FRAGILE Suisse Magazin 1 / 2022

Page 1

MAGAZIN

FRAGILE Suisse

Ausgabe 1 / 2022

FRAGILE Suisse

Im Porträt

Tobias Bachmann: Trotz Aphasie neues Ausdrucksmittel gefunden.

Dienstleistung

Im Fo

ku s

t und s n u K ve r Hirn g n le t z u

Kunstausstellung «INVISIBILE»: Betroffene erhalten Plattform für ihre Kunst.

Für Menschen mit Hirnverletzung und Angehörige Ausgabe 1 / 2022 | 1


FRAGILE Suisse

Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser Gaby Pfyffer Vorstandsmitglied

Meist bleibt kein Stein auf dem anderen liegen, wenig ist wie vorher. Eine Hirnverletzung rüttelt grundsätzlich am Selbstverständnis. Es gibt eine Zeit vorher und eine Zeit danach, so erklärten es mir viele Patientinnen und Patienten in der Logopädie. Es gab und gibt einen deutlichen Schnitt in ihrem Leben. Was heisst das? Man muss sich von vielen bisherigen Selbstverständlichkeiten verabschieden und unternimmt Schritte in eine ungewisse Gegenwart. Was so leichtfüssig klingt, ist ein längerer Prozess und braucht Mut, viel Mut. Genau das hat mich immer wieder tief beeindruckt, wie Menschen aus einer schwierigen Situation heraus neuen Lebensmut fassen können und sich mit ihrer neuen Situation vertraut machen und nach neuen Wegen suchen. Die Kunst einerseits und das gestalterische Schaffen andererseits können auf diesem Weg behilflich sein, die einzelnen Steine wieder zu einem neuen Ganzen zusammenzufügen oder neue Steine auszusuchen und aufzubauen. Der Maler Albert Anker hat nach einem Hirnschlag im Alter von 70 Jahren eine rechtsseitige Lähmung erlitten. Die Ölmalerei musste er aufgeben, dafür schuf er fortan sitzend kleinformatige Aquarelle. Der Bildaufbau, die Technik und das Format veränderten sich, er hat jedoch auf eindrückliche Art einen neuen Weg gefunden. Die Umstände konnte er nicht ändern, sich ihnen jedoch auf seine Weise neu annähern. Berührende kleine Porträts sind in dieser Schaffensphase entstanden. Ich wünsche allen gute Momente in und mit der Kunst und verbleibe mit herzlichen Grüssen

Gaby Pfyffer Vorstandsmitglied Impressum FRAGILE Suisse Magazin | Ausgabe 1/2022 Auflage 45‘000 Ex. Herausgeber FRAGILE Suisse, Badenerstrasse 696, 8048 Zürich, 044 360 30 60, info@fragile.ch, www.fragile.ch Gestaltung Rebel Communication, 8004 Zürich, www.rebelcom.ch Druck Prowema GmbH, 8332 Russikon Redaktion Carole Bolliger, Sophie Roulin-Correvon, Tristan Imstepf Inserateverkauf fachmedien.ch, Zürichsee Werbe AG, 8712 Stäfa Übersetzung Dominique NaegeliGascon, Irene Bisang Spendenkonto PC / CCP 80-10132-0 Abonnement CHF 10.– pro Jahr, im Spenden- bzw. Mitgliederbeitrag inbegriffen.

2 | Magazin


FRAGILE Suisse

Aktuell

Kunstausstellung von Betroffenen Gemälde, Bilder, Fotografien oder Skulpturen – die Möglichkeiten sind gross. Doch eines haben alle Kunstwerke gemeinsam: sie wurden von Künstlerinnen und Künstlern mit Hirnverletzung geschaffen. Im Frühling 2022 gibt FRAGILE Suisse diesen Kunstschaffenden eine Plattform und präsentiert ihre Werke an der Kunstausstellung «INVISIBILE» im Kunstraum Oktogon in Bern. Pro Künstler wird ein Werk oder eine Werkgruppe an der Ausstellung gezeigt.

