Leseproben Romane Lynn Austin, Ein Fenster ins Leben ......................................... 2 Cindy Woodsmall, Wie Federn im Wind ................................ 18 Beverly Lewis, Unter dem Mantel des Schweigens .................. 27 Maureen Lang, Meine liebe Cosima ......................................... 32 Lori Wick, Und hinter dem Horizont das GlĂźck .................... 39 Jenny B. Jones, Ein Sommer am See ...................................... 49 Cathy Marie Hake, Ă„rztin in Rot ........................................... 60
Lynn Austin Ein Fenster ins Leben ISBN 978-3-86827-213-0 432 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2011
1893: Violet Hayes träumt vom großen Abenteuer, von der wahren Liebe, vom echten Leben. Die Weltausstellung in Chicago liefert der Tochter aus gutem Hause den perfekten Vorwand, der Obhut ihres Vaters zu entkommen und ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Zumal sie gerade herausfinden musste, dass ihr gesamtes Leben auf einer Lüge basiert. Doch gänzlich frei ist Violet auch in Chicago nicht. Sie wohnt bei ihrer tiefgläubigen Großmutter, die ganz eigene Vorstellungen davon hat, wie ihre Enkelin ihr Leben gestalten sollte. Und auch ihre drei Großtanten, die unterschiedlicher kaum sein könnten, versuchen Violet für ihr jeweiliges Lebenskonzept zu begeistern. Violet hat die Qual der Wahl. Was möchte sie werden: Heilige, Suffragette, Dame der Gesellschaft? Oder doch lieber Detektivin? Und welchem ihrer Verehrer soll sie ihr Herz öffnen? Chicago eröffnet Violet eine Vielzahl an Möglichkeiten. Doch ihren eigenen Weg zu finden, erweist sich als das größte Abenteuer ... 2
Kapitel 1 Samstag, 20. Mai 1893 Ich hätte mir keine schockierenderen Neuigkeiten vorstellen können. Wie erstarrt saß ich am Esstisch der Witwe Maude O’Neill und starrte meinen Vater an, während das verkochte Hammelfleisch auf meinem Teller langsam kalt wurde. Am liebsten hätte ich schreiend protestiert und ihn angefleht, es sich noch einmal anders zu überlegen. Mein Vater blickte ausgesprochen selbstgefällig drein. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und spielte mit seiner Uhrenkette. Maude hatte jenes falsche Lächeln aufgesetzt, das sie für meinen Vater reserviert hatte, und bemühte sich, wie ein junges Mädchen zu erröten. Sie hatte mit meinem Vater einen ordentlichen Fang gemacht, und das wusste sie auch. Ich warf einen Blick auf ihre widerlichen Kinder, Horace und Harriet, und erkannte an ihrem süffisanten Grinsen, dass der Heiratsantrag meines Vaters für sie nichts Neues war. Maude hatte ihre schweinchenrosa Gesichter so gründlich geschrubbt, dass es aussah, als hätte sie die beiden gekocht. Ich wünschte, sie hätte es getan. Das Lächeln meines Vaters erstarb, als mein Schweigen andauerte. „Nun sag schon etwas, Violet. Hast du deine Manieren vergessen?“ Ich blickte auf meine Hände, die ordentlich gefaltet auf meinem Schoß lagen. „Nein, Vater, das habe ich nicht.“ Die guten Manieren hinderten mich daran, meinem Vater zu sagen, dass er ein Narr war. Oder daran, Maude das Lächeln aus ihrem spitzen Gesicht zu schlagen. „Herzlichen Glückwunsch, Vater“, sagte ich mit meiner lieblichsten Stimme. „Und alles Gute für Sie, Mrs O’Neill.“ „Danke, Violet“, erwiderte Maude. Ihre Augen glühten vor Triumph. „Wir planen, noch in diesem Herbst zu heiraten“, fuhr mein Vater fort. „Es wird eine kleine, private Feier, nur mit einigen Verwandten und Freunden.“ „Entschuldige, Vater“, warf ich höflich ein, „aber hast du nicht etwas vergessen?“ „Was denn?“ „Du hast bereits eine Frau – meine Mutter.“ Er räusperte sich. „Ja … also, vielleicht habe ich dir das nicht erzählt, aber ich bin schon seit einiger Zeit in der Position, wieder heiraten zu 3
können.“ Er schob sich noch ein Stück von dem gummiartigen Hammelfleisch in den Mund und kaute so energisch darauf herum, als wäre ihm gar nicht bewusst, dass diese zweite Nachricht mich noch mehr traf als die erste. „In der Position, wieder heiraten zu können?“ „Ja. Du warst zu dieser Zeit im Internat und ich wollte dich nicht aufregen.“ Stillschweigend zerknüllte ich Maudes Damastserviette zu einem Ball, während ich über seine Worte nachdachte. Warum schlichen die Menschen eigentlich immer auf Zehenspitzen um mich herum, als wäre ich ein Veilchen, das sie mit ihren Füßen zertreten könnten? „Arme, bemitleidenswerte Violet. Als ihre Mutter krank wurde, war sie erst neun Jahre alt. Sie ist ein Einzelkind und sehr verträumt …“ „Wann ist Mutter gestorben?“ Ich musste gegen den Kloß in meiner Kehle ankämpfen. „Wir sprechen später darüber, Violet.“ „Bitte entschuldige noch einmal, Vater, aber ich finde, ich hätte von ihrem Tod erfahren sollen. Du hättest –“ Er räusperte sich und schnitt mir das Wort ab. „Dies ist wohl kaum der geeignete Zeitpunkt, um darüber zu sprechen.“ Unauffällig nickte er zu Horace und Harriet hinüber, die aufgehört hatten, an ihrem Hammelfleisch herumzusägen, und mich mit ihren runden Schweinchenaugen anstarrten. „Ich merke jetzt, dass ich dir das vorher hätte erklären sollen, und ich entschuldige mich dafür. Aber wir wollen Maudes wundervolles Essen und diesen denkwürdigen Anlass doch nicht mit Detailfragen verderben, die warten können, bis wir zu Hause sind, nicht wahr?“ Offenbar war der Tod meiner Mutter eine Detailfrage. Ich hätte mich zu gerne entschuldigt und vom Tisch entfernt, um meinen Tränen freien Lauf lassen zu können, aber ich war bei der Witwe O’Neill zu Gast. Inmitten des Hauptgangs zu gehen, wäre unaussprechlich unhöflich gewesen. Beim Essen zu weinen allerdings auch. Außerdem hätten meine Tränen ohnehin mehr mir selbst gegolten als einer Mutter, an die ich mich kaum erinnern konnte. Trotzdem hätte mein Vater ihren Tod erwähnen müssen. Maude griff nach der Fleischplatte und reichte sie meinem Vater. „Möchtest du noch etwas, John?“ 4
Maude hatte ihren ersten Mann vergiftet – dessen war ich mir sicher. Was sollte nur aus mir werden, wenn Maude meinen Vater erst einmal auf die gleiche Weise vergiftet hatte wie ihren ersten Mann? „Möchtest du noch etwas Fleisch, Violet?“ Maude hielt mir die Platte hin, die Zähne zu einem Grinsen entblößt. Was, wenn sie vorhatte, mich ebenso zu vergiften wie meinen Vater, damit Horace und Harriet unser ganzes Vermögen erben konnten? Ich lehnte höflich ab und schob dann meinen Teller von mir, weil es mir plötzlich den Appetit verschlagen hatte. Vielleicht hatte Maude den langsamen Vergiftungsprozess schon an diesem Abend begonnen. „Ich glaube, unsere Neuigkeit hat dich aus der Fassung gebracht, Violet“, sagte Maude und neigte den Kopf in einer mitfühlenden Geste zur Seite. „Wir hatten so gehofft, dass du dich für deinen Vater und mich freuen würdest. Und dass wir alle eine große Familie werden können.“ Horace und Harriet hatten ihre Gabeln niedergelegt, als warteten sie darauf, dass ich sie mit meinem Buttermesser in den Familienstammbaum einpflanzte. Doch darauf würden sie lange warten müssen. Ich fühlte mich dem armen toten Schaf auf der Fleischplatte weitaus mehr verbunden als diesen beiden. „Violet … Violet …?“ Ich blickte auf, als ich hörte, dass mein Vater mich ansprach. „Träumt schon wieder“, murmelte er. „Würdest du bitte zuhören? Mrs O’Neill hat dich etwas gefragt.“ „Oh, Verzeihung. Wären Sie wohl so freundlich, Ihre Frage zu wiederholen, Mrs O’Neill?“ Maudes Lächeln mochte dem ungeübten Betrachter unschuldig erscheinen, aber ich meinte den sprichwörtlichen „bösen Blick“ in ihren Augen zu sehen, als sie sagte: „Wie ich höre, macht Herman Beckett dir den Hof. Er ist ein netter junger Mann, nicht wahr?“ „Ja, Ma’am. Mr Beckett ist gewiss über jeden Tadel erhaben. Aber nach zwei Sonntagnachmittagsausflügen in den Park würde ich es kaum wagen zu behaupten, dass er mir den Hof macht.“ „Ich weiß zufälligerweise, dass der junge Mr Beckett sein Werben überaus ernst nimmt“, sagte Maude und lehnte sich vor. „Ich kenne seine Mutter sehr gut und wie es aussieht, ist er ganz vernarrt in dich.“ Falls Herman Beckett wirklich in mich vernarrt war, hatte er diese Tatsache bislang geschickt vor mir verborgen. 5
„Herman entstammt einer sehr angesehenen Familie“, ließ Maude nicht locker. „Ja, Ma’am.“ „Du solltest ihn ermutigen, bevor ihn sich ein anderes Mädchen schnappt.“ „Ja, Ma’am.“ Ich hatte keine Ahnung, was ich sonst noch sagen sollte. Innerlich wünschte ich mir, Madame Beauchamps hätte in ihrer Schule weniger Zeit darauf verwendet, uns beizubringen, wie eine wohlerzogene junge Dame bei einem Dinner ihr Brötchen aß – „Reißt immer ein kleines Stückchen ab, Mädchen, und streicht mit eurem Buttermesser Butter auf jedes einzelne Stück“ – und mehr Zeit darauf, uns beizubringen, wie man hinterhältige Witwen los wurde, die den eigenen Vater umgarnten. Nach Vaters schockierenden Neuigkeiten stand mir nicht der Sinn nach oberflächlicher Konversation. Ich wünschte mir, ich wäre neun oder zehn Jahre alt, wie Horace und Harriet, und es wurde von mir erwartet, dass man mich sah aber nicht hörte. Nach dem Essen verlangten die gesellschaftlichen Gepflogenheiten, dass ich zur Unterhaltung der Anwesenden Klavier spielte. Maudes Klavier war so verstimmt wie ein Leierkasten, aber ich legte all meine Gefühle in die Musik – und davon hatte ich an diesem Abend eine Menge … Plötzlich stand mein Vater neben dem Klavier und hielt mir mein Tuch hin. „Es wird Zeit, dass wir gehen, Violet.“ „Danke für den reizenden Abend“, sagte ich pflichtschuldigst, während ich mich von dem Klavierhocker erhob. Als Maude auf mich zukam, um mich zu umarmen, eilte ich schnell zur Tür hinaus. „Ich möchte wissen, wo Mutter beerdigt ist“, sagte ich, sobald Vater und ich den Weg zu unserem Haus hinaufgingen. „Ich würde gerne ihr Grab besuchen.“ „Hör zu, Violet –“ „Ich weiß, dass mich alle für zerbrechlich und schwach halten; für jemanden, den man vor allen Unannehmlichkeiten des Lebens bewahren muss. Aber ich bin kein Schulmädchen mehr, Vater. Ich bin eine Frau.“ „Dessen bin ich mir durchaus bewusst.“ Seine Stimme klang monoton und emotionslos. Die Dorfstraßen waren zu dunkel, als dass ich sein Gesicht hätte sehen können, und so konnte ich nicht erkennen, ob er insge6
