Leseproben Romane Frühjahr 2013

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Leseproben Lynn Austin, Am Anfang eines neuen Tages ........................... 2 Tamera Alexander, Geliebte F채lscherin .................................. 10 Gina Holmes, Wo mein Gestern Dein Heute ber체hrt .......... 18 Sarah Sundin, Der Duft der Freiheit ..................................... 25 Karen Witemeyer, Kann es wirklich Liebe sein? ................... 33 Irene Hannon, Auf dass ihr nicht gerichtet werdet ............... 43 Cathy Marie Hake, Rose der Pr채rie ....................................... 51


Lynn Austin Am Anfang eines neuen Tages ISBN 978-3-86827-363-2 428 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2013

Drei Frauen – drei Schicksale – eine Sehnsucht Vor dem amerikanischen Bürgerkrieg waren die Weatherlys eine der reichsten Familien in Virginia. Jetzt stehen Josephine, ihre Schwester Mary und ihre Mutter Eugenia vor dem Nichts. Ihr Vater und ihr ältester Bruder sind tot, ihr jüngerer Bruder ist wie erstarrt, ihre Plantage verfällt zusehends. Doch die Frauen sind fest entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Genauso wie Lizzie, einer früheren Sklavin der Familie, ist ihnen klar, dass sie am Anfang eines neuen Tages stehen – und jetzt so gut wie alles möglich ist … 4


9. April 1865 Eugenia Weatherly konnte es nicht ertragen, ihre Töchter noch einen Tag länger hungern zu sehen. Eine Woche war vergangen, seitdem der Krieg zu Ende gegangen war und der Süden sich ergeben hatte, und Eugenias Familie litt Hunger. Sie war die Stärkste von allen, also musste sie etwas zu essen finden. Sie schlang sich gegen die Morgenkälte einen Schal um die Schultern und ging zu der Tür, die in den Sklavenhof führte, fest entschlossen, einen Bediensteten zu finden, der ihr helfen konnte. Aber gerade als sie an der Tür ankam, rief ihre Schwester Olivia: „Warte, Eugenia!“ Eugenia blieb mit der Hand auf dem Türknauf stehen und sah sich ungeduldig um. Sie hatte sich entschieden, und sie würde sich ihren Entschluss von ihrer Schwester nicht ausreden lassen. „Was ist denn, Olivia? Dein Nachbar hat gesagt, man muss früh da sein, bevor die Schlange zu lang wird.“ Olivia hatte Tränen in den Augen und ihr zusammengeknülltes Taschentuch war schon ganz feucht. „Ich kann den Gedanken, dass du betteln gehst, nicht ertragen. Vater wird sich im Grabe umdrehen. Gibt es keinen anderen Weg, etwas zu essen zu besorgen?“ „Nein, den gibt es nicht. Die Speisekammer, der Vorratskeller und alle unsere Mägen sind leer. Der Markt ist nur noch ein Haufen verkohlter Balken, unsere Kinder haben Hunger, du weinst immerzu –“ „Nur wegen der Nachrichten. Ich kann nicht fassen, dass General Lee sich wirklich ergeben hat.“ „Das hat er aber. Der Krieg ist seit einer Woche vorüber und wir sind der Gnade unserer Feinde ausgeliefert. Wenn das Christliche Komitee der Vereinigten Staaten in der Innenstadt kostenlose Mahlzeiten verteilt, dann glaube ich, dass wir einen Anspruch darauf haben.“ „Wer hätte jemals gedacht, dass wir auf Wohltätigkeit angewiesen sein würden“, jammerte Olivia. Eugenia hob stolz das Kinn. „Ich weigere mich, das als Wohltätigkeit zu bezeichnen. Die Yankees haben alles gestohlen, was wir hatten, also ist es höchste Zeit, dass sie uns etwas davon zurückgeben.“ Sie öffnete die Tür erneut und ließ einen Schwall kühler Luft und den Gestank von den Ställen und dem Sklavenhof in den winzigen Flur. „Ich komme so bald wie möglich wieder.“ 5


„Warte. Du solltest nicht alleine gehen. Eine von uns kann dich begleiten.“ Eugenia schüttelte den Kopf. „Ich gehe lieber allein. Du fühlst dich noch nicht gut und ich werde meine Töchter nicht auf die Straße lassen, wenn überall Yankeesoldaten herumlaufen.“ Außerdem wollte Eugenia nicht, dass die Mädchen Zeuge ihrer Schande wurden, wenn sie um Nahrungsmittel betteln musste. „Ich werde meinen Diener mitnehmen – Amos oder Otis oder wie auch immer er heißt.“ „Bist du dir sicher, dass er noch hier ist? Wie es aussieht, laufen immer mehr Sklaven fort. Die Yankees sagen ihnen, dass sie frei sind und gehen können.“ „Ich finde, es ist grausam, Menschen die Freiheit zu geben, die nicht wissen, was das bedeutet oder was sie damit anfangen sollen. Es ist so, als würde man einem Baby eine Fackel in die Hand drücken. Wenn mein Sklave nicht hier ist, werde ich dafür sorgen, dass einer von deinen mich begleitet.“ „Sei vorsichtig, Eugenia. Alle sagen, dass es in der Stadt gefährlich ist.“ „Ich weiß … Und Olivia, bitte sag den anderen nicht, wohin ich gegangen bin.“ Eugenia eilte durch die Tür in den Hof, um diesen widerlichen Gang so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Sie war es nicht gewöhnt, den Eingang für Sklaven zu benutzen, und wäre beinahe über einen schwarzen Jungen gestolpert, der auf dem Treppenabsatz saß und an einem Stück Holz schnitzte. Als er Eugenia sah, sprang er auf und stand mit angelegten Armen wie ein Soldat in Habtachtstellung da. „Ja, Ma’am?“ „Weißt du, wo ich den Sklaven finde, der mich von der White Oak Plantage hierher gefahren hat?“ „Otis? Ja, Ma’am. Er ist wahrscheinlich im Stall und kümmert sich um Ihr Pferd und Ihre Kutsche.“ Eugenia verspürte eine Welle der Erleichterung angesichts der Tatsache, dass Otis nicht wie so viele andere davongelaufen war – und nicht ihr Pferd gestohlen hatte. „Sag ihm, dass ich ihn sprechen möchte.“ Der Junge rannte über den kahlen Hof zum Stall und erschien eine Minute später zusammen mit Otis. Der Schwarze blieb einige Meter entfernt stehen und nahm seinen Strohhut ab. Er war ein großer, muskulöser Feldarbeiter, und obwohl es Eugenia immer schwerfiel, das Alter eines Sklaven zu 6


schätzen, vermutete sie, dass er um die Dreißig war. Er war ein fügsamer Sklave und hielt den Blick gesenkt, so wie es sich gehörte. „Ja, Ma’am?“ Eugenia wurde mit einem Mal bewusst, dass er ihr nicht mehr gehörte und dass sie kein Recht hatte, ihm irgendwelche Befehle zu erteilen. Sie würde ihn bitten müssen, sie zu begleiten – und Eugenia hatte noch nie in ihrem Leben einen Schwarzen um einen Gefallen gebeten. Sie wappnete sich für seine Weigerung. „Ich muss etwas in der Stadt erledigen, in der Nähe der Paulskirche, und ich glaube, es ist für mich alleine zu gefährlich, dorthin zu gehen. Ich frage mich, ob du mitkommen kannst.“ „Ich war in der Stadt und habe das Durcheinander selbst gesehen, Ma’am. Ich würde ja mit Ihnen hingehen, aber …“ „Aber was?“ Würde er eine Bezahlung verlangen? „Ich hoffe, Sie haben nicht vor, Ihre Kutsche zu nehmen. Wenn die Leute sehen, dass Sie ein Pferd haben, stehlen sie es sofort. Und die Kutsche auch.“ Diese Möglichkeit war Eugenia noch gar nicht in den Sinn gekommen. Das Geschäft, in dem die Lebensmittel ausgeteilt wurden, war mindestens ein Dutzend Häuserblocks entfernt, und sie war es nicht gewohnt, zu Fuß zu gehen. Aber wie sollte sie jemals zu ihrer Plantage zurückgelangen, wenn jemand ihr Pferd stahl? „Dann müssen wir wohl zu Fuß gehen“, sagte sie schließlich. „Hol einen leeren Kartoffelsack, den wir mitnehmen können.“ Sie gingen zwei Blocks bis zur Franklin Street und dann den Hügel hinunter in Richtung Capitol, dessen weißes Dach in der Ferne ebenso zu sehen war wie der Turm der Paulskirche. Je näher Eugenia dem Zentrum von Richmond kam, desto mehr verwandelte sich ihre Umgebung in einen Albtraum. Sie hatte versucht, sich auf die Zerstörung einzustellen, aber es war trotzdem ein Schock. Von den Gebäuden in der verlassenen Geschäftsgegend waren nur noch Skelette übrig mit schwarzen Löchern statt Fenstern, die wie leere Augenhöhlen wirkten. Das Geröll lag kniehoch auf den Straßen. Viele schöne Häuser waren nur noch ein Haufen verkohlter Steine und Balken und schiefer Schornsteine. Das Herz Richmonds – des schönen Richmonds – lag in Trümmern. Otis versuchte, die schlimmsten Gegenden zu umgehen, und führte 7


Eugenia um Berge von Schutt herum und an bröckelnden Mauern vorbei, die aussahen, als könnten sie jeden Augenblick vom Wind umgestoßen werden. Eine kräftige Brise blies Staub und Schlacke in Eugenias Augen und hinterließ einen Geschmack der Zerstörung in ihrem Mund. Ihre Schuhe waren für einen so beschwerlichen Weg nicht gemacht. Sie wurden von dem Ruß ganz schwarz, und wenn sie nicht Trauer getragen hätte, wäre auch der Saum ihres Kleides fleckig geworden. „Warte. Ich muss mich einen Moment ausruhen.“ Eugenia war schwindelig und sie blieb stehen. Die ausgebrannte Ruine, die vor ihr aufragte, war die Bank, mit der ihr Mann Philip Geschäfte gemacht hatte. Was war mit all dem Geld geschehen? Mit den Unterlagen der Bank? Wenigstens waren die Paulskirche und das Capitol auf der anderen Seite des Platzes noch unbeschädigt. Der Anblick munterte sie auf, bis sie die verhasste Flagge der Union auf dem Dach des Capitols flattern sah. Der Rasenplatz vor dem Gebäude war von einem Meer aus blauen Uniformen bevölkert. Eugenia wandte den Blick ab und presste eine Faust an ihre Brust, während ihr Herz sich schmerzhaft zusammenzog. War der Krieg umsonst gewesen? Waren Philip und ihr Sohn Samuel für nichts und wieder nichts gestorben? Sie dachte an die Worte in einem von Tante Hatties Psalmen, in dem Israels Niederlage gegen seine Feinde beklagt wurde, und noch nie waren ihr die Worte so quälend angemessen erschienen. „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“ Sie holte tief Luft und ging weiter, vorbei am Capitol Square und in Richtung Broad Street auf das Lebensmittelgeschäft zu. Die Menschenschlange davor erstreckte sich beinahe über zwei Häuserblocks. Eugenia atmete tief ein, als sie ihren Platz am Ende der Schlange einnahm, und stellte bestürzt fest, dass alle möglichen zwielichtigen Leute sich mit ihr anstellten – weißer Abschaum und Barmädchen, wertlose Bettler und Schwarze – Leute, mit denen Eugenia noch nie Umgang gehabt hatte. Sie schluckte die Wut hinunter, die sie angesichts der Tatsache empfand, dass sie auf Wohltätigkeiten angewiesen und deshalb gezwungen war, mit ihnen zusammen in einer Schlange zu stehen. Die drängelnde Menschenmenge schob sie jedes Mal weiter, wenn die Schlange sich bewegte, und einen Augenblick lang verlor sie das Gleichgewicht und fiel gegen ihren Diener. Er fasste ihren Arm, um sie zu stützen, dann zog er die Hand schnell wieder zurück. 8


„Tut mir leid, Ma’am! Entschuldigung! Sind Sie in Ordnung?“ „Mir geht es gut.“ Aber Tränen der Wut und Demütigung brannten in ihren Augen. Eugenia hätte nie gedacht, dass sie einmal so tief sinken würde. Sie wandte den Blick von den schmutzigen Leuten ab, die sich um sie drängten, und schwor sich insgeheim, dass sie nie, nie wieder so tief sinken würde. Ihre Würde sollte das Allerletzte sein, was die Yankees ihr jemals nehmen würden. „Ich brauche Lebensmittel für meinen ganzen Haushalt“, sagte sie zu dem Angestellten, als sie an der Reihe war, „und zu essen für die … Diener.“ Sie hätte sie beinahe Sklaven genannt. „Wie viele Personen?“ „Acht. Mein Diener kann Ihnen sagen, wie viele Schwarze wir noch haben.“ Sie zeigte auf Otis. „Eine Handvoll“, sagte er mit einem Schulterzucken. „Und ein paar Kinder.“ Zu spät wurde Eugenia bewusst, dass er wahrscheinlich nicht zählen konnte. Der Angestellte griff hinter sich und hob einen Beutel Maismehl auf den Tisch. Dann fügte er Tüten mit Mehl, getrockneten Bohnen und Reis hinzu, eine Portion gesalzenes Schweinefleisch und ein fettiges Paket Schmalz. Er schnitt Grimassen, während er arbeitete. Otis tat alles in den Kartoffelsack und warf ihn sich über die Schulter. Eugenias Werk war getan. Sie ging, ohne dem Yankee dafür zu danken, dass er ihr zurückgab, was von Rechts wegen ihr gehörte. Sie musste mehrmals stehen bleiben und Luft holen, als sie Church Hill hinaufgingen. In der Sonne war es für den Schal zu warm geworden und Eugenia war schwach vor Hunger. Als sie endlich zu Hause angekommen waren, hielt Otis sie vor der Hintertür auf. „Kann ich Sie etwas fragen, Ma’am?“ Er starrte auf seine abgenutzten Schuhe hinunter, anstatt Eugenia anzusehen. „Ja? Was ist denn?“ „Alle sagen, dass wir jetzt frei sind, und ein paar von den anderen sagen, sie wollen nicht mehr für Miz Olivia arbeiten.“ „Und ich nehme an, du willst auch gehen?“ „Na ja … ich habe Massa Philip versprochen, dass ich auf Sie und Missy Josephine und Missy Mary aufpasse, während er weg ist. Er hat gesagt, wenn ich das tue, wird er meinen beiden Jungen die Freiheit schenken, 9


wenn er wiederkommt – obwohl sie ja wohl jetzt sowieso frei sind. Ich habe mein Versprechen gehalten und Ihnen allen geholfen, nach Richmond zu kommen, aber jetzt vermisse ich meine Frau und Familie ganz schrecklich. Ich möchte nach White Oak zurück und nachsehen, ob es ihnen gut geht.“ „Und wie willst du dorthin gelangen?“ „Ich werde wohl nach Hause laufen, Ma’am.“ Nach Hause. Diese Worte riefen in Eugenia Sehnsucht nach der Heimat wach und ihr kamen die Tränen. Sie hob das Kinn, fest entschlossen, keine Schwäche zu zeigen. „Du brauchst nicht zu laufen, Otis. Wenn du noch ein paar Tage warten kannst, fahren wir alle zurück. Du kannst die Kutsche für uns lenken.“ Ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht. „Ja, Ma’am. Das würde ich gerne.“ Eugenia würde nach Hause fahren. Sie wollte ihrer Schwester sofort ihre Entscheidung mitteilen und fand Olivia allein im Vormittagssalon, wo sie an ihrem Schreibtisch saß. „Du bist wieder da!“, sagte Olivia und sprang auf. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Ist alles gut gegangen?“ Eugenia nickte. „Wir haben genug zu essen für zwei Wochen. Aber hör zu. Ich habe beschlossen, nach White Oak zurückzukehren.“ „Aber Eugenia, du kannst nicht gehen! Es ist viel zu gefährlich! Die Yankeesoldaten sind überall und dazu alle möglichen Vagabunden, die herumstreunen. Flüchtlinge und Schwarze und –“ „White Oak ist mein Zuhause. Dort gehören die Mädchen und ich hin.“ Sie durchquerte den Raum und ergriff die Hand ihrer Schwester mit flehendem Blick. „Du musst doch verstehen, wie ich mich fühle, Olivia. Du wolltest dein Haus auch nicht verlassen, also bist du selbst während der schlimmsten Zeit hiergeblieben, als alle gesagt haben, es sei zu gefährlich zu bleiben. Jetzt habe ich auch vor, nach Hause zu gehen, egal, was alle sagen. Ich werde darauf vertrauen, dass der Allmächtige uns beschützt.“ „Aber überleg doch, Eugenia. Wie viele Sklaven hattest du? Mehrere Dutzend? Was ist, wenn sie sich gegen dich wenden?“ „Philip hat sie immer gut behandelt. Ich bezweifle, dass sie gefährlich sind. Mein Diener hat mir gerade erzählt, dass er auf die Mädchen und mich aufgepasst hat, weil er es Philip versprochen hat.“ 10


Olivia zog ihre Hand fort. „Sei nicht naiv. Wer weiß, was deine anderen Schwarzen für Pläne geschmiedet haben, während du weg warst.“ „Trotzdem reise ich ab, Olivia. Die Mädchen und ich gehen –“ „Wohin, Mutter? Wohin gehen wir?“ Eugenia wandte sich um und sah Josephine in der Tür stehen. „Nach Hause, Liebes. Wir fahren zurück nach White Oak.“

