres Hilfsprogramm der Vereinten Nationen (UN), das seit seiner Gründung 1949 regelmäßig um drei Jahre verlängert wurde (zuletzt bis zum 30. Juni 2014).“ (Wikipedia)

Moschee

Fotos: Yousef Sharari


Öffentliche Bauten

M 1:5000

Bildungseinrichtungen, Kindergärten

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Gesundheitswesen

Gebetsstätten

UNRWA

Sonstige Bauten


Einzelhandel

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Im Laufe der Zeit wurden einige Kleinläden im Lager eröffnet. Früher waren es Handwerker, die ihre Arbeiten anboten und verkauften. Später wurde der Import von Waren aus dem Ausland vorangetrieben. Ein Raum im Untergeschoß des Hauses wird als Handelssäche genutzt. An den Hauptstraßen sind diese in einem größeren Maß angesiedelt als in den Nebenstraßen. Dennoch ist in vielen Gassen die eine oder andere Handelssäche zu nden, die die Bewohner der jeweiligen Quartiere versorgt. Verkäufer und Käufer stehen in sehr engem Bezug zueinander, da diese aus der Verwandtschaft, dem Nachbarschaftskreis oder dem Bekanntenkreis stammen. Die Ware wird im Laufe des Monats bei dem Händler auf Kredit eingekauft, zum Anfang eines jeden Folgemonats werden diese Schulden wieder beglichen.

Besitzer einer Verkaufshütte am Strand

Fotos: Ahmad Muhsin


Einzelhandel Handelsstraßen

M 1:5000

Straßen mit großem Anteil an Handelssächen

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Landwirtschaft

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Der überwiegende Teil der Bewohner des Lagers sind Falahen. Durch ihren Aufenthalt im Rashidiyeh-Lager hat sich dieses Berufsfeld durchgesetzt, da ihnen sehr viel Land zur Verfügung stand. Die meisten Bewohner stammen ursprünglich aus unterschiedlichen Dörfern im nördlichen Palästinas rund um Akko und Haifa. Auch dort wurde hauptsächlich Landwirtschaft betrieben. Unter anderem gibt es im Lager auch einige Hirten. Die durch die Landwirtschaft produzierten Güter sollen in erster Linie zur Selbstversorgung dienen. Die Überschüsse werden exportiert und verkauft. Ein Großteil der Lagerbewohner lebt von dieser Einnahmequelle. Obwohl der größere Teil der Lagerbewohner ursprünglich aus der Landwirtschaft kommt, leben diese Menschen heute ohne weitere Probleme in einer Stadt. Die gute Integration ist darauf zurückzuführen, dass sich die Stadt im Laufe der Jahre Stück für Stück entwickelt hat.

Ackerland

Falachen bei der Arbeit

Fotos: Mohammad Abdllatif


Quartiere

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Die Nachbarschaften bilden sich in der Regel aus einer Familie. In einem größeren Maßstab betrachtet, leben in einem Quartier überwiegend Familien mit dem gleichen Herkunftsort. Dies ist ein typisches Merkmal der historischen Bauweise der islamischen Stadt, in der ein Quartier einem bestimmten Stamm oder Familienverband vorbehalten ist. Nach diesen Herkunftsorten oder den Familiennamen wurden die verschiedenen Viertel benannt. Im Laufe der Zeit fand eine leichte Durchmischung unter den Nachbarschaften statt. Einige Häuser wurden an Interessenten aus anderen Quartieren verkauft. Dies ergab sich dadurch, dass einige Familien das Lager verließen und für andere das eigene Haus durch das Wachsen der Familie zu klein wurde. In vielen anderen Lagern im Libanon kam es zu ähnlichen Begebenheiten. Auch Libanesen und Syrier kaufen Häuser in den Lagern und leben dann in diesen unter den palästinensischen Familien.