heim um meine verlorene Kindheit trauerte oder ob ich ihn mit meinen Forderungen verärgert hatte. Ich war nicht zu bremsen. „Und du hattest kein Recht, mir diese Information über Mutter vorzuenthalten. Es steht mir zu, ihren Tod zu betrauern, auch wenn ich sie seit Jahren nicht gesehen habe –“ „Sie ist nicht tot, Violet.“ „Ich hätte zu ihrer Beerdigung gehen müssen, das wäre das Mindeste gewesen, und … w-was hast du gesagt?“ „Deine Mutter ist nicht tot.“ Weil er von dem Anstieg ganz außer Atem war, blieb er stehen. Ich war fassungslos. „Wie kannst du dann Mrs O’Neill heiraten?“ Vater stieß einen tiefen, lang gezogenen Seufzer aus, sodass er sich wie ein Zug anhörte, der am Ende einer anstrengenden Reise Dampf abließ. „Unsere Ehe wurde von einem Gericht aufgelöst. Deine Mutter und ich sind geschieden.“ „Aber das ist herzlos! Bei der Trauung habt ihr versprochen: ,In guten wie in schlechten Tagen, bis dass der Tod uns scheidet.’ Wie konntest du Mutter im Stich lassen, nur weil sie krank ist? Das ist so kaltherzig und … und … grausam … und –“ Mein Vater packte mich an den Schultern und schüttelte mich sanft. „Sei nicht so theatralisch, Violet, und hör mir zu. Deine Mutter war niemals krank. Sie ist aus freien Stücken gegangen.“ „Niemals krank? Aber natürlich war sie krank! Sie –“ Er schüttelte den Kopf. „Sie hasste ihr Leben mit mir, hasste es, in einer Kleinstadt wie Lockport zu wohnen und angebunden zu sein. Also habe ich sie gehen lassen.“ „Das bedeutet … das bedeutet, du hast mich angelogen?“ „Du warst noch ein Kind. Ich dachte damals, es wäre besser für dich, wenn ich dir nicht die Wahrheit sagte. Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass sie uns verlassen hat.“ „Ich glaube dir nicht“, flüsterte ich. Dann verwandelte sich der Schock in Wut und meine Stimme wurde immer lauter. „Wenn du zugibst, dass du mich vor elf Jahren angelogen hast, warum sollte ich dir dann jetzt glauben?“ „Es tut mir wirklich leid, Violet. Wenn du willst, zeige ich dir die Scheidungsurkunde, sobald wir zu Hause sind, aber ich sage die Wahrheit.“ 7
Ich verlangte sie in der Tat zu sehen. Als wir zu Hause ankamen, gingen wir geradewegs in Vaters Arbeitszimmer und legten vorher nicht einmal unsere Mäntel ab. Vater zog einen Stapel Papiere aus seiner Schreibtischschublade. Das oberste Blatt trug das offizielle Siegel des Bundesstaates Illinois, und mir stachen gleich mehrere Sätze ins Auge, die mit Hiermit begannen. Dann sah ich den Namen meiner Mutter: Angeline Cepak Hayes. Unter den Buchstaben in Druckschrift prangte ihre Unterschrift – kühn, auffällig. Lebendig. Mit einem Mal erinnerte ich mich an sie – an die Frau, die sie vor langer Zeit gewesen war, als ich noch in Kleinmädchenschuhen gesteckt hatte, nicht an die müde, traurige Frau, die fortgegangen war. Ihr dunkles, ungezähmtes Haar, das dem meinen so sehr ähnelte, war eine wilde Lockenpracht gewesen. Die dunklen Augen hatte ich ebenfalls von ihr geerbt. Sie hatte helle, seidenglänzende Kleider getragen, deren Farben geleuchtet hatten, und ich erinnerte mich daran, wie sie mit mir getanzt hatte, wie sie mich hochgehoben und gelacht hatte, während sie mit mir atemlos im Salon herumgewirbelt war. Sie hatte nach Rosen geduftet. „Es tut mir leid, Violet“, sagte mein Vater wieder. „Ich hätte dir schon vor Jahren die Wahrheit sagen sollen.“ Bevor er mir die Unterlagen aus der Hand nahm und sie wieder in die Schublade stopfte, erspähte ich gerade noch unter dem Namen meiner Mutter eine Adresse in Chicago. Ich starrte meinen Vater an, als wäre er ein Fremder, während ich versuchte, die Wahrheit zu verdauen. „Warum hast du es mir nicht erzählt?“, murmelte ich. Es dauerte einen Augenblick, bis er antwortete. Sekundenlang spielte er wortlos mit seiner Uhrenkette. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme belegt. „Es tut mir leid … Ich glaube … ich glaube, ich habe immer gehofft, dass sie irgendwann zu uns zurückkehren würde.“ Kapitel 2 An diesem Abend konnte ich nicht einschlafen. Ich musste zusätzlich zu Maudes unverträglichem Hammelfleisch einfach zu viele Informationen verdauen. Mein Magen reagierte mit Krämpfen. Vaters Verlobung mit der Witwe O’Neill hatte mir einen schweren 8
Schock versetzt. Aber plötzlich zu erfahren, dass meine Mutter die ganzen Jahre über nicht krank gewesen war, sondern uns verlassen hatte, um in Chicago zu leben – das konnte ich nicht begreifen. Meine Mutter war eine Verräterin, mein Vater ein Verräter und ein Lügner. Was machte das aus mir? Natürlich musste ich Vaters Heirat verhindern. Ich hatte uns immer für glücklich gehalten und zufrieden mit unserem ruhigen, angenehmen Leben in unserem Haus auf dem Hügel oberhalb des Kanals von Lockport. Wir hatten Mrs Hutchins, die für uns sauber machte und unsere Mahlzeiten kochte – war das nicht genug für meinen Vater? Wie konnte er erwarten, dass ich ihn mit dieser zähen Witwe und ihren schrecklichen Kindern Horror und Haarig teilte? Ich hatte beschlossen, dass ich die beiden Monster insgeheim so nennen würde, weil diese Spitznamen viel besser zu ihnen passten als Horace und Harriet. Ja, ich musste die Hochzeit um jeden Preis verhindern. Aber wie? Hellwach stieg ich aus dem Bett und zündete die Gaslampe an. Dann holte ich mein Tagebuch unter meiner Matratze hervor und schlug es auf. Ich schrieb VATERS HEIRAT VERHINDERN!!! in dicken Buchstaben quer über eine neue Seite und unterstrich das Ganze dreimal, wobei ich die Bleistiftspitze abbrach. Doch das brachte mich nur kurzzeitig aus dem Konzept. Ich suchte mir einen anderen Bleistift und schrieb die Zahlen von eins bis zehn untereinander. Was könnte ich nur tun? Was? Vielleicht könnte ich mit etwas Detektivarbeit beweisen, dass Maude ihren ersten Mann umgebracht hatte, und sie und ihre verhassten Sprösslinge für den Rest ihres Lebens ins Gefängnis schicken. Horror und Haarig waren ihre Komplizen gewesen – dessen war ich mir sicher. Ich schrieb: 1. Nachforschungen über Mr O’Neills Tod anstellen, und fügte dann hinzu: (Zwecks Inspiration Die Abenteuer des Sherlock Holmes und Allan Pinkertons Detektivbuch noch einmal lesen.) Die nächsten zehn Minuten verbrachte ich damit, mit dem Bleistift auf die Seite zu trommeln, während ich vergeblich nach weiteren Ideen suchte. Als mein Kopf vom angestrengten Nachdenken zu schmerzen begann, löschte ich die Lampe, kroch mit meinem Tagebuch und dem Bleistift 9
wieder unter meine Bettdecke und dachte über die zweite schockierende Neuigkeit nach, die ich erfahren hatte: Meine Mutter hatte uns verlassen. Elf Jahre lang hatte ich mir vorgestellt, wie sie in einem trostlosen Sanatorium dahinsiechte und tapfer versuchte, wieder gesund zu werden, um zu uns nach Hause kommen zu können. Die Szene war immer in flimmerndes, blendendes Licht getaucht gewesen: Weiße Krankenhauswände, weiße Laken, weiß gekleidete Schwestern und Mutter mittendrin, ihre Haut so blass wie Alabaster, ihr Körper in ein gerüschtes weißes Nachthemd gehüllt. An ihrem Bett stand ein Foto von Vater und mir und sie weinte vor Sehnsucht, wann immer sie es betrachtete. Jetzt hatte mein Vater diese ätherische Vorstellung mit vier kalten, unverblümten Worten zunichte gemacht. Sie hat uns verlassen. Es konnte nicht wahr sein. Warum sollte meine Mutter so etwas tun? Was stimmte nicht mit mir, dass sie beschlossen hatte, mich so schmählich im Stich zu lassen? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich ein anspruchsvolles oder schwieriges Kind gewesen wäre, aber vielleicht trog mich meine Erinnerung. Ich schloss die Augen und versuchte mich daran zu erinnern, wie das Leben gewesen war, bevor meine Mutter uns verlassen hatte. Endlose Tage waren verstrichen, in denen sie das Bett nicht verlassen hatte – was doch nur bedeuten konnte, dass sie krank gewesen war, oder nicht? Vater hatte irgendwann eine junge Schwedin eingestellt, die kaum Englisch sprach und die sich um mich kümmern sollte. Mrs Hutchins putzte und kochte für uns, seit ich denken konnte. Aber ich erinnerte mich dunkel daran, dass ich einmal geweint und getobt hatte, weil Mrs Hutchins ihren freien Tag und ich Hunger gehabt hatte. Ich war meiner nordischen Wärterin entflohen und hatte an Mutters schlaffem Arm gezerrt, damit sie sich eines ihrer weiten, regenbogenfarbenen Gewänder anzog, mir etwas zu essen gab und mit mir im Salon herumwirbelte und lachte, wie sie es früher getan hatte. Hatte mein ungebührliches Verhalten an jenem Tag sie vertrieben? Ich wünschte, ich wüsste es. In den frühen Morgenstunden, nachdem ich meine Tagebuchseite über und über mit dunklen, wütenden Kritzeleien bedeckt hatte, wurde mir bewusst, dass ich meine beiden Probleme auf einmal lösen könnte, wenn ich meine Mutter ausfindig machen würde. Sie würde sehen, dass ich jetzt 10
eine erwachsene Frau war, eine Absolventin von Madame Beauchamps’ Schule für junge Damen und keine Tobsuchtsanfälle mehr bekam. Wenn ich sie erst einmal dazu überredet hätte, nach Hause zu kommen, gäbe es für Vater keinen Grund mehr, Mörder-Maude zu heiraten. Und falls Mutter immer noch nicht nach Lockport zurückkehren wollte, könnte ich der bevorstehenden Ehe meines Vaters entkommen, indem ich nach Chicago zog und bei ihr lebte. Aber wie sollte ich sie finden? Die Erlaubnis zu erhalten, allein nach Chicago zu reisen, war die erste Hürde, die es zu nehmen galt. Wenn ich erst einmal dort war, würde mir schon etwas einfallen, wie ich meine Mutter ausfindig machen könnte. Am nächsten Morgen blieb ich bis elf Uhr im Bett liegen. Als ich schließlich aufstand, weigerte ich mich, Maude die übliche Dankeskarte für die gestrige Einladung zu schreiben. Außerdem weigerte ich mich den ganzen Tag lang, mit meinem Vater zu sprechen. Nach dem Abendessen saß ich allein im Salon und las einen anständigen, überaus langweiligen Roman, als Herman Beckett zu Besuch kam. Herman war ein ernsthafter junger Mann von dreiundzwanzig Jahren und bis jetzt mein einziger Verehrer. Ich hatte mich noch nicht entschieden, ob ich ihm weiterhin erlauben würde, mir den Hof zu machen. Herman war bei einer Reederei angestellt und bei unserem ersten gemeinsamen Ausflug hatte ich den Fehler begangen, ihn zu fragen, welche Güter seine Firma verschiffte und wohin sie sie beförderte. Seine Antwort war so lang und öde ausgefallen, dass ich tatsächlich kurz eingenickt war. Madame B. hätte mich für einen solchen gesellschaftlichen Fauxpas mit ihrem Sonnenschirm gepiesackt. „Guten Abend, Miss Hayes“, sagte Mr Beckett, der abwartend vor unserer Tür stand. Er verneigte sich, als wäre ihm sein dunkler, langweiliger Anzug zu eng und könnte jeden Augenblick an den Nähten aufplatzen. „Ich war gerade auf meinem abendlichen Spaziergang und dachte, ich statte Ihnen einen Besuch ab. Wir könnten uns doch etwas besser kennenlernen – natürlich nur, wenn Sie Besuch empfangen dürfen.“ Wenn er mir den Grund seines Besuchs nicht genannt hätte, wäre ich aufgrund seiner feierlichen Miene und seiner düsteren Kleidung davon ausgegangen, dass er auf dem Weg zu einer Totenwache war. Ich überlegte, was besser war – mein langweiliges Buch oder eine Stunde mit Herman –, 11
