Landini Nazari komplett

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Angela Merici Die fr端hesten Quellen



Angela Merici Die frĂźhesten Quellen

Francesco Landini Brief-Fragment Giovan Battista Nazari de Sayan Prozess-Akten und Vita

Herausgeber: FĂśderation deutschsprachiger Ursulinen 2013


Ăœbersetzung aus dem Urtext und Redaktion Sr. Sr. Sr. Sr.

Gabriele Heigl osu, Straubing Cornelia MĂźller-Freund osu, Leinefelde Margareth Senfter osu, Bruneck Brigitte Werr osu, Leinefelde

Druck Frick Digitaldruck, Krumbach www.online-druck.biz


Inhalt

Vorwort

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Landini: Brief-Fragment

9

Nazari: Prozess-Akten

14

Nazari: Vita

31

Francesco Landini

47

Giovan Battista Nazari de Sayani

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Quellen

54

5



Vorwort

Vorwort Wirklich neue Erkenntnisse bringen die hier vorliegenden Texte nicht, denn die interessanten Details des kurzen Brief-Fragments von Francesco Landini und des langen Befragungs-Protokolls des Notars Giovan Battista Nazari sowie der von ihm nach den Protokollen verfassten Vita sind von der Forschung längst herausgelesen und in die Angela-Biographien eingearbeitet worden. Dennoch halten wir es für nützlich, diese drei Texte erstmals in einer vollständigen deutschen Übersetzung verfügbar zu haben. Während die Briefe Gabriele Cozzanos aus den Jahren bis 1546 die Insider-Perspektive über Angela Merici und ihre Gemeinschaft überliefern, stellt Landinis Brief-Fragment von 1566 das früheste erhaltene Zeugnis eines Außenstehenden dar. Dieser Bericht, verfasst wohl für Kardinal Borromeo, ist nur in einem Auszug überliefert. Die darin enthaltenen Aussagen zur Person Angelas sind jedoch so bedeutsam, dass sie im Prozess der Selig- und Heiligsprechung eine erhebliche Rolle gespielt haben dürften, vor allem weil sie die gleich nach ihrem Tod einsetzende Verehrung Angela Mericis dokumentieren. Auf Grund dessen konnte man im Prozess auf den Nachweis eines weiteren Wunders verzichten. Über die Bedeutung der Aufzeichnungen Nazaris braucht man nicht viele Worte zu verlieren, denn die meisten der dort festgehaltenen Details aus den Zeugenaussagen sind längst Allgemeingut der Historiographie. Umso erstaunlicher ist es, dass diese Protokolle bislang noch nie vollständig übersetzt wurden. Nazari hat die Befragung der Zeitzeugen mit bemerkenswerter Akribie durchgeführt. Er handelte im Auftrag der „Mütter“ der Gemeinschaft, die sich damit für den erwarteten Heiligsprechungsprozess wappnen wollten. Diesen Müttern widmet Nazari denn auch seine 7


Vorwort

zweite Schrift, in der er die protokollierten Aussagen mit nur geringen sprachlichen Veränderungen in die Form einer Vita bringt. Sr. Ignatius Stone osu sagt mit Recht, dass er wohl ein guter Jurist gewesen sei, seine schriftstellerischen Fähigkeiten dahinter aber weit zurückblieben1. Beigefügt sind die biographischen Skizzen über die beiden Autoren an, die Stone verfasst hat und die bei der historischen Einordnung der Verfasser und ihrer Werke helfen können. Die Übersetzerinnen

1

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Vgl. M. Ignatius Stone osu, Angela’s Alphabet, Westgate on Sea, 2009


Landini, Brief-Fragment

Brief-Fragment des P. Francesco Landini2 Auszug aus einem Brief des P. Francesco [Landini], der in Monte bei Brescia lebt, geschrieben an den Ehrwürdigen P. Frater Fransceschino Visdomini, am 21. Dezember 1566. Die Compagnia di Santa Orsola in Brescia zählt 130 Jungfrauen, ohne die Witwen, und es scheint, dass die göttliche Vorsehung angeregt hatte, diese ehrenvolle Berufung zu erleichtern und viele junge Mädchen zu begeistern, reiche und arme, die, obschon sie sehr wohl die heilige Religion hochschätzen, dennoch keine Neigung verspüren, sich unter großer Bedrängnis in die Klöster einzusperren oder sich in Gelübden zu binden, oder sie können aus Armut nicht in ein Kloster eintreten, oder sie wollen aus anderen guten Gründen nicht. Dennoch ersehnen sie es, dem Lamm [Gottes] nachzufolgen, wohin es geht, und das neue Lied zu singen und mit jenem strahlend weißen Kranz der Heiligkeit gekrönt zu sein. Die Gründerin3 dieser heiligen Gemeinschaft war eine gewisse Angela, dem Namen und Leben nach Bäuerin von der Abstammung her, aber von edler und berühmter Heiligkeit. Geboren in der Umgebung von Brescia über Salò. Während auf dem Feld ihre anderen Gefährten bei der Getreideernte zur Mittagspause gingen, entfernte sie sich zum Gebet; und einmal, erhoben im Geist, schien sich ihr der Himmel zu öffnen und eine wunderbare Prozession von Engeln und Jungfrauen herauszutreten, abwechselnd zu zwei und zwei. Die Engel spielten auf verschiedenen Instrumenten und die Jungfrauen sangen; sie hörte den Klang so, dass sie ihn singen konnte. Und indem die Prozession weiterging, kam als eine [der] Jungfrauen ihre Schwester herab, schon im 2

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Mailand, Archivio Storici Diocesano, Sez. XIII, vol 61, Regola della Compagnia di Santa Orsola..., in Milano… [Per Pacifico Ponte nel mese d’ottobre, l’anno del Signore 1566], pp. 27.32, vgl. MaTaSey, D15, dt. S. 609f, it. S. 531f Wörtlich: Die Gründung

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Landini, Brief-Fragment

glückseligen Leben, [denn] sie war vor kurzem ins Paradies gegangen. Diese blieb mit der ganzen Prozession stehen und sagte voraus, dass Gott sich ihrer bedienen wolle, und dass sie eine Gemeinschaft von Jungfrauen gründen werde, die sich ausbreiten sollte, und ähnliches. Ich spreche über das von etlichen Personen, Dienern Gottes, Gehörte, die fast alle zu ihrer Zeit lebten; ich [selbst] weiß das alles nicht zu sagen, weil ich derzeit nicht die Möglichkeit habe, nach Brescia zu gehen, um mit den alten Frauen ihrer Gemeinschaft zu sprechen. Nach dieser Vision ging sie nach Jerusalem und, als sie erblindet war, wurde ihr auf der Rückfahrt auf wunderbare Weise das Augenlicht wiedergegeben. Und es geschah auch dieses Erstaunliche: Sie, die nicht lesen konnte, erlangte so große Klugheit, dass sie unsere lateinischen Doktoren [d. i. die Kirchenlehrer] verstand; und als sie in der Stadt Brescia eintraf, stand sie in so gutem Ruf bei den Brescianern, dass sie wie eine zweite Deborah erschien. Sogar die großen Gelehrten und Prediger verneigten sich vor ihr und gingen zu ihr, um sich mit ihr zu beraten. Sie besaß einen so großen Glauben, dass man ihn in ihr hätte wiederfinden können, wenn er verloren gegangen wäre. Sie lebte sehr arm und streng, und man sah sie während des Gebetes mit in die Luft erhobenem Körper. Sie gründete in Brescia diese geschätzte Gemeinschaft von Jungfrauen, und solange sie lebte, sammelte sie eine Schar von Hundert um sich und setzte an ihre Spitze große und verehrte Damen von Brescia als Mütter; und sie stellte für sie eine Lebensform auf mit dieser Regel, die ich übersende, nunmehr vom Apostolischen Stuhl und den geistlichen Leitern von Brescia bestätigt. Kurz vor ihrem seligen Heimgang setzte sie Contessa Lucretia als Mutter der ganzen Gemeinschaft ein und hinterließ das Testament, das ich übersende, für die verehrungswürdigen leitenden Mütter und die Ermahnungen4 für die Leiterinnen. Schließlich ging sie, nachdem sie in der Stadt Brescia viele Früchte gebracht und sie einen äußerst 4

die Ricordi (Gedenkworte)

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Landini, Brief-Fragment

wohlriechenden Duft verbreitet hatte, in die Himmlische Heimat. Wie ich in einem gesiegelten und von den Apostolischen Konservatoren beglaubigten Buch gelesen habe, wird sie in der Stadt Brescia gleichsam wie eine Selige geschätzt. Ich habe diese Verse über dem Bogen ihres verehrten Grabes gefunden: I. Glaubenszeugin durch deine Lebensweise, Jungfrau durch dein Handeln, Lehrerin durch dein Wort, So frohlockst du, Angela, herrlich geschmückt durch eine dreifache Krone. Angela, einst warst du Lehrerin der Sitten und des Lebens; Erweise dich heute als Beschützerin und Hüterin des Vaterlandes. II. Als ich noch lebte, war ich Angela; jetzt, da ich tot bin, nennt man mich „Engel“; Bin ich doch wie ein Engel mit den Chören der Engel vereint. Ihr, die ihr mich gekannt habt, lebt nach meinem Beispiel. Handelt so, wie ich es euch gelehrt habe; auch als Tote lehre ich noch. III. In diesem Grab ist beigesetzt, Sie, deren Namen und mehr noch ihr ganzes Leben würdig war, Mit den himmlischen Scharen gleichgestellt zu werden. Angela lebt nun gleichzeitig an drei Orten: Ihr Körper im Grabe, Ihre Seele im Himmel, ihr Name auf den Lippen der Menschen. IV. Hier ruht Angela, geschmückt mit der Krone mannigfaltiger Tugenden, In Erwartung der Auferstehung am Jüngsten Tag. Ihre glühende Seele ist in die himmlischen Wohnungen eingegangen Und steht frei vor Gott, dem Allerhöchsten. 11


Landini, Brief-Fragment

Seht hier die Jungfrau, die in ihrem Leben durch eine Regel der Sitten Eine Gemeinschaft gründete, hochberühmt durch ihre Jungfräulichkeit. Glaube mir, Brescia, verehre diese heilige Grabstätte: Sie, die heilige Jungfrau, die Gott nahe ist, vermag alles. Nach ihrem gesegneten Heimgang wollte der Dämon diese Gemeinschaft sieben, indem er sie mit göttlicher Erlaubnis verfolgte, aber da sie vom Himmlischen Vater gepflanzt und ein Werk Gottes war, konnte er sie nicht spalten und auflösen, denn nach vielen Bedrängnissen erstand sie schöner, größer und glorreicher, vor allem weil sie sich, mit der Genehmigung unseres Bischofs, Herrn Padre Don Francesco zum Oberhaupt wählte, der noch lebt, und sie geht jetzt ihren Weg glücklicher und fruchtbarer und mit mehr Wohlgeruch und Freude für die ganze Stadt. Bisher haben alle Hospitäler von Brescia diese [Gemeinschaft] in Anspruch genommen; sie werden zur Mitarbeit in den Mädchenschulen der Institution Christiana gerufen; und ihrer bedient sich Gott zur Bekehrung der Seelen und dazu, viele Häuser, in denen sie leben, zum Dienst seiner Göttlichen Majestät heranzuziehen. Es ist schwierig, die große allgemeine Wohltat verständlich zu machen, die Gott aus dieser Gemeinschaft in verschiedenen Werken der Frömmigkeit und der Nächstenliebe schöpft; ihre [Mitglieder] gehen häufig zu den Sakramenten, den Andachten und zur Feier des Herrn; in dieser [Gemeinschaft] leuchtet und strahlt der Schmuck der heiligen Tugenden der Armut und des Gehorsams so sehr, dass der Padre der Gemeinschaft auf ein Zeichen alle versammelt, wo immer er will. Sehr erstaunlich ist auch dieses, aber dennoch nicht unglaublich angesichts der göttlichen Allmacht und Güte, die in der Wirkung ihrer Gnade im Einklang mit ihren Werken steht, erstaunlich sage ich, am aller erstaunlichsten ist es zu sehen, dass diese drei Jünglinge, vielmehr zarte Jungfrauen, nicht in dem Ofen von Babylon verbrennen; mehr noch, so viele [wie] 12


Landini, Brief-Fragment

Agnes oder Agata inmitten der Freudenhäuser und dem Feuer rein und unberührt bleiben. Ich werde in diesem Zusammenhang nur dies sagen: dass der Padre, der sie leitet, voll des Lobes ist und sich äußerst zufrieden über die Tugend dieser jungfräulichen und engelgleichen Schar zeigt. Lob sei Gott.