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Tamera Alexander Geliebte Fälscherin ISBN 978-3-86827-365-6 496 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2013

New Orleans 1866: Claire Laurent träumt von einem Leben als bekannte Malerin. Doch ihr Vater zwingt sie dazu, berühmte Gemälde zu fälschen und mit der Signatur des jeweiligen Künstlers zu versehen. Eines Tages gelingt Claire die Flucht. Nun allerdings steht sie vor dem Nichts: Sie ist allein in Nashville, einer ihr unbekannten Stadt, hat kein Geld, keine Arbeit und aufgrund unglücklicher Verwicklungen noch nicht einmal mehr etwas zum Anziehen. Ihre Lage scheint aussichtslos. Doch dann hört Claire, dass Mrs Adelicia Acklen, die Besitzerin der reichsten Plantage in der Gegend, eine Privatsekretärin sucht. Und wider alle Erwartungen ergattert Claire den Job. Plötzlich blickt sie einer vielversprechenden Zukunft entgegen. Und selbst ein Liebesglück zeichnet sich am Horizont ab. Wäre Mrs Acklen nur nicht eine passionierte Kunstsammlerin. Und wäre nur der Mann ihrer Träume nicht ausgerechnet der Anwalt, der nach einem umtriebigen Kunstfälscherring fahndet … 12


Französisches Stadtviertel, New Orleans, Louisiana 7. September 1866 Claire Laurent betrachtete die Leinwand auf der Staffelei vor sich und obwohl Meisterwerk zu hoch gegriffen wäre, um das Bild zu beschreiben, wusste sie doch, dass es ihr bislang bestes Gemälde war. Warum war sie dann so enttäuscht? Weil es ein gemeiner Betrug war und unter ihren Reifröcken und Spitzen winzige Schweißperlen über ihre Haut liefen. Während sie mit einer Hand durch ihre Locken fuhr und mit der anderen den mit Farbe getränkten Pinsel in einen Becher Terpentin tauchte, wusste sie ganz genau, was der Grund für ihre Enttäuschung war. Dieses Wissen verstärkte ihre Schuldgefühle noch mehr. Ihr Blick wanderte zur rechten unteren Ecke der Leinwand, zu der Stelle, die für die Signatur des Künstlers reserviert war. Sie hatte sich noch nicht überwinden können, dieses Bild zu signieren. Nicht mit diesem Namen. Denn von allen Landschaftsbildern, Stillleben und Porträts, die sie gemalt hatte, hatte sie bei keinem das Gefühl gehabt, es wäre ihres. Bis zu diesem Bild. Ein Windhauch, feucht und schwer mit der untrüglichen Ankündigung von Regen, wehte durch das offene Fenster in ihr Zimmer im ersten Stock. Sie warf einen Blick aus dem Fenster über die Stadt und atmete die salzige Luft ein, die vom Golf herübergeweht wurde. Sie betrachtete das Vieux Carré unter sich, den Alten Platz, den sie schon so oft gemalt hatte, dass sie die Augen schließen und trotzdem jedes Detail sehen konnte: Die pastellfarbenen Gebäude, die sich dicht nebeneinander drängten und die engen Straßen säumten, während ihre Balkone aus kunstvollem, schwarzem Schmiedeeisen mit leuchtenden Blüten in den Farben des Spätsommers wie hängende Körbe an den Häusern prangten. Diese Kombination verlieh diesem Stadtteil einen Charme und eine Schönheit, die einzigartig waren. Kein Wunder, dass sie sich so schnell in New Orleans verliebt hatte, auch wenn die letzten Monate sehr schwer gewesen waren. Das gleichmäßige Ticken der Uhr auf dem Kaminsims machte ihr bewusst, dass die Sekunden verstrichen. Sie atmete langsam aus. Dann erhob sie sich von ihrem Hocker und streckte sich. Sie merkte, dass sie an den letzten Tagen zu spät schlafen gegangen und zu früh aufgestanden 13


war, aber das hatte sich nicht vermeiden lassen. Um dieses Gemälde fertigzustellen, hatte sie länger gebraucht, als sie angenommen hatte. Viel länger, wie ihr Vater sie immer wieder erinnerte. Es war schon fast halb drei und sie musste „die Galerie spätestens um drei Uhr verlassen“, hatte ihr Vater verlangt. Sie wusste, dass sie sich von seiner Forderung nicht beirren lassen sollte. Es war nicht das erste Mal, dass er von ihr verlangte fortzugehen, während er mit Kunden der Galerie „sprach“. Es war auch nicht so, dass sie nicht gewusst hätte, was er in dieser Zeit machte. Woraus ihr Familienunternehmen bestand. Seine zunehmende Gereiztheit in den letzten Wochen hatte ihre Einstellung ihm gegenüber auch nicht verbessert. Obwohl er bestimmt kein sanfter Mann war, hatte er trotzdem normalerweise keine so scharfe Zunge. Aber in den letzten Tagen war schon mancher Blick von ihm messerscharf gewesen. „Claire Elise? Où es-tu?“ Sie erstarrte, als sie seine Stimme hörte. „Oui, Papa. Ich bin hier oben.“ Sie warf einen Blick auf die Leinwand hinter sich und rang mit dem lächerlichen Wunsch, sie zu verstecken. Irgendwie wollte sie nicht, dass er das Bild sah. Noch nicht. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde er es überhaupt nicht sehen. Vielleicht könnte sie ihm erzählen, dass es noch nicht fertig sei. Aber ihr Vater brauchte nur einen einzigen Blick auf sie zu werfen und wusste die Wahrheit. Sich zu verstellen und zu lügen war eine Kunst, die sie noch nie beherrscht hatte. Im Gegensatz zu ihm. Die eiligen Schritte auf der Treppe verrieten ihr, dass sie nicht genug Zeit hatte, um das Gemälde hinter dem Kleiderschrank zu verstecken. Ein Tuch darüber zu werfen kam nicht in Frage, da die letzten Pinselstriche erst wenige Minuten alt waren. Vielleicht würde er ihr erlauben, das Bild zu behalten, wenn sie ihm erklärte, wie viel dieses spezielle Gemälde ihr bedeutete. Aber sie hatte das Gefühl, dass ein solches Gespräch ähnlich verlaufen würde wie das Gespräch vor einem halben Jahr nach dem Tod ihrer Mutter, als sie ihm so deutlich, wie sie es gewagt hatte, erklärt hatte, dass sie nicht mehr „so“ malen wollte. Ihr Vater hatte sie nie geschlagen, aber in diesem Moment hatte sie gespürt, dass er das am liebsten getan hätte. Sie hatte es nicht gewagt, das Thema noch einmal anzusprechen. Bis jetzt. 14


„Ah …“ Seine Schritte blieben an der Tür hinter ihr stehen. „Endlich. Bist du endlich fertig?“ Sein Tonfall war weniger scharf als am Morgen und verleitete sie zu der Hoffnung, dass sich seine Stimmung gebessert haben könnte. „Ja … ich bin fertig.“ Sie wappnete sich gegen seine Reaktion und seine harsche Kritik und trat zur Seite. Ihre Nerven und ihr ganzer Körper waren angespannt. Er starrte das Bild an. Dann blinzelte er. Einmal, zweimal. „Jardins de Versailles. Schon wieder.“ Ein Muskel an seinem Kinn zuckte. „Das ist nicht das Bild, das wir besprochen haben.“ Er schaute sie an, dann wanderte sein Blick wieder zur Leinwand. Seine konzentrierte Miene verriet, dass er das Bild streng begutachtete. „Aber … es zeigt eine gewisse Verbesserung.“ Claire spürte, wie ihre Nerven sich bei diesem leisen Hauch eines Lobs entspannten. Bis sie es sah ... Dieses bekannte Funkeln in seinen Augen. Ihr Vater schätzte Kunst. Auf seine Weise. Aber in seinem Herzen war er Geschäftsmann. Sein Stolz auf ihr künstlerisches Talent blieb im Wettstreit mit dem Profit, den er durch den Verkauf ihrer Bilder zu machen hoffte, hoffnungslos auf der Strecke. Ihre Bilder … Die Ironie dieses Gedankens drückte wie ein schwerer Stein auf ihre Brust, ließ aber einen unerwarteten – und gefährlichen – Anflug von Mut in ihr aufkeimen. „Papa, ich …“ Die Worte blieben ihr im Halse stecken, da ihre Kehle wie zugeschnürt war. Dabei schaute er sie noch nicht einmal an. „Ich muss mit dir über etwas sprechen. Über etwas, das für mich sehr wichtig ist. Ich weiß, dass du nicht …“ Seine Hand fuhr in die Höhe, woraufhin sie erschrocken zusammenzuckte. Aber er schien ihre Reaktion gar nicht zu bemerken. „Das ist nicht das Landschaftsbild, das du dieses Mal malen solltest. Es ist auch nicht so, wie ich es dem Kunden beschrieben habe, aber …“ Er betrachtete ihre Wiedergabe des Palastes von Louis XIV und der umliegenden Gärten und stieß dann einen theatralischen Seufzer aus. „Da uns keine Zeit bleibt und da dieser Kunde unbedingt einen François-Narcisse Brissaud besitzen will, muss das genügen.“ Er nickte kurz, als ringe er selbst in diesem Moment mit seiner Entscheidung. 15


„Ja. Ich bin sicher, dass ich ihn vom Wert dieses Bildes überzeugen kann.“ Er grinste höhnisch. „Schließlich schicken die größeren Pariser Galerien öfter das falsche Bild. Aber das nächste Mal, Claire …“ Er schaute mit strengem Blick auf sie hinab. „… musst du bis ins kleinste Detail das Bild malen, auf das wir uns geeinigt haben.“ Claire schaute ihn fragend an. Seine Worte schmerzten sie in vielerlei Hinsicht. Aber am meisten störte sie eines. „Du hast schon einen Käufer für dieses Bild? Obwohl er es noch gar nicht gesehen hat?“ Ein befriedigtes Lächeln zuckte um seinen Mund, als sein Blick zu ihrem Bild zurückwanderte. „Ich habe dir doch gesagt, dass es dazu kommen würde. Es spricht sich herum. Nach zwei Jahren unermüdlicher Arbeit bekommt unsere bescheidene kleine Galerie endlich die Anerkennung in dieser Stadt, die sie verdient. Und auch das Vertrauen unserer Kunden, wie ich es vorhergesehen hatte. Das alles brauchte nur seine Zeit. Und mein Verhandlungsgeschick. Obwohl ich zugeben muss, wenn ich deine Mischung aus helleren und dunkleren Schattierungen sehe und wie du die Farben im Garten dieses Mal ineinander übergehen lässt, dass du dir meinen Rat zu Herzen genommen hast.“ Claire erwiderte nichts, da sie gelernt hatte, dass sie am besten schwieg, wenn er davon sprach, dass sie seinen Rat befolgen sollte. Seine Miene wurde versöhnlicher. „Wenn ich näher herangehe …“ Er tat, was er sagte. „… bin ich fast sicher, dass ich einen Hauch von Fliederduft in der warmen Mittagssonne rieche.“ Er erstarrte. Ihre Augen folgten seinem Blick zur linken unteren Ecke des Bildes. Das Detail war unauffällig und so subtil, dass man es leicht übersah, wenn man nicht genau hinschaute. Deshalb überraschte es sie nicht, dass er so lang gebraucht hatte, um es zu bemerken. „Abella.“ Seine Stimme war kaum hörbar, und der Name ihrer Mutter auf seinen Lippen klang mehr nach einem Gebet als alles andere, was Claire je aus seinem Mund gehört hatte. Nicht dass sie schon viele Gebete gehört hätte und ganz bestimmt nicht von ihm. „Du hast sie gemalt“, flüsterte er. Tränen brannten in Claires Augen. Sie war erschüttert, weil seine Stimme plötzlich leiser geworden war und gestockt hatte und weil sie die Frau in dem Bild so sehr vermisste. Sie hatte ihre Maman barfüßig auf dem gepflasterten Weg gemalt, halb hinter einem Fliederbusch 16


versteckt und mit einem Blumenkorb am Arm. Ihr Kinn war leicht gehoben, als suche sie jemanden. Ihre langen, kastanienbraunen Locken, die sich in Claires eigenen Haaren widerspiegelten, bewegten sich im leichten Wind. Claire starrte das Bild ihrer Mutter an, bis die zarten Pinselstriche in einem Farbenmeer verschwammen. Zehn Jahre waren seit jenem Nachmittag in Versailles vergangen, seit ihrem letzten Besuch im Palastgarten, bevor sie Paris und Frankreich für immer verlassen hatten. Sie war damals neun gewesen, aber die Erinnerungen an Nachmittage, die sie dort mit ihren Eltern verbracht hatte, hatten sich tief in ihr eingegraben und waren in ihren Sinnen immer noch sehr lebendig. „Sie war so schön.“ Die Stimme ihres Vaters zitterte und klang viel erschöpfter, als es seine zweiundvierzig Jahre vermuten ließen. Er hob die Hand, als wollte er das Bild berühren, doch dann hielt er inne. Seine Hand zitterte. Sie schaute das Bild wieder an. „Ich hatte nicht vor, sie in dem Bild zu malen, Papa. Sie ist einfach aus meiner Pinselspitze aufgetaucht.“ Er schwieg einen langen Moment. Dann atmete er langsam aus. „Die Aussage eines Gemäldes muss zuerst im Herzen des Künstlers geboren werden, bevor sie auf der Leinwand zum Leben erwachen kann.“ Claire spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Diese Worte waren die erste Lektion ihrer Mutter gewesen. In einer längst vergangenen Zeit. Sie konnte kaum glauben, dass er sich noch daran erinnerte. Sie hingegen erinnerte sich an alles, was ihre Mutter sie gelehrt hatte. Wenn sie nur Abella Laurents Begabung geerbt hätte! Ihre Mutter hatte behauptet, dass sie sie geerbt hätte. Und sogar noch viel mehr Talent besäße als sie selbst. Aber ihr Vater stellte immer wieder klar, dass dem nicht so war. Er sagte es natürlich nie direkt: Dass nichts, was sie machte, je gut genug wäre. Aber sie wusste trotzdem, dass er das dachte. Sie hörte es aus dem heraus, was er nicht sagte. Die Hand ihres Vaters bewegte sich langsam und in einem kurzen Tagtraum stellte sich Claire vor, er würde ihre Wange streicheln, wie sie sich das immer von ihm gewünscht hatte. Ihre Mutter hatte gesagt, dass er das früher getan habe, aber so weit zurück reichte Claires Erinnerung nicht. Sie hielt den Atem an und fühlte sich gar nicht mehr erwachsen, sondern viel mehr wie ein einsames Kind. 17


Er wandte sich ab. „Ich vermisse sie auch“, flüsterte er. „Glaube nie, ich würde sie nicht vermissen.“ Claire kam sich töricht vor und sagte sich, dass sie es besser hätte wissen müssen. Sie senkte den Kopf, um ihren Schmerz zu verbergen. „Das glaube ich auch nicht, Papa.“ In früheren Jahren hatte es Zeiten gegeben, in denen sie die Liebe zwischen ihren Eltern in Frage gestellt hatte. Hauptsächlich die Liebe ihres Vaters zu ihrer Mutter. Besonders in ihren letzten Tagen, als immer offensichtlicher geworden war, dass die Medikamente nicht halfen und dass die Ärzte die Hoffnung aufgegeben hatten. Damals hatte Claire ihn angefleht, ihre Mutter in ein Sanatorium zu schicken. „Leute wie Maman gehen dorthin und einige von ihnen werden wieder gesund“, hatte sie zu ihm gesagt. Aber er hatte mit einem Wutanfall reagiert. „Diese Sanatorien kosten Geld, Claire Elise! Geld, das wir nicht haben. Es sei denn, du kannst an ihrer Stelle malen. Schneller und besser, als du bis jetzt malst.“ Und so hatte sie monatelang Tag und Nacht gearbeitet und sich um ihre Mutter gekümmert, während ihre Mutter sie weiterhin unterwies – wie immer, seit Claire ein kleines Mädchen gewesen war. Manchmal vom Bett aus, wenn sie zu schwach war, um zu sitzen oder zu stehen. Aber am Ende hatte Papa sich trotzdem nicht umstimmen lassen, so sehr Claire ihn auch angefleht und so viel sie auch gemalt hatte. Schließlich war ihre Mutter hier in diesem Zimmer gestorben. Ihr Vater räusperte sich. „Zu deinem Glück hat Brissaud bei den siebzehn Bildern, auf denen er die Jardins de Versailles gemalt hat, jedes Mal ein anderes Detail eingebaut.“ Claire nickte, da ihr das sehr wohl bewusst war. Ihr war auch bewusst, dass jedes der siebzehn Originalbilder der Jardins de Versailles – plus die vier, die sie vor diesem Bild gemalt hatte – im Umlauf war. Falls je jemand eine Gelegenheit fand, diesen vier, bald fünf, stolzen Besitzern eines „Originals“ von François-Narcisse Brissaud, die sie in der Galerie für europäische Meisterwerke in New Orleans gekauft hatten, Details über die anderen siebzehn Gemälde zu verraten ... Ihr Vater deutete zur Uhr auf dem Kaminsims und warf ihr einen vielsagenden Blick zu, bevor er wieder die Treppe hinabging. Claire holte ihre Handtasche und wollte ihm folgen, doch dann warf sie noch einmal einen Blick auf das Bild hinter sich. Ohne über die Konse18


quenzen nachzudenken, nahm sie einen Pinsel, tauchte ihn in die Farbe und signierte das Porträt mit ihrem Namen, auch wenn ihre Hand dabei zitterte. Sie würde das später ändern müssen, das wusste sie. Aber im Moment gab es ihr ein gutes Gefühl, ihren Namen auf etwas zu sehen, auf das sie so stolz war. Ein wenig Genugtuung verschaffte ihr auch das Wissen, dass es Papa nicht gefallen würde. Es fühlte sich sogar ein wenig rebellisch an.