und beschloss, ihn hereinzubitten. Vater kam aus seinem Arbeitszimmer, um mit Herman zu plaudern, während ich für Herman und mich Cidre holte. Mein verräterischer Vater konnte sich seinen Cidre selbst holen. Als ich zurückkam, zog Vater sich wieder in sein Arbeitszimmer zurück, das gegenüber vom Salon lag, wobei er natürlich beide Türen weit offen stehen ließ. Es waren nur wenige Minuten Smalltalk nötig, um zu erkennen, dass ich eine schlechte Wahl getroffen hatte; Herman war sogar noch langweiliger, als mein Buch es gewesen war. Ich musste etwas unternehmen, um bei Bewusstsein zu bleiben – und zwar schnell. „Wenn Sie wählen könnten“, fragte ich ihn während einer langen, peinlichen Gesprächspause, „wären Sie dann lieber ein Pferd oder eine Kutsche?“ Meine Freundin Ruth und ich konnten uns stundenlang mit Fragen wie dieser beschäftigen, aber Herman umklammerte seinen Cidre mit beiden Händen und setzte sich in seinem Sessel so ruckartig auf, als hinge das Schicksal der Welt von seiner Antwort ab. „I-ich verstehe nicht.“ „Es ist doch eine einfache Frage. Wenn Sie wählen könnten, was wären Sie dann lieber? Beides hat Vor- und Nachteile, müssen Sie wissen. Ein Pferd ist lebendig und kann sich in ein anderes Pferd verlieben und kleine Pferdchen bekommen –“ „Ach, du meine Güte! Miss Hayes!“ Sein Gesicht färbte sich scharlachrot. „Eine Kutsche kann sich nicht verlieben, aber sie hat den Vorteil, dass sie an aufregende Orte und in ferne Länder reisen und interessante Menschen befördern kann – vielleicht sogar Könige. Wofür würden Sie sich also entscheiden?“ Er nahm einen Schluck Cidre, als wollte er Zeit gewinnen, und sagte dann: „I-ich möchte keines von beiden sein.“ Herman kapierte es nicht. Ich würde das Spiel für ihn vereinfachen müssen. „Also gut. Was wären Sie lieber: unglaublich attraktiv, aber arm, oder ungeheuer reich, aber entstellt?“ Diesmal kam die Antwort ziemlich unvermittelt. „Ich wäre lieber ich selbst, vielen Dank.“ Er legte die Stirn so in Falten, dass seine buschigen schwarzen Augenbrauen in der Mitte zusammenstießen und eine lange Raupen-Augenbraue bildeten. Ich wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass dieses Stirnrunzeln ihm gar nicht stand, als die Ähnlichkeit mit einer Raupe mich an eine von Ruths Lieblingsfragen erinnerte. 12
„Was ist das Ekeligste, was Sie jemals gegessen haben, Mr Beckett? Wie ich gehört habe, essen die Menschen in manchen Ländern Dinge wie Insekten und Hunde und Katzen. Würden Sie so etwas probieren, wenn Sie die Gelegenheit dazu bekämen?“ „Nein.“ „Auch dann nicht, wenn Sie kurz davor stünden zu verhungern? Oder wenn Sie als Missionar in einem fremden Land lebten und man Ihnen Raupen anbieten würde und Sie sie nicht ablehnen könnten, ohne unhöflich zu sein? Was, wenn Ihre missionarischen Bemühungen darunter leiden würden, wenn Sie sie nicht äßen?“ „Ich glaube kaum–“ „Madame Beauchamps hat uns in ihrer Schule einmal Schnecken aufgetischt, weil sie wollte, dass wir lernen, wofür die besondere Gabel gut ist und wie man sie richtig benutzt. Madame kommt aus Frankreich, müssen Sie wissen, und dort sind Schnecken eine Delikatesse. Kaum hatte Madame eine Schnecke aus ihrem Haus gezogen, fing meine Freundin Ruth auch schon an zu würgen und musste sich vom Tisch entfernen. Keins der anderen Mädchen wollte eines dieser schleimigen Dinger essen, aber ich habe meine Schnecke ganz gelassen aus dem Gehäuse geholt und in einem Bissen hinuntergeschluckt. So schlimm war es gar nicht. Das Einzige, was ich schmecken konnte, war die Knoblauchbutter. Die Schnecke war so glibberig, dass sie gleich hinunterrutschte –“ „Bitte, Miss Hayes.“ „Was ist denn?“ „Mir wird ganz schlecht.“ Ich war noch nicht bereit aufzugeben. „Also gut, was war denn nun das Abenteuerlichste, was Sie je gegessen haben?“ Sein Mund stand offen, aber es kam kein Ton heraus. „Wie ist es mit Büffel, Mr Beckett? Würden Sie ein Büffelsteak essen? Bestimmt haben Sie auch gehört, dass sie das im Westen fast täglich servieren.“ Herman antwortete nicht. Er hatte offensichtlich überhaupt keine Fantasie. Mir war inzwischen klar, dass ein Leben mit ihm ereignislos und vorhersehbar wäre. Überraschungen würden in dieselbe Kategorie fallen wie Typhus: etwas, das es unbedingt zu vermeiden galt. Ich war froh, dass ich diese Wahrheit über Herman jetzt herausgefunden hatte und nicht erst, nachdem ich eingewilligt hatte, ihn zu heiraten. Ich wollte lieber als 13
alte Jungfer sterben, als mein Leben an der Seite eines derart langweiligen, fantasielosen Mannes zu verbringen. War das wirklich der Grund, aus dem meine Mutter uns verlassen hatte? Mein Vater konnte auch langweilig und pedantisch sein. „Sie hasste ihr Leben mit mir“, hatte mein Vater gesagt, „hasste es, in einer Kleinstadt wie Lockport zu leben.“ Hatte die Eintönigkeit sie so mürbe gemacht, dass sie einfach hatte gehen müssen? Aber warum hatte sie mich dann nicht mitgenommen? „Sie hasste es, angebunden zu sein“, hatte Vater gesagt. Das hatte sicherlich auch für mich gegolten. Ich hatte sie angebunden. „Miss Hayes?“ Herman starrte mich an, als hätte ich einen ganzen Eimer Schnecken verspeist. „Ich würde lieber Büffelfleisch essen“, erklärte ich ihm, „als dieses –“ Beinahe hätte ich mich verplappert und Maude O’Neills Hammelfleisch erwähnt, das so zäh und geschmacklos gewesen war wie Pferdeleder – nicht, dass ich jemals Pferdeleder gegessen hätte, aber darum ging es nicht. Doch ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig daran, dass Maude mit Hermans Mutter befreundet war. Ich dachte an den Plan, den ich am Abend zuvor in mein Tagebuch geschrieben hatte, nämlich dass ich den Tod ihres Mannes untersuchen wollte, und beschloss, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. „Mir fällt gerade etwas ein, Herman. Wie mir zu Ohren gekommen ist, haben wir eine gemeinsame Bekannte, Mrs O’Neill.“ „Ja, tatsächlich. Meine Familie kennt sie sehr gut.“ „Es ist doch tragisch, dass sie in so jungen Jahren bereits Witwe geworden ist, oder? Ich war im Internat, als ihr Mann starb, deshalb bin ich mir unsicher, ob ich jemals gehört habe, woran er gestorben ist.“ „Es war ein schrecklicher Unfall, fürchte ich. Er ist die Kellertreppe hinuntergefallen und mit dem Kopf aufgeschlagen.“ Aha! Wie ich es mir gedacht hatte! Mörder-Maude hatte ihn gestoßen! Horror und Haarig hatten ihm wahrscheinlich diverse Gegenstände in den Weg gelegt, um seinen Sturz zu verschlimmern, und das Geländer hatten sie wahrscheinlich auch eingefettet. Ich verbarg meine Begeisterung hinter einer Miene, die, wie ich hoffte, voller Entsetzen war. „Wie schrecklich für die arme Mrs O’Neill! Ich hoffe, sie war zu dem Zeitpunkt nicht zu Hause.“ 14
„Doch, ich befürchte, das war sie. Sie hat die arme kleine Harriet zu Dr. Bigelow geschickt, aber er kam zu spät.“ Wahrscheinlich Stunden zu spät – und erst, nachdem Maude seinen Schädel mit einem Vorschlaghammer bearbeitet hatte, um auf Nummer sicher zu gehen. Ich war ganz in meine Gedanken vertieft und dachte über diese höchst verdächtigen Umstände nach, als Herman sich erneut räusperte. „Habe ich erwähnt, dass ich nach Chicago fahre, um mir die Columbus-Weltausstellung anzuschauen?“ „Wirklich? Wann denn?“ Ich reagierte mit Finesse auf den abrupten Themenwechsel und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich den Mord an Mr O’Neill untersuchte. „Ich dachte an nächsten Monat, wenn es ein bisschen wärmer ist.“ Herman schwadronierte so lange über die architektonischen Wunder und pädagogischen Vorzüge der Weltausstellung, dass die Eintönigkeit mich wieder einmal in eine hypnotische Starre verfallen ließ. Meine Augen tränten von der Anstrengung, ein Gähnen zu unterdrücken. „Planen Ihr Vater und Sie auch die Weltausstellung zu besuchen, Miss Hayes?“ Seine Frage brachte mich auf einen fantastischen Gedanken: Ich könnte die Ausstellung als Ausrede nutzen, um nach Chicago zu fahren und dort nach meiner Mutter suchen! Gleich nachher würde ich anfangen, meinen Vater deshalb zu bearbeiten. Sobald Herman seinen Cidre ausgetrunken hatte – ich bot ihm nicht an, nachzuschenken – und ich die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, wandte ich mich an meinen Vater, der ins Foyer geschlendert gekommen war, um Herman Auf Wiedersehen zu sagen. „Herman fährt in diesem Sommer nach Chicago, um sich die Weltausstellung anzusehen. Ich würde auch gerne hinfahren.“ „Zufälligerweise habe ich bereits eine Reise nach Chicago geplant. Ich dachte, wir könnten alle zusammen hinfahren.“ „Wir alle? Du meinst, mit Maude und ihren Kindern?“ „Ja, ich –“ „Bitte nicht, Vater! Ich will nicht mit ihnen zusammen nach Chicago fahren. Ich bin eine erwachsene Frau und kein Kind wie Horror oder Haarig.“ Erst als ich Vaters entsetztes Gesicht sah, bemerkte ich, dass ich versehentlich meine Geheimnamen für die beiden benutzt hatte. 15
„Violet! Ich muss mich wirklich über dich wundern.“ „Es tut mir leid“, murmelte ich. „Es sieht dir gar nicht ähnlich, so gemein zu sein, Violet. Bist du … Kann es vielleicht sein … dass du ein wenig eifersüchtig auf sie bist?“ „Ganz gewiss nicht! Sie sind Kinder und ich bin eine erwachsene Frau – und genau das versuche ich dir gerade zu erklären, verstehst du denn nicht? Maude hat gestern Abend so getan, als würden wir alle zusammenziehen und eine glückliche Familie werden, aber ihre Erwartungen sind völlig unrealistisch. Keinesfalls werde ich mit ihren kleinen Gören an der Hand und einem Picknickkorb über dem Arm durch die Weltausstellung schlendern. Ich möchte lieber mit jemandem in meinem Alter die Ausstellung besuchen.“ „Das verstehe ich. Aber es kommt nicht in Frage, dass du Mr Beckett begleitest, ohne dass eine Anstandsdame dabei ist.“ „Was ist mit Großmutter? Warum kann ich sie nicht für ein paar Wochen in Chicago besuchen?“ Diese Idee war mir soeben wie ein Geistesblitz gekommen. Mein Vater konnte kaum behaupten, dass seine eigene Mutter nicht als Anstandsdame taugte. Glücklicherweise war Großmutter jedoch ziemlich beschäftigt damit, für verschiedene wohltätige Zwecke zu arbeiten, und so würde es mir bestimmt gelingen, mich für ein paar Stunden davonzuschleichen, um nach meiner Mutter zu suchen. „Ich halte das nicht für klug, Violet. Deine Großmutter hat mit ihren Schwestern genug zu tun, da wäre es nicht gut, wenn sie auch noch auf dich aufpassen müsste.“ „Aber ich würde ihr doch keine Arbeit machen. Und in dem riesigen alten Haus ist jede Menge Platz. Bitte, Vater! Großmutter lädt mich jedes Mal, wenn sie uns schreibt, zu sich ein. Warum lässt du mich nie hinfahren?“ Vater zögerte, als müsse er seine Antwort vorsichtig formulieren. „Du bist eine sehr … leicht zu beeindruckende … junge Dame. Ich befürchte, die Howell-Schwestern hätten keinen guten Einfluss auf dich.“ Seine Worte machten mich neugierig. Das klang nach einem weiteren Geheimnis, das es zu lüften galt. Warum sollten meine fromme Großmutter und ihre drei alten Schwestern einen negativen Einfluss auf mich ausüben? Jetzt war ich noch entschlossener, sie zu besuchen – allein, um die Antwort auf dieses Rätsel zu finden. Meine nächsten Worte wählte ich mit Bedacht. 16