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Nazari, Prozess

Nazari: Prozess-Akten5 Die Zeugnisse über das Leben der Ehrwürdigen Mutter Schwester Angela, Terziarin Im Jahre 1568, im elften [Jahr] der Steuerperiode6, am Montag, dem 21. Juni, wurden im Empfangszimmer der untengenannten ehrwürdigen Frau Isabetta in der Stadt Brescia, am Domplatz, in Gegenwart des Meisters7 Giovan Baptista, Sohn des Meisters Bertolini, und des Meisters Giovan Maria, alle [aus der Familie der] Boscoldis8 von Ottalengo9, Einwohner Brescias, die folgenden Zeugen befragt. Auf Ersuchen der ehrwürdigen und angesehenen Mütter, der Damen Bianca de Portulacis, Isabetta de Pratis, Veronica de Buzzis10 und der anderen Leiterinnen und Vorsteherinnen der gesamten Gemeinschaft der heiligen Ursula von Brescia, [937r] [wurde] der Kaufmann Antonio Romano, Bürger und Einwohner von Brescia, vernommen beziehungsweise befragt, um die Erinnerung zu 5

Vatikanstadt, Vatikanisches Geheimarchiv, Heilige Ritenkongregation, Prozessus 341 ff., 936v-945v, in: Luciana Mariani / Elisa Tarolli / Marie Seynaeve, Angela Merici. Contributo per una biografia, Mailand, 1986; D16, it. S. 533 ff., dt. 611 ff.

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Indictio bezeichnet die Steuerperiode; sie umfasst den Zeitraum von fünfzehn Jahren. Im Mittelalter wurde sie zur Datierung verwendet. Magistro = (Handwerks-)Meister

7 8

Boscoldi und Boscoli bezeichnet dieselbe Familie, vgl. Luciana Maria-ni / Elisa Tarolli / Marie Seynaeve, Angela Merici. Contributo per una biografia, Mailand, 1986; deutsch: Angela Merici, Beitrag zu einer Biographie. Werl 1995, S. 129 f., (dt.) S. 149

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Heute Gottolengo, vgl. L. Mariani et al., a.a.O., (it.) S.129f, (dt.) S. 148f

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Die Namen sind hier nach dem Originaltext wiedergegeben; andere Schreibweise siehe Angela Merici, Regel – Ricordi – Legati, Hrsg. Föderation deutschsprachiger Ursulinen, Werl 1992, S. 43

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Nazari, Prozess

bewahren an das, was in Wahrheit über das ganze Leben der künftig und gewissermaßen jetzt schon seligen Mutter Schwester Angela, vor Jahren Gründerin der genannten Gemeinschaft der heiligen Ursula, ausgesagt werden kann. In Gegenwart der obengenannten Zeugen hat dieser, durch mich, den unterzeichneten Notar, nach der Wahrheit seiner Worte befragt, unter Eid ausgesagt: Um das Jahr 1517, als ich einige Male zum Haus der Madonna Catherina ging, der Ehefrau des verstorbenen Herrn Giovanni Battista de Patengoli, lebte in ihrem Haus eine gewisse Madre Suor Angela von [Merici11] aus Desenzano, Angehörige des Dritten Ordens der Minderbrüder des heiligen Franziskus. [Sie war] dort im Auftrag der Oberen der genannten Brüder, um die genannte Madonna Catherina über den Tod ihrer geliebten Söhne zu trösten. Als ich dann einige Male hinging, um die genannte Madre Suor Angela wiederzusehen, erfasste mich große Zuneigung, und sie ließ sich bewegen, in meinem Haus zu wohnen; deswegen konnte ich in dieser Zeit sehen und erfahren - und sie sagte es mir auch selber - dass sie tatsächlich ein solches Leben führte, wie ich es berichten werde. Von klein auf (wie sie mir sagte), [etwa] vom fünften Lebensjahr an, als sie den Vater aus geistlichen Büchern von Heiligen und Jungfrauen lesen hörte, begann sie ein enthaltsames, geistliches und beschauliches Leben zu führen. Während sie mit der Zeit immer brennender und eifriger darin verharrte, starb plötzlich ihre einzige Schwester. Daraufhin verrichtete sie täglich Gebete zum Herrn, um zu erfahren, ob die Seele der Schwester zum Glück der ewigen Herrlichkeit gelangt sei. Als sie sich dann eines Tages wieder einmal auf ihrem kleinen Acker bei Desenzano befand und dort wie gewohnt für ihre Schwester betete [937v], da sah sie zur 11

Textlücke des Originals ergänzt, vgl. Bericht des Stadtschreibers Pandolfo Nassino, in: L. Mariani et al., a.a.O., D7, (it.) S. 520, (dt.) S. 598

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Nazari, Prozess

Mittagszeit eine Schar von Engeln in der Luft, in deren Mitte ihre geliebte Schwester ganz glücklich und voller Freude war; und plötzlich in einem Augenblick verschwand diese Engelschar wieder. Danach blieb die geschaute Gestalt so in ihrer Erinnerung, dass sie sich ständig im Gedanken an sie eifriger zu Fasten, Abstinenz und Gebet anregen ließ; und in dieser Gesinnung nahm sie das Kleid des Dritten Ordens der Minderbrüder des heiligen Franziskus. Auf Befragen erklärte er: Sie sagte mir nicht, wo sie in diesen Orden aufgenommen wurde; ich versichere euch, dass sie diesen Habit trug, als sie im Haus der obengenannten Madonna Catherina Patengola war. Zu ihrem Leben befragt, sagte er: Während sie sich in meinem Haus aufhielt (das waren ungefähr 14 Jahre), schlief sie auf einer Strohmatte, wobei sie ein Stück Holz unter ihrem Kopf als Kissen benutzte. Ich erinnere mich auch nicht, jemals gesehen zu haben, dass sie Fleisch aß, sondern nur Früchte und Gemüse, und sie trank ausschließlich Wasser. Außerdem sage ich euch, dass sie jedes Jahr von Himmelfahrt bis Pfingsten, das heißt nach Himmelfahrt fünf12 Tage, nicht mehr als eine Mahlzeit einnahm, und zwar ausschließlich Früchte und Wasser. Auf Befragen antwortete er. Ich weiß folgendes: Indem ihre Heiligkeit wuchs, verbreitete sich der Ruf ihres ganz und gar geistlichen Lebens von Tag zu Tag unter dem Volke, so dass dort sehr viele aus der Stadt Brescia zusammenkamen: die einen, um durch ihre äußerst hingebungsvollen Gebete vom Herrn eine Gnade zu erflehen, [938r] die anderen, um einen Streit zu schlichten, der unter Bürgern und anderen Angesehenen der Stadt entstanden war. Dabei erinnere ich mich an den Streit, der zwischen Herrn Filippo Sala und Herrn Francesco Martinengo bestand und der 12

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zusätzlich zu den Tagen, an denen sie ohnehin fastete


Nazari, Prozess

durch das Eingreifen des Herzogs von Urbino, der Rektoren13 und der Adeligen der Stadt bisher nicht geschlichtet und beigelegt werden konnte. Aber diese Madre Suor Angela erreichte auf Bitten der Frauen der oben Genannten mit ganz wenigen Worten, auf solche Weise Frieden zu schließen, dass ihnen damit Genüge getan war. Ihr Ruhm verbreitete sich in den umliegenden Orten, so dass jeder Signore14 ihr gewährte, worum sie bat. Und ich sage euch dies, weil ich weiß, dass wir einmal, als sie und ich von Brescia und nach Mantua fuhren, um [das Grab der] Madre Suor Osanna zu besuchen, auf dem Rückweg an Solferino vorbeikamen, wo sich Signor Alovigio da Castiglione und seine Gattin aufhielten. Dieser Signor Alovigio hatte nämlich einen vertrauten Freund der Madre Suor Angela verbannt und seine Güter eingezogen. Als sie zu Signor Alovigio kam, wurde sie freundlich aufgenommen. Er befreite diesen Freund von der Verbannung und gab ihm seine Güter wieder. Daraufhin kehrte sie nach Brescia zurück. Nach seiner Reise in das Heilige Land Jerusalem befragt, sagte er: Viele Jahre hatte ich den Wunsch, diese Heiligen Stätten von Jerusalem zu besuchen; dies teilte ich der genannten ehrwürdigen Madre Suor Angela mit; sie bat mich sehr inständig, ich möge nicht ohne sie reisen, weil sie jene Heiligen Stätten besuchen wolle. Im Jahre 1524 (wenn ich mich recht erinnere), als ich beschlossen hatte, die Reise zu machen, traf plötzlich die Nachricht in Brescia ein, dass in diesem Jahr keine Fahrt mit venezianischen Schiffen stattfinden werde. Als ich daraufhin von Brescia aufbrach, um den Markt von Lanciano zu besuchen, kam ich an Venedig vorbei. Dort sah ich die Flagge der Schiffe [gehisst] für die besagte Reise und benachrichtigte umgehend die Madre Suor Angela. Sie kam sofort nach [938v] Venedig zusammen mit einem Bartolomeo Biancoso 13

der Universität, vgl. Nazari, Vita, in: L. Mariani et. al., a.a.O., D17, it. S. 545, dt. S. 623

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Mitglied der Signoria, der höchsten Behörde der italienischen Stadtstaaten

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Nazari, Prozess

aus Salò, ihrem Verwandten. Und so schifften wir uns alle am folgenden Tag, dem Fronleichnamsfest, ein. Dabei begleitete uns Pilger der angesehene Signor Alovigio Justiniano zum Schiff, und wir machten uns glücklich auf die Reise. Als wir auf dieser Fahrt in Canea15 angekommen waren, verlor besagte Madre Suor Angela fast vollständig das Sehvermögen. Auf unserer Rückreise hielten wir uns acht Tage in der Stadt Rama16 auf (wegen gewisser Wegelagerer, die darauf warteten, Gefangene zu machen). Dann kamen wir nach Zypern, wo wir viele Tage blieben, weil das Schiff irgendwelche Waren lud; danach gelangten wir nach Candia, wo wir einige Tage verweilten. Am Abend des [Festes des] heiligen Franziskus fuhren wir zusammen mit zwei anderen Schiffen ab. Unseres hatte der Vizeherzog17 von Candia bestiegen, der nach Venedig wollte. Als wir vom Hafen ausgelaufen waren, erhob sich ein gewaltiger Sturm, der neun Tage dauerte. Von unseren drei Schiffen gingen in den ersten drei Tagen zwei unter, mit Waren voll beladen und mit vornehmen Venezianern an Bord. Eines von ihnen, das uns am nächsten war, gehörte einem Adligen aus dem Hause Dolfini. Und ich sage euch, wenn wir nicht sofort unser Schiff von der Last und dem Gewicht der Geschütze befreit hätten, wären Menschen und restliche Waren untergegangen. Auf die Weise wurden wir jedoch nach Barbaria18 getrieben; von dort fuhren wir schnell ab, um nicht in Gefangenschaft zu geraten, und gelangten nach Durazzo, wo [939r] die türkische Kriegsflotte lag. Daher tauchten am Morgen plötzlich eine Galeere und zwei Fusten auf; diese wurden begrüßt, wie es üblich ist, und man brachte den Kapitän unseres Schiffes mit einer Fuste19 zum Kapitän der türkischen Flotte. Dort wurde er befragt 15 16

entspricht Candia, heute Zypern heute er-Ram

18

Vgl. L. Mariani et. al., a.a.O., dt. S. 182, Fußnote 27 wohl die Küste Nordafrikas / Tunesien

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Fusta ist ein kleines Kriegsschiff

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Nazari, Prozess

und dann entlassen, mehr noch, der türkische Kapitän kam, um den Vizeherzog zu begrüßen, der auf unserem Schiff war, weil er ihn schon am Hof des Großtürken20 kennen gelernt hatte, als jener dort Gesandter war. Die Flotte verließ den Hafen heimlich vor uns, um an bestimmte Durchfahrten zu gelangen und bei unserer Ausfahrt Gefangene zu machen. Aber weil Gott uns, dank der beständigen Gebete der Madre Suor Angela, aus den Händen dieser Hunde retten wollte, erhob sich, als wir aus dem Hafen ausliefen, ein so glücklicher und günstiger Wind, dass wir uns ganz schnell nördlich von Cittá Nova in Istrien befanden. Nachdem wir von dort abgefahren waren, kamen wir nach Venedig, wo wir einige Tage blieben. In dieser Zeit wurde die genannte Madre Suor Angela, die bei den Schwestern vom Heiligen Grab wohnte, von sehr vielen Ordensleuten, adligen Männern und Frauen und weiteren geistlichen Personen21 besucht. Von dort wurde sie dann durch einige vornehme Geistliche – diese hatten sie immer wieder besucht – weggeholt und im Hospital der Unheilbaren untergebracht. Danach kamen einige Adlige der Signoria sie besuchen, um ihr zuzuhören und sie über das Leben, ihr Wissen und ihre Heiligkeit zu befragen. Und weil sie sie so brennend in der Liebe zum Herrn fanden, wie sie ihnen beschrieben worden war, bat man sie in Venedig zu bleiben, zum allgemeinen Wohl der luoghi pii22 dieser hochberühmten Stadt. Da sie voll Sehnsucht war, in ihre geliebte Heimat zurückzukehren und nicht den folgenden Tag abwarten wollte (damit sie nicht womöglich [939v] mit dem Patriarchen wiederkommen würden, dem sie aus Gehorsam hätte folgen müssen), fuhren wir am gleichen Abend von Venedig ab und kamen nach Brescia. 20

Suleiman II.

