Zeitschrift Fotogeschichte

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Fotogeschichte 126/2012


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Jörn Glasenapp, Claudia Lillge

SUSAN SONTAGS FOTOTHEORIE Editorial

Mit Susan Sontag (1933–2004) widmet sich

Kammer erklärt, »das Photo gegen das Kino

diese Ausgabe der Fotogeschichte einer der

liebte«, so liebte Sontag das Wort gegen das Fo-

wichtigsten US-amerikanischen Intellektu-

to, die Schrift gegen die Lichtschrift. Das

ellen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-

heißt, ihre Fototheorie ist in erste Linie eine –

derts. Tätig geworden ist diese bekannterma-

in theoretischer Hinsicht avancierte – Kritik

ßen als Romanautorin, Publizistin sowie

am Foto.

Film- und Theaterregisseurin, vor allem aber

Ebendies bestätigt Jens Ruchatz in seinem

als ebenso brillante wie provokative Essayis-

Beitrag, in dem er Sontags langen, gegen die

tin. Als solche hat sie sich nicht zuletzt im-

Fotografie vorgebrachten Monita-Katalog zu-

mer wieder dem Medium Fotografie ange-

nächst als »aus der medialen Perspektive der

nommen, dem sie neben einer Handvoll Auf-

Schrift hervorgebracht« charakterisiert, um

sätze vor allem zwei Bücher widmete: die

ihn im Anschluss daran fototheoriege-

1977 erschienene Essaysammlung Über Foto-

schichtlich zu kontextualisieren. Entspre-

grafie sowie den Langessay Das Leiden anderer

chend werden Sontags Ausführungen mit fo-

betrachten von 2003. Beide gehören nicht nur

to- und bildkritischen Positionen etwa eines

zu den am meisten zitierten, sondern auch

Siegfried Kracauer, Günther Anders, Lewis

wirkmächtigsten Beiträgen im fototheoreti-

Mumford, Daniel J. Boorstin oder Neil Post-

schen Kontext und weisen ihre Autorin inner-

man in Dialog gebracht, was zur Folge hat,

halb der entsprechenden Diskussion als die

dass sich Ruchatz’ Text auch als eine – an Son-

neben Walter Benjamin und Roland Barthes

tag orientierte – Theoriegeschichte der foto-

wichtigste Stimme aus. Entsprechend muss

generierten Bilderflut lesen lässt.

es überraschen, dass eine Auseinandersetzung mit der Fototheoretikerin Susan Son-

gisch und -komparatistisch geht auch Matthias

tag, die letztere gleichsam um ihrer selbst wil-

Christen in seinem Beitrag vor. Und zwar

len in den Fokus rückt, bislang Desiderat ge-

rückt er die innige Beziehung in den Fokus,

blieben ist. Auf dieses möchte das vorliegen-

die die Fotografie Sontag zufolge mit Tod und

de Heft reagieren, das es sich zum Ziel setzt,

Sterblichkeit unterhält. Jedes Foto sei »eine

Sontags Schriften zur Fotografie – in gebüh-

Art memento mori« und jeder, der fotografie-

render Breite – einer Sichtung zu unterzie-

re, inventarisiere die Sterblichkeit, so die im-

hen. Den Anfang macht der Beitrag von Jörn

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In vergleichbarer Weise diskursarchäolo-

mer wieder zitierte These der Amerikanerin, die mit dieser natürlich beileibe nicht allein

Glasenapp und Claudia Lillge, die den Ver-

steht. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der

such unternehmen, in einer tour d’horizon

Fall: Wie Christen mit einem Gang durch die

die Schwerpunkte und ›Großthemen‹ der

Geschichte der Fototheorie (mit Exkursen

Sontag’schen Fototheorie in ihrem argumen-

unter anderem zu Barthes, Philippe Dubois,

tativen Zusammenspiel zu explizieren. Hier-

Thierry de Duve und Christian Metz) auf-

bei wird unmissverständlich deutlich, dass es

zeigt, eignet letzterer – und dies von Anfang

sich bei der Amerikanerin um eine überzeug-

an – eine, so der Autor, »förmliche Todesob-

te Literatin und konsequente Schriftapologe-

session«, die in Sontag eine ihrer prominen-

tin handelt, die der Fotografie letztlich nie an-

testen Wortführerinnen findet.

ders als voller Skepsis zu begegnen imstande

Brad Prager schließt mit seinem Beitrag

war. Während Barthes, wie er in Die helle

insofern an Christens Überlegungen an, als

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auch er sich, Sontag folgend, der Beziehung

digitale Fotografie hat sie offenbar nicht nen-

von Tod und Fotografie zuwendet. Hierbei

nenswert interessiert. Allein in »Das Foltern

freilich geht es ihm nicht oder allenfalls am

anderer betrachten«, ihrem unmittelbar vor

Rande um das metaphorische, sondern um

ihrem Tod verfassten Essay über die Abu-

das wörtliche Zusammengehen beider. Auf

Ghraib-Aufnahmen, spielt sie eine gewisse

welch schreckliche Art Sontags berühmte Be-

Rolle. Dass dies nun keineswegs heißt, dass

hauptung, Fotografieren sei eine Form der

Sontags Überlegungen in Zeiten von Face-

Tätlichkeit, die einem »sublimierte[n] Mord«

book, Flickr und Handyfotografie komplett

gleichkomme, real wurde, zeigt Prager an-

an Relevanz verloren haben, zeigt der Beitrag

hand der Auseinandersetzung mit einigen je-

von Reinhard Matz, in dem dieser eine Relek-

ner Aufnahmen, die deutsche Täter von den

türe von Über Fotografie vornimmt und hier-

später deportierten und ermordeten Bewoh-

bei das Thesenarsenal der Amerikanerin am

nern im Warschauer Ghetto machten.

derzeitigen Stand der digitalen Fotografie

Bis zum Schluss ist Sontag eine Theoreti-

und deren Praktiken misst.

kerin der analogen Fotografie geblieben. Die

Neu: Einzelbeiträge aus dem FotogeschichteArchiv als PDF erhältlich

Sie lesen gerade die gedruckte Ausgabe der Zeitschrift Fotogeschichte. Das freut uns. Seit kurzem sind Beiträge der Zeitschrift auch in digitaler Form erhältlich. Immer wieder werden etwa Aufsätze aus vergriffenen Heften nachgefragt. Diese sind nun – ebenso wie alle anderen Beiträge aus dem Fotogeschichte-Archiv (1981 bis heute) – einzeln im PDF-Format bestellbar. Online unter: www.fotogeschichte.info Herausgeber und Verlag

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Jörn Glasenapp, Claudia Lillge

SUSAN SONTAG UND DIE FOTOGRAFIE (K)eine Liebesgeschichte

Kritikerin und Profiteurin

hält, »die die Bedeutung aller Ereignisse ein-

»Ich entschied mich dafür, daß ich das Photo

ebnet«,6 gehe zu großen Teilen auf das Konto

gegen das Kino liebte«.1 So heißt es im ersten

der – passiv daherkommenden, dadurch

Abschnitt von Roland Barthes’ 1980 erschie-

aber nur umso aggressiveren7 – Bildtechnik.

nener Hellen Kammer, dem zweifellos wich-

Obendrein hätten wir es dieser zu verdan-

tigsten fototheoretischen Beitrag überhaupt,

ken, dass die Realität sich durch die inflatio-

der förmlich auf jeder seiner Seiten von dem

näre Zirkulation ihrer gierig konsumierten

ohne jede Übertreibung als zärtlich zu be-

fotografischen Abbilder zusehends abnutze

zeichnenden Gefühl zeugt, welches sein Au-

und »zum Schatten«8 degeneriere und wir

tor dem Gegenstand seiner Überlegungen,

uns folglich nach wie vor, so der Titel des ers-

der Fotografie, entgegenbrachte. Es ist auch,

ten und sicher programmatischsten der ins-

möglicherweise sogar vor allem dieser

gesamt sechs Essays, »in Platos Höhle«, das

Aspekt, der Die helle Kammer von dem wahr-

heißt in einer Welt des bloßen Scheins, be-

scheinlich

finden.

zweitwichtigsten

fototheoreti-

schen Beitrag überhaupt, Susan Sontags drei

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Die Liste der Monita will kaum enden, und

Jahre zuvor veröffentlichter Essaysammlung

so fällt es einem nach der Lektüre von Über

Über Fotografie, unterscheidet.2 In ihm näm-

Fotografie schwer, Sontags sogleich nach Ver-

lich präsentiert sich seine Autorin ganz im

öffentlichung ihres Buches vorgebrachter

Gegensatz zu ihrem intellektuellen Idol Bar-

Beteuerung, sie liebe Fotos,9 Glauben zu

thes alles andere als fotoverliebt. Ja, über wei-

schenken. Dass mancher behauptete, statt

te Strecken liest sich Über Fotografie als eine

des neutralen »Über Fotografie« hätte sich

veritable Abrechnung mit dem Medium

ein am geradezu sprichwörtlich gewordenen

(und zu guten Teilen auch mit der Gesell-

Titel von Sontags fulminanter erster Essay-

schaft, die sich ihm mehr und mehr über-

sammlung Gegen Interpretation (1966) ange-

lässt), zeichnet Sontag, wie es in Rudolf Arn-

lehntes »Gegen Fotografie« besser als Titel

heims Rezension ihres Buches heißt, ein

geeignet, vermag hingegen kaum zu überra-

ebenso »düsteres« wie »bedrückend[es]«

schen.10 Darüber hinaus erscheint es nur zu

Bild von der Fotografie und ihrem fatalen

folgerichtig, dass der ikonophobe Buch-

Wirken, ein Bild, das, so Arnheim weiter, da-

druck-Apologet und selbsternannte Medien-

zu Anlass gibt, einen »traurig [zu] stim-

ökologe Neil Postman, dem die Erfindung

m[en]«.3 Denn nicht nur, dass die Fotografie

der Fotografie als einer der folgenschwersten

laut Sontag maßgeblich für die Eliminierung

mediengeschichtlichen ›Sündenfälle‹ über-

eines auf Historizität und Prozessualität ge-

haupt galt, großen Gefallen an Sontags Aus-

gründeten Wirklichkeitsverständnisses ver-

führungen fand und dass er deren zentralen

antwortlich zeichnet und uns eine höchst

Argumente inklusive des abschließenden

trügerische Verfügbarkeit und Handhabbar-

Plädoyers für eine »Ökologie der Bilder«11 in

keit der in ›Bildsplitter‹ atomisierten Welt

seine eigenen Schriften, allen voran die zum

suggeriert;4 auch der Umstand, dass der

Bestseller avancierte Fernseh-Philippika Wir

zum »Bilder-Süchtige[n]«5 mutierte und da-

amüsieren uns zu Tode aus dem Jahr 1985,12

durch um seine kritisch-analytischen Fähig-

übernahm.

keiten gebrachte Mensch eine »chronisch

Dass Sontag die Fotografie derart unbarm-

voyeuristische Beziehung zur Welt« unter-

herzig auf den Seziertisch der Kritik legte,

5


von Harry Hess bzw. Peter Hujar geschossenen Umschlagfotos der Erstausgaben von Der Wohltäter (1963), Sontags erstem Roman, und Gegen Interpretation (Abb. 1 und 2) –, genügt, um zu verstehen, warum einer ihrer zahlreichen Kommentatoren meinte, sie als »Natalie Wood of the U.S. avant garde«13 apostrophieren zu können. Und bedenkt man nun, dass die so Bezeichnete und ihr Verleger Roger Straus sich mit Nachdruck dafür einsetzten, dass vergleichbare Aufnahmen in großer Zahl Eingang in die Presse fanden – und zwar auch und vor allem in hochpreisige Hochglanzmagazine wie Vogue und Mademoiselle14 –, dann wird ersichtlich, dass die stets um Publicity bemühte Sontag eine derartige, im wahrsten Sinne des Wortes oberflächliche Wahrnehmung ihrer Person offenbar gern in Kauf nahm und sie sich in ihrem Fall an der Ästhetisierungs- und Verschönerungstendenz, welche sie der Kamera wiederholt missbilligend attestierte,15 alles andere als störte. Um diesen Aspekt hier mit etwas Mut zur Übertreibung abzuschließen: Die vielleicht schärfste und scharfsinnigste Kritikerin der Fotografie war zugleich eine ihrer großen Profiteurinnen.

