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Geschichte der europäischen Migrationspolitik

seits sollten die Hauptzielländer von Fluchtmigration – wie Deutschland, Frankreich oder Schweden – »entlastet« werden. Dies führte wiederum zu einer stärkeren Belastung der Länder an den Außengrenzen der EU – insbesondere der Mittelmeeranrainer wie Griechenland und Italien –, über die viele Asylsuchende in die EU einreisen. Damit tragen diese Länder die größte Verantwortung für die Prüfung von Asylanträgen.

Ergänzt wird das »Dublin-System« durch einheitliche Aufnahme- und Aufenthaltsstandards sowie Standards für die Anerkennung von Asylsuchenden, die zusammen das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) bilden. Seine Ursprünge finden sich ebenfalls im Amsterdamer Vertrag von 1997, etabliert wurde es dann in zwei Rechtssetzungsphasen Anfang der 2000er Jahre und im Jahr 2013. In der Praxis hapert es jedoch an einer einheitlichen Umsetzung.

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Das GEAS funktioniert aber nur so gut, wie nationale Behörden den Vereinbarungen folgen und Flüchtlinge sich der Logik dieses Systems beugen. Insbesondere seit den Umbrüchen des »Arabischen Frühlings« wurden die Vereinbarungen zunehmend missachtet. Auf große Fluchtbewegungen wie etwa infolge des syrischen Bürgerkriegs ist das Dublin-System zudem nicht ausgelegt. [10] Das zeigte sich sehr deutlich im Jahr 2015, als eine Rekordzahl von 1,2 Millionen Menschen in den damals noch 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union Asyl beantragten. Das Dublin-System brach buchstäblich zusammen. Es kam zu umfangreichen Weiterwanderungen (Sekundärmigration), also jenen unkontrollierten Bewegungen von Asylsuchenden, die das System eigentlich unterbinden soll. Griechenland, in jenem Jahr Hauptersteinreiseland von Schutzsuchenden, ließ die Asylsuchenden oft ohne Registrierung ziehen. Deutschland als eines der Hauptzielländer setzte die Dublin-Regelungen für syrische Asylsuchende wiederum zwischenzeitlich ganz aus; es verzichtete auf eine Überstellung und machte von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch, führte die Asylverfahren also durch, obwohl dafür eigentlich ein anderer Staat zuständig gewesen wäre.

Die Herausforderungen für die zukünftige Gestaltung der europäischen Migrations- und Asylpolitik sind vielfältig und reichen von Diskussionen um eine Fachkräftesicherung durch Zuwanderung über den Abbau von Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen bis hin zu Fragen, wie die gemeinsame Asylpolitik einheitlicher gestaltet und umgesetzt werden kann.

Seither diskutieren die EU-Staaten über eine Reform des GEAS inklusive des Dublin-Systems, die zu einer »fairen Verantwortungsteilung« beitragen soll. Im September 2020 hat die EU-Kommission ein neues Migrations- und Asylpaket vorgestellt. Es sieht die Ablösung der Dublin-Verordnung durch ein sogenanntes Asyl- und Migrationsmanagement-System vor. Allerdings bleiben weiterhin vor allem die Ersteinreiseländer für die Prüfung von Asylanträgen zuständig. Lediglich in Zeiten eines »Massenzustroms« wie 2015 können die anderen Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, ihnen Asylsuchende abzunehmen, sie operativ zu unterstützen oder Verantwortung für Rückführungen zu übernehmen. Erstmals aktiviert wurde im Frühjahr 2022 die auch als »Massenzustrom-Richtlinie« bezeichnete Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (2001/55/EG) zur Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine, die vor dem russischen Angriffskrieg flüchteten. Darüber hinaus bleiben die Reformbemühungen jedoch zäh: Nationale Eigeninteressen der Mitgliedstaaten und umstrittene Souveränitätsfragen haben bisher eine konsequente gemeinsame europäische Asyl- und Migrationspolitik verhindert.

Ausblick

Heute zählen 27 Staaten zum Schengen-Raum, in denen zusammen über 400 Millionen Einwohner/-innen leben (Stand: Januar 2023). In den Genuss dieser »offenen Grenzen« kommen zudem jährlich mehrere Millionen (2019: 15 Millionen) Drittstaatsangehörige, die ein Schengen-Visum für einen Kurzzeitaufenthalt erhalten. Auch wenn der grundsätzliche Verzicht auf Grenzkontrollen immer wieder aufgehoben wird (etwa bei politischen oder sportlichen Großereignissen, nach Terroranschlägen, im Rahmen der Covid-19-Pandemie oder angesichts großer Flüchtlingsbewegungen), bildet der Kontinent einen weiten Raum relativ freier Mobilität – zumindest für alle, die sich qua Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltsgenehmigung regulär darin aufhalten. Die Herausforderungen für die zukünftige Gestaltung der europäischen Migrations- und Asylpolitik sind vielfältig und reichen von Diskussionen um eine Fachkräftesicherung durch Zuwanderung über den Abbau von Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen (beispielsweise Rom/-nja) bis hin zu Fragen, wie die gemeinsame Asylpolitik einheitlicher gestaltet und umgesetzt werden kann – und trotz einer restriktiven Migrations- und auf Abschottung ausgerichteten Grenzpolitik der Zugang von Schutzbedürftigen zum Asylrecht gewährleistet werden kann. Trotz dieser Kontroversen: Die politische und wirtschaftliche Bedeutung eines Europas ohne (kontrollierte) Binnengrenzen lässt sich nicht hoch genug einschätzen. n

Fußnoten

[1] Bade 2002.

[2] Der Europarat und die ursprünglich ebenfalls auf Europa ausgerichtete OECD sind daneben insbesondere für die Entwicklung europäischer Integrationspolitiken von Bedeutung. Berlinghoff 2015.

[3] Hinweis zur Begriffsverwendung: Seit 1965 werden EWG, EKGS und die Europäische Atomgemeinschaft als Europäischen Gemeinschaften (EG) bezeichnet. 1992 wurde die EWG in EG umbenannt und ging in der Europäischen Union (EU) auf. Die Begriffe werden also zeitlich abhängig weitgehend synonym verwendet.

[4] Rass 2010; Sanz Diaz 2010.

[5] Berlinghoff 2013.

[6] Berlinghoff 2009.

[7] Pudlat 2011.

[8] Siebold 2013. Neben den Benelux-Staaten verfügten auch Irland und Großbritannien sowie die skandinavischen Staaten über jeweils eigene Erfahrungen mit Freizügigkeit in gemeinsamen Arbeitsmärkten.

[9] Oltmer 2021.

[10] Hierfür gibt es eine eigene EU-Richtlinie (bit.ly/EU200155), die jedoch bisher nicht angewendet wurde.

Claudia Hammer wurde am 28. März 1964 in Wien geboren, wo sie nach der Hauptschule die Modeschule Michelbeuern absolvierte, die Meisterprüfung erfolgte 1993 in Graz. Sie ist geschieden und Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. Die Änderungsschneiderei in der Grazer Kalchbergstraße 1 betreibt sie seit 2005.Neben einem großen Kundenstock betreut sie auch Modegeschäfte wie Benetton und Jones oder Bella Moda.

Fazitbegegnung

Volker Schögler trifft

Claudia Hammer

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