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Gina Holmes Wo mein Gestern dein Heute berührt ISBN 978-3-86827-364-9 272 Seiten, gebunden erscheint im Januar 2013

Eigentlich wollte Jenny Lucas nie mehr zurückschauen. Doch als bei der alleinerziehenden Mutter eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert wird, kehrt sie mit ihrer kleinen Tochter Isabella ins Haus ihres distanzierten Vaters zurück. Gut, dass es da noch Großmutter Peg gibt, die Jenny und Isabella liebevoll und mit viel Humor willkommen heißt. Wenn Jenny jetzt nur nicht David, ihrer inzwischen verheirateten Jugendliebe, beibringen müsste, dass er Isabellas Vater ist. Und wenn da nur Craig nicht wäre, der fest entschlossen scheint, ihr Herz zu erobern. Eines ist Jenny klar: Nie zuvor war es so wichtig, dass sie die richtigen Entscheidungen trifft – für ihre kleine Tochter, für sich selbst, für die Ewigkeit. 20


Ich lag schon fast zwei Stunden im Bett, doch der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Ich zählte die Umdrehungen des Deckenventilators und fragte mich, wie ich David beibringen sollte, dass er eine fünfjährige Tochter hatte. So unmöglich es mir damals vorgekommen war, die Worte ich bin schwanger auszusprechen, so viel schlimmer war es jetzt, nachdem er Isabellas erstes Lächeln, den ersten Schritt, das erste Wort verpasst hatte. Würde er mich hassen? Ich hatte es verdient. Ich drehte mich auf den Bauch, stützte mich auf die Ellenbogen und sah auf zu dem gerahmten Kunstwerk, das schon lange meine Rock-Poster ersetzt hatte. Ein junges Paar schlenderte händchenhaltend einen sonnenüberfluteten Strand entlang. Ich verfluchte ihr Glück und drehte mich wieder um. Dann zerknüllte ich eine Ecke meines Kissens und ging in Gedanken die Ausreden durch … Weißt du noch, David, der Abend damals im Auto? Ich wollte es dir gerade erzählen, als du mit mir Schluss machtest. Du sagtest, das mit uns könne nicht funktionieren. Du hast mir erzählt, unsere Väter kämen niemals miteinander klar. Du hast mir gesagt, du teiltest nicht meinen Wunsch nach einer Familie. Wie hätte ich dir da sagen können, dass du Vater wirst? Als unsere Kleine geboren war, habe ich dich aus dem Krankenhaus angerufen, während ich sie im Arm hielt. Ich konnte es kaum erwarten, dir zu zeigen, was wir zustande gebracht hatten, doch dein Anrufbeantworter sprang an und ich hörte: „David und Lindsey Preston können Ihren Anruf gerade nicht entgegennehmen …“ Ich wusste nicht, dass du geheiratet hattest. Es war doch noch nicht mal ein Jahr her, seit wir uns getrennt hatten. Du kannst dir meinen Schock nicht vorstellen, das Gefühl des Verratenseins, den Schmerz … ich wollte dir keine Probleme bereiten … ich konnte nicht … Ich beendete den Versuch eines Nickerchens und einer Verteidigungsrede und zwang mich, aufzustehen. Trotz der Last meiner Sorgen entspannte ich mich merklich, als der Duft von gebratenen Hähnchen und gebackenen Brötchen durch das Haus wehte. Die Kochkünste meiner Großmutter verhießen Gutes. Ich ging um den Esstisch herum und verteilte die Teller. Plötzlich berührte mich eine Hand an der Schulter und ich hätte vor Schreck beinahe die letzten beiden Teller fallen lassen. Sie schlugen mit lautem Geklirr an21


einander. Als ich über die Schulter blickte, sah ich einen blonden Mann, der mich mit einem Stirnrunzeln musterte. „Tut mir leid, Jenny. Ich wollte dir keine Angst einjagen.“ Er war ein Mann, den ein Mädchen normalerweise nicht so schnell vergessen würde, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht an ihn erinnern. „Du hast mich erschreckt“, sagte ich. „Wow, du siehst immer noch genauso aus.“ Genauso wie wann? Verzweifelt durchforschte ich meine Erinnerung. Groß, schlank, etwa mein Alter … „Du weißt nicht mehr, wer ich bin, oder?“ „Tut mir leid“, sagte ich, und es tat mir wirklich leid. Er nahm mir die Teller ab, ging um den Tisch herum und stellte sie hin. „Wir waren zusammen in Hargrove. In derselben Abschlussklasse.“ Ich zermarterte mir das Hirn. „Ich fasse es nicht, dass du dich nicht an mich erinnerst.“ Er sagte es mit einem humorvollen Glitzern in den Augen, das ich nicht verstand. „Und wie ist es jetzt?“ Er plusterte die Backen auf, als hätte er den Mund voll Wasser, und ließ dann langsam die Luft wieder entweichen. Ich fühlte mich plötzlich etwas unsicher in seiner Gegenwart und trat einen Schritt zurück. Vielleicht war er ja einfach von der Straße hier hereinspaziert. Vielleicht war ja nicht ich diejenige, die verwirrt war. Er runzelte wieder die Stirn und streckte eine Hand aus, als wolle er mich am Weglaufen hindern. „Ich bin’s, Craig Allen.“ Ich musterte ihn von Kopf bis Fuß. Trotz seines weiten blauen FootballShirts ließ sich erkennen, dass er gut gebaut war. Der einzige Craig Allen, den ich gekannt hatte, war ein aufgedunsener Junge gewesen, schüchtern und pickelig. Das konnte er nicht sein. Ich erforschte seine Augen und erkannte, dass sie noch immer das gleiche lebendige Haselnussbraun hatten wie damals, als sie unter dicken Fettschichten hervorlugten. „Du hast aber abgenommen“, brachte ich hervor. Er kicherte. „Meinst du?“ Ich errötete. „Was machst du eigentlich hier?“ „Ich wohne hier.“ „Ja?“ „Ich habe das Loft gemietet.“ 22


„Loft?“ „Die Wohnung über der Scheune.“ „Über der Scheune ist eine Wohnung?“ „Du solltest wirklich mehr mit deiner Familie in Verbindung bleiben.“ An seinem Grinsen erkannte ich, dass seine Worte als Scherz gemeint waren, aber die Wahrheit, die sie in sich trugen, schmerzte mich. „Danke für den Hinweis, Craig. Schön, dich wiederzusehen.“ „Ich danke dir fürs Tischdecken. Normalerweise ist das meine Aufgabe.“ Ich wusste zwar, dass es irrational war, aber ich spürte einen Stich Eifersucht. Hier war ein Mann in meinem Alter, der im Haus meines Vaters wohnte, bei meiner Familie aß und meinen Tisch deckte. Es war, als habe er meinen Platz eingenommen. Ich wusste natürlich, dass das Leben hier auch ohne mich weitergegangen war, doch das alles war mir im Moment einfach zu viel. Ich presste meine Lippen zusammen und bekämpfte den plötzlichen Wunsch, zu schreien. Craig zu schlagen. Etwas kaputt zu machen. Wir saßen uns gegenüber, Craig und ich, dazu Mama Peg an einem Ende des rechteckigen Tisches und mein Vater am anderen. Isabella zog ihren Stuhl so nah an seinen heran, dass er für seinen rechten Ellenbogen kaum noch Platz hatte. Eiswürfel klirrten in meinem Glas, als ich einen Schluck süßen Tee trank. „Bella, mach deinem Großvater etwas mehr Platz.“ Sie sah mich böse an. Ich stemmte mich hoch, um aufzustehen, doch Mama Peg packte mich am Arm. „Das macht ihm sicher nichts aus. Oder, Jack?“ Mein Vater starrte sie mit zusammengepressten Lippen an. „Nein, überhaupt nicht.“ Isabella grinste triumphierend zu mir herüber. Das gedämpfte Licht des Kronleuchters warf seltsame Schatten auf ihre Gesichtszüge und ließ sie wie ein fremdes Kind erscheinen. Mit meiner Gabel ordnete ich die Erbsen auf meinem Teller zu einem finsteren Gesicht. Das Klappern von Besteck und ein gelegentliches Husten von Mama Peg waren die einzigen Geräusche beim Essen. Craig warf Isabella neu23


gierige Blicke zu, während ich wiederum ihm neugierige Blicke zuwarf. Düsteres Schweigen lastete auf dem Raum, und irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich schob meinen unberührten Teller zur Seite. „Und, Craig, wie ist es dir denn in den letzten Jahren so ergangen?“ Er war gerade dabei gewesen, eine ordentliche Portion Kartoffelbrei zum Mund zu führen, hielt aber gerade noch inne und sah mich an. „Richtig gut. Ich habe jetzt mein eigenes Unternehmen. Landschaftsgestaltung.“ „So etwas wie Rasenmähen und so?“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Ähm, nein. Dafür habe ich meine Leute. Ich bin eher ein Künstler und Gestalter.“ „Ah, du schneidest Tierformen aus Hecken? Das hat mir schon immer …“ Mama Peg und mein Vater tauschten einen vielsagenden Blick. Craig sah mich an, als müsse er abwägen, ob ich Scherze mache oder einfach nur begriffsstutzig sei. Sein gereizter Ton und die roten Flecken auf seinem Hals sagten mir, dass ich übers Ziel hinausgeschossen war. „Nicht unbedingt. Ich bin Landschaftsarchitekt.“ Es passte mir nicht, dass er beleidigt war, aber um des lieben Friedens willen entschuldigte ich mich. Wieder senkte sich Stille über den Raum, bis Isabella fragte, ob sie aufstehen dürfe. Sie hatte fast ihren ganzen Teller leer gegessen, bis auf ein paar vereinzelte Erbsen und ein Brötchen. Ihr Kinderkoffer lehnte an der Ahornkommode. Sie nahm ihn am Griff und zerrte ihn verkehrt herum über den Teppich, sodass die kleinen schwarzen Räder nutzlos zur Decke zeigten. Ich wollte gerade etwas dazu sagen, überlegte es mir aber anders. Sie räumte ihre Spielsachen aus, wodurch die drückende Stille etwas aufgelockert wurde. Mama Peg griff nach dem Glaskrug mit Tee und Craig räusperte sich missbilligend. Ihre Blicke trafen sich. Verschnupft stellte sie den Krug wieder ab. Der Tee wirbelte heftig im Inneren herum und ein Spritzer Tee lief an der Außenseite der Kanne hinab. Ich nahm den Krug, schenkte ihr noch ein Glas ein und blickte Craig fragend an, während ich den Krug abstellte. Craig verschränkte die Arme und starrte meine Großmutter an. „Genießen Sie Ihr letztes Glas von dem echten Zeug, Peggy. Ab jetzt gibt es nur noch teeinfreien Tee.“ Seit wann war er denn der Hüter meiner Großmutter? Ich knallte meine 24


Leinenserviette auf den Tisch. „Sie ist eine erwachsene Frau. Wenn sie den ganzen Krug austrinken will, dann …“ „Jenny“, begann Mama Peg. „Nichts da! Wofür hält er sich eigentlich?“ Schuldbewusst stellte sie das Glas ab. „Er tut nur, worum ich ihn gebeten habe.“ Mein Zorn wich der Verwirrung. „Was?“ „Der Arzt meinte, ich solle nur ein Glas pro Tag trinken – wegen meines Herzrasens.“ Ich wandte mich zu Craig. „Herzrasen?“ „Die Medikamente machen deine Großmutter ganz unruhig, und wenn sie dann noch zu viel Koffein oder Tee zu sich nimmt, bekommt sie Herzrasen. Der Arzt hat gesagt, wenn sie keinen Herzschrittmacher haben will, dann darf sie nur ein Glas Tee am Tag trinken. Sie bat mich, ihr zu helfen, darauf zu achten.“ Mein Magen verkrampfte sich und ich ärgerte mich darüber, dass ich so dumm gewesen war. Mein Hals war wie zugeschnürt. Alles, was ich in den vergangenen sechs Jahren durchgemacht hatte, lastete plötzlich so schwer auf mir, dass ich kaum mehr atmen konnte. Verräterische Tränen verschleierten mir den Blick. Als ich meinen Mund öffnete, um eine Ausrede für meine Tränen zu finden, kam nur ein ersticktes Schluchzen heraus. Ich schämte mich und rannte hinaus. Unschlüssig, wohin ich mich zurückziehen sollte, lehnte ich mich draußen an die Hauswand. Ich weinte über meine Lebensumstände. Lachte über mich selbst. Fragte mich, ob das Erste, das ich verlieren würde, mein Verstand wäre. Nach wenigen Minuten stand Craig neben mir. „He, tut mir leid“, sagte er. Da ich zweifellos mittlerweile schöne Waschbäraugen hatte, versuchte ich, mir den nassen schwarzen Lidschatten wegzuwischen. Jetzt verunzierten schwarze Spuren meine Finger. „Was tut dir leid?“ „Ich habe keine Ahnung. Ich sage einfach immer irgendetwas, womit ich die Frauen aufrege.“ Er steckte die Hände in die Jeanstaschen. „Es lag nicht an dir. Ich mache gerade eine Menge durch und benehme mich absolut unmöglich. Ich bin diejenige, die sich entschuldigen sollte.“ Er atmete hörbar erleichtert aus. „Willst du darüber reden?“ 25


Da fiel mir eine Begebenheit vor vielen Jahren ein, als er mich dasselbe gefragt hatte. In der neunten Klasse. Ich hatte gerade erfahren, dass ich nicht in die Cheerleader-Gruppe aufgenommen worden war. Ich stand an der Absperrkette zum Fußballfeld. Während meine Klassenkameraden plauderten und lachten, weinte ich stumm in meinen Ärmel hinein. Ich hatte gedacht, niemand hätte es bemerkt. Der jüngere Craig hatte mich damals gefragt, ob ich darüber reden wolle, genau wie jetzt. Ich schüttelte den Kopf. Ich wollte darüber reden, bloß nicht mit ihm. Genau wie jetzt. „Danke, Craig.“ Ich wurde ihm gegenüber etwas milder und erinnerte mich daran, dass sich das wahre Wesen eines Menschen nicht verändert. Der anteilnehmende Junge, der er damals gewesen war, war noch immer Teil des Mannes, der hier vor mir stand. „Es ist etwas sehr Persönliches.“ „Hat es etwas mit deinem Vater zu tun?“ „Eigentlich eher mit Isabellas Vater.“ „David Preston.“ Ich erstarrte. „Woher weißt du das?“ „Das ist keine Kunst. Ihr seid doch miteinander ausgegangen.“ Scham überkam mich und ich sah zu Boden. „Du denkst jetzt bestimmt, ich …“ Vorsichtig hob er mein Kinn und wartete, bis ich seinen Blick erwiderte. „Ich denke, du bist bestimmt sehr stark.“ Ich schnaubte. „Ja, echt stark.“ „Du erziehst ein Kind allein. Ich könnte das bestimmt nicht.“ „Du würdest staunen, was du alles kannst, wenn du musst.“ „Einfach wird das nicht gewesen sein.“ „Einfach? Nein, ganz gewiss nicht.“ Erneut spürte ich das Gewicht der Verantwortung. „Ich habe mehr als einmal gegen Geld Blut gespendet, um Windeln zu kaufen, und hoffe, nie mehr in meinem Leben Nudelfertiggerichte sehen zu müssen.“ „Siehst du, Jenny. Du bist eine bewundernswerte Frau. Nicht alle sind so stark.“ „Wenn ich wirklich so bewundernswert wäre, hätte ich es all die Jahre nicht unter Beweis stellen müssen.“ 26


Sarah Sundin Der Duft der Freiheit ISBN 978-3-86827-368-7 ca. 384 Seiten, Paperback erscheint im März 2013

Major Jack Novak hat bisher noch jede Herausforderung gemeistert – doch dann trifft er auf die Krankenschwester Ruth Doherty. Als er nach einem Flugzeugabsturz im Krankenhaus landet, ist er fest entschlossen, ihr Herz zu erobern. Aber Ruth will überhaupt nicht erobert werden. Die engagierte Krankenschwester richtet all ihre Energie auf ihre Arbeit … und darauf, ihre verwaisten Geschwister zu Hause zu versorgen. Außerdem hat sie ein dunkles Geheimnis. Kann es dem charmanten Jack gelingen, die Mauern um ihr Herz einzureißen? Kann er ihr dabei helfen, ihre Ängste loszulassen … und den Duft der Freiheit zu schnuppern? 27