Gegen Diane Arbus Sontag wurde im Verlaufe ihrer Karriere unzählige Male abgelichtet, unter anderem von so namhaften Fotografen wie Henri CartierBresson, Irving Penn, Richard Avedon, Robert Mapplethorpe oder Annie Leibovitz, ihrer späteren Lebensgefährtin. Neben diesen versuchte sich auch Diane Arbus als SontagPorträtistin, jene 1971 durch Freitod verstorAbb. 1

Harry Hess: Susan Sontag [Umschlaghinterseite von Susan Sontag: The Benefactor, New York 1963].

bene Fotografin also, deren im darauffolgenden Jahr von John Szarkowski im Museum of Modern Art kuratierte Retrospektive letztlich einen der zentralen Auslöser dafür bilde-

wirkt freilich in einer Hinsicht inkonsequent

6

te, dass sich Sontag kritisch und theoretisch

und, wenn man so will, beinahe undankbar.

mit der Fotografie auseinandersetzte und sie

Schließlich gab (und gibt es wohl bis heute)

zum Gegenstand ihres Schreibens machte.16

keine Intellektuelle, die sich bei ihrer Selbst-

Das heißt, Sontag findet den Zugang zur Fo-

vermarktung und Selbstverortung innerhalb

tografie, der sie sich von da an bis zu ihrem

des kulturellen Feldes derart auf die Wir-

Tod intensiv widmen wird, erst etwa zehn

kung der Fotografie verließ wie die bis ins ho-

Jahre, nachdem sie als Schriftstellerin und

he Alter als ausgesprochen schön und gla-

Essayistin debütierte, also relativ spät in ih-

mourös geltende Amerikanerin. Und sie tat

rer Karriere. Und sie findet ihn – im Unter-

dies von Karriereanfang an. Schon ein flüch-

schied etwa zu Barthes – nicht so sehr über

tiger Blick auf die Porträts, welche ihre frü-

die Fotografie ›an sich‹, das heißt nicht über

hen Buchpublikationen zieren – anbei die

ihre Sprache, ihren Zeichenstatus oder ihre

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Ontologie, sondern insbesondere über ihren Einsatz als Kunst bzw. Museumsphänomen. Ebendies wiederum ist zur damaligen Zeit keineswegs ungewöhnlich – ganz im Gegenteil sogar, waren es doch die 1970er Jahre, in denen ein, wie es Sontag schreibt, »unersättliche[r] Hunger auf Fotografie«17 um sich griff und letztere erstmals auf breiter Front als Bildkunst anerkannt bzw. in das Feld der Kunst eingemeindet wurde und auch jenseits des seit seiner Gründung exzeptionell fotoaffinen Museum of Modern Art zur festen Größe im musealen Ausstellungsbetrieb avancierte. »Die Fotografie mochte 1839 erfunden worden sein, aber sie wurde erst in den siebziger Jahren entdeckt.«18 So spitzt Douglas Crimp diesen Sachverhalt zu, und es besteht kein Zweifel daran, dass es sich bei dem ab der zweiten Hälfte der Dekade einsetzenden Florieren der Fototheoriebildung – neben Sontags Über Fotografie und Barthes’ Helle Kammer denke man an die richtungsweisenden Beiträge eines Allan Sekula, Philippe Dubois, John Berger oder Reinhard Matz – zu guten Teilen um eine Reaktion auf diese ›Entdeckung‹ handelte.19 Kein Werk gibt diese Kausalität deutlicher zu erkennen als Sontags Essaysammlung, in der sich die Autorin – was oft übersehen wird und ihr Buch in die Nähe speziell von Walter Benjamins »Kleinen Geschichte der Photographie« (1931) rückt – als eine (nicht nur für damalige Verhältnisse) durchaus kompetente Fotohistorikerin betätigt, die unter anderem mit zahlreichen instruktiven Auseinandersetzungen mit einzelnen, bereits zur damaligen Zeit in den Kunst- und Ausstellungsbetrieb überführten Fotografen (zumeist US-amerikanischer Provenienz) auf-

Abb. 2 Peter Hujar: Susan Sontag [Umschlaghinterseite von Susan Sontag: Against Interpretation and Other Essays, New York 1966].

wartet – mit Alfred Stieglitz, Lewis Hine, Walker Evans, Paul Strand, Edward Weston und August Sander beispielsweise, aber

nichts ändern, obgleich man nicht eben be-

auch und vor allem mit Diane Arbus. Deren

haupten kann, sie hätte dies nicht versucht.

oben bereits genannte Werkschau im Mu-

Denn ihre Überlegungen, die sie Arbus und

seum of Modern Art bewies aufs Eindrucks-

ihren Aufnahmen widmet – und zwar im

vollste, dass der Hunger auf Fotografie in

zweiten, »Amerika im düstern Spiegel der

den 1970er Jahren in der Tat das Attribut »un-

Fotografie« überschriebenen Essay –, sind

ersättlich« verdiente, wie dies Sontag be-

für die Fotografin alles andere als schmei-

hauptete: Die Zuschauer strömten in Massen

chelhaft: Diese sei, so Sontag, eine aggressi-

in die Ausstellung, der diese flankierende

ve Foto-Voyeuristin der Upper West Side ge-

Bildband avancierte zum Bestseller, Arbus

wesen, deren ausgestellt ›mitleidlosen‹ und

selbst posthum zum Star der internationalen

einem »billige[n] Pessimismus«20 huldigen-

Fotoszene. Hieran vermochte auch Sontag

den Aufnahmen von ›Freaks‹ aller Colœur

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gegen die Bildtechnik insgesamt vorgebracht wird – etwa wenn es, erstens, heißt, die Fotografie sei grausam, ja, »eine Expertin in Grausamkeit«,24 wenn, zweitens, konstatiert wird, dem Akt des Fotografierens hafte etwas zutiefst Aggressives und Räuberisches an, nicht zuletzt da er Menschen in den (Bild-) besitz anderer überführe,25 wenn, drittens, moniert wird, Fotografieren bedeute, »im Komplott mit allem zu sein, was ein Objekt interessant, fotografierenswert macht, auch [...] mit dem Leid und Unglück eines anderen Menschen«,26 und wenn, viertens, darauf hingewiesen wird, Fotos, die menschliches Elend zeigten, veralltäglichten dieses und töteten unser Gewissen in eben dem Maße ab wie sie es aufrüttelten.27

Blick zurück Mit großer Wahrscheinlichkeit darf die – freilich nicht eben originelle28 – Abstumpfungs- und Veralltäglichungsbehauptung als eine der populärsten Thesen aus Über Fotografie gelten. Dies wiederum dürfte nicht zuletzt der Tatsache geschuldet sein, dass die Autorin selbst zu denen gehörte, die ihre Abb. 3 Diane Arbus: »A Jewish Giant at Home with His Parents in the Bronx, N.Y.« [aus: Diane Arbus: An Aperture Monograph, New York 1997 (11972), o.S.].

Stichhaltigkeit in Zweifel zogen. Sie tat dies etwa fünfundzwanzig Jahre nach Erscheinen von Über Fotografie, und zwar in ihrer letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buch-

bzw. – bei Arbus grundsätzlich – freaky wir-

währ dafür zu nehmen, »daß ihr fotografi-

publikation, dem von der Kritik hoch gelob-

kender ›Normaler‹ (vgl. Abb. 3 und 4) zum ei-

sches Werk ehrlich, nicht voyeuristisch, mit-

ten Essay Das Leiden anderer betrachten, der

nen mustergültig zeigten, was es heißt, je-

fühlend, nicht kühl distanziert ist«, dass es

2003, also ein Jahr vor ihrem Tod, erschien.29

mandem, indem man ihn zum fotografi-

die Künstlerin im wahrsten Sinne des Wor-

Nun erkennt sie den zuvor von ihr in Zweifel

schen Objekt degradiert, Gewalt anzutun,

tes ›angegangen‹ und damit eine »Gefähr-

gezogenen Wert von Schock- und Gräuelfo-

und zum anderen auf eine ebenso naive wie

dung«23

tos durchaus an und fordert, dass wir uns

»fraglose Hinnahme des Entsetzenerregen-

zwar naheliegend, aber höchst fraglich.

für sie dargestellt haben muss, sei

von ihnen »heimsuchen [lassen]«.30 Denn

den«21 seitens ihrer Schöpferin schließen lie-

Ohne den einzelnen Argumenten von

Aufnahmen wie beispielsweise jene, die der

ßen, die letzteres nur kindlich bestaune (und

Sontags ebenso überzeugender wie wirk-

US-amerikanische Fotojournalist Ron Haviv

somit auch billige), aber nicht befrage. Darü-

mächtiger Lektüre der Arbus’schen Aufnah-

im April 1992 von einem jungen serbischen

ber hinaus entsprächen Arbus’ Fotos einem

men an dieser Stelle weiter nachgehen zu

Milizionär schoss, der gerade dabei ist, einer

höchst zweifelhaften Trend der damaligen

können, sei Folgendes festgehalten: Am An-

bäuchlings auf dem Boden liegenden Frau

Kunst, die es zu großen Teilen darauf anleg-

fang dessen, was sich nach und nach zu ei-

gegen den Kopf zu treten, könnten uns, so

te, sich als »Härtetest« zu gerieren und »die

nem Generalverriss der Fotografie auswach-

Sontag, gleichsam als Reflexionsappell und

Reizschwelle dessen, was entsetzlich ist, he-

sen sollte, steht nicht zuletzt die Ablehnung

-katalysator dienen bzw. »als eine Aufforde-

rabzudrücken« – mit der fatalen Folge, dass

einer Fotografin und ihrer Fotografien, die

rung zur Aufmerksamkeit, zum Nachden-

es beim Betrachter zu einer »Pseudover-

ihren Ausdruck in einem Verriss von bemer-

ken, zum Lernen – dazu, die Rationalisierun-

Entsetzlichen«22

komme,

kenswerter Brillanz und Schärfe findet. Die-

gen für massenhaftes Leiden, die von den

die wiederum eine Abstumpfung hinsicht-

ser wiederum bringt gegenüber Arbus bzw.

etablierten Mächten angeboten werden, kri-

trautheit mit dem

lich ›wirklichen‹ Elends im Gepäck führe.

ihrem Werk so manchen Kritikpunkt in Stel-

tisch zu prüfen. Wer hat das, was auf dem

Und schließlich: Arbus’ Freitod als ›Authen-

lung, welcher sich in den anderen Texten von

Bild zu sehen ist, verursacht? Wer ist verant-

tizitätssiegel‹ zu begreifen, das heißt ihn,

Sontags Fotobuch, zumal aber in dessen Auf-

wortlich? Ist es entschuldbar? War es unver-

wie damals (und immer noch) üblich, als Ge-

taktessay in generalisierter Form findet bzw.

meidlich? Haben wir eine bestimmte Situati-

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peripher die enorme Bedeutung des viel beachteten Buches, in welchem Sontag ihre auch im Alter keineswegs abnehmende intellektuelle Neugier und Scharfsichtigkeit an anderer Stelle unter Beweis stellt – etwa wenn sie in einer der provokantesten Passagen das Mitgefühl als fatales Hindernis auf dem Weg zur zielführenden Reflexion menschlichen Leidens desavouiert. »Solange wir Mitgefühl empfinden«, so lesen wir, »kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und unsere Ohnmacht. Insofern kann es (unseren guten Absichten zum Trotz) zu einer impertinenten – und völlig unangebrachten – Reaktion werden. Das Mitgefühl, das wir für andere, vom Krieg und einer mörderischen Politik betroffene Menschen aufbringen, beiseite zu rücken und statt dessen darüber nachzudenken, wie unsere Privilegien und ihr Leiden überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden und wie diese Privilegien – auf eine Weise, die wir uns vielleicht lieber gar nicht vorstellen mögen – mit ihren Leiden verbunden sind, insoAbb. 4 Diane Arbus: »Child with a Toy Hand Grenade in Central Park, N.Y.C.« [aus: Diane Arbus: An Aperture Monograph, New York 1997 (11972), o. S.].