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des Weltklerus

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soziale Einrichtungen

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Nazari, Prozess

Auf die Frage, ob sie danach immer in Brescia geblieben sei, erklärte er: Ich sage euch, da sie nach einiger Zeit die heiligsten Reliquien, die sich in Rom befinden, zu besuchen wünschte, brach sie mit zwei Priestern auf und unternahm diese Reise. Nachdem sie zurückgekehrt war, berichtete sie mir neben vielem anderen über diese verehrungswürdigen Reliquien, dass sie, während sie diese besuchte, von einem gewissen Herrn Piero della Puglia, Kämmerer Seiner Heiligkeit, erkannt wurde, der auch an unserer Fahrt nach Jerusalem teilgenommen hatte. Über viele sehr freundliche Worte hinaus begleitete er sie, um Seiner Heiligkeit den Fuß zu küssen. Und der Heilige Vater bat sie, in Rom in den dortigen luoghi pii zu bleiben. Aber indem sie sich mit demütigsten Worten entschuldigte, brach sie auf, und weil sie befürchtete, dass Seine Heiligkeit ihr im heiligen Gehorsam auferlegen könnte zu bleiben, fuhr sie noch am selben Abend von Rom weg und kam nach Brescia. Befragt, ob er irgendetwas anderes über sie wisse, antwortete er: Ich erinnere mich auch noch, dass sich einige Tage, nachdem sie von Rom zurückgekehrt war, der Herzog von Mailand in Brescia aufhielt und in San Barnaba wohnte. Als dieser, ein religiöser Mensch, von der Heiligkeit und dem Leben eben dieser Madre Suor Angela hörte, ließ er sie [zu sich] bitten. Und als sie zu ihm ging, empfing und begrüßte er sie mit sehr freundlichen Worten und bat sie, sie möge die Güte haben, ihn zusammen mit [940r] seinem ganzen Hof als [geistlichen] Sohn anzunehmen. Und indem sie ihm dafür sehr dankte, verabschiedete sie sich. Als sie einige Tage später zum Monte Varallo pilgerte, um diesen Ort zu besuchen, kam sie auf dem Rückweg durch Mailand, wo sie Seine Exzellenz, den Herzog, aufsuchte. Dieser empfing sie mit sehr freundlichen Worten und bat sie dringend, in Mailand zu bleiben; aber sie entschuldigte sich auf kluge Weise, brach auf und kam nach Brescia. Und an anderes erinnere ich mich nicht. 20


Nazari, Prozess

Am gleichen Tag, im gleichen Jahr, am gleichen Ort und in Gegenwart der obengenannten Zeugen und auf Ersuchen wie oben. Meister Bertolino de Boscolis aus Ottalengo22, „maringono“23, Einwohner von Brescia, wurde befragt wie oben, [über das, was] in Wahrheit gesagt werden kann wie oben. Er legte seinen Eid in Gegenwart der genannten Zeugen ab. Darauf bezeugte er und sagte: Es könnte ungefähr 34 Jahren her sein, wenn ich mich recht erinnere, dass die besagte Madre Suor Angela in dem Haus bei Sant'Afra unterhalb des Brunnens wohnte, wo ich sie, da ich dort in der Nähe war, einige Male besuchte, weil sie wegen ihres geistlichen Lebens in großem Ansehen stand. Aber was für ein Leben sie führte, kann ich euch nicht sagen, ich kann euch aber wohl bezeugen, dass man in der ganzen Stadt sagte, dass sie ein enthaltsames, geistliches Leben von großer Heiligkeit führte. Und was ich [selbst] bei ihr gesehen habe, das berichte ich euch: An einem Werktag hielt ich mich in der nahen Kirche San Barnaba auf, um der Messe am Altar des heiligen Nikolaus von Tolentino beizuwohnen. Bei dieser Messe dort sah ich außer sehr vielen anderen die Madre Suor Angela. Während der Mönch [940v] das Evangelium las - wenn ich mich recht erinnere -, da sah nicht nur ich (sondern viele, die in dieser Messe waren) die genannte Madre Suor Angela stehend und von der Erde fast eine Handbreit emporgehoben; so blieb sie eine Zeitlang in großer Verzückung. Und es schien mir ein Wunder, so etwas zu sehen. Dies erfuhren sehr viele in der Stadt, und auf diese Weise wurden auch ihre Heiligkeit und ihr tief religiöses Leben bekannt. Über anderes kann ich euch nichts sagen, und ich erinnere mich auch nicht, um euch anderes über die genannte Madre Suor Angela zu berichten. 22 23

Siehe Fußnote 9 Schreiner oder Schmied – siehe L. Mariani et al., a.a.O., it. S. 130, dt. S. 149

21


Nazari, Prozess

Im oben genannten Jahr, am Mittwoch, dem 18. August, in der Säulenhalle des Edlen Ritters Jacobus Chizzola24 in der Stadt Brescia im Bezirk der heiligen Petrus und Marcellinus, in Gegenwart des Excellentissimo25 Doktors Herrn Ludovico, Sohn des genannten Edlen Ritters, und des Herrn Agostino Gallo als Zeugen usw. und der Anwesenden usw. auf Ersuchen wie oben wurde von mir, dem unterzeichneten Notar, der Edle Ritter Herr Jacobus Chizzola, Adeliger von Brescia und dortiger Einwohner, befragt [über das, was] in Wahrheit gesagt werden kann wie oben. Er gab die unten stehende Antwort: Ich erinnere mich, in der Zeit, als die ehrwürdige Madre Suor Angela lebte, von glaubwürdigen Personen gehört zu haben, dass sie schon als kleines Mädchen begonnen hatte, ein enthaltsames Leben mit Fasten und Gebet zu führen, und dass sie dann später das Kleid des Dritten Ordens nahm, das sie getragen hat. Außerdem hörte ich, dass sie niemals Fleisch aß, außer in Zeiten der Krankheit, und ferner, dass sie in der ganzen Fastenzeit nicht aß, außer an den Sonntagen, an denen sie nur einfache Speisen wie Früchte und Gemüse zu sich nahm. Und [941r] man kannte bei ihr wahrlich keine schlechte Neigung, denn ihr waren Ehrgeiz, Ruhmsucht und Zorn fremd. Sie fand nur Gefallen an Demut und an beschaulichem und religiösem Leben, und so harrte sie in dieser Lebensweise und auf dem Weg des Herrn mit Fasten, Enthaltsamkeit, Gebet und Nachtwachen aus. Es erschien mir auch als etwas Großes, dass sie, obwohl sie nie die lateinische Sprache gelernt hatte, das Lateinische so gut verstand, wie sie es tat. Und mehr noch: Obgleich sie nie die Heilige Schrift studiert hatte, hielt sie so überaus schöne, gelehrte und geistliche Ansprachen, die manchmal eine Stunde dauerten. Und ich erinnere mich auch, dass ich sie besuchte, als sie am Ende ihres Lebens im Sterben lag. Dort, auf ihrem Lager aufgerichtet, gab sie mir eine schöne 24 25

Giacomo Chizzola – vgl. L. Mariani et al., a.a.O., it. S. 116ff, dt. S. 133ff Bezeichnung mit dem Doktortitel verbunden

22


Nazari, Prozess

Unterweisung über das christliche Leben. Und als sie bei meinem Weggehen von Herrn Thomaso Gavardo (der mit mir gekommen war) gebeten wurde, ihm ein geistliches Wort zu hinterlassen, sagte sie nur dieses: Handelt im Leben so, wie ihr in der Stunde des Todes gehandelt haben möchtet. Und das ist es usw., und an anderes erinnere ich mich nicht. Im oben genannten Jahr, am Freitag, dem 29. Oktober, im Laden26 des unterzeichneten Meisters Paulus, Rechts[kundiger]27, in der Stadt Brescia bei der Kathedrale, in Gegenwart der Schmiedemeister Paulo de Ubertis und Vincentio de Boiolis, alle Einwohner von Brescia, als Zeugen usw. auf Ersuchen wie oben. Und nachdem Agostino Gallo, Bürger und Einwohner Brescias, den Eid darüber abgelegt hatte, dass in Wahrheit alles zu sagen ist, was er von der genannten verehrungswürdigen Madre Suor Angela weiß, sagte er: [941v] Obwohl ich, Agostino Gallo, seit mehreren Jahren die verehrte Madre Suor Angela, Terziarin des heiligen Franziskus, dem Ruf nach kannte und auch einige Male mit ihr gesprochen hatte, begann ich sie noch besser kennen zu lernen, als ich sie von Brescia nach Cremona in mein Haus nahe der Kirche San Vittore führte. Meine verwitwete Schwester Ippolita war bei ihr. [Das war] 1529, als Kaiser Karl V. nach Piacenza gekommen war, um sich zu krönen, was er auch tat. Man fürchtete nämlich, er werde auch Brescia belagern, da er ein Feind unserer erlauchten Signori28 war. Es genügte, dass sie mit mir während der Reise mit solcher Liebenswürdigkeit sprach, so dass ich sofort ihr Gefangener blieb, derart, dass sowohl ich nicht mehr ohne sie zu leben wusste als auch meine Frau und meine ganze Familie. Tatsächlich verkehrte meine genannte Schwester mit ihr, schon während sie verheiratet war, wurde aber noch viel vertrauter, als sie 1528 ihren Gatten 26 27 28

apotheca = Lager und Verkaufsraum, vgl. http://www.erfurt-web.de / Apotheker u.a. im Original Textlücke die Regierenden der Stadt, vgl. Fußnote 14

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Nazari, Prozess

verlor. Damals, als sich die besagte Madre in unserem Haus aufhielt, suchten sie jeden Tag vom Morgen bis zum Abend nicht nur viele Ordensleute und sehr fromme Personen auf, sondern auch vornehme Damen und Herren und verschiedene andere Personen aus Cremona und Mailand. Denn dort befanden sich viele, die ihrem Herzog gefolgt waren, der sich zu dieser Zeit hier aufhielt. Sie alle wunderten sich über ihre große Weisheit, weil man sah, dass sie viele dazu bekehrte, ihr Leben zu ändern. Auch ich habe von diesen viele gekannt, die [bereits] gestorben sind, und auch einige wenige, die [942r] noch leben, sowohl in Mailand als auch in Cremona. Sie blieb dort, bis der genannte Kaiser nach der Krönung mit unseren Signori Frieden geschlossen hatte. Dann kehrte sie mit dem besagten Herrn Girolamo Patengola nach Brescia zurück, wo sie wohnte, bis sie starb, und zwar am 12. März28 1540. Auf ihr Leben kommend, sage ich, wie ich es viele Male gehört habe, dass sie mit fünf oder sechs Jahren anfing, ein enthaltsames Leben zu führen (auf Grund der guten Unterweisung durch den Vater) und von den Leuten zurückgezogen zu leben, um sich umso mehr dem Gebet und den Andachtsübungen hingeben zu können. Und je mehr sie an Alter zunahm, umso mehr gab sie sich diesen [Übungen] und dem beschaulichen Leben hin, so dass sie das Kleid des sogenannten Dritten Ordens nahm, damit sie mehr Möglichkeiten habe, zur Messe, zur Beichte und zur Kommunion zu gehen. Denn damals war es Laien nicht erlaubt, oft zu kommunizieren, wie es nach und nach immer häufiger wurde, weil diejenigen Priester großzügiger wurden, die die Kommunion höher schätzten, als es damals üblich war. Es genügt [zu sagen], dass sie um 1516 nach Brescia kam, um dort zu bleiben (wie ich habe sagen hören), und sie wohnte im Hause des Kaufmanns Herrn Giovanni Antonio Romano, bis ich sie 1529 (wie ich gesagt habe) nach Cremona führte. Nach der Rückkehr 28

unzutreffend - vgl. L. Mariani et al., a.a.O., it. S. 198 ff., dt. S. 227 ff.