„Du hast angefangen, der Witwe O’Neill den Hof zu machen, während ich im Internat war, und hast mir kein Wort davon gesagt. Stattdessen hast du mich ohne Vorwarnung mit der Neuigkeit eurer Verlobung konfrontiert und mich nicht einmal gefragt, was ich davon halte. Als Nächstes erfahre ich, dass du mich seit mehr als zehn Jahren angelogen hast, was meine Mutter betrifft. Du hast mir erzählt, sie sei krank, obwohl sie überhaupt nicht krank ist. Wenn man all das bedenkt, könnte man meinen, dass du mir gegenüber ausgesprochen ungerecht gewesen bist. Und angesichts solcher Lügen und solchen Verrats könnte man auf den Gedanken kommen, unangekündigt zu gehen – und ohne Anstandsdame.“ Ich hatte eine Drohung ausgesprochen, ohne die Stimme zu erheben. Madame Beauchamps wäre stolz auf mich gewesen. „Ich wollte dir nie wehtun, Violet. Ich dachte, dass –“ „Du könntest deine Reue zeigen, indem du mich wie eine erwachsene Frau behandelst und nicht wie ein Kind. Ich bitte lediglich darum, eine kurze Reise unternehmen zu dürfen, um die Columbus-Weltausstellung zu sehen. Vielleicht hilft mir die Zeit der Abwesenheit, mich an die hiesigen Veränderungen zu gewöhnen. Und immerhin würde ich während dieser Zeit bei deiner eigenen Mutter wohnen.“ „Deshalb mache ich mir ja Sorgen“, murmelte mein Vater. „Warum? Was stimmt denn nicht mit Großmutter?“ Sein Blick schweifte in die Ferne, während er den Kopf schüttelte. Seine Augen hatten denselben leeren Glanz wie die eines ausgestopften Elchs. „Vater, warum besuchen wir Großmutter so selten, obwohl sie nur eine Zugfahrt entfernt wohnt?“ „Das ist nicht so einfach, Violet …“ Vater fingerte an seiner Uhrenkette, als wäre sie eine Waffe, mit der er sich gegen meine Hartnäckigkeit verteidigen könnte. Ich weigerte mich nachzugeben. „Darf ich jetzt nach Chicago fahren und sie besuchen oder nicht?“ Er öffnete die Uhr und starrte auf das Zifferblatt, bevor er sie wieder zuschnappen ließ. Ich war mir sicher, er hätte nicht sagen können, wie spät es war. „Lass mich darüber nachdenken, Violet.“ „Gut.“ Ich drehte mich um und schwebte majestätisch die Treppe hinauf. „Während ich auf deine Antwort warte, werde ich einen Brief an Großmutter schreiben.“ 17
Cindy Woodsmall Wie Federn im Wind ISBN 978-3-86827-216-1 352 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2011
Das Leben hat Cara Moore nichts geschenkt. Schon früh hat sie ihre Mutter durch einen Unfall verloren. Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie in Pflegefamilien. Cara heiratet jung, doch nach dem frühen Tod ihres Mannes ist sie gezwungen, mit ihrer Tochter Lori ein Vagabundenleben zu führen. Immer auf der Flucht vor einem Mann, der sie verfolgt, kann sie an keinem Ort lange bleiben. Eine geheimnisvolle Adresse im Tagebuch ihrer Mutter schenkt Cara und Lori neue Hoffnung. Ihre Suche führt sie direkt ins Herz des Amischlandes, nach Pennsylvania. Aber was hatte Caras Mutter mit den Amisch zu schaffen? Und warum begegnen ihr die Bewohner von Dry Lake mit Angst und Misstrauen? Nur Ephraim Mast, ein junger Zimmermann, bietet Cara und Lori seine Hilfe an. Zwei Welten prallen aufeinander. Für Cara beginnt eine Reise zu den Geheimnissen ihrer Vergangenheit und ein Heilungsprozess für die Wunden der Gegenwart. Eine fesselnde, aufrüttelnde Geschichte um eine Frau und ihre herausfordernde Suche nach ihren Wurzeln, nach einer Heimat und nach Gott. 18
Prolog „Mama, kannst du es mir nicht verraten?“ Cara streichelte ihr Spielzeugpferd, als könnte es auf ihre zärtliche Berührung reagieren. Mama streckte den Arm zum Beifahrersitz herüber und fuhr mit der Hand über Caras Hinterkopf. „Wir besuchen eine…eine Freundin von mir. Sie ist amisch.“ Sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. „Du musst das tun, was die Mutter von Jesus tat, wenn sie kostbare Momente erlebte: Sie bewahrte sie in ihrem Herzen und dachte darüber nach. Von dem Ausflug, den wir jetzt machen, darfst du kein Bild malen und kein Wort schreiben. Du darfst auch deinem Vater kein Wort davon erzählen, okay?“ „Fahren wir zu deinem Versteck?“ Cara hatte ein Versteck, das ihre Mutter auf dem Dachboden hinter der Wand für sie gebaut hatte. Wenn Daddy seine Ruhe brauchte, zog ihre Mutter sie schweigend in dieses Geheimzimmer. Wenn ihre Mama bis abends nicht kam und sie holte, schlief sie dort und schlich sich nur kurz heraus, wenn sie zur Toilette musste. Jetzt drückte sie ihr Spielzeugpferd fester an sich und schaute aus dem Fenster. Sie stellte sich vor, wie sie auf einem Pferd in eine Welt galoppierte, in der sie essen konnte, so viel sie wollte, und ihre Eltern glücklich waren. (…) Nachdem sie eine Steigung hinaufgefahren waren, verlangsamte ihre Mutter das Tempo und bog in eine Einfahrt. Mama stellte den Motor ab. Wenige Sekunden, nachdem Cara die Beifahrertür zugeschlagen hatte, tauchte eine alte Frau zwischen hohen Maisstauden auf. Sie schaute sie an, als wären sie Fremde „Großmammi Levina, ich bin kumme bsuche. Ich hab aa die Cara mitgebrocht.“ Überrascht schaute Cara zu ihrer Mutter hinauf. Was hatte sie gesagt? Die alte Frau ließ die Zipfel ihrer Schürze los, und mehrere Maiskolben fielen auf die Erde. Sie eilte auf Mama zu. „Malinda?“ Mama traten Tränen in die Augen, und sie nickte. Die alte Frau stieß einen lauten Schrei aus und umarmte Mama. Ein schlaksiger Junge kam aus dem Maisfeld gelaufen. Er blieb abrupt stehen und schaute die zwei Frauen einen Moment lang an, dann wanderte sein Blick zu Cara. „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ Diese Frage war für sie nichts Ungewohntes. In der Schule war es ihr 19
ganz recht, wenn man sie für einen Jungen hielt. Zum Beispiel, wenn sie an der Aufsicht vorbei in die Jungentoilette huschte, um Jake Merrow einzubläuen, dass er nicht ihr Geld für die Pausenmilch stehlen dürfe. Sie hatte es zurückbekommen, und er hatte nie einer Menschenseele verraten, dass ihn ein Mädchen verprügelt hatte. „Wenn ich sage, dass ich ein Junge bin, darf ich dir dann beim Mais ernten helfen?“ Der Junge lachte freundlich. „Früher hatte ich auch so ein Pferd. Ich hatte es immer in der Tasche, aber dann habe ich es verloren.“ Cara schob das Pferd tiefer in ihre Tasche. „Du hast es verloren?“ Er nickte. „Wahrscheinlich unten am Bach, wo ich geangelt habe. Angelst du auch?“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe noch nie einen Bach gesehen.“ „Du hast noch nie einen Bach gesehen? Woher kommst du denn?“ „Aus New York City. Meine Mama musste sich ein Auto leihen, damit wir weiter fahren können als die U-Bahn.“ „Wenn wir mit der Arbeit fertig sind, zeige ich dir den Bach. Wir haben eine Schaukel, und wenn deine Mama es dir erlaubt, kannst du dich damit über den Bach schwingen und an der tiefsten Stelle ins Wasser fallen lassen. Wie lange bleibst du hier?“ Sie schaute sich um. Grüne Wiesen erstreckten sich bis zum Horizont. Sie atmete tief ein. Die Luft roch herrlich nach Erde, und nicht nach dem Schmutz der Großstadt. Nach Erde, in der etwas zu essen wächst. Die Maispflanzen ragten fast bis zum Himmel, und ihre Brust fühlte sich an, als würde sie vor Freude gleich zerspringen. Sie hätte wissen müssen, dass etwas schön sein musste, wenn ihre Mama es mochte. „Bis es kein Geheimnis mehr ist, denke ich.“ Kapitel 1 Zwanzig Jahre später Sonnenlicht fiel durch die schmutzigen Fenster der Bar, die mit Mittagsgästen voll war. Cara stellte zwei Flaschen Bier auf den Tisch, an dem bekannte Gesichter saßen. Die Stammgäste kannten die Regel: Alle alkoholischen Getränke wurden sofort bezahlt. Einer der Männer hielt ihr einen Fünfdollarschein hin, wandte aber den Blick nicht vom Fernseher ab. Der andere trank einen 20
langen Schluck, während er einen Hundertdollarschein über den Tisch schob. Sie starrte den Schein an, und ihr Herz pochte vor Verlangen. Als wäre es nicht schon schwer genug, sich als Kellnerin ihren Lebensunterhalt zu verdienen, steckte Mac auch noch den größten Teil ihres Trinkgeldes ein. Das Geld, das der Gast über den Tisch schob, war nicht nur Bargeld, es verkörperte auch Macht. In ihm steckte die Möglichkeit, ihr und Lori nächste Woche etwas anderes als Kartoffeln zu kochen und ihrer Tochter Schuhe zu kaufen, die nicht drückten. Würde der Gast es überhaupt merken, wenn ich ihm nicht richtig herausgäbe? Die Grenzen der Ehrlichkeit verschwammen leicht, wenn die Verzweiflung zu groß wurde. Cara verabscheute es, dass sie keine staatliche Hilfe beantragen konnte und dass sie alle paar Monate umziehen musste, um vor einem Verrückten zu fliehen. Jeder Umzug kostete Geld. Außerdem fehlte ihr die Zeit, in der sie nichts verdiente, weil sie sich eine neue Stelle suchen musste. Und jede neue Stelle war armseliger als die letzte. Mike hatte es geschafft, ihr alles zu nehmen. Bis auf ihr Leben. Und ihre Tochter. „Ich bringe Ihnen gleich das Wechselgeld.“ Das ganze Wechselgeld. Sie nahm den Geldschein. „Cara.“ Macs knurrende Stimme hallte durch den Raum. Er stand hinter der Bar und bedeutete ihr zu kommen. „Telefon!“ Er hielt ihr den Hörer hin. „Kendal sagt, es sei ein Notfall.“ Jedes Geräusch um sie herum verstummte. Sie schlängelte sich um die Tische, an denen die Gäste saßen, und eilte zu ihm. „Mach es kurz.“ Mac reichte ihr das Telefon und bediente dann weiter. „Kendal, was ist passiert?“ „Er hat uns gefunden.“ Die normalerweise harte Stimme ihrer Freundin zitterte, und Cara wusste, dass sie mehr Angst hatte als bei den früheren Malen. (...) Kapitel 3 Die Hektik auf dem Busbahnhof „Port Authority“ erzeugten bei Cara das Gefühl, ein Déjà-vu-Erlebnis zu haben. Sie war schon oft hier gewesen, aber dieses Mal regte sich ein ganz sonderbares Gefühl in ihr. 21
Sie hatte ihr Tagebuch unter einen Arm geklemmt und hielt mit ihrer anderen Hand ihre Tochter fest und ging mit ihr an Geschäften, Restaurants und Fahrkartenschaltern vorbei. Das sonderbare Gefühl wurde stärker, als sie in den Aufzug stieg und nach unten zu den U-Bahnen fuhr. Plötzlich hielt ihr Vater ihre Hand und nicht Lori. Erinnerungen liefen in ihr ab. Mehrere Treppen, die sie und ihren Vater immer tiefer in den Bauch der Stadt hinunterführten. Eine braune Papiertüte, die sie am oberen Rand zusammengeknüllt hatte und in der Hand hielt. Sie gingen immer weiter, während es die vielen Menschen um sie herum nicht im Geringsten interessierte, dass ihre Mutter letzte Woche gestorben war. Ihr Vater trat in ein Café und setzte sie auf einen Stuhl. „Hör auf zu weinen, Cara. Dir wird es gut gehen. Das verspreche ich dir.“ Er zog die Karte aus seiner Jackentasche, die er am Vorabend für sie gezeichnet hatte und die sie mit ihm ausgemalt hatte. Er breitete sie auf dem Tisch aus. „Siehst du? Genau an dieser Stelle bist du jetzt, am New Yorker Busbahnhof. Eine Frau wird dich abholen. Sie heißt Emma Riehl. Der Bus wird dich und sie in südwestliche Richtung bringen. In Harrisburg steigt ihr wahrscheinlich um und fahrt noch einmal ungefähr eine Stunde in Richtung Westen weiter. Bis hierher.“ Sein breiter Finger tippte auf das Papier. Sie musste etwas Seltsames gesagt haben, denn er starrte sie wortlos an und bestellte sich dann etwas zu trinken. Er trank, bis seine Worte lallend klangen, dann führte er sie zu einer Bank, forderte sie auf, hier sitzen zu bleiben, und versprach, dass Emma kommen würde. Dann ließ er sie allein. Die Panik, als er wegging und sie ihm nur hilflos nachschauen konnte, verblasste im Laufe der Stunden. Aus Angst, dass sie Emma verpassen könnte, verließ sie ihren Platz, an den ihr Vater sie gesetzt hatte, nur für ein paar Minuten, um auf die Toilette zu gehen. Später schlief sie ein, und ein Mann in einer Uniform weckte sie. Neben ihm stand eine Frau. Cara hoffte, das wäre Emma. Aber die Frau war nicht Emma. Man brachte sie in ein Haus, in dem Metallbetten an der Wand standen. In den Betten lagen böse Kinder, die auch irgendwo sitzen gelassen und nie abgeholt worden waren. Als Lori an ihrer Hand zupfte, schaute sie in die unschuldigen, braunen Augen ihrer Tochter hinab. 22