12. Feldlazarett, Botesdale, Suffolk 14. Mai 1943 Ruth kratzte sich den Schlamm von den Schuhen, ging auf Station sieben und hängte ihren Umhang auf. Wer auch immer entschieden hatte, dass Krankenschwestern auch in England weiße Schuhe zu tragen hatten, sollte eingewiesen werden. Die Nachtschwester Lt. Florence Oswald saß im Dienstzimmer. „Ach, die Ruth, reizend wie immer.“ Flos Stimme war vor Gift ganz grün. „Danke“, antwortete Ruth und zwang sich zu einem Lächeln. „Wie lief es heute Nacht?“ Flo griff nach einem Klemmbrett. „Lieutenant Ryan wurde entlassen, Lieutenant Flanders hat hohes Fieber bekommen. Und wir haben einen Neuzugang.“ Ihre kleinen braunen Augen leuchteten. „Er hat eine Ladung Flak in den Hintern gekriegt. Gut für uns. Er ist nämlich Major und sieht zum Anbeißen aus. Aber solange du hier bist, haben wir natürlich alle keine Chance.“ Ruth nahm das Klemmbrett und überflog es. „Du weißt, dass ich nicht mit Männern ausgehe, Flo.“ „Ach ja, du wartest ja auf den Richtigen.“ „Ich bin als Krankenschwester hier, klar? Ich soll die Männer pflegen, nicht mit ihnen flirten. Wir sind hier nämlich im Krankenhaus, nicht bei der USO.“ „Das weiß ich selbst.“ Ruth seufzte. Letzten Endes war es egal, ob sie gemocht wurde oder nicht. Sie war dem Schwesternkorps der Army beigetreten, um ihre Familie zu ernähren, nicht, um Freunde zu finden. Sie öffnete die Tür zur chirurgischen Station für Offiziere. Nur drei Betten waren belegt. Ruth schickte ein schnelles Gebet für die Kranken gen Himmel – reine Gewohnheit. Aber eine kostbare Gewohnheit, weil Ma ihr das beigebracht hatte, und wenn sie genug betete, dann ... Herr, ich weiß, du bist da. Ich bin nicht gut genug für dich, aber Ma hat immer gesagt, du liebst alle Menschen. Nur irgendwie spüre ich nichts davon. Kannst du mir nicht ein Zeichen schicken? „Ah, Lieutenant Doherty, eine frische Brise.“ 28


Ruths Gedanken sprangen von ihrem Gebet zu Lieutenant Flanders’ rotem Gesicht. Sie lächelte. „Guten Morgen, Lieutenant. Ich habe gehört, Sie haben leichtes Fieber. Wie geht es uns denn heute Morgen?“ „Besser.“ Er sah zur Tür. „Jetzt wo Sie da sind und nicht mehr diese Oswald.“ Ruth legte einen Finger auf die Lippen. „Lieutenant Oswald. Und sie ist eine hervorragende Krankenschwester.“ „Nein, Sie sind eine hervorragende Krankenschwester. Sie kümmern sich wenigstens um uns.“ Sein Husten klang tief und rasselnd. „Hab gestern einen Brief von meiner Liebsten bekommen.“ Ruth tauchte auf dem Nachttisch eine Kompresse in eine Schüssel mit kaltem Wasser. „Doris? Wie geht’s ihr?“ „Gut. Ist total fleißig beim Roten Kreuz. Und ich bin so stolz auf sie. Aber ... na ja, sie weiß noch nichts von meiner Lungenentzündung.“ Ruth wrang die Kompresse aus und legte sie flach auf Lieutenant Flanders’ Stirn. „Wir können heute einen Brief an sie schreiben. Ich helfe Ihnen. Und sie braucht sich keine Sorgen zu machen, diese neuen Sulfonamide wirken wahre Wunder. Eigentlich kann sie sogar froh sein. Durch Ihre Lungenentzündung bleibt Ihnen die heutige Mission erspart.“ Der Mann im Nebenbett stützte sich auf die Ellbogen. „Schon wieder ein Einsatz? Das Leben ist doch unfair. Die anderen Jungs dürfen fliegen und ich muss hier rumliegen.“ „Unfair?“ Ruth sah Lieutenant Jones mit hochgezogener Augenbraue an. Lieutenant Jones ließ sich zurück ins Kissen fallen und stöhnte. „Ist ja gut, ist ja gut. Pubs und Jeepfahren passt nicht zusammen.“ Er fluchte. „Reißn Sie sich mal zusamm’.“ Eine lallende Stimme kam vom Bett gegenüber. „’s ne Lady im Raum.“ Ruth sah zu der schlanken Person, die auf dem Bauch ausgestreckt auf dem Feldbett lag. „Schon gut. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Habe ich schon mein ganzes Leben lang.“ „Dasis keine Enschuldigung“, murmelte er. „’s unhöflich und ’n Zeichn fürn schlechtn Wortschatz.“ Ruth nickte Lieutenant Jones zu. „Sie arbeiten bitte an Ihrem Wortschatz, ja?“ „Ja, Ma’am“, antwortete dieser mit einem Grinsen. 29


Ruth ging zum Neuzugang hinüber und las dessen Patientenblatt. „Major John Novak Jr., willkommen. Schön, einen Gentleman hier zu haben.“ „Jack“, sagte er. „Ich heiße Jack.“ Sie lächelte ihn an, aber er hatte die Augen geschlossen. Flo hatte recht, er war gutaussehend, hatte breite Schultern, welliges schwarzes Haar und einen akkuraten Schnurrbart. Aber hübsche Gesichter hatten schon lange ihren Reiz auf sie verloren. Ruth schlug die Decke nach unten und nahm die Verbände ab. Laut Patientenblatt hatte er am Tag zuvor eine umfangreiche Operation gehabt, bei der Splitter aus seinem Gesäß und der linken Hüfte entfernt worden waren. Die vielen Fäden ließen sie seufzen. Der Krieg produzierte die hässlichsten Wunden. Obwohl sie behutsam vorging, ächzte Major Novak einige Male vor Schmerzen. „Werd wohl ’ne lange Zeit nich sitzn.“ „Das stimmt, Sir. Sie werden uns einen guten Monat hier erhalten bleiben.“ „’n Monat? Niemals.“ Er schüttelte noch im Liegen den Kopf und stützte sich dann auf. „Ich muss zurück. Muss fliegn.“ Ruth drückte ihm sanft auf die Schultern und er sank zurück ins Kissen. „Nein. Sie müssen sich ausruhen. Sie müssen gesund werden. Und außerdem können Sie ohne zu sitzen kein Flugzeug fliegen.“ Stöhnend pflichtete er ihr bei. Ruth warf einen Blick auf die Flasche mit Blutplasma, das in die Venen des Majors floss und den Blutverlust ausgleichen sollte. „Was machen die Schmerzen, Major?“ „’s tut verdammt weh.“ Sie überflog das Patientenblatt. Die letzte Spritze gegen die Schmerzen war vier Stunden her. Ruth ging in den Medikamentenraum und holte eine Ampulle Morphium und eine sterilisierte Spritze. „Sie bekommen Morphium. Wir müssen ja nicht warten, bis die Qualen unerträglich werden. Ich gebe Ihnen noch etwas.“ „Sie gefalln mir“, sagte er. Ruth steckte die Nadel in die Ampulle und hielt sie nach oben. „Ach ja?“ „Mh-hm. Sie sin’ nett. Werd Sie heiratn.“ Wie oft hatte sie das schon gehört? Ruth lachte, drückte Luft in die Ampulle und zog den flüssigen Inhalt auf. „Das kommt aber überraschend. 30


Wir haben uns doch erst kennengelernt. Sie wissen doch noch nicht einmal, wie ich aussehe.“ „Macht nichts. Sie sin’ nett.“ Ruth schnippte gegen die Spritze, um die Luftblasen herauszubekommen. „Eine Ehe ist eine ernste Sache. Man sollte sie mit offenen Augen angehen.“ Major Novak öffnete ein Auge – kornblumenblau – und lächelte. „Nett und hübsch.“ Alle Achtung. Er sah wirklich gut aus. Aber das war egal. „Sie sind mit Morphium vollgepumpt.“ Sein Auge ging wieder zu und das Lächeln wurde breiter. „Ich mag Morphium. Morphium is nett.“ Die anderen Patienten stimmten in Ruths Lachen ein. „Jetzt haben Sie Konkurrenz bekommen“, sagte Lieutenant Jones. Ruth befeuchtete einen Watteball mit Desinfektionsalkohol und wischte damit eine Stelle an seiner Hüfte ab. „Morphium mögen Sie also, ja?“ „Mh-hm.“ „Also schön. Dann kommt hier Ihre Braut.“ Sie spritzte ihm das Medikament, richtete sich auf und schob das Kinn nach vorn. „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“ Lieutenant Flanders applaudierte, Lieutenant Jones stimmte den Hochzeitsmarsch an und Ruth zog die Decke wieder über den Rücken ihres Patienten. „Herzlichen Glückwunsch, Major. Und vielen Dank, wegen Ihnen hatten wir heute mal was zu lachen.“ Ein winziges Lächeln umspielte seine Lippen. „Wissn Sie was? Gott mag Sie.“ Ruth fiel fast die leere Spritze aus der Hand. Ihre Gedanken sprangen zu ihrem Gebet kurz vor Schichtbeginn. „Wie bitte?“ „Könn’ Sie glauben“, lallte er mit geschlossenen Augen. „Gott hat Sie richtich dolle lieb.“ Wie kam dieser Mann jetzt darauf? Er konnte unmöglich ihr Gebet gehört haben. Sie hatte es doch leise gesprochen, oder etwa nicht? „Wieso ... wieso sagen Sie das?“ „Na weils stimmt. Jesus is für Sie gestorm. Mehr brauchn Sie nich zu wissn.“ (...) 31


Ruth stapfte nach einem langen Tag wieder zu ihrem Quartier und hatte keine Augen für den Schlamm, keine Augen für die Wellblechbaracken, die das Anwesen von Redgrave Park verschandelten. Jesus war für sie gestorben? Und mehr brauchte sie nicht zu wissen? Das war es also? Deine Antwort auf mein Gebet? Es wurde aber auch Zeit, dass du dich mal rührst. Ma hat immer gesagt, man kann sich an dich wenden, wenn man in Not ist. Warum hast du dann Pa nach dem Sturz nicht gesund gemacht? Warum hast du mir Pa und auch noch Ma genommen? Warum hast du ...“ Ruth biss die Zähne zusammen. Major Novak lag falsch. Jesus war vielleicht für den Lazarettgeistlichen mit seinem weißen Kragen und dem abgeklärten Lächeln gestorben, für Ma mit ihrem unerschütterlichen Glauben, für die kleine unschuldige Penny Doherty – aber nicht für TenPenny, nicht für Ruth. Jemand berührte sie am Ellbogen und sie fuhr erschrocken zusammen. May Jensen stand vor ihr. „Tut mir leid. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Wieso konnte ihre Zimmergenossin sie nicht in Ruhe lassen? „Ist schon okay. Ich ...“ „Alles in Ordnung?“ Mays blasse Augen bohrten sich in sie hinein. „War nur ein langer Tag.“ Ruth täuschte ein müdes Lächeln vor. „Dann brauchst du eine ordentliche Mütze Schlaf. Kommst du mit rein?“ May deutete auf Redgrave Hall. Ruth konnte immer noch nicht glauben, dass ein Mädchen aus den Slums von Chicago an so einem Ort wohnen durfte. An das Herrenhaus im Tudorstil war eine prachtvolle weiße Fassade nach georgianischer Bauart gesetzt worden. Es gab einen Innenhof, elf Schlafzimmer – elf! –, und dabei hatte sie die Zimmer im Erdgeschoss noch gar nicht mitgerechnet. Ruth öffnete die große Tür und hoffte, dass May das Zittern ihrer Hände nicht bemerkte. „Ich soll die Männer pflegen, nicht mit ihnen flirten.“ Flo Oswald stand in der Eingangshalle neben einer weißen Marmorstatue, die Hände in die ausladenden Hüften gestemmt, die Brust überdeutlich nach vorn gestreckt. Ein halbes Dutzend Krankenschwestern faulenzte auf Sesseln. „Wir sind hier nämlich im Krankenhaus, nicht bei der U-S-O.“ Zur Betonung wackelte Flo bei jedem Buchstaben mit den Schultern. 32


„Ja, genau so macht sie!“, rief eine der Schwestern lachend. „Jemand sollte ihr mal sagen, dass sie von ihrem hohen Ross runterkommen soll.“ „Hast du gerade“, sagte Ruth. Ein halbes Dutzend Köpfe drehte sich um. Ein halbes Dutzend Kinnladen klappte herunter. Flos Schultern fielen in sich zusammen. Ruth maß die Gruppe kalten Blickes, lächelte dünn und eilte an ihnen vorbei durch die Tür in Richtung der ausladenden Treppe. May lief ihr hinterher und merkte gar nicht, dass sie ignoriert wurde. „Hast du das wirklich gesagt? Das mit dem Krankenhaus und der USO?“ Ruth machte mitten auf der Treppe auf dem Absatz kehrt und sah in Mays leuchtende Augen. „Ja. Genau so.“ May brach in Gelächter aus. „Gut gemacht. Für mich ist das hier das Werk des Herrn, und es stört mich, wenn die Mädchen es wie eine Heiratsvermittlung behandeln. Da stehen wir nämlich alle schlecht da.“ Ruth ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. May war die Einzige, die sich um eine Freundschaft mit ihr bemühte, obwohl sie sie schon oft zurückgewiesen hatte. Ihre Hartnäckigkeit war anstrengend, aber Ruth bewunderte ihre Arbeitsmoral. Im Viererzimmer legte sich Ruth auf ihr Feldbett und holte Papier und Stift hervor. May setzte sich auf ihren Platz daneben, nahm ihre Haube ab und strich ihr blasses Haar glatt. „Was machst du denn heute Abend?“ Ruth hielt den Stift hoch. „Briefe schreiben.“ „Hör mal, ich weiß, du bist gern allein, aber Kate und Rosa und ich laufen nachher nach Bury St. Edmunds und gehen ins Kino. Egal, was läuft, Hauptsache, wir kommen mal weg vom Krankenhaus. Kommst du mit?“ May war zwar fast unansehnlich, aber ihr Lächeln hatte einen bezaubernden Glanz. Und wie lange war es her, dass Ruth eine Freundin gehabt hatte? Zehn Jahre. Zehn lange Jahre. Eine leise Sehnsucht erwachte in ihrem Herzen. Wäre es nicht schön, jemanden zum Reden und zum Lachen zu haben? Jemanden, dem sie vertrauen konnte? Nein. Jedes Mal, wenn sie jemandem vertraute, wurde sie verletzt. Und außerdem: Die anderen Krankenschwestern mochten vielleicht Geld zum Ausgeben haben; Ruth musste für eine Familie aufkommen. Ihre Tanten und Onkel hatten zwar ihre Heime für die Waisenkinder der Dohertys 33


geöffnet, aber um sie zu ernähren und einzukleiden fehlte auch ihnen das Geld. Ruth sah auf das leere Blatt Papier. „Nein, tut mir leid. Ich bin mit dem Briefeschreiben schon in Verzug.“ „Ach so. Du hast eine große Familie, oder? Na ja, vielleicht ein anderes Mal.“ Ruth setzte den Stift an. „Oder auch nicht“, flüsterte sie.

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Karen Witemeyer Kann es wirklich Liebe sein? ISBN 978-3-86827-366-3 288 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2013

Texas 1870: Die junge Meredith Hayes hat beide Eltern verloren und lebt nun bei ihrem Onkel und dessen Frau. In ihrer Kindheit hatte sie eine schicksalhafte Begegnung mit Travis Archer, einem sonderbaren Jungen, der allein mit seinen Brüdern auf einer Ranch weit außerhalb der Stadt lebt. Seitdem sind viele Jahre vergangen, doch der Gedanke an Travis lässt Meri nicht los. Als sie erfährt, dass ein heimtückischer Anschlag auf die Archer-Ranch geplant ist, macht sie sich gegen alle Widerstände und Konventionen auf, um ihre heimliche Jugendliebe zu warnen. Dabei gerät sie in einen Strudel von Ereignissen, der sie auf der Ranch festhält und ihr Leben vollkommen durcheinanderbringt. Der abweisende, menschenscheue Travis avanciert zu ihrem Beschützer. Er verhält sich ehrenhaft und rücksichtsvoll – doch wird er Meris Liebe jemals erwidern? 35


Anderson County, Texas, 1870 Die zehnjährige Meredith Hayes ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten, während sie sich ihrem Peiniger entgegenstellte. „Hiram Ellis! Gib mir sofort meine Butterbrotdose zurück!“ „Oh, tut mir leid, Meri. Meinst du die hier?“ Seine Stimme troff vor Sarkasmus, als er die kleine Metallbox vor dem Mädchen herumbaumeln ließ. Meredith streckte sich danach aus, doch ihre Hände griffen ins Leere, da der Junge den Gegenstand der Begierde schon zurückgerissen und hinüber zu seinem kichernden Bruder geworfen hatte. Meredith rannte zwischen den beiden hin und her, doch sie war nie schnell genug, um die Dose zu erreichen. Warum war sie immer diejenige, auf der alle herumhackten? Meredith stampfte frustriert mit dem Fuß auf. Sie hatte gedacht, sie hätte sich nach der Schule heimlich genug aus dem Staub gemacht, doch Hiram musste sie beobachtet haben. Er hatte sie auf dem Kieker, seit sie im letzten Frühjahr mit ihrer Familie in diese Gegend gezogen war. Vielleicht weil das Land, das sie gekauft hatten, einmal der Familie seines besten Freundes gehört hatte. „Meri, Meri, lauf doch zu Daddy“, sang Hiram mit albern hoher Stimme, sprang um sie herum und schwenkte die Brotdose hin und her. Eine Gruppe Mädchen kam um die Ecke und blieb leise kichernd stehen. Meredith bat sie um Hilfe, doch sie standen nur grinsend da und tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Sogar Anna Leigh, ihre Tischnachbarin und das einzige Mädchen, das Meredith für ihre Freundin gehalten hatte. Tränen der Wut traten ihr in die Augen, doch Meredith versuchte, sie zu unterdrücken. Sie würde Hiram nicht gewinnen lassen. „Du bist ein Fiesling, Hiram Ellis.“ „Ja?“ Hiram hörte mit seiner Hüpferei auf und starrte sie finster an. „Und du bist die Tochter eines Schwindlers.“ „Mein Papa ist kein Schwindler. Er ist Lehrer wie deine Schwester auch.“ Hirams Gesicht verzog sich wie ein Kürbis, der angefangen hatte zu verrotten. „Meine Schwester unterrichtet weiße Kinder. Keine nichtsnutzigen Dunklen.“ 36