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Nazari, Prozess

wohnte sie einige Monate bei San Clemente in zwei meiner Zimmer, die [942v] ich für sie hatte herrichten lassen, und zeitweilig auch bei San Barnaba und dann die ganze Zeit, die sie lebte, im Hause der ehrwürdigen Brüder von Sant’Afra bei dem öffentlichen Brunnen. In diesen Jahren machte sie eine Reise nach Jerusalem, bei der sie auf der Hinfahrt das Augenlicht verlor. Trotzdem, sagte sie mir, sie habe, indem man sie von einer heiligen Stätte zur anderen führte, diese immer mit den inneren Augen gesehen, als ob sie sie mit den äußeren gesehen hätte. Als dann ihr Augenlicht in Brescia zurückgekehrt war, ging sie mit zwei Priestern nach Rom. Und als sie wieder nach Brescia gekommen war, reiste sie kurz darauf zu der Andachtsstätte auf dem Monte Varallo. Aber weil diese damals erst im Entstehen war, kehrte sie noch einmal im August 1532 dorthin zurück; auch ich und meine genannte Schwester waren dabei. Von den vierzehn Personen, die wir dort waren, sind alle außer mir tot. Es genügt [zu sagen], dass sie dort viele Kapellen und Stätten fand, denjenigen nachgebildet, die es in Jerusalem, in Bethlehem und an anderen Orten des Heiligen Landes gab und immer noch gibt, Stätten wirklich größter Verehrung, die man sehen und betrachten kann, ohne über das Meer zu fahren. Während diese ehrwürdige Mutter lebte, war sie jahrelang stets für sehr viele Menschen eine große Hilfe, weil sie sich mit ihr berieten, entweder um das Leben zu ändern oder Bedrängnisse zu ertragen oder Testamente zu machen oder eine Frau zu nehmen oder um Töchter und Söhne zu verheiraten. Darüber hinaus fehlten [943r] nie [Gelegenheiten] Frieden zu schließen, zum Beispiel zwischen Frauen und ihren Männern, zwischen Söhnen und Vätern, zwischen Brüdern und zwischen vielen verschiedenen anderen entsprechend ihrem Stand: Sie beriet und tröstete jeden, soviel sie konnte, in einer Weise, dass ihr Wirken eher etwas Göttliches als etwas Menschliches hatte, weil sie selbst immer ein Leben in 25


Nazari, Prozess

beständiger Strenge führte. Denn sie ertrug starke Hitze, äußerste Kälte, heftigen Hunger und beraubte sich selbst aller Bequemlichkeit beim Schlafen, indem sie ihren wenigen Schlaf mit einem Stück Holz unter dem Kopf auf einer bloßen Strohmatte verbrachte, die sie vor Tagesanbruch zusammenrollte. Man sah dort weder andere Betten noch Lager; und man sah auch kein Weingefäß, das heißt, dass sie niemals Wein trank oder andere Getränke, sondern immer nur Wasser. Zwar trank sie an den Hochfesten Weihnachten und Ostern zum Mittagessen Wein, um sie festlicher zu begehen, [aber] nur einen einzigen Schluck. Sie aß immer wenig Brot, wohl aber Früchte und Gemüse, und auch davon nur mit großer Genügsamkeit. Daher sagten die Ärzte, die sie in ihren Krankheiten behandelten, mit Recht, dass sie eine andere Natur angenommen habe, abweichend von jener, die man gewöhnlich bei anderen Leuten kennt. Denn sie bemerkten, dass sich die Medikamente, die sie zu sich nahm, fast immer in Nahrung verwandelten und nicht in Abführoder [943v] Heilmittel, wie sie gewöhnlich bei uns anderen wirken. Daher kann man sagen, dass sie sich vor allem [deshalb] mit Medikamenten behandeln ließ, um jenen Personen, die sich um sie kümmerten, kein Ärgernis zu geben. So hat sie sich, damit die Medikamente bei ihr wirkten, mehrmals selbst geheilt, indem sie Zwiebeln, Porree und ähnliches aß, die ihrer eigenen Natur gemäß waren, abgesehen davon, dass sie sich manchmal, wenn sie mehrere Tage krank war, auch noch heilte, indem sie sich den Kopf wusch. Aber alles das ist nichts in Anbetracht dessen, was ihr in Cremona zustieß (dem entsprechend, dass sie sich nur mit außergewöhnlichen Mitteln heilte). Sie war nämlich viele Tage krank, und zwar so schwer, dass wir alle erwarteten, sie würde jeden Augenblick aus diesem Leben scheiden, weshalb der besagte Patengola Verse mit folgendem Wortlaut verfasste: 26


Nazari, Prozess

Epitaph Quella che’l nome, l’opre, et la favella D’angela tenne, qui sepolta giace. Vergine visse in taciturna cella, Godendo ivi la vera interna pace. Di Dio diletta, obbediente ancella Fu adversaria a ciò ch’al senso piace; Or vive lieta in cielo, incoronata Di Palme il crin, tra gli angeli beata.29 [944r] Als er ihr diese vorgelesen hatte und zu ihr sagte: Freut euch, Mutter, dass man morgen diese Verse über euer Grab setzen wird, richtete sie sich sofort auf ihrem Lager auf. Und im Glauben, dass es so geschehen würde, sprach sie nicht weniger als eine halbe Stunde mit Leidenschaft über das Glück des himmlischen Vaterlandes. Dabei strahlte fortwährend ihr Gesicht, als wenn sie ein Cherubim wäre, so schien sie nicht nur den vielen, die im Zimmer waren (und [es war] gut gefüllt), im Paradies zu sein, sondern sie erlangte auch wegen der übergroßen Freude, die sie daran hatte, von dieser Welt zu scheiden, wie sie es immerfort gewünscht hatte, die körperlichen Kräfte wieder, so sehr, dass sie, als sie merkte, dass die Krankheit vorübergegangen war, sofort zu weinen und sich heftig über den genannten Patengola zu beklagen begann. Sie beschuldigte ihn, er habe das nur getan, um sie zu täuschen, und nicht weil er glaubte, dass sie sterben müsse. Dar29

Die, deren Name, Werke und Worte die eines Engels waren, ist hier begraben. Die Jungfrau lebte in ihrer stillen Zelle und kostete dort den wahren inneren Frieden. Sie war Gottes geliebte, gehorsame Dienerin, alles ablehnend, was den Sinnen gefällt. Jetzt lebt sie heiter im Himmel, gekrönt mit Palmen, glücklich unter den Engeln.

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Nazari, Prozess

auf schwor er, er habe alles getan im festen Glauben, dass sie das Leben beenden müsse, bevor der folgende Tag angebrochen sei, und nicht um ihr einen Kummer zu bereiten. Ich könnte wirklich wunderbare Dinge über sie sagen, unter denen dies das Erstaunlichste ist: Sie hat, obgleich ihr niemals das Alphabet beigebracht worden war, nicht nur eine Menge von heiligen Büchern gelesen, sondern ich habe auch sehr oft gesehen, dass zu ihr viele Ordensleute und besonders Prediger [944v] und Theologen kamen, um sie um Erklärungen über viele Abschnitte der Psalmen, der Propheten, der Offenbarung und des gesamten Neuen und Alten Testamentes zu bitten, und [dann] von ihr eine derartige Auslegung zu hören, dass sie darüber ganz erstaunt waren. Daher konnte man sagen, dass diese Frau mehr Göttliches als Menschliches hatte. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sie ein derart strenges Leben führte und so von Herzen die Jungfräulichkeit, die Reinheit, das Fasten, die Beichte, die Kommunion und das Gebet lobte. Denn sie kommunizierte alle Tage, an denen sie konnte, und blieb viele Stunden am Morgen vor dem Allerheiligsten, um die Messen zu hören. Und weil sie wenig schlief, darf man glauben, dass sie den größten Teil der Nacht betete und dabei in der Betrachtung jene göttlichen Dinge schaute, die nur sehr wenigen Menschen zuteilwerden. Dann verbrachte sie den ganzen Tag auf verschiedene Weise mit guten Werken für den Nächsten, oder betete für sich und für die Sünder und versäumte nicht heilige Bücher zu lesen, wenn keine Personen da waren, die sie für irgendein gutes Werk beanspruchten. Bei all dem war diese ehrwürdige Madre immer sehr weit entfernt von Visionen und war ganz und gar ablehnend denen gegenüber, die sich groß taten, so etwas verschiedentlich geschaut zu haben, weil sie diese für verlorenere Seelen hielt, als es die Ungläubigen sind. Denn sie erkannte, dass sich solche Personen nicht fassen ließen, weil sie ganz und gar vom Dämon umgarnt waren, der sich in einen Engel [945r] des Lichtes verwandelt, wie der heilige Paulus im zweiten 28


Nazari, Prozess

[Brief] an die Korinther30 sagt. Tatsächlich gab es zu ihrer Zeit ziemlich viele Personen, die sich in solchen Visionen am Freitag oder Mittwoch gefielen, wobei sie viele Stunden unbeweglich mit ausgebreiteten Armen standen. Darunter waren solche, die sich rühmten, die Wundmale an den Händen zu haben und vollendet zu sein; es besteht wenig Zweifel, dass diese armen Seelen in der Hölle begraben sind. Es genügt [zu sagen], dass diese gesegnete Madre mir diese so schrecklichen Irrtümer an einem eigenen Beispiel sehr gut deutlich machte, dass ihr nämlich in jungen Jahren der Satan in Gestalt eines Engels erschien. Dieser war von solcher Schönheit, dass es keinen Menschen gibt, der das glauben oder sich vorstellen könnte; aber Gott, der Erbarmen mit der Reinheit dieser unschuldigen Seele hatte, erleuchtete sie in solcher Weise, dass sie sich sofort mit dem Gesicht zur Erde warf und schrie: Fahr zur Hölle, du Feind des Kreuzes, denn ich weiß, dass ich nicht würdig bin, irgendeinen Engel Gottes zu schauen; und so verschwand er sofort. Und gerade diese Erinnerung war es, die mir viel mehr bestätigte, dass sie eine große Dienerin Gottes war, als es jemals die heiligen Werke taten, die ich bei ihr sah. In ihr war nämlich immer eine tiefe Demut, welche die wahre Krone aller anderen Tugenden ist; denn diese sind völlig vergeblich, wenn das Fundament der heiligsten Demut fehlt. Ein nur äußerliches Ereignis scheint mir erzählenswert, dessentwegen wir ebenso wie wegen des [bereits] von mir Berichteten allen [945v] Grund haben zu glauben, dass diese beispielhafte Madre eine wahrhaft große Dienerin des Herrn war, solange sie lebte. So sah es nach ihrem Tod fast die ganze Stadt als etwas völlig Sicheres, dass ihr Körper, während er dreißig Tage lang bekleidet im offenen Sarg lag - und zwar an dem Bestattungsort der Seligen in den Kapellen unter der Kirche Sant’Afra - in den vielen 30

2 Kor 11,14

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Nazari, Prozess

Tagen nicht nur keinen üblen Geruch verbreitete, sondern dass sich die Arme und die Hände immer noch Glied für Glied so voneinander lösten, dass jeder Teil dieses Körpers, wenn man ihn betastete und drückte, von selbst wieder zurückging, wie es bei jeder lebenden Person geschieht. Befragt, ob er noch anderes über sie wisse[, sagte er]: Ich könnte noch verschiedenes anderes sagen, was zu unserer Erbauung diente; aber weil es viel zu lang wäre, erscheint es mir ehrenhaft, dass ich Schluss mache, nachdem ich jedoch die bemerkenswertesten Dinge gesagt habe. Und indem ich Gott dem Herrn danke, dass er mir gewährt hat, diese Wahrheit zu sagen, werde ich nichts anderes sagen, und das ist es usw. L.S.31 Ich, Johannes Baptista, Sohn32 des verstorbenen Herrn Johannes Faustinus de Nazaris, genannt de Sayanis, Notar auf Grund kaiserlicher Vollmacht, Bürger und Einwohner von Brescia, war bei allen diesen Zeugenaussagen anwesend und amtlich beauftragt. Und weil ich mit anderem beschäftigt war, habe ich durch einen anderen protokollieren lassen, und weil ich mit dem Vorsitzenden gut zugehört und Übereinstimmung festgestellt habe, habe ich zur Bestätigung des Vorstehenden unterschrieben, nachdem ich mein gewohntes Siegel darunter gesetzt hatte.