Weitere Kunstwerke der Künstlerinnen und Künstler werden in einer digitalen Ausstellung zu sehen sein. Die Ausstellung richtet sich sowohl an Kunstfreunde als auch an die allgemeine Öffentlichkeit und ist kostenlos zugänglich. Wir laden Sie herzlich ein, unsere Kunstausstellung zu besuchen, und freuen uns auf interessante Begegnungen und einen aktiven Austausch mit Ihnen.

Ort: Kunstraum Oktogon, Aarstrasse 96, 3005 Bern Öffnungszeiten: Donnerstag und Freitag, 14-19 Uhr Samstag, 11-15 Uhr

S ave

the d

at e

is pril b 29. A i 2022 a 21. M

Vernissage: 29. April 2022, 17-19 Uhr Finissage: 21. Mai 2022, 14-17 Uhr Mehr dazu auf Seite 7

Fokusthema: Kunst Die Kunst ermöglicht es Menschen mit Hirnverletzung, ihre Gefühle und Gedanken auszudrücken, die sie vielleicht nicht mehr in Worte fassen können. Sie kann von jedem ausgeübt werden und hat oft auch eine thera-

peutische Wirkung. Was mit Kunst alles möglich ist, wie sie Betroffenen geholfen hat sowie weitere wissenswerte Inhalte rund um unser Fokusthema «Kunst» finden Sie unter: www.fragile.ch/fokusthema-kunst

Projekt «Lotse» auch in der Romandie Seit bald zwei Jahren läuft das Projekt «Lotse» in der Nordwestschweiz. Dabei werden Menschen mit Hirnverletzung nach dem stationären Aufenthalt langfristig durch sogenannte Lotsen begleitet. Nun soll das Projekt auch in der Romandie lanciert werden. Im Rahmen des Projekts «Regionale Anlaufstellen» (REAS) der Geliko (Schweizerische Gesundheitsligen-Konferenz), in Zusam-

menarbeit mit Gesundheitsförderung Schweiz, plant FRAGILE Suisse eine Kooperation. «In Lausanne soll eine Anlaufstelle mit drei Organisationen eröffnet werden – eine davon ist FRAGILE Suisse», erläutert Julia Eugster, Leiterin Dienstleistungen. Mehr dazu erfahren Sie in einem unserer nächsten Magazine.

Ausgabe 1 / 2022 | 3


FRAGILE Suisse

Porträt

Er möchte reden, aber er kann nicht Text: Carole Bolliger / Foto: Franziska Marty

Tobias Bachmann erlitt vor 13 Jahren einen Hirnschlag. Bis heute leidet er unter einer schweren Aphasie – einer Sprachstörung als Folge seines Schlaganfalls. Mit der Malerei hat er ein Ventil gefunden, um sich auszudrücken und seine Emotionen zu Papier zu bringen. Karin und Tobias Bachmann sitzen an ihrem Esstisch. Vor ihnen liegen zwei Fotobücher. Eines von ihrer Reise nach Kanada, das andere von einer Reise durch Norwegen. «Kanada war unsere letzte grosse Reise und einfach wunderbar», erzählt Karin Bachmann. Ihr Mann nickt zustimmend und lächelt. Er möchte etwas sagen, aber die Worte kommen nicht aus seinem Mund. Manchmal mache ihn das richtig wütend, sagt seine Frau. Tobias Bachmann, mit dem sie seit 35 Jahren verheiratet ist, nickt wieder zustimmend. Er deutet auf ein Bild, das im Wohnzimmer auf einer Staffelei steht. Es zeigt eine Faust, mit schwarzer Kohle gezeichnet. Die Person, zu der die Faust gehört, die aber nicht auf dem Bild zu sehen ist, scheint wütend zu sein. Oberhalb der Faust steht das Wort «Aphasie» in grossen, dicken Buchstaben. Er zeigt auf die Faust, dann auf sich. «Er möchte reden, aber er kann nicht», erläutert seine Frau. Ihr Mann nickt und ballt seine Hand zur Faust. Tobias Bachmann hat seit 13 Jahren mit Aphasie zu kämpfen. Er kann sich nicht so ausdrücken, wie er gerne möchte. Die Wörter kommen ihm zwar in den Sinn, aber rauskommen wollen sie einfach nicht. Eine Aphasie entsteht durch die Schädigung bestimmter Hirnareale. Bei Tobias Bachmann kam sie durch einen Hirnschlag, den er im April 2009 erlitt, ausgelöst durch ein Aneurysma. «Er schlief bereits, als ich ins Bett wollte und bemerkte, dass mit ihm etwas nicht stimmte», erzählt Karin Bachmann. Da sie aus einer Medizinerfamilie kommt und seinen herabhängenden Mundwinkel sah, wusste sie sofort, dass es pressiert. Sie wählte den Notruf, kurz darauf kam ihr Mann ins Kantonsspital Zug, wurde dann aber gleich ins Universitätsspital Zürich verlegt. Dort lag er zehn Tage. Zuerst auf der Intensivstation.