fern etwa, als der Wohlstand der einen die Armut der anderen zur Voraussetzung hat – das ist eine Aufgabe, zu deren Bewältigung schmerzliche, aufwühlende Bilder allenfalls

on bisher fraglos akzeptiert, die in Frage gesollte?«31

Diskussion gestellten und vor allem damals

die Initialzündung geben können.«38

Um Antworten auf

– Das Leiden anderer betrachten erschien na-

Das einschränkende »allenfalls« sowie der

diese Fragen zu erhalten, müssen wir freilich

hezu zeitgleich mit dem Beginn des Irak-

Verweis darauf, dass die ›eigentliche‹ Arbeit

stellt werden

Texte zu Rate ziehen. Mit anderen Worten:

kriegs der von Sontag so vehement abgelehn-

allein auf dem Gebiet des Nachdenkens und

Das Foto hat uns zur Schrift zu führen. Hie-

ten Bush-Administration33 – als »entsetzlich

des Verstehens stattzufinden hat, dort also,

rin – und nur hierin – besteht seine Aufgabe.

aktuell«34

wo Daguerres und Niépces Erfindung Son-

Ist ihm dies gelungen, hat es seine Pflicht er-

Funktion der Fotografie bei der Repräsentati-

tag zufolge keinerlei nennenswerten Beitrag

füllt.

on menschlichen Leidens. Und so profiliert

zu leisten imstande ist, sagen es noch einmal

wahrgenommen Themas: der

Man sollte sich von der Tatsache, dass Son-

Sontag wieder – zu Recht – die Text- und Kon-

unmissverständlich: Bis zum Schluss be-

tag in Das Leiden anderer betrachten bezüglich

textdependenz sowie den mit ihr verbunde-

trachtete die Amerikanerin die Fotografie

der Frage nach dem Nutzen von atrocity

nen ›Opportunismus‹ von Fotos, mit denen

voller Skepsis, war sie zunächst und zuvor-

pictures explizit auf Distanz zu Über Fotogra-

jedwedem Zweck gedient werden kann,35 be-

derst und felsenfest von deren gravierenden

fie geht, nicht dazu verleiten zu lassen, das

tont sie ein weiteres Mal – zu Recht – deren

Limitationen überzeugt. Und so ist es denn

spätere Werk als eine umfassende Revision

nur allzu oft ignoriertes bzw. geleugnetes

auch nur konsequent, dass statt eines Fotos

des früheren bzw. als eine Zurücknahme der

Unvermögen, uns Sachverhalte verständlich

eine Radierung aus der berühmten, 1810 bis

machen,36

in diesem vorgestellten Positionen zu begrei-

zu

stellt sie einmal mehr – zu

1814 entstandenen »Desastres de la guerra«-

fen.32 Dies wäre verfehlt, präsentiert sich das

Recht – den Spurcharakter und die in ihm

Serie Francisco de Goyas das Cover ihres Bu-

Buch von 2003 doch speziell in fototheoreti-

gründende Beweiskraft der Fotografie he-

ches ziert (Abb. 5). Doch sollte man aufgrund

scher Hinsicht über weite Strecken als eine

raus.37 Mit anderen Worten: Der Leser von

dieser Illustrationswahl nicht denken, Son-

vergleichsweise zugängliche und verhalten

Das Leiden anderer betrachten, der auf die Ent-

tag meldete sich in Das Leiden anderer be-

pointiert geschriebene Rückkehr zum Alten,

deckung fototheoretischen Neulands hofft,

trachten vorwiegend als Anwältin ›traditio-

die dieses noch einmal bestätigt, wenn auch

wird enttäuscht.

neller‹ bzw. ›handgemachter‹ Bilder zu

unter besonderer Berücksichtigung des zur

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Dies jedoch tangiert nur ausgesprochen

Wort. Sie tut es hier und da, doch spricht sie

9


Abb. 5 Umschlagvorderseite von Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München 2003.

in erster Linie, wie dies Judith Butler in ihrer umsichtigen Auseinandersetzung mit Sontags Buch zu Recht andeutet,39 als eine Literatin – und zwar eine solche, die vor allem gegen Ende ihres Lebens, wie beispielsweise in ihrer 2003 gehaltenen Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, den speziell für das Verstehen der Welt so unverzichtbaren Wert der Literatur wieder und wieder beschwor40 und deren Kritik an der Lichtschrift (und ihrer Punktualität) das Lob der Schrift (und ihrer Linearität) stets implizierte – oder anders bzw. in Anlehnung an Barthes’ Eingangszitat gesagt: die das Wort gegen das Foto liebte.

10

1 Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1989 (11980), S. 11. 2 Hingewiesen sei darauf, dass die Essays in den Jahren zuvor bereits einzeln und in leicht abweichender Form in der New York Review of Books erschienen sind. 3 Rudolf Arnheim: Susan Sontag – Über Fotografie (1978), in: ders.: Die Seele in der Silberschicht: Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk, Frankfurt am Main 2004, S. 43–45, hier S. 45. 4 Vgl. hier insbesondere Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt am Main 1999 (11977), S. 28–29, 149 und 154–159. 5 Ebenda, S. 29. 6 Ebenda, S. 17. 7 Vgl. ebenda, S. 13. 8 Ebenda, S. 172. 9 Vgl. hierzu Carl Rollyson: Reading Susan Sontag: A Critical Introduction to Her Work, Chicago 2001, S. 108. 10 Vgl. hierzu Daniel Schreiber: Susan Sontag: Geist und Glamour, Berlin 2008 (12007), S. 175. 11 Sontag, (Anm. 4), S. 172. – In Das Leiden anderer betrachten kommt sie auf dieses Plädoyer zurück, wobei sie nun allerdings allein eine Ökologie von Greuelbildern meint. Eine solche, so Sontag, »wird es nicht geben. Kein Wächterrat wird den Schrecken für uns rationieren, damit ihm seine Fähigkeit zu schockieren erhalten bleibt.« (Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München 2003, S. 125–126). 12 Vgl. Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode: Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt am Main 1998 (11985), S. 91 ff. 13 Zit. nach Rollyson, (Anm. 9), S. ix. 14 Vgl. auch ebenda sowie Karin Bruns: Schatten des Realen: Susan Sontags Perspektiven auf Fotografie und Film, in: Jan Engelmann, Richard Faber, Christine Holste (Hg.): Leidenschaft der Vernunft: Die öffentliche Intellektuelle Susan Sontag, Würzburg 2010, S. 93–105, hier S. 98. 15 Vgl. Sontag, (Anm. 4), S. 107 und 168, aber auch dies., (Anm. 11), S. 88–90. 16 Vgl. hierzu Schreiber, (Anm. 10), S. 168. 17 Sontag, (Anm. 4), S. 126. 18 Douglas Crimp: Über die Ruinen des Museums, Basel 1996 (11993), S. 109. Vgl. hierzu auch Jörn Glasenapp: Die deutsche Nachkriegsfotografie: Eine Mentalitätsgeschichte in Bildern, Paderborn 2008, S. 309 ff. 19 Vgl. hierzu auch ebenda, S. 309. 20 Sontag, (Anm. 4), S. 52. 21 Ebenda, S. 38. 22 Ebenda, S. 44–45. 23 Ebenda, S. 42–43. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Sontags Ausführungen in »Die Ästhetik des Schweigens«, wo es heißt, dass der sich selbst tötende Künstler – Sontag nennt als Beispiele Heinrich von Kleist und Lautréamont – mit seinem Freitod »Zeugnis ab[legt], daß er [als Künstler, J.G. u. C.L.] ›zu weit‹ gegangen ist.« (Susan Sontag: Die Ästhetik des Schweigens (1967), in: dies.: Gesten radikalen Willens, Frankfurt am Main 2011 (11969), S. 11–50, hier 18). 24 Sontag, (Anm. 4), S. 103. 25 Ebenda, S. 13 und 20. 26 Ebenda, S. 18. 27 Ebenda, S. 25–26. 28 In mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang sicherlich Robert Capas Weigerung, im Frühjahr 1945 in den von den alliierten Truppen befreiten deutschen Konzentrationslagern zu fotografieren. »The concentration camps were swarming with photographers«, so seine Begründung, die er in seinen

1946 verfassten Kriegserinnerungen Slightly Out of Focus vorbringt, »and every new picture of horror served only to diminish the total effect.« (Robert Capa: Slightly Out of Focus, New York 2001 (11947), S. 226). 29 Sontag, (Anm. 11), S. 122 ff. – Angemerkt sei, dass eine gekürzte Version des Textes bereits im Dezember 2002 im New Yorker erschien. 30 Ebenda, S. 133–134. 31 Ebenda, S. 136. 32 In diese Richtung argumentiert beispielsweise Schreiber, (Anm. 10), S. 279–281. 33 Als scharfe Gegnerin der Bush-Administration und ihrer unilateralen Anti-Terrorpolitik exponiert sich Sontag unter anderem in »Ein Jahr danach« ([2002], in: dies.: Zur gleichen Zeit: Aufsätze und Reden, Frankfurt am Main 2010 [12007], S. 157–163) sowie »Das Foltern anderer betrachten« ([2004], in: ebenda, S. 168–185). Vgl. darüber hinaus auch Schreiber, (Anm. 10), S. 271–284. 34 So heißt es auf dem Umschlag der bei Hanser erschienenen deutschen Erstausgabe des Buches. 35 Sontag, (Anm. 11), S. 16 ff. Vgl. auch Sontag, (Anm. 4), S. 23–25, 104–105, 129 und 167. 36 Sontag, (Anm. 11), S. 104–105. Vgl. auch Sontag, (Anm. 4), S. 28–29 und 109. 37 Sontag, (Anm. 11), S. 31, 33 und 55–56. Vgl. auch Sontag, (Anm. 4), S. 146–147. 38 Sontag, (Anm. 11), S. 119. 39 Judith Butler: Fotografie, Krieg, Wut (2005), in: dies.: Krieg und Affekt, Zürich 2009, S. 53–68, hier S. 58–59. Vgl. auch dies.: Raster des Krieges: Warum wir nicht jedes Leid beklagen, Frankfurt am Main 2010 (12009), S. 70 sowie Bernd Stiegler: Fotografie und Gesellschaft: Einführung, in: ders. (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie, Stuttgart 2010, S. 225–229, hier S. 228–229. 40 So wartet Sontag in der genannten Rede unter anderem mit folgendem ›Literatur-kann‹-Katalog auf, der sich geradezu als Antwort auf den ›Fotografie-kannnicht‹-Katalog der Autorin lesen ließe: »Literatur kann uns sagen, wie die Welt beschaffen ist. Literatur kann uns Maßstäbe geben, kann uns ein tiefes Wissen vermitteln, das in der Sprache und im Erzählen Gestalt annimmt. Literatur kann unsere Fähigkeiten stärken, um Menschen zu weinen, die nicht wir selbst sind und nicht zu uns gehören.« (Susan Sontag: Literatur ist Freiheit: Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (2003), in: dies.: Zur gleichen Zeit: Aufsätze und Reden, Frankfurt am Main 2010 (12007), S. 244–264, hier S. 259).