31 32

„Loco Sigelli“ anstelle des Siegels (auf Abschriften), siehe Meyers Lexikon Für „quondam“ – vgl. Steuerakte von 1568, L. Mariani et al., a.a.O., dt. S. 38, it. S. 34

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Nazari, Vita

Nazari: Vita33 Buch über das Leben der ehrwürdigen und gleichsam seligen Madre Suor Angela, Gründerin der Gemeinschaft der heiligen Ursula in Brescia, mit den Zeugenaussagen über ihr Leben; es enthält auch das Gelübde der Jungfrauen der genannten Gemeinschaft.34 An die edlen Matronen, die Frauen Bianca Porcelaga, Veronica Butia, Isabetta Prata, Leonella Pedezocha, Natività Bargnana, Camilla Tayetta, Giulia und Laura Trusse und Lucretia Offlaga35, Leiterinnen und Verwalterinnen der Gemeinschaft der heiligen Ursula von Brescia. Giovanni Battista Nazzari, Brescianer [Bürger] Je mehr ich bei mir selbst den Anfang dieser sehr würdigen Gemeinschaft bedenke und betrachte, Erhabene Damen, desto mehr bin ich voll Erstaunen über diese außergewöhnliche Pflanze, aus der diese Gemeinschaft den Anfang genommen und dann so gute und kostbare Früchte hervorgebracht hat. Und während ich im Staunen verharre, bleibe ich noch darüber hinaus überwältigt und entzückt, wenn ich so zu der dreiförmigen Gestalt diese außergewöhnlichen Pflanze überleite, das heißt der Zeder, der Zypresse 33

Vatikanstadt, Vatikanisches Geheimarchiv, Heilige Ritenkongregation, Processus 341ff, 927v-936v, in: Luciana Mariani / Elisa Tarolli / Marie Seynaeve, Angela Merici. Contributo per una biografia, Mailand, 1986; D17, it. S. 540ff, dt. 618 ff.

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Dieser zuletzt genannte Teil ist offenbar mit dem gesamten Originalmanuskript verschollen. Vgl. MaTaSey, dt. S. 40: In der Tat bildete das Werk Nazaris zusammen mit dem Verzeichnis der Jungfrauen, die von 1568-1600 öffentlich das Gelübde der Jungfräulichkeit abgelegt hatten, ein Ganzes. (siehe auch it. S. 36)

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Die Namen sind hier nach dem Originaltext wiedergegeben; andere Schreibweise siehe Angela Merici, Regel – Ricordi – Legati, S. 43

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Nazari, Vita

und der Palme, sowie zur Beschaffenheit ihrer Früchte: Sie fürchten in keiner Weise die rauen Stürme, die heftigen Winde und die schlimmen Nebel und Regengüsse. Sie ernähren sich allein von der Wärme der strahlenden Sonne und dem himmlischen Tau und sie freuen sich darüber sowie über die Menge der äußerst anmutigen Vögel, die mit der wohlklingenden Harmonie ihrer Stimmen die Luft erfüllen und die Ohren derjenigen, die ihnen zuhören, in Bewunderung versetzen. Im Verlangen, diese so gelobte Pflanze euch allen bekannt zu machen, [928r] edelste Damen, eurer ganzen Gemeinschaft und jedem, der verlangt, den Beginn dieser sehr gepriesenen Gemeinschaft kennen zu lernen, sage ich daher, dass diese unsere kostbare und dreiförmige Pflanze niemand anderer war als die verehrungswürdige Madre Suor Angela. Wie eine Zeder verströmte sie den wohlriechenden Duft eines allgemein verbreiteten guten Rufes; indem er die Herzen der Menschen durchdrang, blieben diese durch sie von geistlicher Liebe ergriffen. Ferner war sie wie eine Zypresse, die - über den Wohlgeruch hinaus - einer von den Bäumen ist, die sich sehr hoch in den Himmel erheben; das heißt, indem sie immer mit den Gebeten und den Gedanken den Geist zum Himmel, zu Gott hin, erhob, verbrachte sie ihre Tage zum Nutzen für sich und ihren Nächsten. Sie war auch wie eine Palme, die sich unter der ihr auferlegten Last beugt. So wurde sie immer stärker und eifriger, weil sie Mühen und Beschwernisse nicht beachtete. Daher ist es kein Wunder, dass eine derart fruchtbare Pflanze so kostbare und gepriesene Früchte hervorgebracht hat, nämlich diese Gemeinschaft von Jungfrauen, die in dem ständigen Kampf gegen die Widrigkeit, die Eitelkeit und den Trug der Welt in christlicher [Gottes-]Liebe und geschwisterlicher Nächstenliebe auf dem Weg des Herrn bleiben. Ferner schweben über dieser außergewöhnlichen Pflanze - das ist die Gemeinschaft - Vögel, nämlich Engel, die in fortwährender Freude eine wohlklingende Harmonie 32


Nazari, Vita

erzeugen, indem sie das „Te Deum laudamus“ singen. Weil ich mit Erlaubnis unseres sehr verehrten Bischofs und der Leiter dieser Gemeinschaft die Aufgabe übernommen habe, das Leben dieser ehrwürdigen Madre ans Licht zu bringen, hielt ich es für richtig, die Zeugenaussagen über sie aufzunehmen und [928v] als notarielle Urkunde aufzubewahren. Aus diesen habe ich das vorliegende Werk herausgearbeitet, und es schien mir angemessen, es euch, verehrte Damen, als Leiterinnen und Verwalterinnen der besagten Gemeinschaft zu widmen; wenn ihr dieses zugleich mit meiner wohlwollenden geistlichen Liebe annehmt, werdet ihr es zu euer aller Nutzen lesen können. Diese Lebensbeschreibung ist folgende. LEBEN UND TOD DER VEREHRTEN MADRE SUOR ANGELA In Desenzano, einem am Westufer des Gardasees gelegenen Dorf, das der herrlichen Stadt Brescia unterstellt war, lebte ein Herr Giovanni Merico. Dieser hatte zwei Töchter, die kleinere von ihnen hatte den Namen Angela. Da diese oft gehört hatte, wie der Vater sowohl das Leben heiliger [Männer] als auch heiliger Jungfrauen vorlas, begann sie von Kindheit an, Fasten und Gebet einzuüben. Während-dessen starb ihr lieber Vater und nicht lange Zeit danach ihre so sehr geliebte Schwester. Diese war, solange sie lebte, nicht nur eine gute Schwester, sondern auch Angelas Gefährtin im Fasten und in der Enthaltsamkeit. Als sich Angela ohne ihre geliebte Schwester sah, kam ihr der Wunsch zu erfahren, ob deren Seele in das Glück der ewigen Herrlichkeit aufgestiegen sei. Deshalb betete sie täglich zum Herrn. Als sie sich eines Tages außerhalb von Desenzano auf einem ihrer Felder befand und ihre gewohnten Gebete mit noch größerem Eifer verrichtete, sah sie um die Mittagszeit plötzlich eine Schar Engel in der Luft, in deren Mitte [929r] die Seele ihrer innig geliebten Schwester ganz glücklich und voll Jubel war. Und im gleichen Augenblick verschwand diese Schar der Engel sehr schnell wieder. 33


Nazari, Vita

Seitdem blieb ihr die geschaute Gestalt im Sinn, so dass sie sich, indem sie immer an sie dachte, noch leidenschaftlicher zu Fasten und Gebet anspornte. Je mehr sie an Alter zunahm, umso mehr widmete sie sich daher diesen [Übungen]. Deshalb wollte der Satan, der Feind der Gläubigen, sie auf irgendeine Weise - sie täuschend - von der begonnenen Lebensweise abbringen und erschien ihr in Gestalt eines Engels. Dieser war von solcher Schönheit, wie es sich kein Mensch vorstellen kann. Aber Gott, der seine Diener nicht verlässt und mit der Reinheit dieser unschuldigen Dienerin und seiner kleinen Jungfrau Erbarmen hatte, erleuchtete sie so, dass sie sich sofort mit dem Gesicht zur Erde warf und schrie: „Fahr zur Hölle, Feind des Kreuzes und Verfolger der Gläubigen, denn ich weiß genau, dass ich als Sünderin nicht würdig bin, irgendeinen Engel Gottes zu schauen.“ Der so verhöhnte Dämon, verschwand in blinder Wut. Weil nun die Dienerin Gottes erkannte, dass sie sich durch göttlichen Willen vom Anblick des Dämons befreit hatte, gab sie sich noch geduldiger und mit mehr Eifer dem beschaulichen Leben hin; deshalb nahm sie das Kleid der Terziaren, genannt nach dem Dritten Orden der Observanten-Brüder des heiligen Franziskus, damit sie mehr Gelegenheit hatte, zur heiligen Messe, zu [929v] den Andachtsbeichten und zur heiligen Kommunion zu gehen. Denn zu dieser Zeit erlaubte man den Laien nicht, so oft zu kommunizieren, wie es dann allmählich immer gebräuchlicher wurde, da die Priester großzügiger waren, die mehr Hochachtung vor der Kommunion hatten, als es zu jener Zeit üblich war. Darauf kam sie im Jahr 1516 nach Brescia, um Madonna Catarina, die Gattin des verstorbenen Herrn Giovanni Battista Patengola, zu besuchen, eigentlich nur um sie nach dem Tod ihrer beiden Söhne zu trösten, wo sie dann aber viele Monate blieb. Als sie in dieser Zeit viele Male von Herrn Antonio Romano besucht wurde, beeindruckte sie ihn so sehr, dass sie ihm auf seine wiederholten 34


Nazari, Vita

Bitten den Gefallen erwies, in sein Haus zu ziehen, um dort für sich zu wohnen. Nicht lange danach hörte die ehrwürdige Madre Suor Angela vom Leben und Ruf der ehrwürdigen Madre Osanna von Mantua und beschloss, sie zu besuchen. Deshalb reiste sie zusammen mit Herrn Antonio Romano von Brescia ab und ging nach Mantua. Auf der Rückreise kam sie an Solferino vorbei, wo sie den Herrn Alovisio da Castione und seine Gemahlin besuchte. Weil dieser sie bereits dem Ruf nach kannte, empfing er sie zuvorkommend. Der Grund, weshalb sie sich zu diesem Herrn Alovisio begab, war der, dass er einen Verwandten der ehrwürdigen Madre verbannt und dessen Güter eingezogen hatte. Deshalb bat sie den genannten Herrn Alovisio [930r] so inständig, dass sie die Begnadigung erreichte und dadurch ihren verbannten Verwandten befreite und ihm seine Güter zurückgegeben wurden. Da Herr Antonio Romano schon seit mehreren Jahren den Wunsch hatte, die Stätten des Heiligen Landes zu besuchen, bat ihn die Madre Suor Angela innig, nicht ohne sie dorthin zu reisen. Als der genannte Romano um das Jahr 1524 bereits beschlossen hatte, diese Reise zu machen, und dann die Nachricht von Venedig kam, dass das gewöhnliche Pilgerschiff nicht von Venedig abfahren würde, brach er zum Markt von Lanzano auf. Als er dann durch Venedig kam und die Flagge dieses genannten Pilgerschiffes gehisst sah, benachrichtigte er die Madre Suor Angela. Diese reiste rechtzeitig von Brescia ab, zusammen mit ihrem treuen Verwandten Bartolomeo Biancoso aus Salò, und gelangte nach Venedig zum besagten Herrn Antonio. Als der Tag der Abfahrt des Schiffes gekommen war, gingen alle Pilger im Zug der Fronleichnamsprozession an Bord, wie üblich begleitet von den dortigen Signori. Mit vollen Segeln gelangten sie nach Canea36. Dort verlor die Madre 36