„Suchen wir Kendal, Mama?“ Sie schüttelte den Kopf. Die Tage, in denen sie sich mit ihrer Freundin getroffen hatte, waren vorbei. Dass Kendal sie eines Tages im Stich lassen würde, hatte sich schon länger angebahnt. Früher standen sie sich einmal sehr nahe. Sie waren eine Weile in derselben Pflegefamilie untergebracht gewesen, aber in den letzten Jahren hatte Kendal Cara oft bestohlen, belogen und mit ihr gestritten. Da Kendal der einzige Mensch war, den Cara hatte, wollte sie sie nicht aufgeben. Aber nun ... Lori deutete auf ein Schild. „Fahren wir mit dem Bus irgendwohin?“ „Ja.“ „Was ist mit Kendal?“ „Diesmal fahren nur wir zwei.“ „Aber ...“ „Pscht ...“ Cara legte liebevoll einen Arm um Loris Schultern, während sie weitergingen. Die Erinnerungen an Kendal verhöhnten sie, und sie kam sich wie eine Idiotin vor, weil sie so lange versucht hatte, mit ihr zusammenzubleiben. Sie hatte immer gedacht, dass Kendal die einzige Familie sei, die sie je haben würde. Seine Familie konnte man sich nicht aussuchen, und man konnte sich auch nicht aussuchen, wer einen rettete. Kendal hatte sie gerettet. Mit neunzehn hatte sie die klebrige Tür ihrer winzigen, schäbigen Wohnung geöffnet und war das Risiko eingegangen, eine fünfzehnjährige Ausreißerin bei sich wohnen zu lassen. Damit hatte sie Cara Hoffnung geschenkt. Ohne Kendal hätte Cara damals kaum eine Chance gehabt, sich allein durchzuschlagen und Mike zu entkommen. Aber damals war es leichter gewesen, Kendals Schwächen – Männer und Drogen – zu ignorieren. Cara hatte immer den Eindruck gehabt, dass sie und Kendal wie viele Geschwister in echten Familien starke Gegensätze waren. Ihre Aufmerksamkeit wanderte zu dem Tagebuch, das unter ihrem Arm klemmte. Vielleicht hatten die verblassten Worte, die ihre Mutter ihr vor über zwanzig Jahren geschrieben hatte, sie davon abgehalten, bei Männern und durch Drogen den Schmerz in ihrem Inneren vertreiben zu wollen. Sie hatte die schönen Einträge im Laufe der Jahre tausendmal gelesen und konnte sich nicht von den Hoffnungen und Träumen lösen, die ihre Mutter für sie gehabt hatte. Eine Lehrerin hatte einmal gesagt, dass das Tagebuch ihrer Mutter Ca23
ras Liebe entfacht habe, viele Bücher zu lesen und sie begreifen zu wollen. Wahrscheinlich hatte sie mit dieser Beobachtung recht gehabt. Cara war eine gute Schülerin gewesen, aber dann hatte sich ihr Leben verändert, und Bücher und eine Ausbildung waren in den Hintergrund getreten und vom puren Überlebenskampf abgelöst worden. Cara blätterte eine Seite nach der anderen um und überflog die Einträge, die ihre Mutter geschrieben hatte. Sie hatte dieses Buch bekommen, als sie jünger gewesen war als Lori. Mit einer Ausnahme war jeder verfügbare Platz beschrieben. In jede Zeile waren zwei Schreibzeilen gequetscht worden. Die Ränder waren mit winzigen Worten und Zeichnungen gefüllt. Selbst die Innenseiten der Buchdeckel waren beschrieben. Es gab Stellen, an denen sie raues Papier auf bestehende Seiten geklebt oder geheftet hatte, bevor sie sie ebenfalls mit Worten gefüllt hatte. Nur eine Stelle, ungefähr acht Zentimeter hoch und zehn Zentimeter breit, war leer. Die Worte, die ihre Mutter darüber geschrieben hatte, forderten sie auf, diese Stelle nicht zu beschreiben, sondern sich zu erinnern. Wieder legte sich die tiefe Traurigkeit, die sie so hasste, auf ihr Herz, als sie die Worte ihrer Mutter las. Schreib nichts auf die Stelle, die ich umrahmt habe. Wenn die Zeit reif ist, meine geliebte Tochter, werde ich diese leere Stelle füllen. Geliebte Tochter. Diese Worte wühlten sie jedes Mal, wenn sie sie las, wieder auf. Hatte ihre Mutter sie wirklich so sehr geliebt? Offenbar hatte ihre Mutter ihren Plan nicht mehr verwirklichen können, und Cara erinnerte sich nicht mehr, was sie damit gemeint haben konnte. Aus dem Datum des Eintrags schloss Cara, dass ihre Mutter diese Worte geschrieben hatte, als Cara fünf gewesen war. Sie hob den Kopf und fuhr suchend mit dem Zeigefinger über die Stelle. Dann befahl sie ihrem Verstand, mit diesem emotionalen Unsinn aufzuhören. Sie vergrub den Kopf in ihren Händen und versuchte, ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bekommen. Lori schlug mit der Handfläche auf die leere Stelle im Tagebuch. „Was ist das?“ Cara wischte die Kekskrümel weg, die aus der Hand ihrer Tochter auf die Seite gefallen waren. „Eine leere Stelle. Meine Mutter hat gesagt, dass ich sie nicht beschreiben soll.“ „Warum?“ 24
Cara zuckte die Achseln. „Keine Ahnung.“ „Darf ich meinen Namen darauf schreiben?“ Sie zögerte einen Moment und schob Lori dann das Buch hin. „Klar, warum nicht?“ Lori kramte in ihrem Schulranzen und holte einen Bleistift heraus. Sie versuchte, in Schreibschrift zu schreiben. Aber mit ihren sieben Jahren waren Loris Buchstaben eher Schleifen als echte Buchstaben. Cara schaute die wenigen übrig gebliebenen Kekse an, weigerte sich aber, einen zu essen. Sie hatten kaum Geld, und Lori bräuchte diese Kekse vielleicht, bevor Cara eine neue Stelle fand. Das Gute an der Arbeit als Kellnerin war, dass man sofort Geld bekam. Sie müsste zwar auf ihren Lohnzettel warten, aber ab dem ersten Arbeitstag gab es Trinkgeld. Da sie nach einem Umzug sofort Geld brauchte, um etwas zu essen kaufen zu können, arbeitete sie immer wieder als Kellnerin. Und weil sie nach der zehnten Klasse die Schule abgebrochen und keine Berufsaubildung gemacht hatte. Aber sie war klug und könnte mehr erreichen. Das wusste sie. Sie hatte gute Noten gehabt, sie hatte sogar die dritte Klasse übersprungen und immer zu den Klassenbesten gehört. Aber wahrscheinlich bekäme sie nie eine Chance zu beweisen, dass sie mehr als eine erfolglose Schulabbrecherin war. „Mama, schau!“ Cara deutete auf das Tagebuch und schloss die Kekstüte. Ihre Tochter hatte ihren Versuch, in Schreibschrift zu schreiben, aufgegeben und ein dickes, langes L gemalt. Dann hatte sie es dünn ausschraffiert. „Sehr hübsch, Lori.“ „Nein, Mama, schau.“ Sie zog das Buch näher zu sich heran und entdeckte, dass unter der Schraffur Buchstaben auftauchten. „Das sind nur Buchstaben, die auf die Rückseite geschrieben wurden.“ Sie schob Lori das Buch wieder hin. Es ist lange her, meine geliebte Tochter ... Wie ein Flüstern hörte sie die Stimme ihrer Mutter. „Warte, Lori. Hör auf zu schreiben.“ Cara zog das Buch wieder zu sich heran. Durch die hellgraue Bleistiftschraffur sah sie den Teil eines Wortes. „Gib mir bitte kurz deinen Bleistift.“ „Nein.“ Lori riss ihr das Buch weg. „Das ist meine Stelle.“ 25
Cara widerstand dem Drang, scharf zu reagieren. „Okay. Du hast recht. Ich habe dir diese Stelle überlassen.“ Sie räumte die Kekse in den Rucksack. „Wenn du das Datum über diesem Eintrag liest, siehst du, dass ich zwei Jahre jünger war als du, als deine Oma das schrieb.“ Sie deutete auf die Worte, die ihre Mutter über die leere Stelle geschrieben hatte. „Es könnte sein, dass deine Oma ein Geheimnis in dem Tagebuch versteckt hat. Aber wenn du lieber deinen Namen hierhin schreiben möchtest ...“ Lori zog das Buch näher heran und betrachtete die freie Fläche. „Glaubst du, sie wollte mir etwas sagen?“ „Nein, Schatz. Wie hätte sie das sollen? Sie kannte dich nicht. Aber wir sollten trotzdem herausfinden, was sie geschrieben hat.“ Lori runzelte die Stirn. „Dann machen wir es gemeinsam.“ Cara nickte. „Das ist eine gute Idee. Wir müssen mit dem Bleistift sehr, sehr vorsichtig über die Stelle malen, sonst löschen wir die Nachricht aus, statt sie sichtbar zu machen.“ Lori reichte ihr den Stift. „Ich habe schon etwas gemalt. Jetzt du.“ Erleichtert nahm Cara den Bleistift und begann, das Blei leicht über die Seite zu reiben. Worte, die schon hier gestanden hatten, als ihre Mutter noch gelebt hatte, erschienen plötzlich auf der Seite. Es sah wie eine Adresse aus. Die Hausnummer war dem Kunstwerk ihrer Tochter zum Opfer gefallen, aber die Straße, Stadt und der Bundesstaat waren deutlich zu erkennen. Mast Road, Dry Lake, Pennsylvania. „Was steht hier, Mama?“ Neue Hoffnung keimte in ihrem Herzen auf, und Tränen brannten in ihren Augen. Lori hatte niemanden als sie, eine alleinerziehende Mutter, die selbst eine Waise war. Sie hatte keine Verwandten. Sie wollte ... nein, sie sehnte sich schmerzlich danach, Lori etwas Wichtiges in ihrem Leben zu schenken: eine Verwandte oder eine Freundin ihrer Großmutter. Vielleicht war das die Antwort. Auf jeden Fall war es besser als Jersey. „Hier steht, wohin wir fahren.“ „Und wohin fahren wir?“ Cara klappte das Buch zu. „Nach Dry Lake in Pennsylvania.“ Sie warf sich den Rucksack über eine Schulter und hielt Lori die Hand hin. „Du hast ein Geheimnis entdeckt, von dem ich keine Ahnung hatte. Komm. Wir müssen Busfahrkarten kaufen.“ 26
Beverly Lewis Unter dem Mantel des Schweigens Familiengeheimnisse Bd. 1 ISBN 978-3-86827-217-8 432 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2011
Familie Byler ist eine angesehene amische Familie in Lancaster County, Pennsylvania. Der Vater Judah und seine beiden Söhne sind hart arbeitende, erfolgreiche Schafzüchter. Lettie, die Mutter, hält den großen Haushalt zusammen, unterstützt von ihren Töchtern Grace und Mandy. Heiratspläne liegen in der Luft. Doch von einem Tag auf den anderen stürzt die scheinbar heile Welt der Amischfamilie in sich zusammen: Lettie verlässt bei Nacht und Nebel ihren Mann und ihre Kinder. Ihre Tochter Grace findet einen Abschiedsbrief, der mehr verschleiert als enthüllt. Warum war ihre Mutter in letzter Zeit so traurig und unruhig? Weshalb ist sie gegangen und wohin? Für Grace beginnt eine Entdeckungsreise zu lang verschwiegenen Familiengeheimnissen. 27