In einem Viertel spielende Kinder

Foto: Ahmad Muhsin


Quartiere

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Nachbarschaften

Die ersten Zelte M 1:1000

In den jeweiligen Virteln lebenden Familien und dessen Herkunftsorten

Familie „Stete“ aus Um Al Faraj Familie „Al Jamal“ aus Al Bassah

Familie „Khawas“ aus Um Al Faraj Familie „Mashaal“ aus Safad

Familie „Salem“ aus Um Al Faraj Familie „Al Ahmad“ aus Nahef


Quartiere

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Parzellenaufteilung Die Lagerbewohner sind Besitzer der Parzellen, doch nicht die Eigentümer. Die Gebiete, auf denen heute das Lager entstanden ist, wurden durch die UNRWA vom libanesischen Staat gepachtet. Dennoch werden die Parzellen vom Besitzer verkauft. Ihr Wert misst sich nach dem Wert eines Quadratmeters in der umliegenden Nachbarschaft außerhalb des Lagers. Als die Palästinenser in das Lager kamen und sich ihr Aufenthalt verlängerte, begannen sie, um ihre Zelte herum „Grundstücke“ abzustecken. Einfache Markierungen aus herumliegenden Materialien dienten als Grundstücksgrenzen. Die alltäglichen Tagesabläufe, wie Kochen, wurden außerhalb der Zelte, aber innerhalb dieser Grenzen durchgeführt. Mit dem Bau von Häusern wurden die Grundstücksgrenzen durch das Errichten von Mauern endgültig festgelegt. Später wurde ein Grundstück auf diejenigen Familienmitglieder aufgeteilt, die eigene Familien gründeten. Ein Mädchen, das heiratet, zieht zu ihrem Ehemann. Wer sich ein Leben außerhalb nanzieren kann, verlässt das Lager. Diejenigen, die keine Ehe geschlossen haben, bleiben im Haus der Eltern. Da es in der dritten Generation keinen Platz mehr auf den Grundstücken gab, baute jeder Nachkomme, der eine Familie gründete, eine Etage auf das Elternhaus. Infolgedessen wird ein Wohnkomplex meist von einer Familie bewohnt und der Verkauf einer Wohnung ist praktisch unmöglich, zumal es die meisten Familien nicht gestatten, dass Fremde unter ihnen leben. In einigen Fällen kommt der Verkauf jedoch vor, dadurch dass die Wohnung zum Beispiel nicht mitten im „Familien-Wohnkomplex“ liegt.

Diese Tradition stammt aus dem Islamischen Recht, wo Familienmitglieder ein Vorkaufsrecht auf solche Wohnungen und Grundstücke haben. Bei dem Vorkaufsrecht soll der Verkäufer die zu verkaufende Wohnung bzw. das Grundstück erst den Familienmitgliedern anbieten, bevor es einem Dritten zum Kauf angeboten wird. Dieses Gesetz ist zwar nicht niedergeschrieben, doch zwischen den Bewohnern des Lagers bekannt.

Parzellen


Baukultur Durch die wechselnden Familiengrößen müssen die Wohnungen ständig an die unterschiedlichen Nutzer angepasst werden. Das passierte in der Vergangenheit durch die Addition von einzelnen Raumzellen auf der Erdgeschossebene. Deshalb wirken die meisten Häuser „zusammengeeickt“. Mittlerweile werden von vornherein mehrgeschossige Häuser geplant. Der Planer, Ingenieur und Handwerker, ist nach wie vor meistens auch der Bauherr oder der Maurermeister. Dieser verfügt über jahrelange Erfahrung sowie statische Kenntnisse. Sein Wissen gibt er an seine Lehrlinge weiter. Jeder baut nach seinen eigenen Vorstellungen, solange andere Schaden davontragen. Diese keinen rücksichtsvolle Vorgehensweise ist auf eine islamische Baukultur zurückzuführen, in der jeder auf jeden achtet. Es gibt im Flüchtlingslager kein geschriebenes Recht zur Bauordnung. Die wichtigen Aspekte sind unter den Bewohnern bekannt. Die Höhengrenze des Bauwerks legt der Bauherr mit dem Maurermeister fest. Die Abstände werden zwischen den Nachbarn abgesprochen. Leider führte diese Entwicklung zur Entstehung einer hohen Anzahl sehr enger Gassen. Einige können nicht passiert werden, da sie zu schmal sind – ein toter Zwischenraum, teilweise von wenigen Zentimetern. Wirft man einen Blick auf die Stadt, sieht man eine große Baustelle. Dies liegt an den hohen Baukosten. Man beginnt schon sehr früh mit dem Bau der eigenen Wohnung, plant dafür jedoch eine hohe Zeitspanne ein.