Candia, heute Kreta - vgl. Fußnote 15

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Nazari, Vita

Suor Angela, vielleicht wegen des Dunstes über dem Meer oder wegen der Beschwerlichkeit der Reise, fast vollständig das Augenlicht. Trotzdem wurde sie, auf diese Weise erblindet, zu allen heiligen Stätten geführt, indem man ihr erklärte, was es war. Dort verrichtete sie an jedem einzelnen Ort inbrünstige Gebete. Als sie aber an den Ort kam, wo der Erlöser der Welt gekreuzigt worden war, weinte sie auf [930v] den Knien liegend lange und küsste sehr viele Male diese glückliche Erde, die würdig befunden worden war, das kostbarste Blut Jesu aufzunehmen, vergossen für die elenden Sünder. Indem sie so von einer dieser heiligsten Andachtsstätten zur anderen geführt wurde, schaute sie diese immer mit den inneren Augen, als wenn sie sie mit den äußeren gesehen hätte. Nachdem sie diese Orte noch einmal besucht hatten und das Schiff abfahren wollte, um nach Venedig zurückzukehren, schifften sich alle Pilger ein. Auf dieser Fahrt hatten sie viel Missgeschick und Unglück auf dem Meer, darunter dies: Als das Schiff einige Tage in Candia gelegen hatte und am Abend des [Festes des] heiligen Franziskus abfuhr, schlossen sich ihnen zwei andere Schiffe an, die nach Venedig wollten. Da erhob sich ein gewaltiger Seesturm, der neun Tage ohne Unterbrechung dauerte. Am dritten Tag versanken die zwei unglücklichen [Schiffe] mit der ganzen Ladung und [allen] Personen. Die Pilger aber hatte es nach Barbaria37 verschlagen. Nach vielen Mühsalen[, verursacht] sowohl durch die Stürme des Meeres als auch durch die türkische Flotte, brachte das Schiff sie endlich durch die Gebete der genannten Madre und dank der unendlichen Güte Gottes nach Venedig, wo sie einige Tage blieb, um auszuruhen. In dieser Zeit, während die genannte Madre Suor Angela bei den Schwestern vom Heiligen Grab wohnte, wurde sie ständig von Ordensleuten und geistlichen Herren und Damen und anderen frommen Personen besucht. Nachdem adelige Geistliche sie von [931r] dort in das Hospital der Unheilbaren ge37

wohl die Küste Nordafrikas / Tunesien

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Nazari, Vita

bracht hatten, wurde sie ebenso von vielen frommen Personen aufgesucht. Dorthin kamen einige bedeutende Adlige im Namen der angesehenen Signori38, Vorsteher der Luoghi Pii, um sie über ihr Leben und ihre Weisheit zu befragen. Und weil sie sie von so außergewöhnlicher Vorbildlichkeit fanden, wie man es von ihr sagte, baten sie eindringlich, sie möge zum Wohle dieser Luoghi Pii in Venedig bleiben. Sie entschuldigte sich freundlich, weil sie sich sehr danach sehnte, in ihre geliebte Stadt Brescia zurückzukehren. Da sie aber nicht den nächsten Tag abwarten wollte damit diese erhabenen Signori nicht womöglich mit dem hochwürdigsten Patriarchen oder seinem Gesandten zurückkehren würden, dem sie durch den heiligen Gehorsam hätte gehorchen müssen -, brach man noch am gleichen Abend von Venedig auf und kam am Tag der heiligen Katharina in Brescia an. Nach einer gewissen Zeit machte sich die Madre Suor Angela im Verlangen, die heiligsten Reliquien in Rom zu besuchen, - nachdem Gott ihr das Augenlicht wiedergegeben hatte - mit zwei hochwürdigen Priestern diese Reise. Als sie in Rom angekommen waren, besuchte sie diese heiligen Reliquien. Währenddessen wurde sie zufällig von einem Herrn Piero della Puglia, Kämmerer seiner Heiligkeit, gesehen. Weil er sich bei der Reise ins Heilige Land auf demselben Schiff befunden hatte, geleitete er sie, über viele und sehr liebenswürdige Worte und Angebote hinaus, [931v] zum Heiligsten Vater um ihm den Fuß zu küssen. Da dieser schon von ihrem außergewöhnlichen Leben gehört hatte, bat er, sie möge dort in Rom bei den Luoghi Pii bleiben. Nachdem sie sich mit äußerst demütigen Worten entschuldigt hatte - denn sie hatte im Sinn, die fromme Gemeinschaft der heiligen Ursula zu gründen, das heißt eine Gemeinschaft von jungen Frauen, wie sie es dann auch tat -, verließ sie Seine Heiligkeit in gutem Einvernehmen und kehrte nach Brescia zurück, ganz glücklich, weil sie jene verehrungswürdigen Reliquien besucht hatte. 38

kommunale Machthaber, vgl. Signoria

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Nazari, Vita

Als sich nach einiger Zeit, [es war] im [Jahr] 1528, der Herzog von Mailand wieder in Brescia aufhielt und in San Barnaba wohnte, ließ er die genannte Madre bitten, sie möge zu ihm kommen. weil er von ihrem guten Ruf gehört hatte. Als sie dann hinging und er sie empfing, bat er sie mit vielen liebenswürdigen Worten und mit großer Eindringlichkeit, sie möge ihm die Freude machen, ihn als ihren geistlichen Sohn anzunehmen und seinen Staat dem Schutz Gottes [zu empfehlen]. Nach einigen tröstenden Worten versprach sie, Seine göttliche Majestät in diesen Anliegen zu bitten, und damit verließ sie Seine Exzellenz. Als sie im folgenden Jahr den Ort Varallo besuchte, um auf seinem Berg die Heiligtümer zu sehen, heilige Stätten, [wie diejenigen,] die sich in Jerusalem befinden, kam sie auf dem Rückweg an Mailand vorbei und besuchte die genannte Exzellenz, den Herzog. Dieser empfing sie mit sehr herzlichen Worten und bat sie sehr eindringlich, dass sie in Mailand bleiben möge. Sie entschuldigte sich aber auf kluge Weise, nahm Abschied und kam nach Brescia, wo sie kurz blieb: Weil im selben Jahr Herr Agostino Gallo [932r] und Frau Ippolita, seine verwitwete Schwester, nach Cremona gehen wollten, um dort zu wohnen, brachen mit ihnen zusammen die genannte Madre sowie Herr Hieronimo Patengola auf und gingen nach Cremona in das Haus des besagten Gallo bei San Vittore. Auf dieser Reise sprach die Madre derart liebenswürdige und fromme Worte, so dass nicht nur Herr Agostino [selbst] nicht leben konnte, ohne die Madre oft zu hören, sondern auch seine Familie. Zwar pflegte die genannte Frau Ippolita, während sie verheiratet war, vertrauten Umgang mit ihr, aber während dieser Reise wurde er noch vertrauter. Während sich die Madre Suor Angela einige Tage - in denen sich der Kaiser mit dem Senat von Venetien, mit dem er Krieg führen wollte, vor allem in Brescia, versöhnt haben könnte - in Cremona aufhielt, wie wegen einiger für sie wichtiger Aufgaben, wurde sie oft von verschiedenen Ordensleuten und geistlichen Personen auf38


Nazari, Vita

gesucht, sowohl aus Cremona als auch aus Mailand; sie alle bewunderten ihre Weisheit. Und während sie sich in Cremona aufhielt, erkrankte sie so sehr, dass sie an der Schwelle des Todes stand, wie später berichtet wird. Als dann der Friede zwischen dem Kaiser und dem Erlauchten Senat von Venetien geschlossen war, kam sie erneut nach Brescia und wohnte im Haus des genannten Herrn Agostino. Im Jahre 1532 ging sie dann zusammen mit dem obengenannten Gallo und seiner Schwester und zwölf anderen geistlichen Begleitern zum Monte Varallo, der damals mit Andachtsstätten und Kapellen [932v] ausgestattet war; diese Stätten waren denen nachgebildet, die in Jerusalem, in Bethlehem und an anderen Orten im Heiligen Land waren und noch immer sind; Stätten wirklich größter Verehrung, die man sehen und betrachten kann, ohne das stürmische Meer zu überqueren. Nachdem sie diesen würdigen Ort besucht hatte, kehrte sie nach Brescia zurück und wohnte bei Sant’ Afra. Dort hatte sie schon früher den Grund für die würdige Gemeinschaft der Jungfrauen unter dem Namen Gemeinschaft der heiligen Ursula gelegt. Im Jahr 1537 war diese bereits gefestigt, weil sich schon 76 Mädchen und fünf vornehme Frauen dazu zählten. Diese hatten die genannte Madre als ihre geistliche Mutter, Oberin, Verwalterin und Leiterin gewählt; das wurde vom hochwürdigsten Bischof und nach ihrem Tod auch vom Papst bestätigt, wie es in der Päpstlichen Bulle39 enthalten ist. Nun komme ich zum Weiteren ihres Lebens und sage ich mit sehr wenigen Worten, dass Lebensweise und Leben dieser verehrten Madre tatsächlich so waren, dass sich [der Ruf] von selbst nicht nur in der Lombardei, sondern sogar bis nach Rom verbreitete. Weil sie von Kindheit an - wegen der größeren Enthaltsamkeit 39

Vgl. Angela Merici, Briefe ihres Sekretärs Gabriele Cozzano, Hrsg. Föderation deutschsprachiger Ursulinen, Heiligenstadt 2002, S. 160 ff.

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Nazari,Vita

nur an einfache Speisen gewöhnt war, aß sie, außer im Fall der Krankheit, niemals Fleisch irgendwelcher Art, sondern nur Früchte und Gemüse, angerichtet mit Essig und Salz, [jedoch] ohne Öl, und sie trank immer Wasser und kein anderes Getränk. Darüber hinaus aß sie in jedem Jahr von der Himmelfahrt unseres Herrn bis Pfingsten in [933r] diesen neun Tagen nur eine Mahlzeit. Und das ganze Jahr hindurch fastete sie an den Freitagen bei Wasser und Brot; und ebenso machte sie es die ganze Fastenzeit hindurch, außer an den Freitagen der Fastenzeit, an denen sie gar nichts aß. Auf diese Wiese scheinen ihre Werke eher göttlich als menschlich, weil sie immer in beständiger Strenge lebte, indem sie starke Hitze, äußerste Kälte, heftigen Hunger ertrug und sich selbst aller Bequemlichkeit beim Schlafen beraubte, denn sie hielt ihren wenigen Schlaf auf einer bloßen Strohmatte mit einem Stück Holz unter dem Kopf, derart dass sie die [Matte] vor Tagesanbruch zusammenrollte; man sah dort weder andere Betten noch Lager. Und man sah auch kein Weingefäß, das heißt, dass sie keinen Wein trank oder andere Getränke, sondern immer nur Wasser, wie oben gesagt. Es ist wahr, dass sie an den Hochfesten von Weihnachten und Ostern, um sie festlicher zu begehen, mittags einen einzigen Schluck Wein trank. Sie aß immer wenig Brot, wohl aber Früchte und Gemüse, jedoch auch davon nur mit großer Genügsamkeit. Daher sagten die Ärzte, die sie in ihren Krankheiten behandelten, mit Recht, dass sie eine Natur angenommen habe, abweichend von jener, die man gewöhnlich bei anderen Leuten kennt. Denn sie bemerkten, dass sich die Medikamente, die sie zu sich nahm, in Nahrung verwandelten und nicht in Abführ- oder Heilmittel, wie sie gewöhnlich für uns andere wirken. Daher kann man sagen, dass sie sich vor allem [nur deshalb] behandeln ließ, um jenen Personen, die sich um sie kümmerten, kein Ärgernis zu geben. So hat sie sich, damit die Medikamente bei ihr wirkten, mehrmals selbst geheilt, indem sie Zwiebeln, Porree und ähnliches aß, die ihrer 40


Nazari, Vita

eigenen Natur gemäß waren. Abgesehen davon heilte sie sich manchmal, wenn sie mehrere Tage krank war, auch noch dadurch, dass sie sich den Kopf wusch. Aber sehr erstaunlich war, was ihr in Cremona zustieß - in Übereinstimmung damit, dass sie nur mit außergewöhnlichen Mitteln gesund wurde -. Sie war dort viele Tage krank, und zwar so schwer, dass Herr Agostino Gallo und der oben genannte Patengola erwarteten, sie werde jeden Augenblick aus diesem Leben scheiden. Deshalb verfasste der besagte Patengola Verse mit folgendem Wortlaut: Die, deren Name, Werke und Worte die eines Engels waren, ist hier begraben. Die Jungfrau lebte in ihrer stillen Zelle und kostete dort den wahren inneren Frieden. Sie war Gottes geliebte, gehorsame Dienerin, alles ablehnend, was den Sinnen gefällt. Jetzt lebt sie heiter im Himmel, gekrönt mit Palmen, glücklich unter den Engeln. Als er ihr dies vorgelesen hatte und zu ihr sagte: „Freut euch, Mutter, dass man morgen diese Verse über euer Grab setzen wird“, richtete [934r] sie sich sofort auf ihrem Lager auf. Und im Glauben, dass es so sein würde, sprach sie nicht weniger als eine halbe Stunde mit Leidenschaft über das Glück des himmlischen Vaterlandes. Dabei strahlte fortwährend ihr Gesicht, als wenn sie ein Cherubim wäre. Deshalb schien sie nicht nur den vielen, die im Zimmer waren - das gut gefüllt war -, im Paradies zu sein, sondern sie erlangte auch die körperlichen Kräfte wieder wegen der übergroßen Freude, die sie daran hatte, von dieser Welt zu scheiden, wie sie es immer gewünscht hatte, indem sie den heiligen Paulus nachahmte, der sagte: Ich wünsche aufgelöst zu werden und bei Christus zu sein40. Als sie merkte, dass die Krankheit vorüber40