4 | Magazin

Grosser Familienzusammenhalt Tobias Bachmann war auf einen Schlag nicht mehr der Mensch, der er war. Er – der Fels der Familie, erfolgreich mit seinem eigenen Planungsbüro, leidenschaftlicher Berggänger – war nur noch «ein Häufchen Elend», wie seine Frau sagt. Er konnte nicht mehr gehen, war halbseitig gelähmt, die Sprache war weg, schreiben konnte er auch nicht mehr. «In der ersten Zeit hatte ich grosse Angst um meinen Mann», sagt Karin Bachmann heute. Auch für sie änderte sich alles. Bis dahin war sie Hausfrau und Mutter. «Plötzlich war ich Managerin, musste mich um alles kümmern. In der ersten Zeit habe ich einfach funktioniert und war froh, dass Tobias überhaupt noch lebte.» Auch für die beiden Kinder, damals 17 und 19 Jahre alt, war es eine grosse Herausforderung. «Es war brutal», stellt Karin Bachmann klar. Doch beide Kinder hätten die Situation akzeptieren und annehmen können. «Für sie war und blieb er einfach ihr Vater.» Sie haben ihn immer unterstützt. Die Familie hat einen grossen Zusammenhalt. Fünf Monate ist Tobias Bachmann in der Rehaklinik in Bellikon. Dort lernt er alles wieder von Grund auf. Wie ein Kleinkind. «Die Pflegerin sagte, dass er wahrscheinlich die Klinik mit einem Rollator verlassen werde. Aber sie kannte meinen Mann nicht», sagt Karin Bachmann und lacht. Er sei schon immer sehr hartnäckig und stur gewesen. Das kam ihm nach seinem Hirnschlag zugute. «Er übte und übte und gab nicht auf, bis er wieder selber gehen konnte.» In Bellikon machte man Karin Bachmann auf FRAGILE Suisse aufmerksam. «Ich ging zur Beratung, wo ich gute und hilfreiche Tipps bekam. Mein Mann besucht seit zehn Jahren jeweils die Logopädiewochen und dank eines Computerkurses lernte er wieder, mit dem Computer umzugehen.»