Prolog Ich habe wirklich gedacht, das Schlimmste wäre vorbei. Ein ganzer Monat ist seit dem kühlen Tag vergangen, an dem südöstlich von Straßburg eine neue Scheune errichtet wurde. Mama und ich waren den weiten Weg gefahren und hatten reichlich Essen mitgenommen. Wir wollten den Frauen dabei helfen, die Männer, die die neue Scheune aufstellten, mit einer kräftigen Mahlzeit zu versorgen. Die Bitte, bei diesem Arbeitseinsatz mit anzupacken, war durch die amische Gerüchteküche weitergetragen worden, von der einige behaupten, sie würde Neuigkeiten schneller verbreiten als das Radio. Wir waren also dort und saßen bei den anderen Frauen am Tisch, als Mama plötzlich nach Luft schnappte, aufsprang und auf eine Frau, die ich noch nie im Leben gesehen hatte, zueilte. Sie begrüßten einander aufgeregt und brachen dann zu einem sehr langen Spaziergang auf. Ohne ein Wort zu mir oder zu irgendjemand anderem zu sagen, marschierte Mama einfach davon. Von diesem Moment an schien meine Mutter in Gedanken weit weg zu sein ... ja, sie wirkte richtig verhudelt. Am meisten beunruhigt mich, dass sie seitdem anfing, mitten in der Nacht aufzustehen und draußen herumzulaufen. Manchmal sehe ich sie durch ein Maisfeld gehen. Sie läuft immer in dieselbe Richtung, bis sie aus meinem Blickfeld verschwindet. Sie geht vornüber gebeugt, als trage sie die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern. In den letzten paar Tagen benimmt sie sich aber wieder ein wenig normaler: Sie kocht und putzt und näht fast wieder wie früher. Mir ist aufgefallen, dass sie gelegentlich sogar ein bisschen lächelt und ihr Gesicht wieder freundlich und hübsch ist. Aber als gestern Abend die Rede auf meinen einundzwanzigsten Geburtstag kam, liefen stumme Tränen über ihr blasses Gesicht, während sie das Geschirr nachspülte und es in das Abtropfgitter stellte. Ich hatte das Gefühl, ein schwerer Stein lege sich auf mein Herz. „Mama ... was ist los?“ Sie zuckte nur die Achseln, und ich trocknete weiter das Geschirr ab und unterdrückte mühsam die vielen Fragen, die mir durch den Kopf schossen. Als ich heute eine Thermoskanne mit kalter Limonade zum Schafstall 28
hinausbrachte, sah ich meinen älteren Bruder Adam mit Dat bei den trächtigen Schafen. Ich hörte, wie Adam mit leiser und ernster Stimme sagte: „Etwas lässt Mama keine Ruhe, nicht wahr?“ Mein Bruder, der in kurzer Zeit verheiratet sein würde, muss angenommen haben, er stünde auf einer Stufe mit Dat, sonst hätte er es nicht gewagt, eine solche Frage auszusprechen. Oder er hielt es für ungefährlich, hier draußen, umgeben vom kräftigen Geruch nach Schafen und Erde und nur mit den Tieren als Zeugen, von Mann zu Mann mit ihm zu sprechen. Ich hielt die Luft an und versteckte mich an einer Stelle, an der sie mich nicht bemerken würden. Unser Vater ist ein Mann, der nicht viele Worte macht, und gab Adam nicht sofort eine Antwort. Ich wartete und hoffte, er würde einen Grund für Mamas Verhalten nennen. Es hatte sicher etwas mit der Fremden zu tun, die Mama beim Scheunenbau im März getroffen hatte. Solange ich zurückdenken kann, hatte Mama immer wieder einmal Stimmungsschwankungen, aber ich bin mir ganz sicher, dass an jenem Tag etwas passiert ist. Seitdem zieht sie sich immer mehr zurück und hat sogar zweimal den Predigtgottesdienst ausfallen lassen. Ja, meine Mutter gibt mir reichlich Anlass, mir den Kopf zu zerbrechen. Während ich jetzt eigensinnig darauf wartete, dass mein Vater auf Adams Frage reagieren würde, hörte ich kein anderes Geräusch als das jammernde Blöken des Mutterschafes, das in den Wehen lag. Das Blöken verriet, dass es eine schwere Geburt werden würde. Ich schluckte meine Enttäuschung hinunter. Es hätte mich jedoch nicht zu überraschen brauchen, dass Dat überhaupt keine Antwort gab. So verhielt er sich immer, wenn er sich in die Enge getrieben fühlte. Eigentlich verhielt er sich fast immer so, und ganz besonders gegenüber Frauen. Ich blieb regungslos im stickigen Schafstall stehen und beobachtete das ernste Gesicht meines Vaters und seine nach unten gezogenen Mundwinkel. Adam, mein blonder und schlanker Bruder, kniete im tiefen Stroh und wartete darauf, dem Mutterschaf zu helfen, das nächste kleine Lämmchen zur Welt zu bringen – ein Zwilling des ersten Tieres, das schon wenige Minuten nach seiner Geburt wackelig auf den Beinen stand. Eine starke Zuneigung zu meinem blauäugigen Bruder regte sich in meinem Herzen. Leider werden wir uns bald nicht mehr so oft sehen, da Adam Henry Stahls neunzehnjährige Schwester Priscilla heiraten will. Ich hatte die beiden neulich abends zufällig gesehen, als ich einen Spaziergang zu meiner 29
besten Freundin, Becky Riehl, machte. Natürlich sollte ich nicht wissen, dass sie verlobt sind. So etwas erfährt man normalerweise erst, wenn die bevorstehende Hochzeit im Herbst einige Sonntage vor der Trauung offiziell bekannt gegeben wird. Ehrlich gesagt, wand ich mich innerlich, als ich Priscilla in Adams Einspänner sitzen sah, und ich fragte mich, wie mein vernünftiger Bruder sich ausgerechnet in die größte Schnuffelbox von ganz Lancaster County hatte verlieben können. Jeder weiß doch, was für eine Wichtigtuerin sie ist. Jetzt wich ich von der Stalltür zurück und umklammerte immer noch die Thermoskanne. Durch Dats hartnäckiges Schweigen beunruhigt, floh ich aus dem Schafstall zum Haus. Adams unübersehbare Besorgnis und seine unbeantwortete Frage quälten mich bis tief in die Nacht, als ich mich im Bett hin und her wälzte und sich mein langes Baumwollnachthemd fast verknotete. Ich versuchte vergeblich einzuschlafen, obwohl ich für die Arbeit, die am nächsten Tag auf mich warten würde, fit sein wollte. Schließlich wäre es eine Schande, wenn ich meinem Ruf als fleißige Teilzeitangestellte in Elis Naturkostladen nicht gerecht würde. Für diese Arbeitsstelle wäre ich besonders dankbar, wenn ich als unverheiratetes Mädel enden sollte. Jede junge amische Frau macht sich Sorgen, sie könnte unverheiratet bleiben. Aber ich nehme an, dass es nicht das Schlimmste wäre, keinen Mann zu haben, obwohl ich Henry schon eine ganze Weile recht gern habe. Manchmal ist es nur einfach schwer zu sagen, ob diese Gefühle auf Gegenseitigkeit beruhen, weil er von Natur aus so wortkarg ist. Er ist aber trotzdem ein netter und treuer Kamerad, und er kann sehr gut Volleyball spielen. Auf jeden Fall weiß ich, dass Henry ein zuverlässiger Freund ist. Auf ihn kann man sich hundertprozentig verlassen. Ich war zu unruhig, um schlafen zu können. Deshalb stand ich auf und wanderte durch den Flur. Der fahle Schein des Vollmonds warf ein gespenstisches Licht auf die Dachgauben an der Ostseite des Hauses. Durch das Fenster sah ich auf den verlassenen Hof hinab und hielt nach irgendeiner Spur von Mama Ausschau. Aber die Straße und der Hof waren leer. Unten begann, wie auf Kommando, die Uhr zu schlagen. Mama hatte das Pendel angehalten, und die Uhr war bei der Stunde stehen geblieben, in der sie erfahren hatte, dass ihre geliebte Schwester, Naomi, gestorben 30
war. Mama hatte sie monatelang nicht mehr aufgezogen. Jetzt hallte der blecherne Klang die steile Treppe herauf und drang an meine Ohren. Zwölf lang anhaltende Schläge. Etwas an den Stundenschlägen mitten in der Nacht störte mich. Ich huschte an der schmalen Treppe vorbei, die ins zweite Stockwerk hinaufführt, wo Adam und Joe in zwei kleinen Zimmern schliefen. Außer Hörweite von Mamas geheimnisvollen nächtlichen Wanderungen. Schlief Dat so fest, dass er Mamas Schritte nicht hörte? Was ist nur der Grund für ihre große Unruhe? Diese Frage stellte ich mir immer wieder. Aber so sehr ich auch hoffte, die Geheimnisse meiner Mutter kennenzulernen, sagte mir etwas, dass ich mir vielleicht eines Tages wünschen würde, ich hätte sie nie erfahren.
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Maureen Lang Meine liebe Cosima ISBN 978-3-86827-220-8 336 Seiten, Paperback erscheint im März 2011
Rebecca Seabrooke, Historikerin aus Leidenschaft, liebt ihre Arbeit im altehrwürdigen Herrenhaus von Hollinworth Hall. Und heimlich liebt sie auch ihren Arbeitgeber, Lord Quentin Hollinworth. Doch sie weiß, dass ihre Träume von einer gemeinsamen Zukunft Träume bleiben werden. Schließlich standen schon Generationen von Rebeccas Vorfahren im Dienste der Familie Hollinworth – als Butler … Als Quentin unvermutet auf Hollinworth Hall erscheint und sich gemeinsam mit Rebecca auf die Suche nach den Spuren seiner rebellischen Ururgroßmutter macht, beginnt Rebecca trotz allem leise zu hoffen. Sollte Quentins neu gefestigter Glaube ihm wirklich helfen, alle Standesschranken zu überwinden? Und was haben Ururgroßmutter Berries faszinierende Briefe an „Meine liebe Cosima“, ihre Lebensund ihre Liebesgeschichte mit dem heutigen Hollinworth Hall zu tun? 32
Hollinworth Hall, Northamptonshire, England Rebecca Seabrooke musste den Brief in ihrer Hand nicht öffnen, um zu wissen, was sich darin befand: das jährliche Stellenangebot des National Trusts der englischen Gesellschaft zum Schutz des historischen Erbes. Sie boten ihr mehr Geld, als sie jemals in dem privaten Herrenhaus verdienen würde, in dem sie jetzt arbeitete. Mehr Ansehen. Vielleicht sogar die freie Wahl eines Standorts, da so viele historische Gebäude im Land dem Trust gehörten. Sie sollte ihrem Vater wirklich eine E-Mail schreiben und ihn bitten, nicht noch mehr Briefmarken dafür zu verschwenden, ihr diese Angebote zu schicken. Ungeachtet dessen, was zumindest ein Mitglied der Familie Hollinworth von ihrer Arbeit hier hielt, war Rebecca davon überzeugt, dass das Herrenhaus den vielen Anwesen, die der Trust sein Eigen nannte, in nichts nachstand. Sie legte den Brief beiseite und wandte sich ihrem vollen Kalender zu. Da sich ihre Kollegin, die normalerweise für die Führungen durch Haus und Gärten zuständig war, vorübergehend eine Familienauszeit genommen hatte, musste sich Rebecca neben ihren Terminen mit Geschäftspartnern und Bräuten, die das Anwesen für Hochzeiten und Bankette buchen wollten, auch noch darum kümmern. Aber nichts von alldem bereitete Rebecca an diesem Tag Kopfzerbrechen, denn heute würde der Besitzer von Hollinworth Hall in die Privatgemächer zurückkehren, die er im Nordflügel bewohnte. Und sie hatte erst heute Morgen von seiner bevorstehenden Ankunft erfahren. Trotzdem hatte sie Helen bereits gebeten, dafür zu sorgen, dass seine Räume gelüftet und geputzt wurden. Frische Blumen aus Rebeccas Lieblingsgarten verschönerten jede Nische, und in diesem Augenblick backte Helen das Kräuterbrot, das er am liebsten aß. Rebecca konnte die duftenden Kräuter bis in ihr Büro im zweiten Stock riechen. Da seine Mutter der Lokalzeitung erst vor Kurzem erklärt hatte, sie wolle das Haus für Besucher schließen, wusste Rebecca, dass ihr ein Kampf bevorstand –, und der Sohn, der eigentliche Besitzer des Anwesens, könnte durchaus zum Seil in diesem Tauziehen werden. Zum Glück hatte sie ihre jugendliche Schwärmerei für ihn überwunden. Bereits ihr Vater hatte für die Familie Hollinworth gearbeitet, und so kannte Rebecca Quentin Hollinworth schon fast ihr ganzes Leben lang. 33