Fotogeschichte 126/2012


Jens Ruchatz

BLEIWÜSTEN ZUR AUSTROCKNUNG DER BILDERFLUT Susan Sontag und die Kritik an der fotografischen Reproduktion

In ihrem berühmten Essay »Gegen Interpre-

Gegen Fotografie.5 In diese Richtung deutet

tation« schreibt Susan Sontag 1964 an gegen

auch der ›Schutzheilige‹, den Sontag für ihr

eine sprachliche Reduktion der Kunsterfah-

Vorhaben auserkoren hat. Der Titel des ein-

rung, für die ein Werk primär ein zu inter-

leitenden Essays, der die Initialzündung zu

pretierender Bedeutungsträger ist. In phäno-

dieser Reihe fotografiekritischer Essays gab,6

menologischem Duktus entgegnet sie: »Der

lautet nicht von ungefähr »In Platos Höhle«:

höchste und befreiendste Wert in der Kunst –

»Noch nicht zu höherer Erkenntnis gelangt,

und der Kritik – ist heute die Transparenz.

hält die Menschheit sich noch immer in Pla-

Transparenz meint die Erfahrung der Leucht-

tos Höhle auf und ergötzt sich – nach uralten

kraft des Gegenstandes selbst, der Dinge in

Gewohnheiten – an bloßen Abbildern der

ihrem Sosein.«1 Deswegen müsse das Erle-

Wahrheit.«7

ben von Kunst wieder auf sein Fundament

Bei Plato stehen die an die Höhlenwand

zurückgeführt werden, zum Eigenwert der

geworfenen Schatten allerdings weniger für

sinnlichen Erfahrung, der aller Deutung vo-

visuelle Abbilder als weitaus allgemeiner für

rangeht. »Heute geht es darum«, so Sontag,

eine Vorstellung von Erkenntnis, die glaubt,

»daß wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir

aus der sinnlichen Oberfläche Auskunft

müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hö-

über das Wesen der Dinge zu erhalten. Die

ren und mehr zu fühlen.«2 Für die Praxis der

den Dingen zugrunde liegenden Ideen las-

Kunstkritik ergibt dies den Auftrag, dem ein-

sen sich Plato zufolge nicht durch die wahr-

zelnen Werk nicht einen Inhalt abzugewin-

nehmbare Höhle oder gar durch deren se-

nen, der es sprachlich quasi ersetzt, sondern

kundären Abklatsch in der Kunst erschlie-

es in seiner konkret wahrnehmbaren Gestalt

ßen, sondern nur durch philosophische Re-

ernst zu nehmen und »aufzuzeigen, wie die

flexion. Wenn Sontag Platon als Urahn der

Phänomene beschaffen sind, ja selbst, daß

Bildkritik herbeizitiert, dann scheint die No-

sie existieren, aber nicht darin zu deuten«.3

bilitierung der Wahrnehmung gegenüber

Solche Aussagen könnten die Vermutung

der verbalen Interpretation ins genaue Ge-

wecken, dass Sontag große Sympathien für

genteil verkehrt.8

die Fotografie hegen müsste, denn ist es

In »Gegen Interpretation« finden sich je-

nicht die Fotografie, die sich der sinnlich er-

doch Hinweise, dass es sich nicht um eine

fahrbaren visuellen Oberfläche der Dinge

Abkehr, sondern um eine konsequente Wei-

widmet, der überdies zugeschrieben wird,

terentwicklung handelt, denn um zu begrün-

der Wahrnehmung Fragmente der Wirklich-

den, dass wir unsere sinnliche Wahrneh-

keit selbst zur Verfügung zu stellen, die noch

mung erst wieder erwecken müssen, rekur-

nicht gedeutet

Fotogeschichte 126/2012

sind?4

riert Sontag auf einen althergebrachten To-

Bekanntlich ist die Stoßrichtung von Son-

pos der Modernitätskritik: die Reizüberflu-

tags Essaysammlung Über Fotografie jedoch

tung, die alle Sensibilitäten betäubt. Das

eine gänzlich andere. Ihre Einwände gegen

sinnliche Erleben lasse sich »heute nicht

die Fotografie werden gar als so grundsätz-

mehr ohne weiteres voraussetzen. Man den-

lich angesehen, dass mehrere Autoren spitz

ke allein daran, daß jedem von uns heute ein

anmerken, dass ihr Buch nicht Über Fotogra-

Vielfaches an Kunstwerken zugänglich ist,

fie heißen sollte, sondern – in Anspielung

dazu die zahllosen widersprüchlichen Ge-

auf den Titel des oben zitierten Aufsatzes –

schmacks- und Geruchsempfindungen und

11


die optischen Eindrücke der Stadtschaft, die

Postman 1985 auf die Fotografie zu sprechen

unsere Sinne bombardieren. Unsere Kultur

kommt, dann richtet er den Blick zurück auf

beruht auf dem Übermaß, der Überproduk-

das 19. Jahrhundert, wo sie im Verbund mit

tion: das Ergebnis ist ein stetig fortschreiten-

der Telegrafie dafür gesorgt haben soll, dass

der Rückgang der Schärfe unserer sinnli-

die Versprechen des rationalen schriftgebun-

chen Erfahrung. Sämtliche Bedingungen

denen Diskurses immer weniger gehört wur-

des modernen Lebens – sein materieller

den. Für Postman also gehört die Fotografie

Überfluß, seine Überladenheit – bewirken

der Frühgeschichte der nun primär mit dem

eine Abstumpfung unserer sensorischen Fä-

Fernsehen verbundenen Bilderflut an.13 In-

higkeiten.«9 Einen Teil dieses Bombarde-

dem Sontag ihre Essays in den 1970er Jahren

ments, so dürfen wir Über Fotografie entneh-

publiziert, fällt sie nicht nur in die von Kemp

men, stellt die Fotografie. So hebt Sontag

doch allzu pauschal fixierte Lücke, sondern

»die Vielzahl der Abbilder, die heute überall

hält auch – etwas unzeitgemäß – an der Rele-

unsere Aufmerksamkeit erregen«, hervor

vanz der Fotografiekritik fest.

und tadelt die «schiere Unersättlichkeit des

Es ist andererseits vorgeschlagen worden,

fotografischen Auges«, die die Bedingungen

die Geschichte der Bilderflut noch viel weiter

verändere, »unter denen wir in der Höhle,

zurückzuverfolgen. So schreibt die Kunsthis-

unserer Welt, eingeschlossen sind«.10

torikerin Corinna Höppner in einem Sam-

Wenn Sontag der richtig verstandenen

melband zur Kultursoziologie massenmedialer

Kunstkritik aufträgt, die sinnliche Seite der

Vervielfältigung: »Die eigentliche Geburts-

Kunstwerke wieder sichtbar zu machen,

stunde unserer heutigen Bilderflut liegt weit

dann will sie sagen: Das alte Medium Schrift

zurück, denn nicht nur der Buch-, sondern

soll uns wieder wahrzunehmen lehren. Son-

vor allem der Bilderdruck hat die Welt seit

tag betreibt die gängige Spielart der Kultur-

dem 15. Jahrhundert radikal verändert.«14

kritik, die uns mit ihren aus Buchstaben er-

Unbestreitbar ist, dass schon Holzschnitt

richteten Dämmen gegen die Bilderflut

und Kupferstich dafür sorgten, dass mehr

wappnen will. Und so ist es nur konsequent,

oder minder identische Bilder gleichzeitig

dass Über Fotografie wirklich nur über Foto-

an verschiedene Orte und in die Hände vieler

grafie schreibt und selbst dort, wo es um kon-

gelangen konnten. ›Bilderflut‹ ist jedoch

krete Fotografien geht, auf jede bildliche Er-

kein Zustand, keine empirische Tatsache,

gänzung des schriftlichen Diskurses verzich-

sondern ein Kampfbegriff, ein diskursives

tet.11 Wenn es im Folgenden darum geht, die

Konstrukt des Kulturpessimismus, das ver-

bildkritischen Argumente Sontags aufzu-

mutlich nicht auftaucht, bevor Fotografien

schlüsseln, gilt es bewusst zu halten, dass sie

massiv per Druck in Umlauf gebracht wer-

aus der medialen Perspektive der Schrift her-

den.15 Entscheidend ist nicht die absolute

vorgebracht werden.

Zahl an Bildern, sondern wie diese erfahren

Warum Fotografie?

der gab, kann nämlich nahezu jede Zeit für

werden. Dass es noch nie zuvor so viele Bil-

12

Warum sollte man in den 1970er Jahren ei-

sich beanspruchen, weil die abendländische

gentlich über Fotografie schreiben, wenn

Geschichte spätestens seit der Renaissance

man sich kritisch mit der Bilderflut beschäf-

durch eine mehr oder minder stetige Zunah-

tigt? Dass die Beiträge zur fotografischen Bil-

me von Bildern gekennzeichnet ist, die

derflut »am Ende der 60er Jahre so spurlos

mehrfach technisch befördert wurde: Holz-

versickerten, als habe es sie nie gegeben«,

schnitt und Kupferstich folgten Lithografie,

wie Wolfgang Kemp notiert, hängt aller

Fotografie, die autotypische Vervielfältigung

Wahrscheinlichkeit damit zusammen, dass

von Fotografien, der Film und schließlich

die Kritik sich mit der weltweiten Durchset-

das Fernsehen. Am aktuellen Ende der Ent-

zung des Bildmediums Fernsehen auf einen

wicklung steht die digitale ›Bilderflut‹. So

neuen Gegner stürzte. Dass sie, so Kemp

wird im Jahr 2011 in einem Internet-Periodi-

weiter, in den 1980ern »wieder Urständ [ fei-

kum verkündet: »So gehen sie nicht unter in

erte], als sei dazwischen nichts gesche-

der Bilderflut«, und die Sinnfälligkeit ent-

hen«,12 geht mit einer Verschiebung des In-

sprechender Ratschläge damit begründet,

teresses einher. Wenn beispielsweise Neil

dass »[ j]edes zehnte Bild, das seit der Erfin-

Fotogeschichte 126/2012


dung der Fotografie geschossen wurde, [...]

schaulichen, um diese jedoch für die demo-

in den letzten zwölf Monaten entstanden

kratische Zugänglichmachung von Weltwis-

[ist]. [...] Rund 375 Milliarden neue Fotos sol-

sen zu preisen. Der Siegeszug des Auges –

len dieses Jahr entstanden sein.«16

dies symbolisiert das Titelbild des Bandes

Der Begriff der ›Bilderflut‹ meint also

(Abb. 1) – habe den frühmodernen Triumph

nicht schlicht eine Vielzahl von Bildern, son-

der Vernunft abgelöst. Pawek bedient sich

dern impliziert, dass die Bildvermehrung

mithin der Argumente und Semantiken der

unkontrollierbar und bedrohlich sei – sei es

Bildgegner, um diese mit ihren eigenen Waf-

für den einzelnen, der auf seiner Festplatte

fen zu schlagen.

den Überblick verliert, sei es für die Kultur,

Zu fragen bleibt weiterhin nach Sontags

die sich mit einer nicht mehr zu prozessie-

Motivation, ausgerechnet die Fotografie zum

renden Menge von Bildern konfrontiert

Ziel ihrer Bildkritik zu machen. In einem In-

sieht, welche die etablierten Ordnungen hin-

terview, das sie 1975 – ihre ersten Essays zur

fort zu spülen droht. Aus Perspektive der For-

Fotografie sind im New York Review of Books

mel der Bilderflut treten Bilder als Quantität

erschienen – mit dem Boston Review führt, er-

auf, die es – qualitativ – unter Kontrolle zu

klärt sie ihre Motivation einerseits damit, sie

halten gilt, damit sie keine schädlichen Ef-

sei »obsessed by photography«.19 In der Tat

fekte entfaltet. Und so besteht das Anliegen

äußert sich eine solche Obsession in der Viel-

der medienkritischen Essayistik darin, vor

falt von Porträtfotografien, die prominente

der Flut zu warnen – die schon unbemerkt

Fotografen seit den 1960ern von ihr anferti-

unter uns ist – und Dämme gegen sie zu er-

gen durften, ebenso wie in der Tatsache, dass

richten, indem man sich auf den sicheren

sie die letzten fünfzehn Jahre ihres Lebens

Grund des Buchdrucks zurückzieht, der sei-

mit der Porträtfotografin Annie Leibovitz teil-

nerseits Buchstabenwelten massenhaft ver-

te.20 Die unbebilderten Essays scheinen dann

vielfältigt und distribuiert.17

vielmehr als Kehrseite dieser Faszination, als

Einen semantischen Schachzug besonde-

Versuch, sich dieser Obsession zu entledi-

rer Art hat sich Karl Pawek, ein österrei-

gen, indem sie alles zusammenträgt, was

chischer Verfechter der journalistischen Fo-

man gegen dieses Bildmedium vorbringen

tografie, einfallen lassen. Er verwendet in sei-

kann. Andererseits reklamiert Sontag die Fo-

ner 1963 erschienenen Programmschrift

tografie als ein Objekt, an dem man idealty-

Das optische Zeitalter den Begriff der Bilder-

pisch die zentralen Fragen der Moderne ab-

flut verschwenderisch, um ihm einen positi-

handeln könne.21 Nun hätten zweifelsohne

ven Wert beizumessen, also die mitschwin-

auch Film oder Fernsehen dazu beitragen

gende Katastrophensemantik umzudrehen.