FRAGILE Suisse

Malen als Ventil für seine Emotionen Nach der Reha kommt er nach Hause, ins gemeinsame Haus in Zug, von dem man auf den Zugersee und bis in die Berge blicken kann. «Ich musste meinen Mann, mit dem ich schon seit 27 Jahren zusammen war, wieder neu kennenlernen. Aber seinen Humor hatte er nicht verloren», erzählt Karin Bachmann. Die beiden lachen gern zusammen. Und Reisen ist ihre grosse Leidenschaft. 2013, vier Jahre nach dem Schicksalsschlag, reisten die beiden für fünf Wochen nach Spanien. Karin Bachmanns Bruder lebt nördlich von Barcelona. Sie lernte Spanisch und er besuchte einen Malkurs. Die Leidenschaft fürs Malen entdeckte er allerdings schon vorher. «Ich merkte, dass er viel Wut in sich hatte und ein Ventil brauchte, diese Wut, seinen Frust, seine Emotionen loszuwerden», so seine Frau. Sie fand einen Kurs für begleitetes Malen. Und Tobias Bachmann war sofort begeistert. Das Talent fürs Malen dürfte er von seiner Mutter geerbt haben, die selbst schon immer malte. Tobias Bachmann deutet auf ein Bild, gezeichnet mit Farbstift und Neocolor. Es zeigt das Meer und Wolken. Dann zeigt er auf ein Album mit Ferienbildern. «Das hat er auf einer unserer Reisen gemalt», erklärt Karin Bachmann. Ihr Mann strahlt. Auf ihren Reisen hätte er immer einen Block und Stifte dabei. Hauptsächlich malt der 63-Jährige Porträts. Mit Acryl oder Kohle. Selten

auch mit Ölfarben. Oft sind die Augen der porträtierten Person gar nicht zu sehen, abgedeckt oder geschlossen. Einen speziellen Grund dafür gibt es nicht. Mit der Malerei kann er sich ausdrücken, seine Emotionen kanalisieren. Das sagen, was er eben sprachlich nicht sagen kann. Wenn ihr Mann male, dann tauche er in seine ganz eigene Welt ein, manchmal stundenlang. «Dann sollte man ihn nicht stören», sagt sie und lacht. Er fällt in ihr Lachen mit ein. Die beiden sind ein gutes Team, sie hadern nicht mit der Vergangenheit, sondern sehen in die Zukunft. «Wir müssen ausprobieren und schauen, was passiert», sagt mein Mann immer. Die beiden leben und geniessen ihr Leben. Und die nächste Reise ist bereits in Planung. Tobias Bachmann ist einer von 24 Künstlern mit einer Hirnverletzung, die im April bei der Ausstellung «INVISIBILE» von FRAGILE Suisse in Bern ihre Werke präsentieren. «Wir haben eine E-Mail von FRAGILE Suisse erhalten und als ich ihm davon erzählte, wollte er sofort mitmachen», sagt Karin Bachmann. Was er erschaffe, möchte ihr Mann auch zeigen. Und dass er für die Ausstellung ausgewählt wurde, sei auch eine gewisse Anerkennung. «Ich bin nicht nur ein Mensch mit einer Beeinträchtigung», sagt Karin Bachmann stellvertretend für ihren Mann, der ihr nickend zustimmt.

Ausgabe 1 / 2022 | 5


FRAGILE Suisse

Zurück auf dem Weg. Danke. «Nach dem Hirnschlag wusste ich nicht, ob ich je wieder selbstbestimmt leben kann. Dass ich es weitgehend geschafft habe, verdanke ich meiner Familie und der Rehaklinik Zihlschlacht. Was für ein Glück.» Doris Pfister (70)

D.Pfister

HABEN SIE IHRE FERIEN SCHON GEBUCHT? Wir bieten Ihnen Abwechslung mit interessanten Ferien-Arrangements

WIR FREUEN UNS AUF IHRE RESERVATION Mattstrasse 19, 6103 Schwarzenberg LU (Luftkurort) | 041 499 70 99 | info@bzmatt.ch

6 | Magazin


FRAGILE Suisse

Dienstleistungen

Mehr Sichtbarkeit für Betroffene Text: Carole Bolliger / Fotos: Franziska Marty

Vom 29. April bis 21. Mai 2022 präsentieren 24 Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Schweiz ihre Werke im Kunstraum Oktogon in Bern. Mit der Ausstellung «INVISIBILE» bietet FRAGILE Suisse Menschen mit Hirnverletzung eine Plattform, ihre Kunst sichtbar zu machen. Drei Porträts: Nadia Bernold, 1966 Hirnverletzung: Mittelschweres Schädel-HirnTrauma durch Skiunfall, Müdigkeit, Reizempfindlichkeit, kognitive und körperliche Einschränkungen, Konzentrationsstörung Kunst: Malen und Pappmaché