Als sie zwölf und er dreizehn Jahre alt gewesen war, hatte sie ihn für den gebildetsten und bestaussehendsten Jungen der Welt gehalten. Er war immer noch attraktiv – das wusste sie, obwohl sie ihn nur noch ein oder zwei Mal im Jahr sah –, aber sie war erwachsen geworden und hatte ein paar Dinge gelernt. Eine dieser Lektionen war, dass verschiedene Gesellschaftsschichten sich nicht mischen ließen, auch wenn es in England offiziell keine Standesunterschiede mehr gab. Zwar ging Quentin inzwischen nicht mehr mit der Tochter eines Earls aus, aber da war immer noch seine Mutter. Und deren Ansichten über Verbindungen außerhalb der eigenen Gesellschaftsschicht waren wohlbekannt. Doch Rebecca hatte entschieden zu viel zu tun, um über solche Nebensächlichkeiten nachzudenken. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computerbildschirm zu und rief ihre E-Mails ab. Die erste Nachricht stammte von einer Studienkollegin, die sich für dieses Wochenende mit ihr in einem Club in London verabreden wollte. Rebecca würde ihr wieder einmal absagen müssen. Während sie die E-Mail überflog, wurde ihr aufs Neue bewusst, dass sie ihre Freunde zwar für deren geschäftiges Stadtleben bewunderte, dass es für sie aber dennoch die richtige Entscheidung gewesen war, hier draußen auf dem Land zu bleiben. Es dauerte nicht lange, bis ihr Blick wieder vom Bildschirm abschweifte, diesmal weil sie Autoreifen im Kies knirschen hörte. Quentin Hollinworth war eingetroffen. Sie hörte, wie das Hauswirtschafterehepaar Helen und William Risdon hinausging, um ihn zu Hause willkommen zu heißen. Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu der untersten Schublade ihres Schreibtischs hinunter, wo sie all die Ausschnitte aus den Klatschzeitschriften verstaut hatte, denen sie irgendwie nicht widerstehen konnte. Es war albern von ihr, jeden Artikel aufzuheben, der irgendwie mit der Familie zu tun hatten, deren Anwesen sie verwaltete. Andererseits war es Teil ihrer Arbeit als Verwalterin des Familienerbes, eine Mappe mit Informationen über ihr Leben zu führen. Bewahrung und Erhalten dieser Artikel waren also eher Rebeccas geschichtlichem als ihrem persönlichen Interesse geschuldet. In dieser Schublade verbarg sich Quentin Hollinworth’s gesamte jüngere Geschichte, von seiner politischen Karriere bis hin zu seiner halböffentlichen Trennung von Caroline Norleigh. Wann immer Rebecca an Quentin dachte, hatte sie all das im Hinterkopf. 34
Sie wandte sich wieder ihren E-Mails zu und las die Nachricht eines Lehrers, der vor Kurzem hier gewesen war und Rebecca nun dafür dankte, dass sie durch ihre Führung für zwei Dutzend Kinder das viktorianische Zeitalter hatte lebendig werden lassen. Dies waren Rebeccas LieblingsE-Mails – denn sie waren ein Beweis dafür, dass ihre Arbeit wichtig war. Falls sie tatsächlich den Featherby-Preis bekämen, könnte sie mehr dafür tun, solche Gruppen nach Hollinworth Hall zu locken. Führungen für Schulklassen brachten längst nicht so viel Geld ein wie Bankette oder Hochzeitsempfänge, aber für Rebecca war die Bildung von Kindern weitaus wichtiger. „Guten Abend, Rebecca.“ Quentin Hollinworth wirkte selbst vor der mächtigen Eichentür groß und kräftig. Der lässige, leicht knittrige cremefarbene Leinenanzug, der seine dunklen Haare noch dunkler erschienen ließ, kaschierte seine breiten Schultern nur bedingt. „Willkommen daheim.“ Schnell wandte Rebecca schnell den Blick ab und rollte mit ihrem Stuhl dichter an den Schreibtisch. Dieses Mahagonimöbelstück war ihre Festungsmauer, hinter dem sie sicher war. Es waren beinahe drei Monate vergangen, seit sie das letzte Mal mit Quentin gesprochen hatte. Er vertraute ihr so vollständig, was die Leitung des Hauses betraf, dass er sich nur sehr selten meldete. Wenn es nach ihr ging, würde sich das jedoch ändern müssen. Sie allein könnte niemals beweisen, von welch unschätzbarem Wert das Anwesen in seiner jetzigen öffentlichen Funktion für die Allgemeinheit war. Dafür brauchte sie seine Hilfe. „Wie ich sehe, hast du hier wie immer alles eigenhändig am Laufen gehalten.“ „Das war ich nicht allein.“ Rebecca dachte an William und Helen, die auf dem Gelände wohnten und für die meisten Haushaltsdinge zuständig waren. Und an die zahlreichen Mitarbeiter, die kamen, wenn Führungen geplant waren, um eine authentische viktorianische Atmosphäre zu schaffen. Und nicht zu vergessen die vielen Putzkräfte und Handwerker, die auf dem Anwesen ein und aus gingen, der Grundstücksverwalter, der sich um die Ernte kümmerte, oder der Gärtner, der zwar im Dorf wohnte, aber den Großteil des Tages damit beschäftigt war, dafür zu sorgen, dass Hollinworth Hall seinem Ruf, eine der schönsten Gartenanlagen in Großbritannien zu besitzen, gerecht wurde. 35
„Ohne dich“, sagte Quentin, als er näher trat, „würde das Haus zugrunde gehen, da bin ich mir sicher, egal, wie viele Angestellte es gibt.“ „Die Saison ist gut angelaufen“, sagte Rebecca. „Führungen sind bereits bis in die Zeit vor den nächsten Ferien gebucht worden.“ „Du hast also wie immer alles im Griff, Rebecca. Ich habe übrigens vor, den Großteil des Sommers hier zu verbringen.“ Hier? Den ganzen Sommer? Um zu entscheiden, ob Hollinworth Hall weiterhin der Öffenlichkeit zugänglich gemacht werden sollte oder nicht? „Ich werde dafür sorgen, dass dich niemand stört.“ Wie ruhig ihre Stimme klang, obwohl das Blut wie verrückt durch ihre Adern pulsierte. „Die Gäste haben natürlich nach wie vor nur Zugang zu den üblichen Teilen des Anwesens, je nachdem, um was für eine Art von Veranstaltung es sich handelt.“ Eine Flut von Gedanken torpedierte ihre Bemühungen, das Gespräch aufrechtzuerhalten. Falls er tatsächlich hier war, um zu überprüfen, wie lukrativ das Geschäft mit dem Tourismus war, dann musste sie ihn davon überzeugen – je eher, desto besser. Wenn er das Haus für die Öffentlichkeit schloss, würde sie nicht nur einen Job verlieren, den sie gerne machte. Es würde sie ihren Traum kosten. Quentin ließ sich ihr gegenüber auf einem Stuhl nieder. „Ich zweifle nicht daran, dass du mich gut abschirmen wirst.“ Ihre Blicke trafen sich, doch Rebecca sah schnell beiseite. Ihn vor den Besuchern zu schützen, gehörte zu ihren Aufgaben. „Gemeinsam mit der Alarmanlage dürfte ich das hinbekommen, Quentin.“ Als er darauf nichts erwiderte, fragte sie sich, was er wohl dachte. „Wir sind für den Featherby-Preis für Pädagogik vorgeschlagen worden“, sagte sie schließlich. Das war ihre beste Waffe, eine weitere Auszeichnung, die bewies, dass die Kulturgüter Englands geschätzt und bewahrt anstatt ignoriert, vergessen, verkauft oder im Privatbesitz der Elite versteckt werden sollten. „Ja, davon habe ich gehört. Man hat mich in meiner Londoner Wohnung benachrichtigt. Das ist nur dir zu verdanken, Rebecca. Herzlichen Glückwunsch.“ Sie brachte ein gelassenes Lächeln zustande. „Wir haben noch nicht gewonnen.“ „Wie sagt man so schön? Dabeisein ist alles.“ Er sah sie an. „Das ist übrigens einer der Gründe, warum ich den Sommer über hierbleiben will. 36
Ich dachte, ich könnte mich nützlich machen, indem ich mit den Juroren spreche oder zur Verfügung stehe, falls du einen Rat brauchst.“ Erleichterung, Überraschung und Freude durchströmten sie. Unterstützte Quentin etwa ihre Bemühungen, den Featherby-Preis zu erhalten? Wenn er die Auszeichnung wollte, konnte er unmöglich für die Idee seiner Mutter sein, Hollinworth Hall nur für die Familie zu nutzen. Er konnte schließlich nicht genau die Einrichtung schließen, die ihm den Preis überhaupt erst einbringen würde. „Das wäre gut. Ich habe schon überlegt, noch einmal in den Tresorraum zu gehen. Vielleicht sollten wir die Mitarbeiter mit neuen Kostümen ausstatten.“ Sie wandte sich ihrem Computerbildschirm zu. „Ich habe die Bestandsliste hier. Wenn du Zeit hast, kannst du sie dir ansehen.“ Er schüttelte den Kopf. „Helen sagte mir, dass du diese Woche jeden Tag Führungen gemacht und dich völlig verausgabt habest. Kann ich dir einen Tee kommen lassen?“ Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie sich in die Vergangenheit zurückversetzt, als sie noch für ihn geschwärmt hatte. Sein erwartungsvoller Blick machte die Sache nicht besser. Sie schüttelte den Kopf. Das war nun wirklich kein guter Zeitpunkt, um alte Gewohnheiten wieder aufleben zu lassen. „Nein, geh ruhig. Ich lese noch meine Mails und arbeite ein paar Dinge auf.“ Quentin erhob sich und war schon fast an der Tür angelangt, als ihr die Betreffzeile einer Nachricht ins Auge fiel. „Quentin“, sagte sie und klickte auf die E-Mail, „hast du schon mal von einer Organisation namens Genealogiezentrum des Westens gehört?“ Er blieb stehen und drehte sich zu ihr um. „Nein, ich glaube nicht. Warum?“ „Ich habe von dieser Organisation eine Mail bekommen mit deinem Namen im Betreff. Soll ich sie vorlesen?“ Er nickte. „Sehr geehrter Mr Hollinworth, eine amerikanische Familie sucht den Kontakt mit englischen Verwandten, unter anderem Ihnen. Unsere Nachforschungen haben ergeben, dass die Abstammung korrekt ist. Die Familie hat ein Tagebuch in ihrem Be37
sitz, das einer Cosima Escott Hamilton gehörte, einer Vorfahrin von Ihnen, und das für Sie von nostalgischem Interesse sein könnte.“ Rebecca blickte zu Quentin auf. „Weißt du etwas von einem Tagebuch von Cosima Hamilton?“ Quentin schüttelte den Kopf. „Ich auch nicht.“ Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu und entdeckte den Anhang. „Hier ist ein Stammbaum. Möchtest du ihn sehen?“ Wortlos ging Quentin um den Schreibtisch herum. Als er sich über sie beugte, nahm Rebecca den schwachen Geruch seines Rasierwassers wahr. „Der Stammbaum ist korrekt“, sagte er. „Glaube ich jedenfalls. Du weißt das wahrscheinlich besser als ich, schließlich schreibst du die Manuskripte für die Führungen und kennst dich mit unserer Familiengeschichte bestens aus. Was glaubst du? Ist die Sache seriös?“ Sie nickte. „Im Stammbaum sind Cosima Hamiltons vier Kinder aufgeführt. Ich frage mich, ob es etwas in der Familiengeschichte gibt, wovon ich nichts weiß.“ „Das bezweifle ich“, sagte Quentin im Brustton der Überzeugung. Angesichts seines zuversichtlichen Tonfalls musste sie lächeln – er hegte offenbar keinen Zweifel daran, dass sie mehr wusste, als tatsächlich der Fall war. „Wenn du willst, nehme ich erst einmal Kontakt mit ihnen auf. Nur um sicherzugehen, dass es sich tatsächlich um Verwandte von dir handelt.“ „Du bist wunderbar, Rebecca. Du beschützt mich schon wieder.“ Sie betrachtete den Stammbaum und überlegte gleichzeitig, warum er schon wieder dieses Wort gebraucht hatte. Eine Bemerkung über ihre Beschützerfunktion sollte nicht spöttisch klingen; schließlich wurde sie genau dafür bezahlt – von Quentin selbst. „Ich bezweifle, dass dieser Stammbaum eine Fälschung ist. Dafür ist er zu genau.“ „Ich habe eine Idee“, sagte Quentin und richtete sich auf. „Da du behauptest, keinen Tee zu brauchen, könnten wir doch jetzt gleich in den Tresorraum gehen, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendwelche Amerikaner das Tagebuch einer meiner Großmütter im Original besitzen.“ Quentin ging mit langen Schritten zur Tür und öffnete sie. „Auf in den Tresorraum?