können, politische und ästhetische Aspekte

Pawek zeichnet die Massivität der Umwäl-

der modernen Kultur zu ergründen. In Über

zung so imposant wie nur möglich, indem er

Fotografie verrät Sontag jedoch en passant ein

etwa die Bilder einer Zeitschriftennummer

medienspezifisches Argument, das ihr Inte-

auszählt, diese auf die durch die Auflage ins-

resse an der Fotografie begründen kann. »Fo-

gesamt in Umlauf gebrachte Bildmenge

tografie sammeln«, liest man da, »heißt die

hochrechnet, um schließlich an die fortlau-

Welt sammeln. Filme und Fernsehprogram-

fende Erscheinungsweise und die zahlrei-

me flimmern vor uns auf und verlöschen

chen parallel erscheinenden Illustrierten zu

wieder; durch das Standfoto aber ist das Bild

erinnern. Weiterhin addiert er die Fotogra-

auch zum Objekt geworden, leichtgewichtig,

fien hinzu, die auf Plakaten, Produktverpa-

billig zu produzieren, mühelos herumzutra-

ckungen und dergleichen erscheinen, multi-

gen, zu sammeln, in großen Mengen zu sta-

pliziert »die Anzahl der Bildeinstellungen

peln.«22 Diese Möglichkeit, sich Wirklichkeit

stundenlanger Fernsehprogramme mit der

per Fotografie materiell anzueignen und zu

Millionenzahl der Bildschirme in der Welt,

vergegenwärtigen, wird für Sontag zu einem

die Bildeinstellungen sämtlicher Filme mit

zentralen Element der Fotografiekritik. So-

der Anzahl der Kinos«, um medienübergrei-

wohl der Erwerb von publizierten Fotogra-

fend «die Flut der Bilder ins Unermeßliche

fien als auch das eigene Fotografieren er-

steigen«18 zu sehen. Mehr noch als die Bild-

möglichen Bildbesitz, den Sontag als eine

kritiker bemüht sich Pawek die Flut zu veran-

Form machtvoller Weltaneignung auffasst –

Fotogeschichte 126/2012

Abb. 1 Umschlagvorderseite von Karl Pawek: Das optische Zeitalter: Grundzüge einer neuen Epoche, Olten 1963.

13


Bild an die Stelle der, so lässt sich vermuten, verstorbenen und betrauerten Ehefrau und Mutter.23 Wenn ich mich im Folgenden den rahmenden Essays aus Über Fotografie widme, die sich nicht mit bestimmten Strömungen und Epochen der Fotografie widmen, sondern die Fotografie insgesamt als Medium adressieren – namentlich einleitend »In Platos Höhle«, abschließend »Die Bilderwelt« –, dann möchte ich nicht einfach die Vielzahl argumentativ meist nur lose, wenn überhaupt miteinander verknüpfter Argumente zusammentragen, sondern meine Analyse darauf konzentrieren, inwiefern die konstatierte massenhafte Verbreitung der Fotografie den bildkritischen Diskurs motiviert. Im historischen Kontext des fotografiekritischen Diskurses soll Sontags Position verortet werden.

Das fotografische Wirklichkeitsfragment In Bezug auf den Begriff der fotografischen Reproduktion unterscheidet Peter Geimer zwei Bedeutungsvarianten: »die Wiederholung der Wirklichkeit im Bild, dann aber auch die massenweise Vervielfältigung dieser Wiederholung – das reproduzierende und das reproduzierte Bild.«24 In der Kritik an der fotografischen Bilderflut kommen – das ist keine logische Forderung, sondern eine empirische Beobachtung – beide Aspekte zusammen. Wenn die Semantik der Flut auf die Fotografie bezogen wird, dann zeichnen beide Reproduktionsregister gemeinsam für die schädlichen Effekte verantwortlich. In diesem Sinne gilt es zunächst aufzuzeigen, welche Art von Bildern es denn sein soll, die zur Flut anschwillt. Der technisch-reproduzierende Charakter Abb. 2

Umschlagvorderseite von Susan Sontag: On Photography, London 1979 (11977).

des Mediums realisiert sich darin, dass fotografisch erzeugte Bilder unweigerlich auf die äußere Wirklichkeit referieren, die sie aber nur ausschnitthaft, als Fragment, wiederge-

14

und denunziert. Solche bildförmige Besitz-

ben können. Das wussten schon die Diskur-

nahme wird – gekreuzt mit dem Motiv der

se des 19. Jahrhunderts, die der Fotografie

Fotografie als Thanatografie – auch auf dem

aus Perspektive der idealistischen Ästhetik

Titelbild zu Über Fotografie, dem einzigen

das Potenzial absprachen, Kunst zu produ-

den Essays beigegebenen Bild, vorgeführt

zieren. Während man vom Kunstwerk Ge-

(Abb. 2): Die reproduzierte Daguerreotypie

schlossenheit erwartete, gestand man der Fo-

(Abb. 3) zeigt einen Mann und ein Mädchen,

tografie lediglich zu, aus der gegebenen Welt

die ihrerseits eine Fotografie einer Frau im

ungestalte Bruchstücke auszuschneiden.25

Kreise von Kindern so berühren, als trete das

Dieses

traditionell

etablierte

Monitum

Fotogeschichte 126/2012


hang« der Fotografie, an anderer Stelle von der »räumliche[n] Konfiguration eines Augenblicks«.31 Die Fotografie bildet Wirklichkeit nicht nach Maßgabe der Bedeutung ab, sondern erfasst sie ausschließlich mechanisch »von beliebigen Standorten als räumliches Kontinuum«.32 Insofern sie nicht mit Sinn aufgeladen sind, bleiben Fotografien an die auf ihnen sichtbaren Oberflächen gebunden und für Uneingeweihte wie Nachgeborene verschlossen: »Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben.«33 Beobachter der fotografischen Bilderfülle sekundieren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, indem sie auf dem nichtsprachlichen Charakter des Mediums insistieren. William M. Ivins bemerkt 1953 begeistert, mit der Fotografie sei es zum ersten Mal »gelungen, visuelle Berichte ohne eine Syntax und ohne deren verzerrende FormwieAbb. 3 Anonym (amerikanisch), Daguerreotypie, um 1850 [aus: Robert Delpire, Michel Frizot: Histoire de voir, Bd. 1, Paris 1989, S. 23].

dergaben zu vervielfältigen«.34 Marshall McLuhan notiert 1964 in Understanding Media: »Mit der Fotografie hatten die Menschen

nimmt die Kritik an der fotografischen Bil-

Für Sontag ist solch eine indexikalische Fi-

[...] entdeckt, wie man Bildberichte ohne Syn-

derflut auf und bestimmt es zum theoreti-

xierung des Bildes an seinen Referenten

tax geben kann.«35 In den 1980er Jahren

schen Ausgangspunkt.

theoretisch unverzichtbar, erlaubt sie ihr

schließlich führt Neil Postman die Semanti-

Sontag bedient sich dieser Prämisse, um

doch, den Besitz und das Anfertigen von Fo-

ken zusammen: »Der Photographie fehlt [...]

das Verhältnis der Fotografie zur Wirklich-

tografien als Akt der Aneignung von Welt

eine Syntax, so daß sie nicht imstande ist,

keit mediendifferenziell zu greifen: »Was

selbst aufzufassen: Weil sie Spur sind, »kön-

mit der Welt zu diskutieren. Als ein ›objekti-

über eine Person oder über ein Ereignis ge-

nen sich solche Bilder der Realität bemächti-

ves‹ Stück Raum-Zeit bezeugt sie, daß je-

schrieben wird, ist im Grund Interpretation,

gen«.28

Wenn Fotografien somit weniger als

mand an einem bestimmten Ort war oder

genauso wie handgefertigte, auf das Visuelle

Abbildungen denn als Bruchstücke der

daß dort etwas geschehen ist. Ihr Zeugnis ist

beschränkte Aussageformen, etwa Zeich-

Wirklichkeit fungieren, ist ihr Erwerb zu-

wichtig, es umfaßt keine Stellungnahme –

nungen und Gemälde. Fotografische Bilder

gleich Besitzergreifung. Das Sammeln und

keine Aussage darüber, wie es hätte sein sol-

aber scheinen nicht so sehr Aussagen über

Ordnen von Fotografien entspricht dem

len oder wie es hätte sein können.«36 Aus-

die Welt als vielmehr Bruchstücke der Welt

Sammeln und Ordnen von

Welt.29

schlaggebend ist die Absicht, die Reproduk-

Die kritischen Diskurse zur Bilderflut un-

tionsmedien durch die Qualität des jeweils

In-

terscheiden sich in ihrer Lesart des reprodu-

Reproduzierten zu unterscheiden. Irritie-

dem die Fotografie die Subjektivität eines

zierenden Bildes nur in Nuancen. So ver-

rend an dieser Einigkeit mag man freilich

zu sein: Miniaturen der Realität, die jedermann anfertigen oder erwerben

kann.«26

menschlichen Beobachters, der nur Wahrge-

gleicht Siegfried Kracauer in seinem Text

finden, dass gerade Beobachter der fotografi-

nommenes

rekonstruieren

»Die Photographie« von 1927 nicht das ge-

schen Bilderfülle so leicht über das syntakti-

kann, technisch umgeht, saugt sie die Wirk-

malte, sondern das mentale Bild mit dem fo-

sche Potenzial hinwegsehen, das in der Kom-

lichkeit selbst in sich auf. Schon in den

tografischen: »Die Photographie«, so die be-

bination mehrerer Fotografien steckt.37

1970er Jahren unterscheidet Sontag also die

rühmte Gegenüberstellung, »erfaßt das Ge-

zeichenhaft

Wenn Sontag die Fotografie als Wirklich-

Ähnlichkeit einer Fotografie von ihrem Sta-

gebene als ein räumliches (oder zeitliches)

keitsfragment medienvergleichend gegen

tus als Spur: »Das Bild mag verzerren, im-

Kontinuum, die Gedächtnisbilder bewahren

den sprachlichen Sinnzusammenhang kon-

mer aber besteht Grund zu der Annahme,

es, insofern es etwas meint.«30 Wenn Kracau-

trastiert, findet sie sich jedenfalls in guter

daß etwas existiert – oder existiert hat –, das

er kontraintuitiv vom Kontinuum statt vom

Gesellschaft. Keiner der anderen zitierten

dem gleicht, was auf dem Bild zu sehen

Fragment spricht, so unterscheidet er doch

Theoretiker unterscheidet jedoch ähnlich

ist.«27 Als Verwandte der Fotografie ruft Son-

die

des

markant zwischen einem mimetisch-ikoni-

tag die üblichen Verdächtigen auf: den Fuß-

menschlichen Bewusstseins vom rein mate-

schen und einem indexikalischen Verhältnis

abdruck, die Totenmaske und die Reliquie.

riellen, »bloße[n] Oberflächenzusammen-

zur fotografierten Wirklichkeit. Diese Diffe-

Fotogeschichte 126/2012

sinnhaften

Zusammenhänge

15


renzierung gilt es bewusst zu halten, wenn

gument vor, das Kracauer 1960 in seiner

wir uns im Folgenden den Konsequenzen

Theorie des Films dazu führen wird, für die fo-

zuwenden, die aus der massenhaften Repro-

tografische und vor allem filmische »Erret-

duktion solcher Wirklichkeitsfragmente ge-

tung der Wirklichkeit« zu plädieren.43 In der

zogen werden.