Eduard Neuhaus, 1960 Hirnverletzung: Schwere Hirnerschütterung durch Unfall, Halbseitenlähmung Kunst: Malen (Real, Bewegung Richtung Abstraktion und Surrealismus)

Cornelia Portmann, 1963 Hirnverletzung: Hirntumor; schnelles Ermüden, Konzentrationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen Kunst: Malen und Fotografie

«Nach meiner Hirnverletzung 2016 ging nichts mehr ohne Hilfe. Ich fragte meine Freunde, was ich vor dem Unfall gerne gemacht habe. Sie sagten, ich sei immer kreativ gewesen. So fing ich an zu filzen und zu malen. Irgendwann entdeckte ich das Arbeiten mit Pappmache. Diese Arbeit gibt mir ein Glücksgefühl, wie ich es sonst bei keiner Kunstform habe. Mir gefällt der ganze Gestaltungsprozess – vom ersten Drahtbiegen bis zum fertig gestalteten und gemalten Werk. Beim Kreativsein kann ich herunterfahren und das Chaos, das immer in meinem Kopf herrscht, für eine Weile ausschalten.» «Seit meiner Hirnverletzung durch einen unverschuldeten Motorradunfall liegt meine Arbeitsleistung bei 10 Prozent. Meinen Beruf als Kunstmaler kann ich deshalb nicht mehr ausüben. Mit der verbleibenden Energie bewältige ich meinen Haushalt (Kochen, Waschen, Wohnung sauber halten) und nehme mir vor, jeden Tag zu malen. Ich male real und bewege mich in Richtung Abstraktion und Surrealismus. Die Ausstellung von FRAGILE Suisse ist eine grosse Chance für mich. Ich hoffe, dass viele Leute unsere Werke sehen und auch kaufen. Private Aufträge (z.B. Porträts) sind ebenfalls möglich.» «Ich habe schon immer gemalt. Nach meiner Hirn-OP musste ich jedoch feststellen, dass ich schneller an meine Kapazitätsgrenzen gelange. Deshalb male ich heute seltener. Ich habe aber neu die Fotografie entdeckt. Ich halte gerne bildlich fest, was mich anspricht. Das können Äste von einem Baum, unebene Fassaden oder ganz unerwartete Dinge sein: eine Erbse beispielsweise, wie sie wächst, Tentakel, wie sie sich ineinander verschlingen – das fasziniert und inspiriert mich. Die Kunst erfüllt mich mit grosser Freude und innerer Ruhe. Sie hilft mir, mich im täglichen Leben wieder neu einzuordnen.» Besuchen Sie uns! Die Ausstellung ist barrierefrei und öffentlich zugänglich. Freier Eintritt. Alle Infos: www.fragile.ch/kunstausstellung2022

Ausgabe 1 / 2022 | 7


FRAGILE Suisse

Aktuell

Im Gedenken an Jean-Baptiste Huber Wir waren sehr traurig, als wir die Todesanzeige vom 2. Dezember 2021 von Jean-Baptiste Huber erhielten. Er war eine sehr wichtige Person für FRAGILE Suisse und FRAGILE Zentralschweiz. Jean-Baptiste Huber war 2002 Gründungsmitglied von FRAGILE Zentralschweiz und Vizepräsident während mehrerer Jahre. 2003 gründete er mit seinem Anwaltskollegen Kurt Pfändler, Präsident von FRAGILE Zürich, den Beratungsdienst, die heutige Helpline von FRAGILE Suisse. Anfänglich war der Beratungsdienst für FRAGILE Zentralschweiz und FRAGILE Zürich gedacht. Es wurde eine Erfolgsgeschichte: «Wir wollten den Leuten eine niederschwellige Beratung bieten und ihnen einen Zugang zu qualitativ hochwertiger Auskunft ermöglichen. Zu diesem Zweck professionalisierten wir die Telefonberatung», sagten Jean-Baptiste Huber und Kurt Pfändler damals. Wichtig war für Jean-Baptiste Huber, eine einprägsame Gratis-Telefonnumer zu finden. Er suchte lange, bis er eine prägnante, freie 0800er-Nummer fand. Es wurde die bis heute gültige Telefonnummer 0800 256 256.