Vgl. Phil 1,23 / 2 Kor 5,8

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Nazari, Vita

gegangen war, begann sie sofort zu weinen und sich heftig über den genannten Patengola zu beklagen. Sie beschuldigte ihn, er habe das nur getan, um sie zu täuschen, und nicht weil er glaubte, dass sie sterben müsse. Darauf schwor er, dass er alles getan habe im festen Glauben, dass sie das Leben beenden müsse, bevor der folgende Tage angebrochen sei, und nicht um ihr Kummer zu bereiten. Jetzt kommen wir zu ihrer Gelehrsamkeit: Es schien, dass sie etwas Göttliches hatte. Denn obgleich ihr niemals das Alphabet beigebracht wurde, hat sie nicht nur eine Menge von heiligen Büchern gelesen, sondern man hat auch sehr oft gesehen, dass Ordensleute und besonders Prediger und Theologen zu ihr gingen, um sie um Erklärungen über viele Abschnitte der Psalmen, der Propheten, der Offenbarung und des gesamten Neuen und Alten Testamentes zu bitten. Weil sie von ihr würdige Auslegungen hörten, gingen sie ganz erstaunt weg. Daher konnte man sagen, dass diese ehrwürdige Madre viel mehr Göttliches als Menschliches hatte. Ferner ist es nicht zu verwundern, dass sie ein derart strenges Leben führte und so von Herzen die Jungfräulichkeit, die Reinheit, das Fasten, die Beichte, die Kommunion und das Gebet lobte. Denn sie kommunizierte alle Tage, an denen sie konnte, und blieb mehrere Stunden am Morgen vor dem Allerheiligsten, auch um viele Messen zu hören. Und weil sie wenig schlief, darf man annehmen, dass sie den größten Teil der Nacht betete und dabei in der Betrachtung jene göttlichen Dinge schaute, die nur sehr wenigen Menschen zuteil werden. Dann verbrachte sie den ganzen Tag auf verschiedene Weise mit guten Werken für den Nächsten, oder betete für sich und für die Sünder und versäumte es nicht, heilige Bücher zu lesen, wenn keine Personen da waren, die sie für irgendein gutes Werk beanspruchten. So war diese ehrwürdige Mutter, solange sie lebte, immer für sehr viele Menschen eine große Hilfe, weil sie sich mit ihr berieten, 42


Nazari, Vita

entweder um das Leben zu ändern oder die Bedrängnisse zu ertragen oder Testamente zu machen und Ehen zu schließen. Darüber hinaus unterließ sie es nicht, Frieden zu stiften zwischen Ehemännern und Ehefrauen, zwischen Brüdern, zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Verwandten. Ebenso schlichtete sie Streitigkeiten auf unterschiedliche Weise bei vielen anderen entsprechend ihrem Stand: So war es notwendig, jenen Frieden zu stiften, den der Erlauchteste Herzog von Urbino niemals erreichen konnte, ebenso wenig die Magnifizenzen, [nämlich] die Herren Rektoren, als sich die Adligen Herr Philippo Sala und Herr Giovan Francesco Martinengo zum Duell herausgefordert hatten. Sie verbrachte also ihr Leben in einer Weise, dass man bei ihr keine schlechte Neigung fand, weil ihr jeder Ehrgeiz, jede Ruhmsucht, jeder Zorn fremd waren und sie allein Gefallen fand an Demut, an kontemplativem und religiösem Leben. Sie hielt an einer solchen Lebensweise fest - wie oben gesagt - und blieb standhaft auf dem Weg des Herrn mit Fasten, Nachtwachen und Gebet, in der Weise, dass sie, wie eine wahre Ordensfrau, immer fest im Glauben war, demütig im Umgang, ehrbar und vorbildlich in den Gewohnheiten, gerecht in den Werken, fromm in den Taten, streng in der Enthaltsamkeit, ausdauernd in den Nachtwachen, eifrig in den Gebeten, sehr geduldig in Widerwärtigkeiten, äußerst andächtig bei den Sakramenten und überaus bewährt in allen christlichen Werken. Im übrigen war sie, da sie die Situation erlebt hatte, vom Dämon umgarnt zu werden, ganz und gar immer sehr weit von Visionen entfernt; mehr noch, sie war eine Gegnerin derer, die sich groß taten, so etwas verschiedentlich geschaut zu haben, weil sie diese für verlorenere Seelen hielt, als es die Ungläubigen sind. Denn sie erkannte, dass sie vom Dämon völlig umgarnt waren, der sich in einen Engel des Lichtes verwandelte, wie der heiligen Paulus im zweiten [Brief] an die Korinther41 sagt. Tatsächlich gab es zu ihrer Zeit ziemlich viele Personen, die sich in solchen Visionen gefielen, 41

Vgl. 2 Kor 11,14

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Nazari, Vita

wenn sie zum Beispiel am Freitag oder Mittwoch viele Stunden unbeweglich mit ausgebreiteten Armen da standen. Überdies gab es auch solche Personen, die sich rühmten, wie der heilige Franziskus die Wundmale an den Händen zu haben, vollkommen zu sein und wunderbare Dinge geschaut zu haben; es ist anzunehmen, dass diese armen Seelen in der Hölle begraben sind. Und so hat diese ehrwürdige Madre, um nicht in irgendeinen Fehler oder in eine Schlinge des Dämons zu geraten, gar nicht an irgendwelche Visionen geglaubt. Als das Ende ihres Lebens gekommen war und sie von vielen besucht wurde, waren darunter die Herren Giacomo Chizzola und Tomaso Gavardo. Sobald sie [935v] diese sah, richtete sie sich von ihrem Lager auf und hielt ihnen eine schöne Unterweisung über das christliche Leben. Und während sie sich dann verabschieden wollten, wurde sie von dem besagten Herrn Tomaso gebeten, ihnen ein geistliches Vermächtnis zu hinterlassen, und sie antwortete: „Handelt im Leben so, wie ihr in der Stunde des Todes gehandelt haben möchtet." Damit schied sie am 12. März42 1540 aus dem Leben und ließ ihre geliebte Gemeinschaft von ungefähr 150 Jungfrauen zurück und zudem die anderen angesehenen Mütter. Von dieser Gemeinschaft und von ungezählten geistlichen Personen wurde sie zu ihrer Pfarrkirche Sant’Afra begleitet. Ihr Körper war dreißig Tage lang im offenen Sarg in der Unterkirche an dem Bestattungsort der heiligen Märtyrer über der Erde aufgebahrt. In dieser Zeit verbreitete er keinen üblen Geruch, und die Arme und die Hände waren immer noch Glied für Glied beweglich, so dass jeder Teil dieses Körpers, wenn man ihn betastete und drückte, wieder [in die ursprüngliche Lage] zurückkehrte, wie es bei jeder lebenden Person geschieht. So wie sie ein christliches Leben führte - wie oben berichtet -, lebt sie nach dem Tod im Reich der ewigen Glückseligkeit. Nachdem diese besagten dreißig Tage, in denen sie über der Erde stand, vergangen waren, wurde ihr Leib 42

Unzutreffend - vgl. Mariani et al., a.a.O., it. S. 198 ff., dt. S. 227 ff.

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Nazari, Vita

begraben. Und zur ewigen Erinnerung wurde ihr durch den ehrwürdigen Padre Don Giovan Francesco de Saramondi, Regularkanoniker in Sant’Afra, eine entsprechende Grabstätte bereitet. Diese ehrwürdige Madre also, gab, solange sie lebte, durch die Art ihres religiösen Lebens ein solches Beispiel, dass sich in dieser unserer Stadt Brescia, der Magnifica, im weiblichen Geschlecht eine Lebensgewohnheit herausgebildet hat, die ganz dem Guten und dem Gehorsam gegenüber dem Heiligen Stuhl zugewandt ist und die in der Furcht und Ehre Gottes besteht. Wenn wir daher alle Handlungen dieser unserer gleichsam seligen Madre betrachten - zusammen mit der Tugend und Klugheit, die als Ursprung und als Mittel übereinstimmten und die in heiliger Weise von ihr ausgingen -, und wenn wir die Größe der Seele mit größter Menschlichkeit in Einklang gebracht haben, [dann] können wir nicht anders handeln, als durch einen beispielhaften Umgang miteinander und durch eine religiöse Lebensweise den Nebel trauriger Gedanken aus unserer Seele zu vertreiben, damit wir zur Herrlichkeit des ewigen Lebens aufsteigen können. An dieser Stelle steht im Originalbuch zuerst die graphisch beschriebene Form des Grabmals der seligen Angela, unter die die folgenden Inschriften in Maiuskeln gesetzt sind: Von dem ehrwürdigen Chorherren Signore Valeriano aus Bergamo Glaubenszeugin durch deine Lebensweise, Jungfrau durch dein Handeln, Lehrerin durch dein Wort, So frohlockst du, Angela, herrlich geschmückt durch eine dreifache Krone. Angela, einst warst du Lehrerin der Sitten und des Lebens; Erweise dich heute als Beschützerin und Hüterin des Vaterlandes. 45


Nazari-Vita

Von demselben Autor Als ich noch lebte, war ich Angela; jetzt, da ich tot bin, nennt man mich „Engel“; Bin ich doch wie ein Engel mit den Chören der Engel vereint. Ihr, die ihr mich gekannt habt, lebt nach meinem Beispiel. Handelt so, wie ich es euch gelehrt habe; auch als Tote lehre ich noch. Von einem gewissen Doktor des Rechts Zanetti In diesem Grab ist beigesetzt, Sie, deren Namen und mehr noch ihr ganzes Leben würdig war, Mit den himmlischen Scharen gleichgestellt zu werden. Angela lebt nun gleichzeitig an drei Orten: Ihr Körper im Grabe, Ihre Seele im Himmel, ihr Name auf den Lippen der Menschen. Von dem Herrn Professor für Literatur Gabriele Cozzano: Hier ruht Angela, geschmückt mit der Krone mannigfaltiger Tugenden, In Erwartung der Auferstehung am Jüngsten Tag. Ihre glühende Seele ist in die himmlischen Wohnungen eingegangen Und steht frei vor Gott, dem Allerhöchsten. Seht hier die Jungfrau, die in ihrem Leben durch eine Regel der Sitten Eine Gemeinschaft gründete, hochberühmt durch ihre Jungfräulichkeit. Glaube mir, Brescia, verehre diese heilige Grabstätte: Sie, die heilige Jungfrau, die Gott nahe ist, vermag alles.