Meredith hob ihr Kinn und wiederholte die Worte, die sie ihren Vater unzählige Male hatte sagen hören. „Sie sind Freigelassene. Und sie haben genauso ein Recht auf Bildung wie du.“ „Wenn diese Freigelassenen immer noch Sklaven wären, wie es sich gehört, wäre Joey Gordons Pa nicht von den Yankees getötet worden und Joey wäre immer noch hier.“ Hiram warf ihr einen letzten bösen Blick zu und ging auf sie zu. Seine Stiefel stampften auf die Erde. Meredith wich instinktiv einen Schritt zurück, bevor ihr einfiel, dass sie keine Angst vor ihm hatte. „Du willst die dumme Dose wieder?“ Hiram knurrte die Frage, als er ein paar Schritte vor ihr stehen blieb. „Dann hol sie dir.“ Er rannte in Richtung Straßenrand und warf die Box mit Schwung in einen Pinienwald. Meredith verfolgte die Flugbahn und fragte sich, warum Gott so einem gemeinen Jungen so einen guten Wurfarm gegeben hatte. Die Butterbrotdose streifte einen Ast und verschwand hinter einer Anhöhe. Ein hohler Klang tönte durch den Wald, gefolgt von mehreren kleinen Schlägen, als die Dose auf der anderen Seite des Hügels herabkullerte. Meredith zuckte zusammen. Mama würde sie einen Kopf kürzer machen, wenn sie die Box in ramponiertem Zustand zurückbringen würde. Noch schlimmer wäre es nur, wenn sie die Dose gar nicht mehr mit nach Hause bringen würde. Meredith warf Hiram einen letzten finsteren Blick zu und stapfte vorwärts. „Meri, nein!“ Anna Leigh rannte an ihre Seite und ergriff ihren Arm. „Das darfst du nicht. Es ist Archerland.“ Archerland? Meredith sah sich um, um sich zu orientieren, und schluckte schwer, als ihr diese Tatsache bewusst wurde. „Niemand betritt Archerland. Nicht, wenn einem sein Leben lieb ist.“ Anna Leigh schüttelte den Kopf und sah sich um, als könnten die Bäume jederzeit lebendig werden und ihre Äste ausfahren, um die Kinder an sich zu reißen. „Lass es einfach gut sein.“ Sie trat zurück und wollte Meredith mit sich ziehen. Doch als Meredith keine Anstalten machte, ihr zu folgen, ließ sie seufzend ihren Arm los. So schlimm konnte es doch nicht sein. Oder? Meredith spähte durch die Bäume hindurch in Richtung des Hügels, hinter dem ihre Dose ver37


schwunden war. Ihr Herz schlug fest gegen ihre Rippen. Weit war es nicht. Wenn sie rannte, konnte sie wieder zurück sein, bevor die Archers überhaupt merkten, dass sie da war. Andererseits wusste jeder im Anderson County, dass die Archerjungs richtige Raufbolde und komplett durchgeknallt waren. Was, wenn sich einer von ihnen da draußen versteckte und nur auf sie wartete? „Ich habe gehört, dass sie blutrünstige Hunde haben, die dich in dem Moment riechen, in dem du einen Fuß auf ihren Grund und Boden setzt.“ Hiram sprach mit leiser, rauer Stimme. „Hunde, die dir sofort dein Bein abbeißen.“ Meredith zwang sich dazu, ihn gar nicht zu beachten. Er versuchte nur, ihr Angst zu machen. Aber sie konnte die Vorstellung von knurrenden Hunden, die sie umzingelten, nicht ganz abschütteln. „Du kennst doch Seth Winston … und seine Hand?“ Meredith wandte sich nicht um, doch sie nickte. Der Mann führte den Laden neben der Schule ihres Vaters. Er hatte an der rechten Hand nur drei Finger. „Travis Archer hat ihm die beiden Finger abgeschossen, als Winston ihm nach dem Tod des alten Archers sein Beileid aussprechen wollte. Es wäre noch schlimmer gekommen, wenn Winston nicht um sein Leben gerannt wäre. Und glaub nicht, dass es dir anders ergehen würde, nur weil du ein Mädchen bist. Sie haben Miss Elviras Pferdewagen mit Schrot durchsiebt, als sie die Kinder von dort wegholen und zu Pflegefamilien bringen wollte. Sie hätte fast ein Auge verloren.“ „Immerhin …“ Merediths Kehle zog sich zusammen. Sie hustete und setzte noch einmal an. „Immerhin sind sie nicht schwerer verletzt worden.“ „Nur, weil sie entkommen konnten.“ Hiram trat näher an sie heran und sprach ihr nun direkt ins Ohr. „Fünf andere Männer hatten nicht so ein Glück. Sie kamen mit verschiedenen Anliegen hierher. Keiner von ihnen wurde jemals wieder gesehen.“ Hiram machte eine Pause und Meredith konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. „Ihre Leichen liegen hier irgendwo vergraben.“ In den Büschen zu ihrer Linken raschelte es. Meredith sprang erschrocken auf. Hiram lachte. 38


Sie sollte nach Hause gehen. Die Brotdose einfach als verloren betrachten und nach Hause gehen. Mama würde es verstehen … doch sie würde schrecklich enttäuscht sein. „Du traust dich nicht“, sagte Hiram und lenkte Merediths Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Du traust dich nicht, die Dose zurückzuholen.“ „Mach es nicht, Meri“, bat Anna Leigh. „Ach, sie macht es nicht. Sie hat viel zu viel Angst.“ Hirams gemeines Grinsen forderte Merediths Stolz heraus. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn böse an. „Ich hole sie. Ihr werdet schon sehen.“ Die Mädchen hinter ihr schnappten erschrocken nach Luft und sogar Hiram wirkte ein bisschen unsicher, was Merediths Entschluss nur weiter festigte. Sie marschierte auf die Bäume zu, wandte sich noch ein letztes Mal zu den staunenden Ellisjungs um und flitzte dann in die Richtung, in der ihre Brotdose verschwunden war. Ihre Schuhe knirschten auf getrockneten Piniennadeln und Ästen, während sie rannte; ihr Atem klang laut in ihren Ohren, als sie die kleine Anhöhe hinauflief. Oben angekommen, blieb sie japsend stehen und hielt sich die Seite, um sich dann nach ihrer Brotdose umzuschauen. Zu ihrer Linken glänzte etwas im Sonnenschein. Meredith lächelte und beeilte sich wieder. Das ist doch gar nicht so schlimm. Ihre Finger schlossen sich um den Griff der zerbeulten Box, doch als sie sich umwandte, um zurückzugehen, versperrte ihr der Hügel die Sicht auf die Straße. Plötzlich fühlte sie sich einsam, während die Geräusche des Waldes um sie herum erklangen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Rechts von ihr knackte ein Ast. Links raschelte es. Dann hörte sie in der Ferne plötzlich Hundegebell. Die Archerhunde! Meredith floh und kraxelte hektisch den Hügel hinauf. Doch der sandige Boden gab nach. Ihre Füße verloren den Halt. Sie versuchte, sich mit den Händen festzuklammern. Keine Chance. Wieder erklang ein Bellen. Diesmal näher. Meredith wandte sich von dem Hügel ab und rannte nur noch vor dem Gebell davon. Schließlich erreichte sie eine Stelle, die nicht mehr so steil war und von der aus sie die Pinien sehen konnte, die nahe bei der Straße 39


standen. Schnell flitzte sie durch die Bäume hindurch in Richtung der rettenden Grenze. Als sie aufblickte, um zu sehen, wie nahe sie schon an der Straße war, traf ihr rechter Fuß plötzlich auf etwas Metallisches. Ein lautes Klacken erklang, stählerne Zähne schnappten nach ihrem Bein und schlossen sich um ihren Unterschenkel. „Gutes Mädchen, meine Sadie.“ Travis Archer beugte seinen drahtigen jugendlichen Körper hinab und streichelte den fast ausgewachsenen Hund. „Vielleicht erziehen wir dich doch noch zu einem Jagdhund.“ Sie bellte immer noch zu viel, wenn sie aufgeregt war und verscheuchte damit das Wild, doch immerhin konnte sie schon erfolgreich anzeigen, wenn sie ein Tier gewittert hatte, und darauf war Travis stolz. „Lass es uns noch einmal versuchen, Mädchen. Vielleicht finden wir doch noch eine hübsche Beute. Jim hat keine Lust mehr, immer nur Eichhörnchen –“ Ein schrecklicher Schrei unterbrach Travis und sorgte dafür, dass sich die Haare an seinen Armen aufstellten. Seit seine Mutter bei der Geburt seines Bruders Neill gestorben war, hatte er nicht mehr so einen gequälten Laut gehört. Sadie bellte und schnellte wie eine Kugel davon. Travis rief ihr nach, doch die Hündin ignorierte seinen Befehl und schoss in Richtung Westen – auf die Straße zu. Mit geschultertem Gewehr rannte er hinter ihr her. Wenn eine neuerliche Bedrohung auf seinem Land angekommen wäre, würde er alles dafür tun, seine Brüder zu beschützen. Das Bellen verschärfte sich und es klang, als wäre Sadie stehen geblieben. Travis verlangsamte seine Schritte und legte das Gewehr an. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein rücksichtsloser Kerl sein Land unter den Nagel reißen wollte, weil er dachte, dass vier Jungen keine ernstzunehmenden Gegner wären. Er war noch nicht erwachsen, aber er war Manns genug, das zu verteidigen, was ihm gehörte. Niemand würde ihn und seine Brüder von hier vertreiben. Niemand. Travis schlängelte sich durch die Bäume und sah Sadies schwarzes Fell. Er kannte den Ort. Hier hatte er, neben einigen anderen Stellen, Kojotenfallen aufgebaut. Er hatte sogar Warnschilder aufgestellt, aber es gab immer Idioten, die sich über alle möglichen Dinge hinwegsetzen mussten. 40


Travis stählte sich gegen eventuell aufkeimendes Mitleid und legte den Finger auf den Abzug, während er den letzten Baum zwischen sich und seinem Ziel umrundete. „Die Hände dorthin, wo ich sie sehen kann, Mister, oder ich verpasse Ihnen eine …“ Die Drohung erstarb auf seinen Lippen. Ein Mädchen? Entsetzen durchflutete ihn und er lockerte den Griff um die Waffe. Der Lauf tippte auf den Boden. „B-bitte nicht schießen. B-b-bitte.“ Die Kleine richtete ihre wasserblauen Augen auf ihn. „Ich w-wollte nichts B-B-Böses.“ Ihr tränenverschmiertes Gesicht ließ Schuldgefühle in ihm aufkommen, während sie tapfer versuchte, ihr Schluchzen hinunterzuschlucken. „Ich werde dich nicht erschießen.“ Travis legte vorsichtig das Gewehr auf den Boden. „Siehst du?“ Er streckte ihr seine Handflächen entgegen und ging vorsichtig auf das Mädchen zu, das sich an einen Baum gelehnt hatte. „Ich dachte, du wärst jemand anderes. Ich will dich nicht verletzen.“ Doch nach dem Blut zu urteilen, das auf ihre mitgenommenen Schuhe floss, war es bereits zu spät. „W-was ist mit deinem Hund?“ Sie beäugte Sadie, als wäre sie ein Höllenhund. „Sadie, bei Fuß.“ Die Hündin hörte auf zu bellen und sprang schwanzwedelnd an Travis‘ Seite. Er bedeutete ihr, sich hinzusetzen und ging dann langsam auf das verschreckte Mädchen zu. „Ich werde die Falle von deinem Bein lösen. In Ordnung?“ Sie saugte nervös an ihrer Unterlippe und beobachtete mit großen Augen, wie er sich näherte, nickte dann aber. Travis entspannte sich. Er hätte nicht gewusst, wie er hätte reagieren sollen, wenn sie in hysterisches Schreien ausgebrochen wäre. Doch anscheinend trug sie einen vernünftigen Kopf auf den Schultern. Travis lächelte sie an und wandte seine Aufmerksamkeit dann der Falle zu. Sein Magen rebellierte. Das Ding hatte sich über ihrem rechten Knöchel geschlossen. Sie wimmerte ein wenig, als er nach dem Öffnungsmechanismus griff, da sie neuerliche Schmerzen zu erwarten schien. Die Metallkette rasselte, als sie sich bewegte. „Versuch, ganz still zu halten“, wies er sie an. „Selbst wenn sich die Falle öffnet, zieh deinen Fuß nicht heraus. Warte, bis ich dir helfe. Dein Bein 41


könnte gebrochen sein und wir wollen die Sache ja nicht noch schlimmer machen. Verstanden?“ Wieder ein tapferes Nicken. Travis griff nach den Federn, die die Falle öffnen würden, als das Mädchen fragte: „Kann ich … mich an dir festhalten?“ Für einen Moment schloss Travis die Augen, dann schluckte er und nickte langsam. „Natürlich, Kleine.“ Ihre Hände legten sich um seinen Nacken, als er sich zu ihr beugte und sie stützte ihren Kopf an seine Schulter. Er räusperte sich. „Bereit?“ Ihre Wange rieb auf dem Stoff seines Ärmels hin und her, als sie nickte. „Mhm.“ Travis betätigte die Federn, bis die Falle sich öffnete. Als sie wieder in ihrer ursprünglichen Position war, zog er das Bein des Mädchens vorsichtig heraus. „Ich muss dein Bein anschauen, um zu sehen, wie schlimm es ist.“ Ihre Arme lagen immer noch um seinen Nacken und Travis setzte sie vorsichtig an einen Baum. „Ruh dich hier aus.“ Er befreite sich aus ihrem Griff und besah sich ihr Bein genauer. Die Haut war an mehreren Stellen verletzt worden, wo sich die Stahlzähne in ihr Bein gebohrt hatten, doch das Mädchen hatte still gehalten, deshalb schien die Verletzung relativ glimpflich ausgefallen zu sein. Trotz allem wollte er auf Nummer sicher gehen. „Kannst du den Fuß bewegen?“ Das Mädchen bewegte das Bein vorsichtig und sog vor Schmerz die Luft ein. „Es tut weh.“ Ihre Stimme brach und sie schluchzte. „Dann lieg ganz ruhig.“ Travis knirschte mit den Zähnen. Vielleicht war das Bein doch angebrochen. „Ich hole ein paar Äste, um dein Bein zu fixieren, und dann bringe ich dich nach Hause. In Ordnung? Mach dir keine Sorgen.“ Auf dem Totenbett hatte er seinem Vater versprochen, das Archerland niemals zu verlassen, sondern ihren Besitz und seine Brüder mit allen Mitteln zu verteidigen. Und Travis hatte in den letzten zwei Jahren genau das getan. Doch heute würde er sein Versprechen brechen müssen. Er musste sich um dieses Mädchen kümmern. Er musste sie nach Hause bringen. 42


Travis erhob sich und sah sich nach geeigneten Ästen für sein Vorhaben um, während er innerlich schwor, dass er alle Fallen von seinem Grund und Boden verbannen würde. Niemals würde er wieder jemanden einem solchen Risiko aussetzen. Er hatte gedacht, dass eventuelle Eindringlinge sich ohne Probleme selbst befreien konnten und mit einem verletzten Bein das Weite suchen und niemals wiederkommen würden. Die Fallen waren zu klein, um einen ausgewachsenen Mann ernsthaft zu verletzen, vor allem, wenn er Stiefel trug. Aber ein Kind? Ein Mädchen? Mit so etwas hatte Travis nicht gerechnet. Als er zurück zu dem Baum kam, wirkte die Kleine gefasster. „Wie heißt du?“, fragte er und wollte sie ablenken, während er sich um ihr Bein kümmerte. „Meredith.“ Er zog ein Taschentuch hervor und knotete es fest um die Stöcke an ihrem Bein. „Ich bin Travis.“ „Du bist Travis?“ Sie sagte es so ungläubig, dass er innehielt und sie anstarrte. Sie wurde rot und stammelte: „Es ist nur … ähm … ich dachte, du wärst gemeiner … und größer … oder so was.“ Travis schüttelte den Kopf und gluckste leise. „Genau das will ich. Die Leute sollen so über mich denken. Dann sind meine Brüder und ich sicherer.“ Er sah sich um, ob er noch etwas fand, was er als Bandage benutzen konnte. Da sich nichts anbot, nahm er sein Taschenmesser und schlitzte seinen Hemdärmel an der Schulter auf. Mit einem Ruck riss er ihn ab und zog ihn sich vom Arm. Er kniete sich wieder hin und wickelte den Stoff um Merediths Knöchel. „Weißt du, was du für mich tun könntest, Meredith?“ „Was?“ Er überprüfte noch einmal, ob der Knoten auch fest saß und lächelte seine Patientin dann an. „Wenn du zurückkommst und deine Freunde Fragen stellen, dann mach mich so groß und gemein wie möglich. Dass ich dir geholfen habe, nach Hause zu kommen, kann unser Geheimnis bleiben. Okay?“ Ihre Augen funkelten und sie lächelte ihn frech an. Die Last auf seinem Herzen wurde leichter. „Halt dich an meinem Nacken fest – ich heb dich jetzt hoch.“ Travis 43


legte einen Arm um ihren Rücken und schob den anderen unter ihre Knie. „Warte! Meine Butterbrotdose.“ Er hielt inne. „Deine was?“ „Meine Butterbrotdose. Hiram hat sie in die Bäume geworfen. Deshalb bin ich auf dein Land gekommen. Ich kann nicht ohne sie nach Hause.“ Sie wand sich und wollte nach hinten greifen. „Halt still“, befahl Travis, da er nicht wollte, dass sie sich noch schlimmer verletzte. „Ich hole sie.“ Er schnappte sich die verbeulte Dose und reichte sie ihr. Meredith presste sie an sich und Travis beschloss, ihr eine neue zu besorgen, falls er diesen Hiram jemals treffen würde. Bei der Gelegenheit würde er ihm auch gleich eine Abreibung verpassen. Wieder legte Travis seine Arme um Meredith und hob sie vom Boden hoch. Die Kleine gab keinen Laut von sich und nur an ihrem verstärkten Griff merkte Travis, dass sie Schmerzen hatte. Er wählte einen Weg, der so leicht anstieg, dass sie nicht zu sehr durchgeschüttelt wurde, auch wenn ihn das mehr Zeit kostete. Es war wirklich verrückt – dieser Drang, sich um sie zu kümmern. Er hatte die letzten beiden Jahre damit verbracht, die Außenwelt abzuwehren. Und jetzt schaute ihn dieses Mädchen mit ihren blauen Augen an und er hatte das Gefühl, das einzige Stück Außenwelt beschützen zu müssen, das seinen Weg auf sein Land gefunden hatte. Als er die Grenze seines Grundstückes erreichte, hielt Travis inne, atmete tief ein und sah hinauf zum Himmel. Sorry, Pa. Ich muss es einfach tun. Dann verließ er, mit einem Gebet für die Sicherheit seiner Brüder auf den Lippen, das Archerland.