Als Schadenanwalt hat Jean-Baptiste Huber ausschliesslich die Versicherten vertreten, mit hohem Engagement und Herzblut. Er verfügte über ein hohes Fachwissen in Bezug auf Hirnverletzungen. Dieses Wissen konnten sowohl die Fachpersonen als auch die Versicherten nutzen. Er war auch begnadeter Juuzer. Als man in Jahr 2020 für die Juuz-CD einen Bass-Ersatz suchte – da zwei Betroffene kurzfristig nicht mehr dabei sein konnten –, sprang er sofort ein mit seinem sonoren Bass.

2013 konnte FRAGILE Suisse das 10-jährige Jubiläum der Helpline feiern. An diesem Anlass hat Jean-Baptiste Huber sich für die Helpline Folgendes gewünscht: «Die Nummer 0800 256 256 ist so in den Köpfen der Menschen verankert wie die Nummer 144 für den Rettungsdienst. Sobald Fragen oder Anliegen zu Hirnverletzungen aufkommen, wissen alle, ich rufe die Nummer 0800 256 256 an.» Die Helpline ist bis heute eine der wichtigsten Dienstleistungen von FRAGILE Suisse.

Wir werden ihn sehr vermissen. Jean-Baptiste war ein kluger, humorvoller und wunderbarer Mensch. Leider musste er viel zu früh gehen. Er hinterlässt eine grosse Lücke, vor allem für seine Familie, aber auch bei FRAGILE Suisse. Wir senden der Familie unsere Dankbarkeit und tiefe Anteilnahme.

Brainweek 2022

Politisches Manifest

Vom 14. bis 20. März fand die diesjährige Woche des Gehirns statt, an der FRAGILE Suisse und ihre Regionalvereinigungen normalerweise teilnehmen. Leider gab es aufgrund der Pandemie auch in diesem Jahr einige Einschränkungen.

Aus Anlass der Inkraftsetzung der Weiterentwicklung der IV (Invalidenversicherung) per 1. Januar 2022 hat FRAGILE Suisse ihre Forderungen an die Politik in einem Manifest veröffentlicht. Die Forderungen zugunsten von Menschen mit Hirnverletzung richten sich an Vertreterinnen und Vertreter der Politik, des Sozial- und Gesundheitswesens, der Bildung, der Arbeitgeber sowie an die breite Öffentlichkeit. Sie zeigen auf, mit welchen Problemen die Betroffenen im Alltag konfrontiert sind und welche Massnahmen zur Verbesserung ihrer Situation nötig sind.

Welche Aktivitäten trotzdem stattfinden konnten sowie weitere Informationen zu dieser Woche finden Sie unter: fragile.ch/Brainweek-2022

FRAGILE Suisse und FRAGILE Zentralschweiz

www.fragile.ch/politisches_manifest

8 | Magazin


FRAGILE Suisse

Fachartikel

«Grundsätzlich eignet sich jede Art von Kunst» Interview: Carole Bolliger

Durch eine Hirnverletzung ändert sich oft vieles. Kunst kann Betroffenen helfen, sich auf eine andere Art auszudrücken. Dies sagt Birgit Hohnecker. Sie ist dipl. Fachpsychologin für Neuropsychologie, Klinische Neuropsychologin, Gesprächspsychotherapeutin und leitet einen Fotokurs für Betroffene. Birgit Hohnecker, wie kann Kunst Betroffenen nach einer Hirnverletzung helfen? Oftmals finden Betroffene keine richtigen Worte, wie sie ihren Zustand nach einer Hirnverletzung beschreiben sollen. Es hat sich so viel geändert, man kennt sich teilweise selbst nicht mehr. Doch dies in Worte zu fassen, ist häufig schwer. Kunst kann in solch einem Fall helfen, sich auf eine andere Art und Weise auszudrücken. Ein Ventil, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Was passiert im Gehirn, wenn jemand künstlerisch/kreativ tätig ist? Kreativität im Gehirn findet nicht an einem speziellen Ort oder in einer bestimmten Gehirnregion statt. An kreativen Prozessen sind immer mehrere verschiedene Hirnstrukturen beteiligt.