Besprechung einer Fotoausstellung, die den Berlinern ihre eigene Stadt fotografisch vor

Die fotografische Kolonialisierung der

Augen führte, beharrt Kracauer 1932 erneut

Welt

auf dem Defizit der Fotografie, »keinen vol-

Eine erste Folge der Allgegenwärtigkeit der

len Begriff von irgendeinem Ding zu ver-

Fotografie besteht Sontag zufolge darin, dass

schaffen, das der Betrachter des Bildes noch

sich die in diesem Medium implementierte

nicht gesehen hat«, und mutmaßt darauf-

Sichtweise als prägender Modus des Welt-

hin, dass »die in den Illustrierten ange-

kontakts durchsetzt. Die stetig anwachsende

schwemmten Aufnahmen, die Aufnahmefä-

Masse immer neuer Bilder fördert demnach

higkeit des Publikums für die sichtbare Welt

den Eindruck, die Wirklichkeit sei lückenlos

ersticken.«44 Die physische Realität in ihrer

fotografisch erfassbar. Die gesamte Welt ver-

Konkretheit bewusst zu machen, erlauben

wandelt sich in ein »Sortiment potentieller

Fotografien jedoch dann, wenn man die ab-

fotografischer Aufnahmen«.38 Gerade weil

gebildeten Gegenstände bereits kennt, aber

die Fotografie auch aufzeichnet, was bislang

verlernt hat, sie unvoreingenommen als sol-

als nicht bildwürdig galt, invisibilisiert die

che zu sehen: »Statt also einen Gegenstand

schiere Fülle immer neuer Motive und Per-

vorzustellen, ist die Photographie auf den be-

spektiven, dass der Blick auch dieses Medi-

reits vorgestellten Gegenstand angewiesen,

ums nur ein zugerichteter sein kann. Weil es

um ihn überhaupt darbieten zu können. Ihr

nichts zu geben scheine, was die Fotografie

Hauptfeld ist das versunkene Bekannte.«45

nicht vertilgen könne, werde alles, was sich

Und hierin trifft sich Kracauers Argument

doch nicht fotografieren lasse, marginali-

erneut mit Sontags Überlegungen, wenn die-

siert.39 Die Fotografie wird zum Nadelöhr,

se ausführt, dass Fotografien – selbst scho-

durch das die Wirklichkeit muss, um rele-

ckierende Kriegsfotografien – eine Wirkung

vant zu werden. So bleibt zu relativieren:

nur entfalten könnten, wenn das betreffende

»Die Fotografie impliziert, daß wir über die

Ereignis zuvor gesellschaftlich definiert wor-

Welt Bescheid wissen, wenn wir sie so hin-

den sei.46

aufzeichnet.«40

Wenn Sontag sich überdies auf die Warte

Sontags Statement nimmt sich wie ein direk-

der von der Fotografie objektivierten Welt be-

tes Echo von Kracauers Beobachtung zur Il-

gibt, erweist sich das Versprechen der Foto-

nehmen, wie die Kamera sie

16

lustriertenfotografie der 1920er Jahre aus:

grafie, »jede Erfahrung durch ihre Überset-

»Noch niemals hat eine Zeit so gut über sich

zung ins Bild zu demokratisieren«,47 als tota-

Bescheid gewusst, wenn Bescheid wissen

litär. Um mit der Perspektive des Fotografier-

heißt: ein Bild, von den Dingen zu haben,

ten eine ethische Perspektive einzubringen,

das ihnen im Sinne der Photographie ähn-

die des indexikalischen Transfers der Welt

lich ist.«41 Das Umgekehrte treffe jedoch zu,

ins Bild Rechnung trägt, bemüht Sontag ver-

insofern der fragmentarische Charakter der

schiedene der Kulturkritik geläufige Seman-

Bilder jegliche Erkenntnis verhindere, wenn

tiken. Zum einen sieht sie in jedwedem Foto-

einfach Bildfragment neben Bildfragment

grafieren, ungeachtet des abgebildeten Mo-

zu stehen kommt. Der perfide Effekt der von

tivs, einen Übergriff auf die Sujets, denn

den Illustrierten gewährten Bilderfülle beste-

»[ j]edem Zücken der Kamera«, der fotografi-

he darin, umfassende Kenntnis der Wirklich-

schen Abbildung per se, »wohnt Aggressivi-

keit zu suggerieren, diese aber gerade zu ver-

tät inne.«48 Weiterhin verleiht Sontag der Fo-

hindern. So gerieten die Illustrierten »in der

tografie geradezu kolonialistische Züge,

Hand der herrschenden Gesellschaft« zu ei-

wenn sie dem Akt des Fotografierens unter-

nem »der mächtigsten Streikmittel gegen

stellt, Menschen »in Objekte« zu verwan-

die Erkenntnis«.42

deln, »die man symbolisch besitzen kann«.49

Und doch liegt in der Herausstellung des

Mit der Rede von fotografischer Inbesitznah-

Fragmentarischen im Kern schon jenes Ar-

me verbindet sich schließlich die Semantik

Fotogeschichte 126/2012


des Konsums. In indexikalischer Logik wer-

beiläufig rezipierten Bilderstrom schließt

den im Zuge des Fotografiekonsums nicht

Sontag an einen kulturkritischen Topos an.

nur Bilder, sondern zugleich Wirklichkeit

Lewis Mumford etwa schildert 1952, dass

verbraucht.50 Fotografie erscheint damit als

sich eine »immer höher steigende Flut von

ein Zugriff auf die Welt, der sowohl die Foto-

Bildern« zwischen uns und die Wirklichkeit

grafierenden wie die Fotografien Besitzen-

stelle: »Heute ist es die unmittelbare Erfah-

den in eine Machtposition gegenüber der

rung, die selten ist; das Bild ist allgegenwär-

Wirklichkeit versetzt. Wenn die Fotografie

tig geworden.«54 Erfahrung reduziert sich

das reproduzierende mit dem reproduzier-

dann auf das, was im Bild wiedergegeben

ten Bild zusammenfallen lässt, dann »läßt

werden kann.

uns die Fotografie die Welt verfügbarer erscheinen, als sie in Wirklichkeit

ist.«51

Wenn Mumford daraus auf eine durch die »Massenproduktion graphischer Symbole« entstandene »Welt aus zweiter Hand«, eine

Entwirklichung durch die Bilderflut

»Geisterwelt« schließt,55 dann führt die be-

Die Aneignung der Wirklichkeit im Bild, so

hauptete Verselbständigung der Bilderwelt

die zweite postulierte Folge, führe zur Ent-

schon sehr nahe an die radikalste Konse-

wirklichung des Wirklichen, weil es nicht

quenz heran, nämlich die Verkehrung des

mehr autonom – als es selbst – auftrete, son-

Verhältnisses von ›Original‹ und ›Kopie‹.

dern der Wahrnehmung zunehmend schon

»Wir«, so formuliert Sontag in der diffusen

verarbeitet in der Bildform entgegen tritt. Ei-

Adressierung der Kulturkritik, »neigen da-

ne protosimulationstheoretische Volte will,

zu, den realen Gegenständen die Qualitäten

dass fotografische Bilder nicht einfach die

eines Bildes zuzuschreiben.«56 Die Domi-

Wirklichkeit verstellen, diese aber ontolo-

nanz des Bildes über sein Objekt versteht

gisch intakt lassen, sondern dass diese ihren

Sontag als Signatur einer Zeit, die sich der

Status verliert und nunmehr an ihren Bil-

Wirklichkeit nicht mehr sicher ist: »Wenn

dern gemessen wird.

unsere Epoche Bilder den wirklichen Dingen

Auf der ersten Stufe des Diskurses der

vorzieht, so nicht aus Perversität. Die Bevor-

Entwicklung führt die Rede von einer Ab-

zugung des Bildes ist vielmehr zu einem gu-

stumpfung durch die Bilderflut die Semanti-

ten Teil als Reaktion zu verstehen auf die zu-

ken des Konsums logisch weiter. Für Sontag

nehmende Komplizierung und Aushöhlung

ist ein solcher Prozess besonders belangvoll,

der Wirklichkeitsbegriffe.«57 Zum Inbegriff

weil sie solch eine Abstumpfung der Sensibi-

dieser Sehnsucht, die Wirklichkeit fotogra-

lität der Bildbetrachter vor allem dort am

fisch zu kontrollieren und sich ihrer zugleich

Werk sieht, wo der Journalismus sein Publi-

zu versichern, wird der Tourist, seit den

kum einem fortlaufenden Strom von Kata-

1950er Jahren ›Watschenmann‹ und topi-

strophenbildern aussetzt: »[J]e öfter man mit

sche Figur der Kulturkritik. Das Attribut des

solchen Bildern konfrontiert wird, desto we-

Touristen ist die Kamera, die »den unwider-

niger real erscheint das betreffende Ereig-

leglichen Beweis liefern [soll], daß man die

nis.«52

Das Mitleid mit den gequälten Sub-

Reise unternommen« hat. Das Bedürfnis zu

jekten könne korrumpiert werden und einen

fotografieren und fotografiert zu werden,

veritablen Appetit auf solche Bilder hervorru-

zeigt mithin »die Abhängigkeit von der Ka-

fen. Verallgemeinert besagt diese Logik, dass

mera als jener Erfindung, die das, was einer

die laufende Herstellung und Konsumption

erlebt hat, erst zur Wirklichkeit macht«.58

von Bildern zu einem stetigen »Bedürfnis

Das Bild dokumentiert also nicht mehr die

nach mehr und mehr Bildern«53 führt, so

Erfahrung, sondern greift selbst auf die Er-

dass der Wirklichkeitssinn in Mitleiden-

fahrung durch, entwertet, verschiebt und ret-

schaft gezogen wird. In einem Teufelskreis

tet sie zugleich. Die Kritik an der Bilderflut

werde die Fotografie dazu benötigt, Wirkli-

schließt in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-

ches überhaupt noch zu manifestieren, weil

hunderts nicht nur die massenhafte Distri-

die Wirklichkeit hinter ihren Bilder ver-

bution von Fotografien, sondern auch das

schwunden ist. Mit ihrer Rede von der Ent-

massenhafte Fotografieren ein.

wertung des einzelnen, mit Aufmerksamkeit

In ähnlicher Form bedient sich Günther

gewürdigten Bildes durch einen nur noch

Anders der Figur des Touristen um aufzuzei-

Fotogeschichte 126/2012

17


gen, dass die Wirklichkeit zu einem Phan-

und damit ihre eigene – zu bekräftigen: »So

tom verkommen sei, das von bildlichen Re-

wenig sie dasjenige photographieren, was

präsentationen diktiert werde. Mit ihren Ap-

sie sehen – denn was sie sehen, das sehen sie

paraten arbeiteten die Touristen daran, das

nur, um es zu photographieren; und was sie

Einzigartige – der herrschenden seriellen

photographieren, das photographieren sie

Seinsweise entsprechend – in Reproduktio-

nur, um es zu haben – so wenig ist ihnen das,

nen zu verwandeln, um so dessen Existenz –

was sie photographieren das ›Wirkliche‹. ›Wirklich‹ ist für sie vielmehr die Aufnahme, das heißt: die in das Serien-Universum aufgenommenen und zu ihrem Eigentum gewordenen Exemplare der Reproduktions-Serie.«59 In einer paradoxen Verkehrung von Original und Abbild scheint Anders die Wirklichkeit selbst zum Sekundären geworden, dem erst bildliche Repräsentation Sein verleiht. Der amerikanische Kulturkritiker Daniel J. Boorstin, seines Zeichens Leiter der Library of Congress, zeichnet in seinem 1961 zuerst erschienenen Buch The Image (Abb. 4) nach, wie die so genannte grafische Revolution des 19. Jahrhunderts – das Zusammenwirken der beschleunigten telegrafischen Kommunikation und der realistischen Bilder der Fotografie – dazu führte, dass die modernen Massenmedien nicht mehr abwarten, dass etwas passiert, sondern die Ereignisproduktion selbst in die Hand nehmen: Inszenierte Pseudo-Ereignisse (wie Pressekonferenzen) nehmen die Stelle ›echter‹ Ereignisse ein. Dass diese Logik auch in der Fotografie am Werk sei, verdeutlicht auch Boorstin am knipsenden Touristen: Wenn dieser durch »fotografische Magie ein genaues Image des Grand Canyon« anfertige, so sei er nicht von dem beeindruckt, was er sehe, sondern allein von »der Kamera – und sich selbst«. So erweise sich, dass sich »unser Bewußtsein für Original und Kopie des Erlebten« trübt und »das Abbild heute lebendiger als das Original«60 sei.