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Die ewige Baustelle

Foto: Ahmad Muhsin

Zwischenraum ca. 60 cm

Foto: Ahmad Muhsin


Baukultur

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Konstruktion

Nachdem sich der Aufenthalt im Lager verlängert hat, haben die Bewohner begonnen, erste Häuser aus den vorhandenen Materialen zu bauen. Wenig später hatte sich schon beinahe jede Familie eine kleine Lehmhütte errichtet, doch niemand kannte die Technik der Lehmbauweise. Dazu kam, dass die Herstellung und Trocknung der für den Bau benötigten Steine sehr viel Zeit in Anspruch nahm. Dann begann der Bau mit Hohlblocksteinen. Die Steine der Vergangenheit waren meist nicht breiter als 10 cm. Für das Fundament wurde eine Steinschicht quer in den Boden eingelegt und hierüber wurden die Wände aufgebaut. Diese werden aus Kostengründen bis heute oft nur von Innen verputzt. Mittlerweile wird ein Fundament (30 x 20 cm) gegossen. Als Bodenbelag auf dem sandigen Untergrund dienen direkt verlegte Betonsteine. Alternativ wird eine unbewehrte Betonschicht gegossen. Bis zu den 1970er Jahren wurde für das Dach ausschließlich Wellblech als Baumaterial verwendet, da es von den libanesischen Behörden nicht anders gestattet war. Lange Zeit, waren die Häuser im Flüchtlingslager sehr bescheiden und funktional gehalten. Heute werden viele Häuser je nach Verdienst auch nach außen viel repräsentativer gestaltet.

Ahmed Dib, beim Bau der eigenen Wohnung

Foto: Fatima Dib


Baukultur

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Bautypologie Die Geschosshöhe eines Hauses spiegelt die Größe der darin lebenden Familie wider. Ein typisches Merkmal der Häuser sind die Dachterrassen. Diese sind mit Wasserspeichern, Satellitenschüsseln und Wäscheleinen ausgestattet. Nach Sonnenuntergang wird das Flachdach als Aufenthaltsort genutzt. Bei kleineren Anläsen werden dort die Familienfeiern abgehalten. Die meisten Häuser besitzen einen Hof. Dieser dient als Zwischenbereich, manchmal ist es auch nur ein kleiner Flur. Eine hohe Mauer, oft mit einem Tor versehen, trennt diesen hausöffentlichen Bereich vom Straßenraum. In der Abendzeit bleiben die Tore vielfach geöffnet und laden so die Nachbarn zum Besuch ein. Obwohl das Tor offen steht, wirft kein Fremder ohne den Zuruf des Bewohners einen Blick hinein. Die privaten Räume ordnen sich hier meist U- bzw. L-Förmig um den Hof.

Höhenunterschiede

Nutzung der Dachterrassen

Foto: Mohammad Abdllatif


Baukultur

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Öffentlicher Raum Der öffentliche Bereich vor dem eigenen Haus wird zum Teil privat genutzt. Aus den Obergeschossen kragen kleine Balkone und Erker aus, die sich über den öffentlichen Raum erstrecken. Dadurch wird dem Straßenraum eine Verschattung gegeben, die die Möglichkeit zum Verweilen bietet. Die Betonblöcke vor dem Haus dienen als Sitzmöglichkeit und geben dem Raum einen privaten Charakter. Der öffentliche Raum bekommt eine zusätzliche Aufenthaltsqualität.