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Irene Hannon Auf dass ihr nicht gerichtet werdet ISBN 978-3-86827-370-0 384 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2013

Jake Taylor ist Marshal bei einer Spezialeinheit der amerikanischen Bundespolizei. An seinem neuesten Auftrag hat er wenig Interesse: Personenschutz für eine Bundesrichterin. Zu allem Überfluss handelt es sich um Richterin Liz Michaels, die Frau seines besten Freundes, die er insgeheim für dessen Selbstmord verantwortlich macht. Doch der Auftrag entwickelt sich für Jake schnell von einer lästigen Routine zu einer Aufgabe, die sein ganzes Können erfordert. Liz wird von einem Mörder verfolgt, der zu allem entschlossen scheint. Aber nicht nur das Leben der Richterin, sondern auch Jakes Herz gerät in Gefahr. Und die Uhr tickt ... 45


Als sein BlackBerry vibrierte, umklammerte Deputy U.S. Marshal Jake Taylor das Lenkrad fester und unterdrückte ein Stöhnen. Abgesehen von den zwei Stunden mäßig entspannender Auszeit, die er auf dem Heimflug von Denver nach St. Louis genossen hatte, war er seit beinahe vierundzwanzig mit Adrenalin gefüllten Stunden in Alarmbereitschaft. Er hatte eigentlich vorgehabt, direkt zu seiner Mietwohnung zu fahren, die noch unausgepackten Umzugskisten zu ignorieren und sich aufs Ohr zu hauen. Aber ein kurzer Blick auf die Anruferkennung sagte ihm, dass aus dem Plan wohl nichts werden würde. Er holte tief Luft, drückte die Sprechtaste und begrüßte seinen Chef. „Hi, Matt. Was gibt’s?“ „Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe. Habe ich dich geweckt?“ „Nein. Der Flug hatte Verspätung. Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause.“ „Dann halt besser an.“ Das klang nicht gut. Ein Bistro tauchte ein Stück weiter am Straßenrand auf und Jake bog in den Parkplatz ein, dankbar für die glückliche Fügung und die langen Öffnungszeiten des Cafés. Da die LED-Anzeige an seinem Armaturenbrett sich Mitternacht näherte und er den Verdacht hatte, dass er in nächster Zeit erst einmal keinen Schlaf bekommen würde, war eine kräftige Dosis Koffein durchaus willkommen. „Ich stelle mich gerade beim Drive-in-Schalter einer Gaststätte an, um mir Kaffee zu holen.“ Er hielt hinter seinem Vordermann, der seine Bestellung aufgab. „Gute Idee. Ist alles gut gelaufen?“ „Ja, wir hatten alles im Griff. Er konnte noch nicht mal einen Schuss abfeuern.“ Jemanden zu verhaften, der auf der Liste der gesuchten Personen der U.S. Marshals ganz oben stand, war immer eine schwierige Angelegenheit. Und wie Jake erwartet hatte, war Ray Carlson – für den es Haftbefehle wegen Mord, Brandstiftung, Drogenhandel und Verstößen gegen das Waffengesetz gab – den Einsatz aller Deputy Marshals der Spezialeinheit wert gewesen. „Gut. So mögen wir unsere Verhaftungen. Hör zu, es tut mir leid, dass ich dich gleich wieder in eine schwierige Sache reinziehe, bevor du ver46


schnaufen kannst, aber Todd ist gerade zu einem Scharfschützentraining nach Camp Beauregard aufgebrochen.“ Das bedeutete, dass Matt offensichtlich der Meinung war, der Job müsse von der Spezialeinheit erledigt werden. Todd war nämlich das einzige andere Mitglied der Spezialeinheit im Bundesstaat Louisiana, das in St. Louis stationiert war. „Was für ein Problem gibt es denn?“ Jake zog ein kleines Notizbuch aus seiner Tasche und schlug es auf, während er den Wagen im Blick behielt. „Es gab heute Abend einen Mordversuch im Haus einer Bundesrichterin. Auf die Schwester der Richterin wurde geschossen. Sie lebt, aber es sieht nicht gut aus. Bis wir wissen, was passiert ist, will ich rund um die Uhr Personenschutz für die Richterin. Und ich möchte, dass du den Einsatz leitest.“ Nicht zum ersten Mal wünschte sich Jake, er hätte vor seinem Umzug nach St. Louis mehr Vorbereitungszeit gehabt. Jake kannte nur wenige von den Richtern hier, die vom Marshals Service beschützt wurden. Aber kaum war er vor zwei Wochen in der Stadt angekommen, war er schon mit dem Carlson-Fall betraut worden. Und während der sechs Monate, die er vorher im Irak verbracht hatte, war er damit beschäftigt gewesen, die Gerichts- und Zeugensicherheit in dem Land zu verbessern – und am Leben zu bleiben. Zukünftige Aufträge in der Heimat hatte er da nicht im Blick gehabt. „Wer ist die Richterin?“ Jake nahm seinen Stift und überlegte, dass er jetzt von Matt die Eckdaten bekommen und sie später noch durch eigene Nachforschungen ergänzen konnte. „Elizabeth Michaels.“ Sein Atem stockte. Liz Michaels? Dougs Frau? Nein, das konnte nicht dieselbe Person sein. Oder doch? Während die Frage noch in seinen Gedanken nachhallte, hatte er das dumpfe Gefühl, dass er die Antwort schon kannte. „Jake? Bist du noch da?“ „Klar.“ Er holte tief Luft und versuchte, so unbeteiligt wie möglich zu klingen. „Ich habe meine Hausaufgaben in Bezug auf die Richter im achten Bezirk noch nicht gemacht, aber der Name kommt mir bekannt vor. 47


Ich kannte vor Jahren eine Anwältin aus Jefferson City, die Liz Michaels hieß.“ Das Auto vor Jake fuhr an, und er ließ seinen Wagen vor das Fenster rollen, um seine Bestellung aufzugeben. „Genau die. Sie hatte dort eine Privatkanzlei, dann war sie drei Jahre lang Richterin am Berufungsgericht. Sie wurde vor vier Monaten ans Bundesgericht berufen.“ Jakes Kiefermuskeln verhärteten sich. Er schaltete sein Telefon stumm und wandte sich an die Bedienung hinter dem Schalter. „Einen großen Americano bitte. Und tun Sie ruhig noch einen extra Schuss Espresso dazu.“ Das Schweigen hielt an, während er in seinem Portemonnaie kramte, und als Matt schließlich das Gespräch wieder aufnahm, konnte Jake am Tonfall seines Chefs hören, dass er die Stirn runzelte. „Gibt es da ein Problem?“ Ja. Ein großes sogar. Er würde lieber wieder in den Irak gehen, als für den Personenschutz von Liz Michaels zuständig zu sein. Aber es gab nur eine Antwort, die ein Profi auf diese Frage geben konnte. „Nein. Kein Problem.“ „Gut. Ich schicke dir eine Ablösung, sobald wir die Sache organisiert haben. Aber ich möchte, dass du dich während der ersten vierundzwanzig Stunden immer in ihrer Nähe aufhältst. Ich schicke dir Spence rüber, er kann dir helfen.“ „In Ordnung. Wo ist sie jetzt?“ „St. John’s. Es war das beste Traumazentrum, das in der Nähe lag. Zwei Polizeibeamte sind bei ihr in der Notaufnahme. Sie bleiben dort, bis du kommst. Wann wirst du da sein können?“ Jake fuhr vom Parkplatz hinunter und lenkte den Wagen in westlicher Richtung auf die Interstate 64. „Zehn, fünfzehn Minuten höchstens.“ „Ich melde mich wieder.“ Das Gespräch wurde beendet. Nachdem er den BlackBerry wieder in die Gürteltasche geschoben hatte, griff Jake nach dem Becher und nahm einen großen Schluck von dem starken Kaffee. Und dann noch einen. Es würde eine lange, unangenehme Nacht werden. 48


Vierzehn Minuten später, als das Koffein seine Wirkung entfaltete, fand Jake einen Parkplatz in der Nähe der Notaufnahme und lief an den Übertragungswagen der Medien vorbei. Er zog nur ein paar desinteressierte Blicke der Nachrichtenteams auf sich, die in der kühlen Oktobernacht warteten. In Jeans, einem zerknitterten Baumwollhemd, einer abgewetzten Lederjacke und mit einem seit vierundzwanzig Stunden unrasierten Gesicht war er wohl nicht der Aufmerksamkeit der Reporter würdig. Sie hätten ihre Meinung vielleicht geändert, wenn sie die SpringfieldPistole mit 45er Kaliber im Halfter an seinem Gürtel gesehen hätten. Im Gegensatz zu den Medien widmeten ihm die Polizeibeamten am Eingang ihre ganze Aufmerksamkeit, als er näher kam. Mit der Hand in der Nähe seiner Waffe trat der ältere der beiden Beamten auf ihn zu. „Kann ich Ihnen helfen, Sir?“ „Deputy Marshal Jake Taylor.“ Er hatte seine Marke bereits aus der Tasche gezogen und klappte sie jetzt auf. Der Polizist begutachtete den Ausweis und nickte dann. „Man hat uns gesagt, dass Sie kommen. Ihr Bruder wartet auf Sie mit den nötigen Informationen. Ich bringe Sie hin.“ Er ging voran ins Krankenhaus, nachdem er seinem Kollegen ein Zeichen gegeben hatte, seinen Platz an der Tür einzunehmen. Cole war also mit diesem Fall betraut. Das bedeutete, dass das Verbrechen im Zuständigkeitsbereich der Bezirkspolizei geschehen war. Wenigstens das war eine gute Nachricht. Sein Bruder war ein hervorragender Kriminalbeamter. Aber Jake hätte sich für ihr erstes Zusammentreffen seit seiner Ankunft in St. Louis einen netteren Ort vorstellen können. Einen, an dem es Pizza und viel zu lachen gab. Eine mitternächtliche Begegnung in der Notaufnahme war meilenweit von dieser Vorstellung entfernt. Während Jake dem Beamten durch die hell erleuchteten Gänge folgte, musste er blinzeln, weil seine Augen sich von der Dunkelheit der realen Welt auf eine Welt einstellen mussten, die niemals schlief. Die Säure des Kaffees brodelte in seinem Magen und er verspürte ein leichtes Gefühl der Übelkeit. Er hasste Krankenhäuser. Seit vier Jahren tat er das. Und wenn er einen Bogen um dieses hier hätte machen können, hätte er es getan. Aus mehreren Gründen. 49


Auf einen von diesen Gründen fiel sein Blick, als sie an einer Tür vorbeikamen, vor der zwei weitere Polizisten standen. Obwohl sein Blick durch die Tür nur flüchtig war und er sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte, fiel es Jake nicht schwer, die Person in diesem Raum zu erkennen. Liz Michaels hatte sich offenbar kaum verändert. Sie hatte immer noch dieselben langen, honigblonden Haare mit Seitenscheitel. Dieselbe sportliche Figur, fast ein wenig zu dünn. Dieselbe Vorliebe für klassische, elegante Kleidung. Nur dass die cremefarbene Seidenbluse, die in einer dunkelbraunen Stoffhose steckte, diesmal dunkle Flecken an den Manschetten hatte und Spritzer auf der Vorderseite. Blut. Ihre Haltung zeugte von einer ungewohnten Niederlage. Er hatte Liz Michaels eigentlich als optimistischen, siegessicheren Typ in Erinnerung. An diesem Abend war von diesem Selbstbewusstsein nichts zu sehen. Sie saß mit gesenktem Kopf da, die Augen geschlossen und die Hände gefaltet, während ihre Ellenbogen auf den Armlehnen des Plastikstuhls ruhten. Ihre Wangen waren ganz und gar farblos. Beinahe tat sie ihm leid. „Detective? Marshal Taylor ist hier.“ Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er seine Schritte automatisch verlangsamt hatte, als er an dem Zimmer vorbeigegangen war, doch jetzt ging er wieder schneller, auf seinen Bruder zu, der ein paar Meter entfernt wartete. Cole hob zur Begrüßung seinen Kaffeebecher aus Pappe und grinste schief, als der Polizeibeamte wieder an seinen Posten zurückging. „Willkommen in St. Louis.“ Sarkasmus zuckte um Jakes Mundwinkel. „Vielen Dank. Ich wäre lieber zu Hause im Bett.“ „Geht mir genauso.“ Cole sah ihn skeptisch an. „Aber ich muss zugeben, dass du den Schlaf dringender brauchst als ich. Deutlich dringender sogar. Das liegt bestimmt an deinem fortgeschrittenen Alter.“ „Ich bin nur drei Jahre älter als du.“ „Ja. Aber achtunddreißig ist viel näher an vierzig als fünfunddreißig.“ Cole grinste. „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du wieder hier bist?“ „Ich bin erst vor einer Stunde gelandet.“ Cole zog eine Grimasse. „Autsch. Ich vermute, du hast auf dem Rückflug kein Auge zugemacht?“ 50


„Stimmt.“ Wie sie beide wussten, war es bewaffneten Marshals nicht erlaubt, in einem Flugzeug ein Nickerchen zu machen. „Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“ „Ich kann mich nicht erinnern.“ Jake musterte seinen Bruder. Coles dunkles Haar sah ein bisschen unordentlich aus und das weiße Hemd unter seinem Sakko hatte seine Fasson weitgehend verloren. „Du siehst auch so aus, als hättest du einen langen Tag hinter dir.“ „Deshalb verdienen wir ja so viel Geld, stimmt’s?“ Cole zog spöttisch einen Mundwinkel hoch und hob erneut seinen Becher. „Willst du Kaffee?“ „Ich hatte einen Americano mit drei Espressi auf dem Weg hierher, danke.“ „Kluge Entscheidung. Du wirst ihn brauchen.“ Er trank einen letzten Schluck und zog eine Grimasse. „Und ich dachte schon, der Kaffee im Büro sei schlecht.“ Er warf den Becher in einen Mülleimer in der Nähe und zeigte auf einen im Dunkeln liegenden Raum. „Wir haben noch nicht viel, aber da drin kann ich dir die wichtigsten Informationen geben.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, trat er ein, schaltete das Licht an und schloss die Tür hinter Jake. Nachdem er sich auf einem der beiden Plastikstühle niedergelassen hatte, zog er ein kleines Notizbuch aus seiner Tasche. „Mach es dir bequem.“ Jake betrachtete skeptisch den harten Stuhl. „Ja, klar.“ „Ich verstehe, was du meinst.“ Cole veränderte die Position auf seinem Stuhl. „Sie sollten die Leute, die diese Dinger entwerfen, dazu zwingen, jeden Tag selbst eine Stunde lang darauf zu sitzen.“ Jake setzte sich und atmete resigniert aus. „Okay. Was haben wir?“ „Richterin Michaels zufolge kam sie gegen halb acht vom Gericht nach Hause, wie üblich. Sie sah nach ihrer Schwester, die sich hingelegt hatte. Die Schwester stand auf und die Richterin lief über die Straße, um ein FedEx-Paket abzuholen, das bei einem Nachbarn abgegeben worden war. Sie war ungefähr zehn Minuten lang weg. Ihr Nachbar trug das schwere Paket für sie rüber, und nachdem er wieder gegangen war, fand sie im Wohnzimmer ihre Schwester zusammengesunken auf dem Sofa vor dem Fernseher sitzend. Ihr war von hinten aus kurzer Distanz in den Kopf geschossen worden.“ Jake presste die Lippen zusammen. Keine schöne Vorstellung. Kein Wunder, dass Liz unter Schock stand. 51


„Irgendwelche Verdächtigen?“ „Der Mann der Schwester. Richterin Michaels sagt, er sei gewalttätig gewesen und sie habe ihre Schwester seit Jahren gedrängt, ihn zu verlassen. Was sie jetzt endlich getan hat. Gestern. Nachdem er sie wieder verprügelt hatte. Wir haben die zuständige Polizei in Springfield informiert und sie waren bei ihr zu Hause. Der Mann war nicht da. Vor etwa einer Stunde haben wir eine Fahndung rausgegeben.“ Jake runzelte die Stirn. Ein gewalttätiger Ehemann, der wütend genug war, um seine Frau zu töten, könnte auch Rache üben an der Frau, die ihr Zuflucht geboten hatte. Cole erriet offenbar seine Gedanken. „Das haben wir uns auch gedacht.“ Er steckte sein Notizbuch wieder ein. „Und glaub mir, wir sind heilfroh, dass wir die gute Richterin dir und deinen Jungs übergeben können.“ „Na, vielen Dank.“ Jede winzige Hoffnung, heute Nacht noch ein Auge zuzutun, löste sich in Luft auf. „Wie geht es der Schwester?“ „Ihr Zustand ist kritisch. Unwahrscheinlich, dass sie durchkommt. Sie ist gerade im OP. Wir haben die Richterin hierbehalten, anstatt sie ins Wartezimmer der Chirurgie zu bringen, weil die Räume hier besser zu bewachen sind.“ Er stand auf. „Ich muss ihr noch ein paar Fragen stellen. Da kann ich euch gleich miteinander bekannt machen.“ „Wir kennen uns.“ Jake erhob sich ebenfalls. „Sie ist die Frau von Doug Stafford.“ „Ach was!“ Cole zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Diese Verbindung habe ich gar nicht hergestellt.“ „Warum solltest du auch? Michaels ist kein ungewöhnlicher Name. Und ich glaube kaum, dass ich sie dir gegenüber öfter erwähnt habe.“ „Na, jedenfalls kennt ihr euch. Das macht die Sache vielleicht einfacher.“ Jake ließ die Bemerkung seines Bruders unkommentiert. Er hatte Cole nie gesagt, was er von Dougs Frau hielt. Aber als er seinem Bruder über den Flur folgte, war einfach nicht gerade das Wort, das ihm zu diesem Auftrag einfiel. Nicht einmal ansatzweise.