Auswege aus der Höhle Einen Ausweg aus der Höhle dürfen wir am Ende eines Bandes, der sich unter das Patronat Platos gestellt hat, nicht unbedingt erwarten. Der abschließende Essay bildet dennoch in mancher Hinsicht einen Gegenpol zum Auftakt, versucht er doch die vielen auseinanderstrebenden Argumentationen des Anfangs auf einen Punkt zu bringen und erAbb. 4 Umschlagvorderseite von Daniel J. Boorstin: Das Image oder Was wurde aus dem Amerikanischen Traum, Reinbek bei Hamburg 1964 (11961).

18

laubt sich dabei, eigene Positionen zu revidieren. Die Buchpublikation zeichnet eine

Fotogeschichte 126/2012


Denkbewegung nach, die sich zwischen dem

phy so interesting and potent. In the People’s

ersten und dem letzten Essay, von 1973 bis

Republic of China, people don’t see ›photo-

1977, vollzogen hat.

graphically‹.«64 Auch wenn dem Medium be-

Die »teilweise Identität von Bild und Gegenstand«,61

stimmte Eigenschaft zukommen mögen, so

die von jeder Fotografie indexi-

hat letztlich die kulturelle Implementierung

kalisch-magisch heraufbeschworene Tat-

entschieden, dass im Westen die Fotografie

sächlichkeit der abgebildeten Wirklichkeit

ihre Wahrnehmungsform als Norm durch-

unterläuft die ontologische Unterscheidung

gesetzt hat.65 Aussichtslos scheint es ihr in-

zwischen Schein und Sein, Bild und ›Erfah-

des, »das üppige Wachsen der von der Kame-

rung aus erster Hand‹: »[D]er plumpe Ge-

ra geschaffenen Bilder einzudämmen. Die

gensatz zwischen dem Bild (dem ›Abbild‹)

einzige Frage ist, ob die Funktion der von der

und dem abgebildeten Gegenstand, auf dem

Kamera geschaffenen Bild-Welt anders sein

er basiert (dem ›Original‹) – ein Gegensatz,

könnte, als sie ist.«66 In diesem Sinne fordert

den Plato wiederholt am Beispiel des gemal-

Sontag eine »Ökologie der Bilder«,67 die sich

ten Bildes veranschaulicht –, ist zu undiffe-

der Kontrolle der Umwelteffekte der Bilder

renziert, um der Fotografie gerecht zu wer-

annimmt. Schon die Wortwahl erinnert an

den.«62 Die Fotografie ist damit nicht mehr

die von Postman, an McLuhan anschlie-

Fortsetzung von Platos Höhle mit optimier-

ßend, begründete Schule der ›Medienökolo-

ten Mitteln, sondern ein Erkenntnismittel,

gie‹, die sich mit pädagogischem Impetus

das dieses Gleichnis kritisch ausleuchtet und

mit Medieneffekten auseinandersetzt.68

in Frage stellt. Eine alternative Rettung aus den Bilderflu-

Mit dem Jahr 1977 ist die Denkbewegung noch nicht abgeschlossen. Als sich Sontag

ten zeichnet sich in einer kulturvergleichen-

im Jahr 2003 mit einem zweiten großen Es-

den Relativierung ab, die andeutet, dass die

sayband im Fotografiediskurs zurückmeldet,

fotografische Praxis nicht technikontolo-

hat sie selbst die Hoffnung auf eine Ökologie

gisch begründet, sondern Folge kultureller

der Bilder fahren lassen, zieht aber auch das

Voreinstellungen ist. In die auf den vorheri-

Verdikt, die fortlaufende Publikation von

gen Seiten ausschließlich rekonstruierten

»Greuelfotos« betäube das Mitleid der Be-

Logiken amerikanischer und europäischer

trachtenden, in Zweifel, indem sie die Ab-

Fotografie bricht relativ unvermittelt das Ge-

stumpfungsthese selbst – diskursgeschicht-

genbild des chinesischen Fotogebrauchs ein.

lich informiert – als Topos der Modernekritik

In Fernost scheint die Macht des Mediums

entlarvt.69 Wenn Sontag sich schon selbst

durch die kulturelle Praxis kontrolliert. Dem

von den eigenen Thesen distanziert, was

im Westen etablierten Anspruch des Foto-

bleibt dann eigentlich von Über Fotografie?

grafen, jegliche Wirklichkeit auf frischer Tat

Handelt es sich um einen Text, der allenfalls

ertappen und fotografisch einfangen zu dür-

von historischem Interesse ist und als typi-

fen, wird das in China gewahrte Recht des fo-

sches Beispiel der Fotokritik des 20. Jahr-

tografierten Subjekts gegenübergestellt, sich

hunderts stehen kann?70 Kemp hat den intel-

selbst zu inszenieren und das eigene Bild zu

lektuellen Nährwert der gesamten kulturkri-

kontrollieren. In diesem Sinne werde auch

tischen Fototheorie gering veranschlagt, in-

die mediale Anlage zur Fragmentierung

dem er ihn auf eine topische »Standardargu-

nicht zu einer universalistischen Ästhetik

mentation« aus »vier Formeln« zurückführt:

übersteigert, wie bei vielen von Sontag ange-

die »Zwei-Welten-Theorie«, die in den Foto-

führten Kunstfotografen, sondern Ganzheit

grafien eine Parallelwelt zur realen herauf-

und Kontinuität als Ziel angestrebt.63 Sontag

ziehen sieht, die »Überflutungsthese«, die

scheint es jedoch keineswegs darum zu ge-

mir als Ausgangspunkt diente, das »Gleich-

hen, dies nun ihrerseits als Ideal vorzuge-

macher«-Theorem, das die Vergleichgülti-

ben. Vielmehr interessiert sie die Option zur

gung aller Dinge durch die fotografische Ab-

Änderung, wenn, wie das Medium ge-

bildung befürchtet, sowie das »Voyeurtheo-

braucht wird, nicht technikontologisch fest-

rem«, demzufolge Handeln durch Zuschau-

geschrieben ist: »It is of course, the uses to

en ersetzt wird.71 Ausgehend von der Bilder-

which photography is put in our culture, in

flut hat die vorangehende Rekonstruktion

the consumer society, that make photogra-

gezeigt, dass in der Tat alle vier kritischen Be-

Fotogeschichte 126/2012

19


hauptungen Sontags Text durchziehen72 und diese überdies keine Innovationen darstellen, sondern in der Fotografiekritik auf eine gewisse Tradition zurückblicken. Es ist freilich auch nicht Ziel von Kulturkritik, der Wissenschaft zuzuliefern oder theoretische Innovationen zu produzieren, sondern die Kultur als veränderliche und zu verändernde zu kennzeichnen, also als Beobachter in der Kultur zu intervenieren. Die Stärken von Sontags Über Fotografie stecken eher in entscheidenden Details, die den üblichen kulturkritischen Pauschalisierungen entgehen. Ein Verdienst besteht zweifelsohne darin, nicht bei Generalisierungen über Fotografie an sich stehen zu bleiben, die sich auch anderenorts finden lassen, sondern sich dennoch in die ›Niederungen‹ der fotografischen Bildwelten zu begeben und scharfsinnige Beobachtungen zu einzelnen fotografischen Œuvres, etwa zu dem von Diane Arbus, anzustellen. In diesem Aspekt zeigt sich die von ihr als solche bezeichnete ›Obsession‹ mit der Fotografie, die doch auch hinter die pauschalen Behauptungen schauen möchte. Dieses Bestreben führt dazu, die Fotografie nicht in einem vorgegebenen Raster zu fixieren, sondern die eigenen Deutungen schon innerhalb desselben Bandes und erst recht retrospektiv offen zu lassen und nötigenfalls abzuändern. Mit der Irritierbarkeit der eigenen Verallgemeinerungen bleibt dann noch ein bisschen von dem in »Gegen Interpretation« beschworenen formalen Eigenwert des Gegenstandes übrig.

20

1 Susan Sontag: Gegen Interpretation (1964), in: dies.: Geist als Leidenschaft: Ausgewählte Essays, Leipzig 1989, S. 5–16, hier S. 15. 2 Ebenda, S. 16. 3 Ebenda, S. 16. 4 Prototypisch in diesem Zusammenhang zu nennen wären etwa Roland Barthes: Die Fotografie als Botschaft (1961), in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn: Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 11–27 sowie Siegfried Kracauer: Theorie des Films: Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt am Main 1973 (11960), S. 25–50. 5 Vgl. W. J. T. Mitchell: Bildtheorie, Frankfurt am Main 2008, S. 17 sowie Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie. Band 3. 1945–1980, München 1983, S. 243. 6 Zur Entstehung der Essayserie siehe Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt am Main 1980 (11977), S. 7. 7 Ebenda, S. 9. 8 In »Gegen Interpretation« wird gerade Platons mimetisches Verständnis der Kunst als Urgrund der Idee angeführt, die das, »was wir als ›Form‹ zu bezeichnen gelernt haben, scharf trennt von dem, was man uns als ›Inhalt‹ zu nennen gelehrt hat, und die überdies dem Inhalt die wesentliche, der Form hingegen nur beiläufige Bedeutung zuerkennt.« (Sontag, [Anm. 1], S. 7). 9 Ebenda, S. 16. Dass es sich hierbei um einen Topos handelt, gibt Sontag nachträglich zu – nur für die Fotografie will sie ihn aber relativieren. 10 Sontag, (Anm. 6), S. 9. 11 Immerhin verfügt der Band über ein fotografisches Titelbild. 12 Kemp, (Anm. 5), S. 13–39, hier S. 35. 13 Vgl. Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode: Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt am Main 1988 (11985), S. 83 und S. 91–97. Siehe mit gleichem historischen Interesse, aber dem Fokus auf der Fotografie Hans J. Scheurer: Zur Kultur- und Mediengeschichte der Fotografie: Industrialisierung des Blicks, Köln 1987, Klappentext: »Die Fotografie nutzt als erstes Medium die technischen Möglichkeiten der industriellen Revolution, um die Seh-Sucht, die Bildgier der Massen zu befriedigen. Fotos brechen nicht nur mit der ästhetischen Tradition der Malerei, die Bilderflut aus der Maschine bewirkt einen neuen Stellenwert von Bildern an sich.« 14 Corinna Höppner: Die Erfindung der Bilderflut: Raffael und seine Kupferstecherwerkstatt, in: Lutz Hieber, Dominik Schrage (Hg.): Technische Reproduzierbarkeit: Zur Kultursoziologie massenmedialer Vervielfältigung, Bielefeld 2007, S. 57–87, hier S. 57. 15 So vermutet Peter Geimer, dass Siegfried Kracauer 1927 »wohl einer der Ersten« gewesen sei, der sich in Bezug auf Bilder der Semantik der Flut bediene. Vgl. Peter Geimer: Theorien der Fotografie: Zur Einführung, Hamburg 2009, S. 154. Dass eine Fülle von Bildern für kulturell schädlich gehalten wird, ist freilich nicht neu, sondern zeigt sich sowohl an der Praxis der Bilderstürme wie auch an der langen Geschichte der Bildkritik. Neuere Diskurse akzentuieren allerdings stärker die Folgen der großen Quantität als die der problematischen Qualität fotografischer Bilder. Zum bildkritischen Diskurs vgl. einführend Karl Prümm: In der Hölle – im Paradies der Bilder: Medienstreit und Mediengebrauch, in: Zeitschrift für Literatur und Linguistik, Jg. 26, Heft 103, 1996, S. 52–69. 16 David Bauer: So gehen Sie nicht unter in der Bilderflut, in: Beobachter, Ausgabe 23, 2011, unter: http://www.beobachter.ch/konsum/multimedia/arti-