Birgit Hohnecker Neuropsychologin, Therapeutin

keine Geschichten schreiben, seine Gefühle aber zum Beispiel mithilfe von Fotos zum Ausdruck bringen. Kreatives Arbeiten kann meiner Meinung nach nur dann kontraproduktiv sein, wenn Erwartungen mitspielen, die nicht erfüllt werden können oder nicht umsetzbar sind.

Welche Art der Kunst eignet sich besonders gut? Welche weniger? Das kommt immer auf die betreffende Person an. Das Wichtigste ist einfach, Spass und Freude an dem zu haben, was man macht. Sobald ein innerer Druck dahintersteckt, etwas unbedingt machen zu müssen, womöglich um sich selbst oder anderen etwas zu beweisen, führt dies meist zu Frust und Verzweiflung, und genau das sollte ja nicht passieren.

Sie leiten Fotokurse für Betroffene. Wie eignet sich die Fotografie für Betroffene? Durch das Fotografieren können Betroffene sich ausdrücken und zeigen, wie sie die Welt sehen, ohne sich dafür erklären zu müssen. Jeder kann seinen eigenen Blickwinkel darstellen. Ein und dasselbe Motiv bringt oftmals viele verschiedene Bilder hervor. Die Fotos hinterher in der Gruppe gemeinsam anzuschauen, ist für die Teilnehmenden interessant und fördert auch wieder den eigenen Ideenreichtum.

Und eignet sich künstlerisches Arbeiten nach jeder Art von Hirnverletzung? Oder gibt es auch Hirnverletzungen, bei denen es gar kontraproduktiv ist? Grundsätzlich kann Kunst nach jeder Hirnverletzung ausgeübt werden. Natürlich muss man schauen, was geht. Jemand, der eine Halbseitenlähmung hat und seine dominante Hand nicht benutzen kann, kann auch keine detailgenauen Zeichnungen anfertigen. Allerdings geht es, mit der nichtdominanten Hand einfach Farbe auf eine Leinwand zu bringen und sich so auszudrücken. Jemand mit einer Sprachstörung kann vielleicht

Betroffene, die sich gern künstlerisch ausdrücken möchten, aber es nicht können, nicht wissen wie, wie fangen diese am besten an? Das Beste um anzufangen ist, den Mut zu haben, einfach mal etwas auszuprobieren. FRAGILE Suisse bietet oftmals Kurse nur für ein oder zwei Tage an. Falls man am Ende zu dem Schluss kommt, dass es einem nicht gefallen hat, dann ist man um diese Erfahrung reicher geworden. Und falls es Spass gemacht hat, ist vielleicht ein neues Hobby gefunden, das neue und interessante Dinge bereithält.

Ausgabe 1 / 2022 | 9


FRAGILE Suisse

Kurse

Mosaik legen Betroffene und Angehörige lernen die Grundkenntnisse des Mosaiklegens kennen. Sie entdecken ihre eigene Kreativität und dekorieren einen Gegenstand, z.B. einen Spiegel, einen Seifenspender oder einen Fotorahmen. In diesem Kurs werden das Basiswissen und verschiedene Techniken vermittelt. Die einzelnen Arbeitsvorgänge

werden etappenweise und praxisbezogen gezeigt. Die Kursteilnehmenden lernen die unterschiedlichen Materialarten der Mosaiksteine kennen. Marlène Fritschi, Fachfrau Betreuung Behindertenbereich, leitet den Kurs.