Erker und Auskragungen über den öffentlichen Raum

Betonierte Blöcke dienen als Sitzmöglichkeit

Foto: Ahmad Muhsin

Foto: Mohammad Abdllatif


Baukultur

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Fassade

Die Häuser zeigen sich nach außen eher geschlossen. Wie für eine islamische Kultur typisch, liegen die Fenster und Türen der Nachbarn nicht direkt gegenüber. Hierdurch soll die Privatsphäre geschützt werden. Darüber hinaus schützt dies vor einem Brandüberschlag und ist zugleich ein Schallschutz. Dadurch dass die Durchganswege meist sehr eng sind, liegen die Fenster etwas höher in der Wand und verhindern die Einblicke von Passanten. Metallelemente schmücken Fenster und Türen und sollen vor Einbrüchen schützen. Haustür

Foto: Leqaa Omari

Metallgitter als Schutz

Mauern sind ein Trennungselement zwischen dem Privaten und Öffentlichen

Foto: Leqaa Omari

Foto: Ahmad Muhsin



Baukultur

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Beispiel Typologie

WC

Entwicklung Haus der Familie Stete, zwischen1960–2000, M 1:200


Baukultur

Beispiel Typologie

Haus „Stete“ 2013, es beherbergt vier Familien auf drei Etagen, M 1:200

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Das Leben in einem Flüchtlingslager ... „Die Gesellschaft außerhalb hat ein schlechtes Bild vom Lager. Dies wirkt sich negativ auf uns als Bewohner aus. Deshalb wünschte ich mir ein Leben außerhalb.“ Student, 21 „Ich kann mit dem Bau meiner Wohnung nicht abschließen, da die libanesische Armee mir die Einfuhr von Materialien verweigert.“ Arbeitnehmer, 30

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„Im Lager fühlt man sich in Sicherheit. Hier kennt man sich. Außerhalb lebt man isoliert für sich, es gibt keinen Zusammenhalt.“ Studentin, 21

„Es sollte eine Integration des Lagers mit seiner Umgebung geben. Die Grenzen zwischen den Libanesen und Palästinensern sollten gebrochen werden, um Vorurteile und der damit folgenden Diskriminierung ein Ende zu schaffen.“ Ingenieur, 24

Meinungen einiger Bewohner des Flüchtlingslagers

„Unsere Kulturen und Traditionen sind mittlerweile sehr ähnlich, es sollte nicht mehr unterschieden werden zwischen den Bewohnern des Lagers und der Gesellschaft außerhalb.“ Informatikerin, 24

„Durch die schlechten Arbeitschancen, gibt es eine große Zahl perspektivloser Jugendlicher. Das hat in den letzten Jahren enorm zugenommen und das Leben im Lager unsicher gemacht.“ Lehrerin, 30 „Durch die dichte Bebauung, hat man keine Privatsphäre mehr. Man hört jedes Wort des Nachbarn.“ Schülerin, 17

„Im Lager herrscht das Chaos, außerhalb das libanesische Gesetz.“ Ingenieur, 23

Fotos: Ahmad Muhsin


Das Leben in einem Lager ...

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…wie könnte man es ändern/verbessern? Der Aufenthalt im Lager sollte ursprünglich nur eine zeitlich begrenzte Überganssituation sein. Die Zeltlager transformierten sich im Laufe der Jahre in kleine, dicht besiedelte Städte. Ihre Bewohner Leben hier teilweise schon in der dritten Generation. Im Laufe der vergangenen 65 Jahre ist es für die Flüchtlinge zu einer gekommen, da sich Normalisierung Lebensorganisation, Alltagswelt und Bedürfnisse denen der libanesischen Städte gleichen. Dennoch ndet keine Verbesserung der Lagerbedingungen statt. Teilweise ist dies auf die schlechte Integration der Lager in ihre Umgebung zurückzuführen. Im Libanon ist dies viel stärker erkennbar als in den anderen arabischen Ländern, in denen sich Flüchtlingslager beenden. In Jordanien beispielsweise besitzt der Großteil der Palästinenser die jordanische Staatsbürgerschaft. Wer diese als Palästinenser nicht in Anspruch nimmt, hat dennoch dieselben Rechte wie die Jordanier. In Syrien besuchen Palästinenser und Syrer die gleiche Schule. In einem Lager lebt man nur, wenn man sich ein Leben außerhalb nicht nanzieren kann. Im Gegensatz dazu hat man im Libanon außerhalb des Lagers kaum Rechte. Neben den schlechten Arbeitsbedingungen, darf ein Palästinenser kein Wohneigentum haben und hat weder Erb- noch Vererbrecht.