Fotogeschichte 126/2012


kel/digitalfotos_so-gehen-sie-nicht-unter-in-der-bilderflut/ 17 Der kulturkritische Diskurs zur fotografischen Bilderflut unterscheidet sich, wenn auch nicht radikal, so doch maßgeblich von älteren Diskursen der Fotokritik, die mehr den mechanischen Charakter der Bildherstellung als die Vervielfältigung monierten. Wenn etwa die Reproduktionsgrafiker das Konkurrenzmedium kritisierten, konnten sie kaum das Faktum der Reproduktion und Verbreitung an sich schlecht heißen. Vgl. exemplarisch Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie. Band 1. 1839–1912, München 1980, S. 97–99 und S. 128–139 sowie Mary Warner Marien: Photography and Its Critics: A Cultural History, 1839–1900, Cambridge 1997, S. 52–75. 18 Karl Pawek: Das optische Zeitalter: Grundzüge einer neuen Epoche, Olten 1963, S. 15. Zum Hintergrund von Paweks Argumenten siehe Margarethe Szeless: Die Kulturzeitschrift magnum: Photographische Befunde der Moderne, Marburg 2007, S. 40–43. 19 Geoffrey Movius, Susan Sontag: An Interview with Susan Sontag, in: Boston Review, Juni 1975, online unter http://bostonreview.net/BR01.1/sontag.html. 20 Vgl. Janny Scott: From Annie Leibovitz: Life, and Death Examined, in: The New York Times, 6.10.2006, online unter http://www.nytimes.com/2006/10/06/ arts/design/06leib.html. In diesem Artikel berichtet Leibovitz auch explizit über das Interesse von Sontag an ihrer fotografischen Arbeit. Weiteres Zeugnis der fortgesetzten Faszination für die Fotografie ist die Tatsache, dass Sontag später auch Vorworte zu Foto-Bildbänden verfasst hat, zum Beispiel zu Belloq: Photographs from Storyville, the Red-Light District of New Orleans (New York 1996) oder zu Don McCullin (London 2003). Die Ablehnung der Fotografie betrifft dann nicht das Medium an sich, sondern – geschmacklich oder möglicherweise politisch begründet – bestimmte Praktiken und Fotografen. 21 Vgl. Sontag, (Anm. 19): »[V]irtually all the important aesthetic, moral, and political problems – the questions of ›modernity‹ itself and ›modernist‹ taste – are played out in photography’s relatively brief history.« 22 Sontag, (Anm. 6), S. 9. Als weiteres Spezifikum des unbewegten Bildes führt Sontag an, Fotos seien »einprägsamer als bewegliche [sic] Bilder – weil sie nur einen säuberlichen Ausschnitt und nicht das Dahinfließen der Zeit zeigen.« Vgl. ebenda, S. 23. 23 Vgl. ebenda, S. 148: »Die Besitzergreifung durch die Fotografie vollzieht sich in verschiedenen Formen. Die einfachste Form dieser Besitzergreifung besteht darin, daß wir mit der Fotografie das Surrogat einer geliebten Person [...] besitzen – ein Umstand durch den die Fotografie etwas von einem einmaligen Objekt erhält.« 24 Geimer, (Anm. 15), S. 139. 25 Zum ästhetischen Imperativ der Ganzheit des Werks vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick: Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990, S. 15–52. 26 Sontag, (Anm. 6), S. 10. 27 Ebenda, S. 11 f. Zur Gegenüberstellung der Positionen, die Fotografie durch Ähnlichkeit oder als Spur mit der Wirklichkeit verbinden, siehe Philippe Dubois: Der fotografische Akt: Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam und Dresden 1998, S. 27–57. Erstaunlicherweise erwähnt Dubois Sontag nicht als Theoretikerin der Spur, sondern nur dort, wo er – als drittes – auf die symbolisch-konventionelle Verweisung zu sprechen kommt. Vgl. ebenda, S. 47. In anderem Zusammenhang relativiert auch Sontag, dass »Fotos doch genauso eine Interpretation der Welt wie Gemälde und Zeichnungen«

Fotogeschichte 126/2012

seien, negiert also die symbolische Ebene nicht. Vgl. Sontag, (Anm. 6), S. 12. 28 Ebenda, S. 147 und S. 149. Hier nimmt Sontag einen durch Roland Barthes popularisierten Gedanken vorweg, dass nämlich der Referent am fotografischen Bild haften bleibe, dass eine Fotografie gewissermaßen Teil an der auf ihr sichtbaren materiellen Wirklichkeit habe. Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer: Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1989 (11980), S. 14. 29 Vgl. Sontag, (Anm. 6), S. 149: »Indem etwas fotografiert wird, wird es Teil eines Systems von Informationen, wird es eingefügt in Klassifikations- und Speicherschemata, die von der schlicht chronologischen Ordnung von Schnappschussfolgen, die in Familienalben eingeklebt werden, bis zu der systematischen Sammlung und sorgfältigen Einordnung reichen«. Die verschiedenen kontextualisierenden Formen der Organisation fotografischer Wirklichkeitsfragmente differenziert Sontag ebenda, S. 10. 30 Siegfried Kracauer: Die Photographie (1927), in: ders.: Das Ornament der Masse: Essays, Frankfurt am Main 1977, S. 21–39, hier S. 25. 31 Ebenda, S. 27, respektive S. 32. 32 Ebenda, S. 29. 33 Ebenda, S. 26. 34 William M. Ivins: Neue Botschaften und Neue Sehweisen (1953), in: Kemp, (Anm. 5), S. 95–100, hier S. 96. Sontag bezieht sich positiv auf Ivins' Begrüßung der Fotografie als epochemachendes Bildmedium. Vgl. Sontag, (Anm. 19). 35 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle: Understanding Media, Dresden 1994 (11964), S. 290. 36 Postman, (Anm. 13), S. 93. Medial weniger differenziert beklagt Günther Anders, dass Bilder schlechthin »zu Verdummungsgeräten« würden, weil sie, »im Unterschied zu Texten, grundsätzlich keine Zusammenhänge sichtbar machten, sondern immer nur herausgerissene Weltfetzen: also die Welt zeigend die Welt verhüllend«. (Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1987 [11956], S. 4). 37 Zu diesen syntaktischen Möglichkeiten siehe sowohl Pawek, (Anm. 18), S. 95–100 als auch Barthes, (Anm. 4), S. 20. 38 Sontag, (Anm. 6), S. 13. 39 Vgl. Sontag, (Anm. 19) sowie dies., (Anm. 6), S. 9. 40 Ebenda, S. 28. 41 Kracauer, (Anm. 30), S. 33. 42 Ebenda, S. 34. 43 Kracauer, (Anm. 4). 44 Siegfried Kracauer: Photographiertes Berlin (1932), in. ders.: Aufsätze 1932–1965, Frankfurt am Main 1990, S. 168–170, hier S. 169. 45 Ebenda, S. 170. Dass Kracauer seine grundsätzliche Skepsis gegenüber der massenhaft zirkulierenden Fotografie auch in den 1960er Jahren nicht abgelegt hat, belegt eine Buchrezension von 1963. Vgl. ders.: Bilderflut, in: ders., (Anm. 44), S. 334–338. 46 Vgl. Sontag, (Anm. 6), S. 24. Andererseits räumt Kracauer gerade der fotografischen Abbildung das Potenzial ein, die physische Realität gegen ihre sprachlichen Abstraktionen zu erretten – verteilt also im Vergleich zu Über Fotografie die medialen Wertigkeiten anders. 47 Sontag, (Anm. 6), S. 13. 48 Ebenda. 49 Ebenda, S. 20, mit derselben Semantik vgl. auch ebenda, S. 148–149. In einen Selbstwiderspruch verstrickt sich Sontag dagegen, indem sie ebenda, S. 19, formuliert: »Die Kamera kann weder vergewaltigen noch in Besitz nehmen.«

21


50 Vgl. ebenda, S. 171, passim. Walter Benjamin, den Sontag immer wieder würdigt, hat dagegen gerade die technische Aneignung und Distribution des Visuellen als Befreiung von der erkenntnisfeindlichen ›Aura‹ und damit als Voraussetzung eines neuen, kritischen Wirklichkeitsverhältnisses gefeiert. Vgl. Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie (1931), in: ders.: Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main 2002, S. 300–324 sowie ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936/1939), in: ders.: Medienästhetische Schriften, S. 351–383. Zum Konsumbegriff als Chiffre der Kulturkritik siehe Ulrich Wyrwa: Consumption, Konsum, Konsumgesellschaft: Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, in: Hannes Siegrist, Harmut Kaeble, Jürgen Kocka (Hg.): Europäische Konsumgeschichte: Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1997, S. 747–762. 51 Vgl. Sontag, (Anm. 6), S. 29. 52 Ebenda, S. 26. Vgl. auch den abschließenden Essay, ebenda, S. 160. 53 Ebenda, S. 171. 54 Lewis Mumford: Eine Welt aus zweiter Hand (1952), in: Kemp, (Anm. 5), S. 100–105, hier S. 103. 55 Ebenda, S. 104. 56 Sontag, (Anm. 6), S. 151. 57 Ebenda, S. 153. 58 Ebenda, S. 15. 59 Anders, (Anm. 36), S. 181. 60 Daniel J. Boorstin: Das Image oder Was wurde aus dem Amerikanischen Traum, Reinbek bei Hamburg 1964 (11961), S. 149. 61 Sontag, (Anm. 6), S. 152. 62 Ebenda, S. 147. Siehe auch ebenda, S. 171: »Die Möglichkeiten der Fotografie haben unser Realitätsverständnis letztlich entplatonisiert, indem sie immer weniger plausibel erscheinen ließen, über unsere Erfahrung in bezug auf den Unterschied zwischen Bild und Dinge, zwischen Kopie und Original nachzudenken.« 63 Vgl. ebenda, S. 162: »Während für uns Fotografie

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stets etwas mit diskontinuierlichen Sehweisen zu tun hat (es kommt darauf an, das Ganze durch einen Teil zu sehen – ein fesselndes Detail, einen interessanten Schnitt), geht es in China bei der Fotografie ausschließlich um Kontinuität.« 64 Sontag, (Anm. 19). 65 Vgl. ebenda: »I don’t think the problem with photography is that it it's too simple, but that it’s too imperious a way of seeing. Its balance between being ›present‹ and being ›absent‹ is facile, when generalized as an attitude – which it is now in our culture.« 66 Sontag, (Anm. 6), S. 170. 67 Ebenda, S. 172. 68 Zur Prägung des Begriffs siehe Casey Man Kong Lum: Notes Toward an Intellectual History of Media Ecology, in: ders. (Hg.): Perspectives on Culture, Technology and Communication: The Media Ecology Tradition, Creskill 2006, S. 1–60, hier S. 9–11 sowie Thomas F. Gencarelli: Neil Postman and the Rise of Media Ecology, in: ebenda, S. 201–253. Postman, (Anm. 13), bezieht sich seinerseits bei seiner Fotografiekritik in Wir amüsieren uns zu Tode ausgiebig auf Sontags Über Fotografie. 69 Vgl. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt am Main 2010 (12003), S. 121–131. Die Abstumpfungsthese wird allerdings nicht für alle Bildmedien einkassiert, sondern nur für die Fotografie. Das Fernsehen versetze sein Publikum etwa in die Rolle des Konsumenten, dessen »Grundhaltung« die »Erschlaffung« sei, führt Sontag medienvergleichend aus. Vgl. ebenda, S. 123. 70 Ihr neuer Essay zeigt dann auch, wie sehr sich die Zeiten geändert haben, insofern die klaren Differenzen, die ihre Position in den 1970er Jahren auszeichneten, Vergangenheit sind. 71 Kemp, (Anm. 5), S. 33. 72 Das Voyeurtheorem, demzufolge der Betrachter von Fotografien passiv bleibe und sich am Leiden anderer sogar ergötze, habe ich nur gestreift, weil es kaum in Zusammenhang mit der Bildervervielfältigung steht. In Über Fotografie ist es jedoch massiv vertreten.

Fotogeschichte 126/2012



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