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Cathy Marie Hake Rose der Prärie ISBN 978-3-86827-369-4 ca. 304 Seiten, Paperback erscheint im März 2013

Maggie Rose ist Händlerin und stellt Seifen, Lotionen und Parfüms her. Grundlage für ihre Produkte ist ein geheimes Rosenrezept, das in ihrer Familie seit Generationen von der Mutter an die Tochter weitergegeben wird. Eigentlich will sie nicht heiraten – doch dann tritt der attraktive Texaner Todd Valmer in ihr Leben und erobert ihr Herz im Sturm. Schneller als Maggie schauen kann, ist sie verheiratet. Aber was als die große Liebe begann, verliert bald jeden Glanz. Todd und sie haben ganz unterschiedliche Pläne und Träume für ihr Leben. Werden die Dickschädel erkennen, wofür es sich zu kämpfen lohnt? Kann es ihnen gelingen, sich eine gemeinsame Zukunft aufzubauen? 53


Carvers Holler, Arkansas 1893 „Oh-oh, jetzt ist sie wirklich sauer!“ Margaret Rose hob warnend den Kochlöffel und deutet damit auf die Männer in der Küche. „Wenn ihr heute noch ein Abendessen wollt, dann solltet ihr mich jetzt in Ruhe lassen.“ Die drei Männer sahen sie erstaunt an. „Ich meine es ganz ernst.“ Noch nie zuvor hatte sie ihnen so gedroht. In den fünf Jahren, in denen sie schon für diesen bunt gemischten Haufen Männer kochte und sich um sie kümmerte, war sie noch nie aus der Haut gefahren. Ihre Liebe zu den dreizehn Männern machte es ihr leicht, ihre Fehler zu übersehen und ihnen immer wieder zu verzeihen. Meistens überhäuften ihre „Onkel“ sie mit Zuneigung und Anerkennung und schafften es immer wieder, sie zum Lachen zu bringen. Doch heute war das anders. Ihre endlose Diskussion brachte sie an den Rand ihrer Geduld, sodass sie sich kaum noch zusammenreißen konnte. Normalerweise machte es ihr nichts aus, die einzige Frau in Carvers Holler zu sein, aber auch das war heute anders. „Meint ihr nicht, ich hätte auch mal einen Ruhetag verdient, nachdem ihr mich jetzt sechs Tage umher gejagt habt?“ „Wenn du verheiratet wärst, könntest du dich viel mehr ausruhen“, warf Onkel Bocephus ein. „Als Ehefrau müsstest du nur für einen Mann kochen und nur ihn pflegen, wenn er krank ist.“ „Unsinn!“ Sie knabberte an einem halben Keks. „Ich hätte vierzehn Männer.“ „Noch ein Grund mehr zu heiraten.“ Paw-Paw erhob sich von seinem Stuhl. Er zog dabei scharf die Luft durch die Zähne, und seine Gesichtsmuskeln verspannten sich. Besorgt schaute sie ihn an. „Paw-Paw, du hast Schmerzen! Was fehlt dir?“ „Das Holzbein von meinem Dad ist schuld“, antwortete Jethro für ihn. „Er zieht doch immer einen Socken über seinen Beinstumpf. Das Holzbein hat ein Loch in den Strumpf gerubbelt und jetzt hat er an seinem Bein bald eine wunde Stelle. Aber er will es dir nicht sagen.“ „Du meine Güte, Paw-Paw. Nimm dein Holzbein ab und gib mir den Socken! Den hab ich doch schnell gestopft.“ 54


Mit einem Seufzer ließ sich Paw-Paw wieder auf seinen Stuhl sinken und krempelte sein Hosenbein hoch. „Lass es dir von einem alten Mann gesagt sein, Maggie. Das Leben ist voller Überraschungen.“ Mit einer weit ausholenden Handbewegung deutete er auf das Panorama, das durch die Fenster hindurch sichtbar war. Nur vereinzelt konnte man Sonnenstrahlen zwischen den schweren grauen Wolken erkennen. Der Himmel versprach einen in dieser Gegend seltenen Schneesturm. In ihrem Leben hatte Maggie erst drei Schneestürme erlebt. Der heftige, kalte Wind, der jetzt über die Felder fegte, würde wahrscheinlich einen vierten Schneesturm bringen. „Selbst die kleinen Tiere merken es, wenn der Wind sich ändert, mein Kind. Dann planen sie für das, was kommt. Das solltest du auch tun.“ Sie lachte. „Das tue ich doch! Ich habe geplant, dass ich heute Abend dreizehn hungrige Männer am Tisch sitzen habe, die auf ihr Abendessen warten. Ich bin mir ganz sicher, dass sich das nicht ändern wird, egal wie der Wind steht. Wahrscheinlich kommen sie eher noch ein bisschen früher als sonst, weil es so kalt ist. Die Flinn-Zwillinge werden uns die neuesten Nachrichten über den kommenden Sturm bringen, und die Hosenträger von Mr Collier werden wie immer verdreht sein“, prophezeite sie. Onkel Bo seufzte so laut und heftig, dass von der Erschütterung ein ganzer Kartoffelsack hätte umfallen können. „Verstehst du das denn nicht, Kind? So tief wie das Tal hier in Carvers Holler, so tief ist meine Liebe zu dir. Das Allerwichtigste für mich ist, dass ich Gottes Spuren folge und das tue, was er will – besonders, wenn es um dich geht.“ Sein schottischirischer Akzent wurde heftiger, als er aufgeregt fortfuhr: „Meine Berufung ist es, mit dir am Arm durch den Mittelgang der Kirche zu laufen und dich am Altar einem guten Ehemann zu übergeben. Der Herr hat den Richtigen schon für dich ausgesucht und ich werde dich hier nicht festhalten. Als meine geliebte Maude zum Allmächtigen gegangen ist, haben wir uns in unserer Trauer aneinander geklammert, Mädchen.“ „Ja, aber in seiner unergründlichen Gnade hat der Allmächtige uns zusammengestellt, weil wir uns brauchten.“ Bewundernd schaute sie ihren Onkel an – er war ihr einziger noch lebender Verwandter. „Mein Kind, unsere Trauer hat sich in schöne Erinnerungen verwandelt, und trotzdem hängen wir immer noch aneinander wie die Kletten.“ „Kletten!? Natürlich hat sich unsere Trauer verändert. Aber in der gan55


zen Zeit hast du mir beigebracht, stark zu sein und für mich selbst zu sorgen. Du hast mir sogar ein Haus verschafft, damit ich auf eigenen Füßen stehen kann.“ Mit einem Klaps verscheuchte sie Jethros Hand, als er sich gerade einen vierten Keks klauen wollte. Dann runzelte sie die Stirn. „Und es ist wirklich ein schönes Haus, was ich da habe. Jedenfalls fühle ich mich da so wohl wie eine Elster in ihrem Nest. Wenn du etwas anderes behauptest, verletzt du meine Gefühle.“ „Ich bin langsam mit meinem Latein am Ende.“ Onkel Bo deutete mit dem Finger auf sie. „Es wird Zeit für dich, das zu tun, was Gott für dich geplant hat.“ „Du wirst nicht jünger, Maggie.“ Paw-Paw zog eine Augenbraue hoch und es schien ihm noch nicht einmal peinlich zu sein, so etwas zu sagen. „Ich kann es kaum fassen! Als eure Frauen noch am Leben waren, mögen sie in Frieden ruhen, hättet ihr es nie gewagt, über das Alter einer Dame zu sprechen!“ Als sie sich umdrehte, um fast sieben Dutzend Haferkekse in ihre Keksdose zu füllen, konnte man das Lachen in ihrer Stimme deutlich hören. „Anscheinend werdet ihr einfach genauso älter wie ich auch.“ Nachdenklich wiegte Jethro den Kopf von links nach rechts. Dann verschränkte er die Arme auf dem Tisch und ließ seinen Kopf darauf sinken. „Das Alter hat uns in dem Moment gefangen genommen, als wir unsere Waffen erhoben und für die Konföderierten gekämpft haben.“ „Da wir unsere Jugend verschwendet haben“, Onkel Bo wechselte einen schnellen Blick mit den anderen, „denke ich, dass die Zeit dir ein paar Extrajahre schuldet, Maggie.“ Er empfand es als seine Pflicht, sie vor der abgrundtiefen Last zu schützen, die er seit dem Bürgerkrieg mit sich herumtrug. Deshalb tat Maggie jetzt auch so, als würde sie die Traurigkeit in seiner Stimme nicht hören. „Zuerst sagst du mir, dass ich alt werde, und jetzt behauptest du, dass ich noch jung bin und sogar noch ein paar Extrajahre bekomme.“ Sie setzte ein nachdenkliches Gesicht auf und rieb sich das Kinn, als würde sie die verschiedenen Gedanken gegeneinander abwägen. „Das würde bedeuten, dass ich eine wirklich alte Jungfer werde, Onkel Bo. Mich weiterhin durchzufüttern, wird bestimmt nicht leicht, aber vielleicht kann dich das hier ein bisschen aufheitern.“ Sie reichte ihm eine dampfende Tasse mit Zichorienkaffee. Den kochte sie nur für ihn. Jeder andere hier in Carvers Holler, Arkan56


sas, trank richtigen Kaffee, aber sie würde so ziemlich alles tun, um ihren Onkel glücklich zu machen – alles außer heiraten. Sie war zutiefst davon überzeugt, dass eine Ehe auf festem, gemeinsamen Glauben und tiefer Liebe gegründet sein sollte. Doch so etwas hatte sie bisher noch nicht gefunden. „Du hörst auch nicht besser zu als diese sturen belgischen Arbeitspferde draußen im Stall“, grummelte Jethro. „Diese Viecher machen eigentlich nur eins: fressen!“ Maggie konnte ihm da nicht widersprechen. „Natürlich höre ich zu. Du hast mir eben gesagt, dass ich geradewegs auf die Altersschwäche zusteuere, deshalb sollten wir meine letzten Tage hier auf der Erde nicht damit verschwenden, uns Gedanken über ungelegte Eier zu machen. So schnell wird sich hier nichts ändern.“ Zufrieden damit, dass sie mit diesen Worten die Unterhaltung offensichtlich beendet hatte, drehte sie sich zum Küchenschrank um, um das Besteck zu holen. „Und es wird sich doch ändern!“ Onkel Bo stellte sich direkt neben sie. „Das versuche ich dir ja die ganze Zeit zu sagen. Es ist alles ganz einfach. Gott hat es mir aufs Herz gelegt, dafür zu beten, dass er einen Mann für dich schickt.“ Mit einem heftigen Ruck zog sie die Schublade heraus, sodass das Besteck durch die Luft flog. Es war gerade so, als ob die Messer ihre Hoffnung auf ein Ende der Unterhaltung zerschneiden wollten. „Wie oft hast du mir gesagt, dass mir Gott noch lange nicht meine Wünsche erfüllt, nur weil ich dafür bete?“ Sie drückte ihm die leere Schublade in die Hand und kniete sich hin, um das Besteck wieder einzusammeln. „Du hast mir beigebracht, darum zu beten, dass sein Wille geschieht und nicht das, was ich mir wünsche – aber jetzt drehst du es einfach um.“ „Gar nichts drehe ich um. Ich hab dir doch gesagt, dass Gott es mir aufs Herz gelegt hat. Ich bin mir ganz sicher, dass Gott es mir damit leichter machen will, dich gehen zu lassen.“ „Unsinn!“ Mechanisch sortierte sie das Besteck ein und suchte nach den richtigen Worten. „Ich bin genau da, wo ich hingehöre, bei den Menschen, die ich liebe. Genau da, wo Gott mich haben will.“ (...) „Hör endlich mal zu“, knurrte Onkel Bo. „Du bist jetzt in einem Alter, in dem du dir Gedanken über die Ehe machen musst.“ Mit zwanzig bin ich außerdem in einem Alter, in dem ich meine eigenen 57


Entscheidungen treffen kann. Doch diesen Gedanken sprach Maggie nicht laut aus. Stattdessen atmete sie tief durch, um nicht wütend zu werden. Sie wollte nicht respektlos klingen. Ich werde immer ihr kleines Mädchen bleiben. Sie behandeln mich nur dann wie eine Erwachsene, wenn ich Tauschhandel betreibe oder heile ... Aha! Ein neuer Gedanke formte sich in ihr: Sie würde ihr Talent als die beste Händlerin der ganzen Region einsetzen, um eine diplomatische Abmachung auszuhandeln. „Du kannst so oft und so lange du willst mit dem Herrn darüber reden. Wenn er wirklich will, dass ich heirate, dann kann er den Bräutigam gerne vorbeischicken. Gott oder Bräutigam – auf die will ich gerne hören. Das ist mein letztes Wort.“ *** Ärger kochte in Todd Valmer hoch, als der Zug langsam davonratterte und ihn und Ma in einem völlig fremden Tal inmitten der Ozark-Berge in Arkansas zurückließ. In einem aufkommenden Schneesturm! Zwischen den heftigen Windböen konnte er Rauch erkennen, der aus dem Schornstein einer Hütte in der Ferne kam. „Siehst du, Ma, gleich wird dir wieder warm.“ Ma klammerte sich an ihn. Ihr rechter Arm lag um seinen Hals und um ihren Körper hatte er eine Decke gewickelt. Tod ließ ihre Reisetasche einfach in einem Schneehaufen stehen und ging auf den Rauch zu. Da es keine Straße gab, musste er sich seinen eigenen Weg bahnen. Als er näher kam, bemerkte er gut ausgetretene Fußwege, die aus verschiedenen Richtungen kamen. Sie sahen aus wie Zweige, die sich zu Ästen verdickten und schließlich zu einem Stamm wurden, der sie alle vereinte und auf die Hütte wies. Je näher er kam, desto langsamer wurden Todds Schritte. Das hier konnte doch nicht der richtige Ort sein!? Er kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick durch das Tal schweifen. Dort standen noch zwei weitere, aber kleinere Hütten. Doch keine der beiden hatte einen Lattenzaun – und der Zugführer hatte ausdrücklich gesagt, dass der Arzt in dem einzigen Haus mit einem Lattenzaun wohnte. Sein ganzes Vertrauen in die Fähigkeiten dieses Arztes verschwand, als Todd die lächerliche Ansammlung von Krimskrams vor dem Haus sah. 58