Um die Zeltstadt in die existierende Umgebung einzubinden, was für die Lebensbedingungen ihrer Bewohner die beste Lösung wäre, muss es zu einer Kooperation mit dem libanesischen Staat kommen. Am Beispiel des Lagers „Nahr el Bared“ kann man sehen, dass dies einigermaßen funktionieren kann. Nachdem die libanesische Armee 2007 in einem Kampf mit „Fath al-Islam“ 95 % des Lagers zerstört hat, sind heute neue Wohnviertel für seine Bewohner geplant. Statt den zusammengeeickten Häusern und den inoffiziell entstandenen Stadtvierteln, sollen neue Geschosswohnungsbauten gebaut werden. Diese werden mit legalen Baugenehmigungen errichtet erhalten offizielle Stromund und Wasseranschlüsse. Was ist aber mit den restlichen Lagern? Diese wurden nicht zerstört, die illegalen Stadtviertel existieren. Wie könnte hier eine Einbindung statttnden? Welche Rechte erhalten die Palästinenser? Die meisten palästinensischen Lager im Libanon sind sehr stark von den Hilfsorganisationen abhängig. Viele Krankenhäuser und Schulen wurden durch die UNRWA errichtet. Der Wiederaufbau von „Nahr el Bared“ wird durch die UNRWA nanziert. Zurzeit versucht man, mit Hilfe von verschiedenen Projekten eine Selbstständigkeit zu erlangen. Anfang März 2013 hat die UNRWA die Verantwortung für zwei Krankenhäuser (Balsam-Hospital, Rashidieh und Haifa-Hospital, Burj el Barajneh) an die Bewohner übergeben. Es ist der Wunsch eines jeden Lagerbewohners, in guten Lebensumständen zu leben. Doch durch die große Hoffnung zur Auda, kommen die Lagerbewohner in einen Konnikt, was die Verbesserung der Lebensbedingungen im Lager behindert.

Al Rashidieh mit Blick auf Tyros Foto: Yousef Sharari



Quellenangabe

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• Haj Ali, Ahmed Ali: Burj al-Barajneh. Der Schatten von Tod und Leben. 1. Auuage. Beirut: Thabit, 2007 (arabisch). • Misselwitz, Philipp: Rehabilitating Camp Cities: Community-Driven Planning for Urbanised Refugee Camps. Städtebauliches Institut der Universität Stuttgart, 2009 • Palästinensischer Verein für Menschenrechte (Zeuge): Die Realität der palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Beirut: Witness, Studie 2011 (arabisch). • Palästinensisches Zentrum für Statistiken, Ramallah-Palästina, Stand Ende 2011 http://www.pcbs.gov.ps/Portals/_Rainbow/Docu ments/PalDis-POPUL-2010A.htm • Untersuchung der UNRWA: „Flüchtlingslager im Libanon“ 2012 (arabisch) http://www.unrwa.org/atemplate.php?id=130 • Artikel, France24: „Zahl der Palästinenser in der Diaspora steigt auf über 11 Millionen“ 26.12.2011. (arabisch) • „An Nakba“ Film Dokumentation Aljazeera 08.05.2013. Redakteur: Rawan Damen http://www.youtube.com/watch?v=H7FML0wzJ6A

Auf dem Schulhof spielende Kinder, Rashidieh

Foto: Ahmad Muhsin


Bearbeitet von: Fatima Alzahraa Dib Unter Betreuung von: Prof. Klaus Sch채fer Prof. Dr. Eberhard Syring


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