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Francesco Landini

Francesco Landini (1530–1608) Als Angela 1540 starb, muss Franceso Landini ein ungefähr zehnjähriger Junge gewesen sein. Deshalb ist es höchst unwahrscheinlich, dass er sie jemals getroffen oder sie wirklich gekannt hatte. Und dennoch, auf kleinem aber wichtigem Wege half er unerwartet, ihren Namen und die Arbeit ihrer Compagnia di Sant‘Orsola in Brescia bekannt zu machen. Man weiß nicht viel über Landini außer der Tatsache, dass er als Priester und Beichtvater der Compagnia sehr eng mit der Gemeinschaft der Oratorianer oder [den Vätern] des Friedens verbunden war, die Frater Francisco Cabrino d‘Alfianello in Brescia gegründet hatte und die sich mit den kurz zuvor von Philip Neri gegründeten „Priestern des Oratoriums“ zusammengeschlossen hatte. Deshalb waren die Mitglieder meist bekannt als Oratorianer oder Philippiner. Vermutlich ist Landini wegen seiner Verbindung zu Cabrino irgendwie mit den Ereignissen vertraut gewesen, die die Compagnia nach dem Tode Angelas erschütterten und spalteten, ebenso wie mit der folgenden Periode der Versöhnung und des Wachstums. Don Cabrino selbst war im Jahre 1560 zum geistlichen Vater der Compagnia gewählt worden, und es besteht kein Zweifel, dass während seiner Zeit die Entwicklung der Compagnia durch den Eintritt diverser Mitglieder neu belebt wurden. Es dürfte etwa zur selben Zeit gewesen sein, dass Kardinal Borromeo 1560 in Mailand seine eigene Form der Compagnia di Sant‘Orsola errichtete – einschließlich der Regel. Vor diesem Hintergrund hat Borromeo, wahrscheinlich mit der Aussicht weitere Gemeinschaften in seiner Diözese zu errichten, die Brescianer Compagnia um mehr Informationen über ihre Gründung und ihre Gründerin gebeten. Als Antwort auf seine Anfrage schickte Landini 1566 an einen von Borromeos Mailänder Mitarbeitern, Franceschino Visdomi, einen Brief, in dem er einen der ersten Berichte über Angelas Leben und ihre Rolle bei der Grün47


Francesco Landini

dung der Compagnia gab, und er fügte dem Brief eine Abschrift ihrer Regel an. Er selbst gibt in seinem Brief zu: „… ich [selbst] weiß das alles nicht zu sagen, weil ich derzeit nicht die Möglichkeit habe, nach Brescia zu gehen um mit den alten Frauen ihrer Gemeinschaft zu sprechen“43, aber er habe jegliche Anstrengung unternommen, glaubwürdige Beweise von aktiven Mitgliedern der Compagnia zu sammeln. So ist Landinis Aussage, obwohl er kein wirklicher Augenzeuge der von ihm beschriebenen Ereignisse war, sehr nah an ihren Quellen und überhöhte nicht wie bei späteren Biographen nach dem Geschmack der Heiligengeschichten. In seinem Brief gibt Landini eine der ersten Erklärungen für die Gründung von Angelas Compagnia ab: „… um viele junge Mädchen zu begeistern, reiche und arme, die, obschon sie sehr wohl die heilige Religion hochschätzen, dennoch keine Neigung verspüren, sich unter großer Bedrängnis in die Klöster einzusperren oder sich in Gelübden zu binden, oder sie können aus Armut nicht in ein Kloster eintreten, oder sie wollen aus anderen guten Gründen nicht.“44 Wir erfahren auch etwas über die schwierigen spaltenden Jahre der Gemeinschaft und die nachfolgende Versöhnung. Landinis eigene Rolle als Beichtvater der Compagnia und seine enge Beziehung zu Cabrino während dieser kritischen Jahre verhelfen seinem Beitrag zu einer gewissen Plausibilität, die genügt, um den Brief zu einem der Dokumente zu machen, die während des Heiligsprechungsprozesses im 18. Jahrhundert hervorgebracht sein könnten. Er hatte außerdem die Bedeutung, eines der ersten Dokumente zu sein, die sich auf Angelas heiliges Leben bezogen: Er erwähnt ihre „santità nobile e famosa“45 und verweist darauf, dass sie „quasi reputata Beata“ 46 sei – was für die Untersuchungs-

43 44 45 46

Siehe S. 8 Siehe S. 7 edle und schöner Heiligkeit – vgl. S. 7 wie eine Selige geschätzt – vgl. S. 9

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Francesco Landini

kommission in Rom Gewicht gehabt haben dürfte, die den Ruf der Heiligkeit und die Verehrung untersuchen musste, die Angela direkt nach ihrem Tod gezollt wurden. Dieses Verfahren wurde durch die Dekrete Urbans VIII. (1623-1644) akribisch begonnen und in den Prozessen der Selig- und Heiligsprechung genauestens durchgeführt, in der Bemühung gegen den häufigen Missbrauch vorzugehen, der über die Jahrhunderte mit der übertriebenen Verehrung entstanden war, die „falschen“ Heiligen und ihren Reliquien gezollt wurde. Nur eine Ausnahme von der Regel gab es: für diejenigen, deren Heiligkeit dadurch belegt werden konnte, das die Verehrung vor „undenklicher Zeit“ angefangen hat, üblicherweise interpretiert als mindestens hundert Jahre (der so genannte „processus de casu excepto“47). Darin besteht der Wert von Landinis Brief, dass er nicht nur hilfreich war, um Angelas Heiligkeit im Leben zu beweisen, sondern auch dafür, dass ihre Verehrung in frühesten Tagen begonnen hat. Sie wurde in der Kirche anerkannt, tatsächlich „ein Ausnahmefall“ zu sein! Ignatius Stone osu

47

siehe Luciana Mariani / Elisa Tarolli / Marie Seynaeve, Angela Merici. Beitrag zu einer Biographie, Deutsche Ausgabe, Werl 1995, S. 400

49


Giovan Battista Nazari de Sayani

Giovan Battista Nazari de Sayani Ein solch langer Name kann nicht so leicht vergessen werden, obwohl sein Besitzer für die meiste Zeit als Giovan Battista Nazari bezeichnet wurde. Der „de Sayani“-Teil wurde nur hinzugefügt, um ihn zu unterscheiden von einem anderen Giovan Battista Nazari, einem brescianischen Autor einer Anzahl gelehrter Werke. Der, mit dem wir uns beschäftigen, kam aus einer Familie von Brescianer Juristen, und in seinen beiden Dokumenten, die uns überliefert sind, wird deutlich, dass er eine gewisse juristische Fähigkeit und Erfahrung hatte, jedoch nur geringe literarische Fähigkeiten. Trotzdem gibt es keinen Zweifel, dass sein Name von all denen erinnert werden sollte, die an der mericianischen Geschichte interessiert sind. Er war für das Zusammentragen und Aufzeichnen eines juristischen Verfahrens im Jahre 1568 verantwortlich, das gewöhnlich als Prozess Nazari bekannt ist, und er schloss diesem im selben Jahr eine Biographie oder Vita Angelas an, die auf den Zeugnissen basiert, die er von den vier Zeugen bekommen hatte, die im Prozess befragt worden waren. Beide, die offizielle Befragung und die Biographie, wurden auf Grund der Anfrage der damaligen Generaloberin Bianca Porcellaga und mit der Erlaubnis des Bischofs von Brescia ausgeführt. Die Gemeinschaft hatte sich gerade erst von einer sehr schwierigen und turbulenten Periode von der Spaltung erholt, die hauptsächlich durch den Streit um den Gürtel verursacht war. Dem offiziellen Register der Gemeinschaft, dem Secondo Libro generale, zufolge wurde Bianca Porcellaga schließlich „ungefähr 1560“ als eine Art neutraler Kompromisslösung gewählt. Sie war bereits 73 Jahre alt, eine Witwe, als sie zu Nazari kam, damit er eine exakte Biografie der Gründerin der Compagnia der heiligen Ursula in Brescia schriebe. Annähernd 30 Jahre waren bereits seit dem Angelas Tod vergangen, 50


Giovan Battista Nazari de Sayani

und Bianca wusste instinktiv, dass die jüngeren Mitglieder es benötigten, die wahre Angela zu kennen, wenn sie ihren Regeln folgen wollten. Sie musste eine lebende Person mit einem wirklichen Gesicht sein, zu der sie eine Beziehung haben konnten. 1568 begann Nazari also auf Anfrage der Leiterinnen der Gemeinschaft und mit der wertvollen Unterstützung des Bischofs die offizielle Befragung der vier Augenzeugen, die eingewilligt hatten, ihre eidlichen Zeugenaussagen über das zu machen, was sie über Angela wussten oder erinnerten. Diesem Vorgang wurde der Titel "Le Justificationi della Vita della Reverenda Madre Suor Angela Terzebita" gegeben - das letzte Wort bezieht sich auf Angelas Status als Franziskanerterziarin. Alle vier Aussagen fanden in Anwesenheit von Zeugen statt und wurden in einem notariellen Akt aufgeschrieben, unterzeichnet und besiegelt von Nazari selbst. Die Tatsache, dass jede Aussage unter Eid gemacht wurde, gab dem Ereignis eine zusätzliche Feierlichkeit insofern ein Eid das gesamte Gewicht eines heiligen Aktes mit sich brachte, in dem Gott als Zeuge angerufen wurde. Die Autorinnen von MaTaSey haben zu Recht angemerkt, dass leider keine Ursulinen, vor allem keine, die Angela zu Lebzeiten gekannt hatten, in diesem Prozess als Zeuginnen befragt wurden. „...Zeugnisse von Frauen hätten geholfen, einen Zugang aus einem anderen, ziemlich komplementären Blickwinkel zu bieten.“48 Die Berichte der Zeugen wurden dann ordnungsgemäß unterzeichnet und gesiegelt mit den Worten: „Ich, der unterzeichnende Giovanni Battista, Sohn des verstorbenen Giovanni Faustina Nazari, bekannt als de Sayani, Notar durch kaiserliche Autorität, Bürger und Bewohner von Brescia, bestätige, dass ich während aller Darbietung aller Zeugenaussagen anwesend war und diese Protokolle darüber niedergeschrieben habe... Daher unterschreibe ich nach Anbringen meines gewöhnlichen Siegels.“49 48 49

Mariani et al., S. 332; vgl. dt. S. 390 Siehe S. 30

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Giovan Battista Nazari de Sayani

All diese Dokumente und Siegel dürften zweifelslos die Beamten und verantwortlichen Experten für die Seligsprechungs- und Heiligsprechungsprozesse im 18. Jahrhundert beeindruckt haben. Die Leiterinnen der Gemeinschaft schätzten gewiss all den Zeitaufwand und die Mühe, die Nazari in die Erstellung dieser ersten in Auftrag gegebenen Biografie Angelas gelegt hatte, denn es bedeutete, dass mit der Zeit Leben und Werk Angelas allen Mitgliedern vertraut werden würde. Dieses Vertrautmachen wäre selbstverständlich einfacher gewesen, wenn Nazaris Arbeiten hätten gedruckt werden können. Dennoch waren sich die Leiterinnen der Gemeinschaft sehr bewusst, dass sie einen wahren Schatz in ihren Händen hielten, und sie scheuten keine Mühen dafür zu sorgen, dass eine Kopie des Manuskripts mit liebender und ehrfurchtsvoller Sorgfalt bewahrt wurde. Diese Feststellung wird von dem Urteil eines führenden Experten, Don Vincenzo Bighelli, in den Prozessen 200 Jahre später gestützt: „Nachdem ich das Buch, das mir gezeigt wurde, mit großer Freude gelesen und geprüft habe, antworte ich, dass dieses Buch hoch einzuschätzen ist und in großer Wertschätzung bewahrt werden sollte und zwar als eines, das in jedem Prozess als vertrauenswürdig einzuschätzen sein wird. Erstens durch das Äußere des Buches selbst, das eine mittlere Größe hat, bezogen mit rotem Leder und mit einigen Relief-Ornamenten bedruckt. An dem Buch sind mehrere seidene Kordeln befestigt, die man ‚Nistole‘ nannte. Zweitens durch die lila bemalten Seitenkanten und das schwarze Lederfutteral, das speziell für das Buch angefertigt wurde und mit einem starken Karton ausgelegt ist. Die Schachtel ist bedruckt mit Reliefs von Engelköpfen, Blumen und anderen Mustern und Arabesken, die alle mindestens 200 Jahre alt sind.“50 Einige von Ihnen mögen dieses ausführliche Zitat belächeln, aber es kann nicht genug betont werden, dass Nazaris „Vita“ die Haupt50

Mariani et al., S. 35f; vgl. dt. S. 40f

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Giovan Battista Nazari de Sayani

quelle der nachfolgenden Biografien im späteren Jahrhunderten war und dass sie den frühen Mitgliedern der Compagnia am vertrautesten war. Vielleicht ist es nicht ganz abwegig, das Werk und die Schriften von Giovan Battista Nazari de Sayani als eine unerwartete Hilfe anzusehen, um Angelas eigene Prophezeiung zu erfüllen: „Denn ihr sollt wissen, dass ich jetzt noch lebendiger bin, als ich es in diesem Leben war. Ich sehe, liebe und schätze die guten Werke mehr, die ich euch fortwahrend tun sehe. Jetzt will und kann ich euch mehr helfen und euch in jedem Sinn Gutes tun.“51 Ignatius Stone os

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Angela Merici, Regel…, Einleitung der Ricordi, S. 30

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Quellen

Quellen Luciana Mariani / Elisa Tarolli / Marie Seynaeve, Angela Merici. Contributo per una biografia, Mailand 1986, deutsche Ausgabe: Werl 1995 Angela Merici, Regel – Ricordi – Legati, Hrsg. Föderation deutschsprachiger Ursulinen, Werl 1992 M. Ignatius Stone osu, Angela’s Alphabet, Westgate on Sea 2009 Käthe Seibel-Royer, Die heilige Angela Merici. Gründerin des ersten weiblichen Säkularinstitutes, Graz, Wien und Köln 1966

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