Jemand hatte Waschkübel an Nägeln oder Seilen an dem Lattenzaun befestigt, außerdem Hufeisen, Keksdosen und Besen. Mehrere Geweihe hingen einträchtig neben Tellern und verschiedenen Tierfellen. Als wäre dieser Anblick nicht schon verwirrend genug, flatterten noch fröhlich mehrere bunte Windrädchen unter der Dachrinne und schienen sorgenbeladene Menschen, die gerade unter ihnen vorbeigingen, zu verhöhnen. Nahe an der Hütte stand ein stabiles kleines Häuschen, das seinen Inhalt vor dem Wetter schützte – mehrere Rollen mit Ketten, Seilen und eine Auswahl an Farmgeräten. Was konnte ein Arzt mit so etwas anfangen? Nichts. Was, wenn er all diese Dinge als Bezahlung angenommen hatte und deshalb letztlich seine Familie nicht mehr ernähren konnte? Ich habe drei Dollar in der Tasche, mehr habe ich nicht. Entweder er hilft Ma oder nicht, aber wenigstens ist sie gleich im Warmen. Entschlossen biss Todd die Zähne zusammen und stieg die Steinstufen zur Haustür hoch. Im Inneren des Hauses konnte er deutlich die Stimme einer Frau hören. „Komm sofort wieder her und gib Paw-Paw sein Bein zurück, oder du bekommst heute nichts zu essen!“ „Wir sind am Ziel, Ma. Das muss das Haus des Arztes sein, wenn da drin jemand ist, der ein Holzbein hat.“ Zu seiner Erleichterung schwieg Ma. Der eiskalte Wind fegte durch das Tal und zerrte an der Decke und an Mas Rocksaum. Plötzlich löste sich eins der Windräder von der Dachrinne und schoss direkt auf ihn zu. In letzter Sekunde konnte er den sich drehenden Flügeln und dem hölzernen Körper, der wie eine Elster angemalt war, noch ausweichen. Ausgerechnet eine Elster! Als er an die seltsamen Sachen am Zaun und in dem Häuschen dachte, verzog sich sein Mund kurz zu einem schiefen Grinsen. Ein Schild, das er für das des Arztes gehalten hatte, hing deutlich lesbar neben der Tür. Darauf stand: ELSTER-TAUSCHHANDEL – AN- UND VERKAUF. Wenn er je ein Schild gesehen hatte, das ehrlich die Tätigkeit des Besitzers beschrieb, dann war es dieses. Elstern sammelten alles, was ihnen gefiel und staffierten ihr Nest mit den ergatterten Schätzen aus. Das Schild erklärte das Durcheinander am Zaun und im Garten. Vielleicht teilte sich der Arzt das Haus mit jemand anderem. Der heulende 59


Wind übertönte sein Klopfen, daher öffnete Todd die Tür von außen, weil er seine Mutter nicht länger der Kälte aussetzen wollte. Er trug sie ins Haus und schloss die Tür mit dem Fuß. Dann sah er sich um. Er betrachtete die Wände, dann die Decke und den Boden. Sein Blick war wie gebannt. Niemand, der noch bei klarem Verstand war, würde sich je so etwas Lächerliches ausdenken können wie das, was er in diesem Zimmer sah. Wie in einem Elsternest füllten glänzende, glitzernde, seltsame und erstaunliche Dinge jeden einzelnen Winkel. Elstern lebten normalerweise nur eine kurze Zeit – doch wer auch immer hier sein Nest gebaut hatte, musste schon seit Ewigkeiten all diese Dinge zusammengesucht haben. Todd verließ der Mut. Ma war verloren. Wie angewurzelt stand er im Zimmer und starrte auf die verschiedenen Gegenstände um ihn herum. Eine schnelle Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Eine junge Frau mit kohlrabenschwarzen Haaren trat auf ihn zu und nahm mit einem Ruck ihre Schürze ab. Sie rief jemandem in dem Raum hinter sich zu: „Ein Besucher hat sich gerade selbst hereingelassen.“ Mehrere Männer betraten hinter ihr den Raum. „Muss einer aus dem Norden sein. Die Südstaatler haben bessere Manieren. Die kommen nicht einfach so rein.“ „Natürlich ist der aus dem Norden.“ Ein anderer schnaubte verächtlich. „Keiner aus dem Süden würde bei so einem Wetter draußen herumlaufen.“ Ohne den Blick von Todd abzuwenden, warf die Frau ihre Schürze auf einen Stuhl. „Brauchen Sie etwas, Mister?“ „Den Arzt. Für meine Mutter.“ Ma bewegte sich nicht und war immer noch ganz still. Ein alter Mann kam auf ihn zu und stellte sich vor die junge Frau. „Geh nicht näher ran, Mädchen. Ich sehe keinen Grund, warum wir diesem Nordstaatler vertrauen sollten. Wir wissen noch nicht mal, was er hier will.“ „Aus dem Bündel, das er trägt, schauen Frauenschuhe heraus.“ Die junge Frau ignorierte den Befehl des alten Mannes einfach und kam auf Todd zu. Langsam hob sie eine Ecke der Decke an und berührte vorsichtig Mas Gesicht. „Die Ärmste ist ja ganz durchgefroren!“ Die Ehrlichkeit verlangte es von ihm, dass er ihr die Wahrheit sagte. „Das ist nicht das Einzige, was ihr fehlt.“ 60


Leuchtend blaue Augen musterten ihn. Er erwiderte ihren Blick und flehte sie ohne Worte um Hilfe an. *** Schnee bedeckte das Haar des Fremden, sodass Maggie sich nicht sicher war, welche Haarfarbe er besaß. Aber seine blauen Augen blickten sie voller Sorge an und seine angespannten Kiefermuskeln wiesen darauf hin, dass er einen starken Willen besaß. Eine dicke, derbe Jacke spannte sich über seine breiten Schultern, auf der sie kaum Schnee erkennen konnte. Als er die schwere Last auf seinen Armen in eine andere Position brachte und diese Bewegung die wenigen Schneeflocken auf seinen Schultern herunter wirbelte, wusste sie auch, warum. Die Jacke endete an den Hüften – eine Arbeiterjacke. Hosen aus grobem Denim-Stoff, die bis zu den Knien durchweicht waren, zeugten davon, dass er sich einen langen Weg durch den Schnee hatte bahnen müssen. Der Fremde war bestimmt müde, durchgefroren und hungrig, und trotzdem bat er nur um Hilfe für seine Mutter. Und er war so aufmerksam gewesen, den dicksten Schnee von seinen Füßen zu schütteln, bevor er ins Haus gekommen war. Außerdem war er ehrlich, denn er hatte ihr gleich gesagt, dass seine Mutter nicht nur unter der Kälte litt. In der letzten Zeit waren immer wieder Menschen gekommen, um sie um Hilfe zu bitten, und hatten dabei die wichtige Information vergessen, dass sie oder ihre Lieben eine ansteckende Krankheit hatten. Verschiedene Gedanken schossen ihr durch den Kopf. „Er hat die Bedürfnisse seiner Mutter vor alles andere gestellt und er ist absolut ehrlich mit mir gewesen, deshalb werde ich ihm auch helfen.“ Erleichtert atmete er auf. „Gott segne Sie!“ Seine Stimme war stark und klar und sie hatte nicht die typische Sprachmelodie der anderen Männer hier in Carvers Holler, die mit schwerem irisch-schottischen Akzent sprachen. Das machte sie neugierig. Sie würde ihm gerne eine Weile zuhören. Könnte das ein deutscher Akzent sein? Oder vielleicht ein holländischer? „Lass die zwei nicht rein“, warnte Jethro. „Ich wette, dass es ansteckend ist, was auch immer sie hat.“ „Da das hier mein Haus ist, entscheide ich, was getan wird. Meinem 61


Besuch ist kalt.“ Maggie schlüpfte an dem Fremden vorbei und öffnete die Tür zu ihrem Gästezimmer. „Bringen Sie Ihre Mutter doch bitte hier herein.“ Ein kurzes Nicken deutete an, dass er sie verstanden hatte, aber sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Der arme Mann macht sich große Sorgen. Ich hoffe, dass es seiner Mutter besser geht, als er denkt. „Wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Maggie Rose. Der Mann dort hinten, das ist mein Onkel Bocephus Carver.“ „Valmer. Todd Valmer.“ „Mr Valmer, Sie und Ihre Mutter sind mir herzlich willkommen.“ „Vielen Dank, Ma’am.“ Sein Griff um das Bündel in seinen Armen wurde etwas fester, aber seine Stimme wurde weicher. „Ma, da ist eine junge Frau hier, die mir helfen wird, dich in ein schönes, warmes Bett zu legen.“ Seine Mutter regte sich nicht, bis er am Bett stand, dann röchelte sie. „Ich wusste, dass Ihre Mutter hier drin neue Kraft bekommen würde. Egal wo sie hinschaut, sieht sie schöne, glänzende Sachen.“ Maggie schnürte die Schuhe ihrer Patientin auf. Mrs Valmer ließ den Hals ihres Sohnes nicht los. Mit ganzer Kraft schien sie dagegen zu kämpfen, ihn loslassen zu müssen. „Sie träumen nicht, Ma’am. Überall um Sie herum stehen wunderschöne und seltsame Dinge.“ Mr Valmer räusperte sich. „Zuerst, Ma, werde ich den Kronleuchter hier weghängen.“ Maggies Hand schoss nach oben und berührte eine der Glaskugeln, die von dem Kronleuchter über dem Bett herunterhingen. „Das können Sie gerne tun, aber Ihre Sorge ist völlig unberechtigt. Der Kronleuchter ist mit einer dicken Kette an einem starken Balken festgemacht.“ „Trotzdem werde ich ihn abhängen.“ Als Maggie der älteren Dame beide Schuhe und die Strümpfe auszog, wehrte sich die Frau, aber Maggie ignorierte ihren Protest einfach. Wenn man den Patienten auch nur den Hauch von Mitleid zeigte, dachten sie meist, es sei schlecht um sie bestellt. Doch diese Frau war wirklich in einem traurigen Zustand. Maggies Gedanken überschlugen sich, als sie die Decke entfernte und Mrs Valmers linker Arm kraftlos an ihrer Seite baumelte. „Kommen Sie, legen Sie Ihre Mutter hin.“ Todd fühlte sich wie ein Hahn beim Hahnenkampf. Eigentlich wollte 62


er seine Mutter sanft auf das Bett legen und sich dann wieder aufrichten, aber seine Mutter ließ ihn nicht los. Mit ganzer Kraft klammerte sie sich mit ihrem rechten Arm an seinen Hals, als würde ihr Leben davon abhängen. Todd fürchtete, in ihrem Klammergriff zu ersticken. „Hey, Ma. Alles ist gut.“ Er stützte sich mit einem Knie auf der Matratze ab und schob ihren Arm vorsichtig über seinen Kopf. Das war nicht leicht, aber schließlich gelang es ihm. „Ganz langsam. Ruhig, mein –“ Als er bemerkte, dass er mit seiner Mutter wie mit einem störrischen Pferd sprach, brach er ab. Er wollte auf keinen Fall respektlos sein. Doch seine Mutter sah gerade genauso aus wie ein Wildpferd, das jeden Moment ausbrechen würde. Ihre rechte Hand ruckte nach oben und versuchte ihn wieder zu packen. Er stieß seinen Kopf an etwas, als er aus ihrer Reichweite sprang. Ein deutliches Klirren erinnerte ihn daran, was über dem Bett hing. „Ma, jetzt beruhige dich doch.“ Von der anderen Seite des Bettes her beugte sich Miss Rose über Ma. „Ma’am, Ihr Junge hat zwei kräftige Arme, aber wenn Sie sich an ihm festklammern, dann kann er Ihnen nicht helfen – und ich auch nicht.“ Ma zitterte. Ihre Augen waren immer noch weit aufgerissen. „Genauso wie Gott seine Engel schickt, um uns zu beschützen, so hat er Ihnen Ihren Sohn geschickt, damit er Ihnen jetzt beistehen kann. Sie können also ganz beruhigt sein, Ma’am.“ Auf Maggies Worte hin verschwand die Panik langsam aus ihrem Gesicht und Ma drehte sich mit unsicherem Blick zu ihrem Sohn. „Ich bin immer noch hier. Jetzt beruhige dich.“ Mit geschickten Fingern zog Miss Rose alle Haarnadeln aus Mas Haaren. „Sie ist sehr blass, aber das kann genauso gut von der Kälte oder von ihrer Angst kommen. Wir müssen sie beobachten. Ist sie auf den Kopf gefallen?“ „Ma ist ohnmächtig geworden.“ Vorsichtig betupfte Miss Rose Mas dicke Beule mit einem feuchten Tuch, dann nickte sie. Die Lampen, die jemand hereintrug, erhellten ihr Gesicht. Todd musste sich eingestehen, dass sie mindestens fünf Jahre jünger war, als er zuerst gedacht hatte. Sein eher zaghaftes Vertrauen in sie verschwand nun fast völlig. 63


„Ist sie erst ohnmächtig geworden und dann gefallen, oder anders herum?“, fragte sie. „Wo ist der Arzt?“ Ihre schwarzen Augenbrauen wanderten erstaunt in die Höhe, dann erwiderte Miss Rose: „Ich brauche jetzt Ihre ganze Aufmerksamkeit, damit Sie mir ein paar wichtige Fragen beantworten.“ „Fragen Sie Ma.“ „Ich bezweifele, dass sie sich erinnern kann, ob sie erst ohnmächtig geworden oder zuerst gefallen ist.“ Miss Roses Finger strichen behutsam über Mas Gesicht wie die Finger einer Blinden, die sich die Gesichtszüge ihres Gegenübers einprägen will. Dann fuhr sie fort: „Was hat sie direkt vor ihrem Sturz gemacht?“ „Sie hat einfach neben mir im Zug gesessen. Dann ist sie umgefallen.“ Mit einer Stimme so ruhig wie ein Sommertag, fragte die junge Frau weiter. „Ist irgendwas passiert, was sie aufgeregt oder verletzt hat?“ „Nein.“ Doch dann wurde er unsicher. Hatten die großen Veränderungen in ihrem Leben das ausgelöst? „Sie zieht jetzt auf meine Farm.“ Miss Rose lächelte ihn an und dabei schien ihr ganzes Gesicht zu leuchten. „So wie sie vorhin an Ihnen gehangen hat, nehme ich an, dass sich Ihre Mutter auf diesen Umzug sehr gefreut hat.“ Ihre Einschätzung befreite ihn wenigstens von dieser Sorge. „Haben Sie bei Ihrer Mutter sonst etwas beobachtet? Hängen ihre Augenlider manchmal herunter oder ist ihr Lächeln manchmal eher schief, ihre Stimme schleppend oder ihr Griff kraftlos?“ „Nein.“ „Die Schnürbänder ihres Korsetts ...“ Todd wich einen Schritt zurück. Über solche Dinge sprach man nicht. Er schüttelte den Kopf. Mit den Fingerspitzen strich Miss Rose langsam über Mas Rippen. Dann sagte sie: „Gute Güte, die sind aber straff!“ Todd biss die Zähne zusammen. Er fand das Thema unnötig und peinlich. Männer trugen Hosenträger, um ihre Hosen nicht zu verlieren und Frauen trugen Korsetts, um nicht aus der Form zu geraten. Worte waren noch nie sein Ding gewesen, deshalb würde er sich sicher vor dieser schwarzhaarigen Schönheit komplett blamieren, wenn er sich mit ihr über ein solch intimes Kleidungsstück unterhielt. „Sie hat kein Problem beim Atmen. Ich muss einen Arzt holen.“ 64


„Gibt es in Ihrer Familie Herzprobleme, Schwindelanfälle oder Schlaganfälle?“ „Herz.“ Die leuchtend blauen Augen der seltsamen Frau zogen sich nachdenklich zusammen. „Und wie ist es mit den anderen Problemen?“ „Nein. Sonst hätte ich es Ihnen doch gesagt.“ Kaum waren diese harten Worte aus seinem Mund gekommen, bereute Todd, dass er so unfreundlich gewesen war. Die junge Frau tat ihr Bestes, aber das war trotzdem nicht gut genug. Ma sah wirklich sehr schlecht aus. „Wo ist der Arzt?“ „Der nächste ist viele, viele Meilen weg.“ Panik stieg in ihm auf. „Im Zug haben sie mir gesagt, dass es hier einen Doktor gebe!“ Miss Rose untersuchte Ma immer noch. „Da haben sie Ihnen was Falsches gesagt, aber –“ „Wie weit ist es bis zum nächsten Arzt?“, unterbrach er sie. „Beim nächsten Bahnhof wohnt ein sturköpfiger Mann, der von sich behauptet, er sei ein Arzt. Sein Kopf und sein Herz sind ungefähr genauso leer wie sein lächerlicher Zylinder. Sieben Meilen weiter gibt es noch einen Bahnhof. Doktor Wyatt wohnt da. Er schafft es ganz gut, seine Patienten zu untersuchen und sogar zu behandeln, solange er nicht in die Nähe seines selbst gebrannten Whiskys kommt. Sobald er ein paar Schlucke aus seiner Pulle genommen hat, sollte man ihn meiden wie einen tollwütigen Wolf.“ Voller Mitleid schaute sie ihn an. „Ich wünschte, es wäre anders hier.“ Verzweifelt hing sein Blick an dem aschfahlen Gesicht seiner Mutter. Dann fragte er leise: „Was kann ich nur tun?“ „Beten. Das ist das Wichtigste. Ich kümmere mich normalerweise um die Kranken hier in der Gegend und ich werde mein Bestes versuchen, Ihrer Mutter zu helfen.“ Sanft strich sie mit beiden Händen über die Schulter seiner Mutter und massierte den ganzen Arm herunter bis zur Hand. Mitleid hatte noch nie aus jemandem einen Heiler oder Arzt gemacht. Wissen und Erfahrung brauchte man dazu. An ihren Fragen merkte er, dass sie vielleicht ein paar Dinge wusste. Doch sie war noch so jung und außerdem wohnte sie hier so weit abgeschnitten von allem, dass sie bestimmt keine nennenswerte Erfahrung besaß. Irgendwo musste es doch jemanden geben, der Ma besser helfen konnte. Gerade wollte er seine 65


Mutter wieder hochheben, da sah er, dass Miss Rose genau dasselbe tat wie ihr Arzt früher – sie legte ihre Finger auf die Innenseite von Mas Handgelenk, um ihren Puls zu fühlen. Woher kannte ein junges Mädchen aus den Bergen hier in Arkansas diesen Trick?

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