Neues Leben lernen – alleine und auch nicht alleine Wir alle kennen beides: das Allein-Sein und das Gemeinsam-Sein. Während das Allein-Sein für einige zu einer grossen Qual wird, geniessen es andere bewusst. Genauso verhält es sich mit dem In-Gesellschaft-Sein. In diesem Kurs für Menschen mit Hirnverletzung nähern wir uns dem Thema mit verschiedenen Ausdrucksmitteln:

drinnen und draussen, im Gespräch und in der Stille, in Bewegung oder beim Schreiben, mit Musik oder mit Malen. Mal allein – und mal zusammen. Der Kurs wird geleitet von Michèle Plattner, Tanz- und Ausdruckstherapeutin, und Astrid Gusewski, Kunsttherapeutin. Alle Infos zu diesen Kursen und alle weiteren Kurse unter: www.fragile.ch/kurse

Mitmachen und gewinnen

FRAGILE Suisse verlost drei Kreativspiele Zur Verfügung gestellt von Rex Metall AG. Schreiben Sie eine E-Mail mit dem Betreff «Verlosung Kreativspiel» und Ihren Kontaktdaten an: kommunikation@fragile.ch. Einsendeschluss ist der 30. April 2022.

10 | Magazin

Fördert das Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit Über 22 000 verschiedene Lösungsmöglichkeiten in mehr als 600 Schwierigkeitsstufen. Das bietet das Kreativspiel «Yessss!». Das Spiel mit den 12 verschiedenfarbigen Kugeln und unterschiedlich geformten Teilen eignet sich für jedes Alter, jeden IQ und sowohl für «schnelle» als auch «langsame» Menschen. Jeder findet seine Herausforderung – immer wieder neu –, denn der Schwierigkeitsgrad kann selbst bestimmt werden. Man kann es alleine, zu zweit oder in Gruppen spielen. Besonders für Menschen mit Hirnverletzung eignet sich das Spiel bestens. Dies, weil es das Gedächtnis und die Geduld fördert sowie die Konzentrationsfähigkeit und das räumliche Vorstellungsvermögen trainiert.


FRAGILE Suisse

Engagement

Neue Welten und Erlebnisse – jenseits des offiziellen Kunstbetriebs Aufgezeichnet: Carole Bolliger

«Im Kunstraum Oktogon kuratiere ich oft Ausstellungen, die in einer normalen Galerie nie gezeigt würden. Sie verfolgen oft nicht kommerzielle, sondern anderweitige Ziele. Es ist mir ein Anliegen, gelegentlich auch künstlerische Aktivitäten in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, die unter speziellen Bedingungen im Verborgenen entstehen und gerade deshalb eine besondere Eindringlichkeit auszudrücken vermögen. Mit Gaby Pfyffer, Vorstandsmitglied von FRAGILE Suisse, bin ich seit früheren Kunstprojekten befreundet. So kam auch die Zusammenarbeit für die Ausstellung «INVISIBILE» zustande. Als Arzt habe ich gelegentlich mit Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu tun, sei es mit Menschen mit angeborenen, erworbenen oder psychiatrischen Gehirnbeeinträchtigungen. Die in dieser Situation oft speziellen Zugänge zu schöpferischem Tun interessieren mich. Oft eröffnen diese Ausdrucksformen unerwartet neue Welten und Erlebnisse, jenseits des offiziellen Kunstbetriebs.

11 | Magazin

Dr. Ferdinand Oberholzer

Kreative Leistungen sind oft nicht von anderweitigen Gehirneinschränkungen betroffen. Ich freue mich auf die neuen Erfahrungen mit den Arbeiten der Künstlerinnen und Künstler von FRAGILE Suisse.» Dr. Ferdinand Oberholzer ist Inhaber des Kunstraums Oktogon in Bern. Er unterstützt FRAGILE Suisse grosszügigerweise bei der Ausstellung «INVISIBILE», unter anderem indem er seine Räumlichkeiten zur Verfügung stellt. Herzlichen Dank!


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.