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Lori Wick Und hinter dem Horizont das Glück ISBN 978-3-86827-215-4 496 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2011
Middleton/Wisconsin, USA, Oktober 1988 Ein tragischer Unfall zerstört das Leben der Familie Riley. Plötzlich steht Alec allein mit drei Kindern da. Wie soll er es neben seiner aufreibenden Arbeit als Bauunternehmer schaffen, drei Kinder zu beaufsichtigen und einen Haushalt zu organisieren? Trauer und Chaos überwältigen ihn … Prag, Tschechoslowakei, Oktober 1988 Die junge Sophia Velikonja kann es kaum fassen: Ihr Name steht auf der Liste für genehmigte Ausreiseanträge! Endlich darf sie ihre kommunistische Heimat verlassen und in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten reisen. Voller Gottvertrauen macht sie sich auf den Weg. Aber war die Entscheidung, ihre Heimat zu verlassen, wirklich richtig? Diese Frage stellt sich Sophia immer wieder, während sie sich in Chicago als schlechtbezahlte Kellnerin durchschlagen muss. Doch dann erzählt ihr ihre Freundin Janet von einem möglichen neuen Job: Irgendwo in Wisconsin gibt es einen jungen Witwer, der dringend eine Haushälterin braucht … 39
Prolog 8. Oktober 1988 Prag, Tschechoslowakei Die junge Frau verließ das große Steingebäude. Den Kragen ihres Mantels hatte sie hochgeschlagen, um sich vor der abendlichen Kälte zu schützen. Morgen war Sonntag, ein arbeitsfreier Tag. Sie brauchte für den Heimweg nur knappe zehn Minuten. Man hatte ihr eine Wohnung in einem der besseren Stadtviertel zugewiesen, seitdem sie als Übersetzerin bei der Nationalversammlung arbeitete. Sie schloss leise die Tür auf, doch ihre Großmutter hatte sie trotzdem gehört. „Du bist ziemlich spät dran, aber ich habe gerade einen Tee gemacht. Komm, trink eine Tasse mit mir, Sophia.“ Sophia zog ihren Mantel aus und ging zu Kasmira Kopecky, die ihr in den letzten zwanzig Jahren die Eltern ersetzt hatte. Kasmira goss den Tee aus einer alten Porzellankanne in ebenfalls angeschlagene Tassen. Während sie sich auf diese Aufgabe konzentrierte, funkelten ihre Augen schelmisch. Sie wirkte fast jünger als ihre Enkelin, so fröhlich war sie. „Du bist ja so gut gelaunt“, bemerkte Sophia, als sie die Tasse entgegennahm. „Sie ist da, Sophia.“ Die Stimme der alten Frau klang vor Aufregung ganz atemlos. „Sie ist heute mit der Post gekommen. Dein Name steht auf der Liste.“ Sophia wollte gerade die Tasse zum Mund führen, aber jetzt hielt sie inne und starrte ihre Großmutter erschrocken an. Normalerweise dauerte so etwas viele Jahre. „Das glaube ich nicht“, brachte sie schließlich heraus. Ihre Großmutter holte ein Blatt Papier hervor und legte es triumphierend auf den Tisch. „Da steht es schwarz auf weiß. Hier steht dein Name: Sophia Velikonja.“ „Aber was ist mit dir?“ „Sophia.“ Plötzlich war Kasmiras Stimme ganz sanft. „Ich habe doch nie auf der Liste gestanden.“ „Das weiß ich, aber glaubst du wirklich, dass ich ohne dich fahre?“ „Natürlich glaube ich das.“ Kasmira sah Sophia liebevoll an. „Ich habe den Krebs überlebt, aber ich bin eine alte Frau, und ich habe nicht mehr viel Zeit hier auf Erden.“ 40
„Das ist mir egal. Ich will bei dir bleiben, solange du lebst.“ Jetzt schwiegen beide Frauen. Jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Seit Jahren sprachen sie über ihren gemeinsamen Traum. Sie wollten so gerne nach Amerika, aber nicht als Touristinnen, sondern um dort ihr weiteres Leben zu verbringen. Als sie lange genug davon geträumt und dafür gebetet hatten, hatten sie sich entschlossen, Ausreiseanträge zu stellen. Doch bevor sie diesen Entschluss in die Tat umsetzen konnten, erfuhr Sophias Großmutter die Diagnose. Sie hatte Krebs. Sie überlegten lange, doch da Kasmira annahm, dass Sophia lange nach ihrem Tod die Ausreisegenehmigung bekommen würde, hatte sie ihre Enkelin dazu gedrängt, den Antrag trotzdem zu stellen. Jetzt schien es so, als habe Gott andere Pläne als die beiden Frauen. „Du musst gehen, Sophia.“ Endlich brach Kasmira das Schweigen. „Ich habe so lange davon geträumt.“ Der Tonfall ihrer Großmutter ließ keine weiteren Diskussionen zu. Sophia schloss kurz die Augen, weil sie das Gefühl hatte, dass alles in ihr zerbrach. Als sie sie wieder aufschlug, fiel ihr Blick auf ihr wunderbares, uraltes Klavier mit seinen rissigen Tasten und dem abplatzenden Lack. Würden sie jemals noch einmal miteinander singen? Wer würde das Instrument nach ihr spielen? Schließlich sah sie ihre Großmutter an. „Es ist so weit weg“, flüsterte sie. „Vielleicht sehen wir uns nie mehr wieder.“ „In Jesus werden unsere Herzen immer miteinander verbunden sein. Das darfst du nie vergessen.“ Sophia nickte schweigend. Ihre schönen dunklen Augen blickten ihre Großmutter unverwandt an. Kasmira erwiderte diesen Blick liebevoll, und dann sprach sie weiter. „Folge dem Herzen Gottes, mein Kind. Er will, dass du nach Amerika gehst.“ Erst jetzt wusste Sophia, dass es keinen Weg zurück mehr gab. Sie würde die Tschechoslowakei und ihre Großmutter verlassen. Einen Augenblick später lagen sich die beiden Frauen in den Armen. Tränen liefen ihnen die Wangen herunter, und sie schluchzten laut. Schon jetzt meinten sie zu spüren, wie Veränderungen unaufhaltsam in ihre kleine Welt eindrangen und sie für immer voneinander trennten. *** 41
Alec Riley stand an der Hintertür seines Hauses, die direkt in die Küche führte. Er war zwar müde, aber trotzdem freute er sich auf das Wochenende am See. Als er die Küche betrat, runzelte er die Stirn. Seine drei Kinder waren mit der Zubereitung des Abendessens beschäftigt. Das war ein ungewohnter Anblick. Vielleicht wurden sie doch allmählich erwachsen. „Wo ist denn eure Mutter?“, fragte er anstelle einer Begrüßung. Vermutlich lag sie wieder einmal mit Kopfschmerzen im Bett. „Keine Ahnung“, antwortete Rita, die Älteste. Alec sah genauer hin und entdeckte erst jetzt die ernsten Gesichter der Kinder. „Was soll denn das heißen?“ „Dass sie nicht da ist.“ Rita zuckte mit den Schultern. „Ist denn ihr Auto da?“ Alec versuchte, unbekümmert zu klingen. „Ist sie vielleicht drüben bei den Nachbarn?“ „Das Auto steht nicht da, wo es sonst immer steht“, meldete sich Craig zu Wort. „Und sie hat auch keinen Zettel hinterlassen.“ Alec warf einen Blick auf Tory, das Nesthäkchen. Sie sah ihn mit ängstlich großen Augen an. „Egal.“ Alec sprach schnell, um seine eigene Unsicherheit zu überspielen. „Sie ist bestimmt bald zurück. Ich helfe euch solange mit dem Essen.“ Etwa zwanzig Minuten später klingelte es an der Haustür. Sicherlich wieder Freunde von Craig, die zu den unmöglichsten Zeiten vorbeikamen. Craig eilte zur Tür und stand nach einer knappen Minute wieder an der Küchentür. Sein Gesicht war blass geworden. „Zwei Männer wollen dich sprechen. Einer hat eine Uniform an.“ Einen Augenblick war Alec wie gelähmt. Wie in Trance griff er nach dem Geschirrhandtuch, das er sich über die Schulter gelegt hatte, legte es auf die Arbeitsplatte und ging langsam zur Haustür. Er ahnte, dass die unangekündigten Besucher keine gute Nachricht für ihn hatten. Von nun an würde nichts mehr so sein wie bisher. (…) Kapitel 4 Sophie und Janet bogen in den Hof des Grundstücks ein, auf dem die Rileys wohnten. Sophie musste einen lauten Freudenruf unterdrücken, als sie die schönen Häuser und Gärten sah. Sie spürte, wie ihre Hände vor Aufregung ganz feucht wurden, als sie aus dem Auto ausstieg. 42
„Alec und seine Frau haben dieses Haus vor zehn Jahren gekauft und es komplett renoviert“, erklärte Janet, als sie zur Haustür gingen. „Es ist wirklich erstaunlich, was sie daraus gemacht haben. Es hat den Charakter eines alten Hauses, aber auch alle Annehmlichkeiten der modernen Technik.“ Sophie nickte schweigend, als sie neben Janet stand, die auf die Türklingel drückte. Ein paar Sekunden später stand sie vor einem Mann, der größer und breitschultriger war, als sie es sich vorgestellt hatte. Er öffnete die Tür weit. Sophie sah zu, wie Janet ihren Bruder zur Begrüßung umarmte. „Komm rein, Sophie.“ Janet drehte sich um. „Das ist mein Bruder Alec Riley. Alec, das ist Sophie.“ Sie war verlegen, weil sie Sophies Nachnamen nicht auswendig gelernt hatte. Sie befürchtete, dass sie den ausländischen Namen falsch aussprechen könnte. „Hallo Sophie“, sagte Alec und reichte ihr die Hand. „Guten Tag, Mr Riley.“ „Bitte treten Sie ein“, lud Alec sie ein. „Die Kinder sind in der Küche. Machen Sie es sich bitte im Wohnzimmer bequem, bis ich sie hole.“ „Das Wohnzimmer ist dort hinten“, erklärte Janet. „Geh doch schon mal voraus, Sophie.“ „Sobald Sophie außer Hörweite war, fragte sie ihren Bruder: „Sind die Kinder heute nicht in der Schule?“ „Nein“, erwiderte er leise. „Ich bin zwar sehr skeptisch, dass diese Sache funktioniert. Aber wenn wir wirklich wollen, dass Sophie bei uns bleibt, ist die ganze Familie davon betroffen. Wenn sie tagsüber mit den Kindern allein ist, muss ich wissen, was sie davon halten.“ „Du hast recht. Soweit hatte ich noch gar nicht gedacht.“ „Wir sind gleich bei euch“, sagte Alec, bevor er sich auf den Weg zur Küche machte. Janet ging zum Wohnzimmer. Sie sah, dass Sophie noch immer unsicher mitten im Raum stand. „Aber Sophie, bitte setz dich doch.“ Beide Frauen nahmen Platz. Janet bemerkte, wie Sophie sich unauffällig umsah. Der Raum wirkte ein wenig vernachlässigt. An den Kanten des Teppichs hatte sich Staub gesammelt. Unter den Sesseln und Sofas lagen Socken und Papierfetzen. Janet erkannte bunte Verpackungen von 43
Schokoriegeln. Das Zimmer war zwar geschmackvoll eingerichtet, aber der Staub und die Unordnung lenkten von dieser Eleganz ab. Janet sah, dass Sophie sehr nervös war. Doch bevor sie noch etwas Ermutigendes sagen konnte, kamen bereits Alec und die Kinder herein. Zu ihrer Überraschung stand Sophie respektvoll auf, als die Familie das Zimmer betrat. „Das ist Sophie“, begann Alec. Er übernahm sofort die Führung des Gesprächs. „Sophie, das sind Rita, Craig und Tory.“ Sophie nickte den Kindern freundlich zu und setzte sich wieder hin, als alle Platz nahmen. Sie sah, wie die Kinder ihrer Tante zulächelten. Die Szene wirkte fast unwirklich, so ernst und beinahe feierlich verhielten sich alle. Sophie merkte, wie sie vor Aufregung zu schwitzen begann. „Ich weiß nicht so genau, was Janet Ihnen von uns erzählt hat, Sophie.“ Alecs Stimme klang ruhig und geschäftsmäßig. „Aber ich will ganz offen zu Ihnen sein. Sie sind die erste Bewerberin, mit der wir dieses Gespräch führen, und wir wollen sichergehen, dass Sie zu uns passen.“ Sophie nickte verständnisvoll. David hatte dieses Wort „passen“ auch schon verwendet, und Sophie hatte es inzwischen nachgeschlagen. „Wir brauchen jemanden, der das Haus sauber hält“, erklärte Alec. „Diese Person muss die Wäsche waschen und bügeln, die Mahlzeiten zubereiten und für die Kinder da sein, wenn ich arbeite.“ Sophie nickte. Sie ahnte nicht, dass Alec bewusst alles aufzählte, was zu tun war, um sicherzugehen, dass Sophie sich davon nicht abschrecken ließ. Natürlich war mit diesem Job viel Arbeit verbunden. Aber Sophie hatte die Gesichter der Kinder gesehen. Das hatte den Ausschlag gegeben. Sie würde bleiben, wenn man sie hier haben wollte. „Haben Sie Arbeitszeugnisse oder Empfehlungsschreiben dabei?“, fragte Alec. „Nein, habe ich nicht“, entgegnete Sophie mit einem hilflosen Achselzucken. „Ich habe nicht gedacht. Ich habe Job in Chicago. Ich kann Mr Markham um Papier bitten.“ Vor lauter Aufregung sprach Sophie stotternd und mit starkem Akzent. Alec starrte sie erschrocken an. Er fragte sich, was sich seine Schwester wohl dabei gedacht hatte, eine solche Person mitzubringen. Ihre Art, sich zu kleiden, erinnerte ihn an Fotos aus der Jugendzeit seiner Mutter. Woher kam die Frau? 44
Jetzt meldete sich Janet zu Wort. „Bitte entschuldige, Alec. Sophie, es tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht, dass du Zeugnisse brauchst.“ „Also arbeiten Sie momentan nicht als Haushälterin?“, wollte Alec wissen. „Nein, ich arbeite in Tonys Restaurant.“ „Wie lange arbeiten Sie schon dort?“ „Seit ich in Amerika bin. Das sind jetzt zehn Monate.“ „Woher kommen Sie?“ „Aus der Tschechoslowakei.“ „Und haben Sie dort als Haushälterin gearbeitet?“ „Nein“, erwiderte Sophie verzweifelt. Sie merkte, dass dieses Gespräch nicht gut verlief. Flehend sah sie Janet an. Ihre Freundin versuchte, die Situation zu retten. „Sophie, bitte entschuldige mich und Alec. Wir haben noch etwas zu besprechen.“ „Natürlich.“ Sophie lächelte ihrer Freundin tapfer zu. Sie hoffte, dass die Enttäuschung, die sie verspürte, sich nicht in ihrem Gesicht widerspiegelte. *** „Du liebe Zeit, Jan, was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“ Die beiden waren in die Küche gegangen. Alecs Stimme klang noch immer ruhig und sachlich. „Aus der Tschechoslowakei! Man kann sich mit ihr noch nicht einmal richtig verständigen!“ Es war nicht das erste Mal, dass Janet dankbar war für das ausgeglichene Wesen ihres Bruders. Selbst wenn er sich aufregte, blieb er ruhig und sachlich. „Ach Alec, du müsstest sie besser kennenlernen. Wenn Sophie nervös ist, spricht sie schlecht Englisch, aber sie ist ein wunderbarer Mensch. Sie hat wirklich einen echten, tiefen Glauben. Wenn wir miteinander sprechen, macht sie mir immer wieder Mut, ohne es selbst zu merken. Sie arbeitet hart, aber beklagt sich nie. Ich bin davon überzeugt, dass sie sehr gut zu euch passen würde.“ Alec rieb sich nachdenklich den Nacken. Er sah auf seine Schwester herunter, die er weit überragte. 45
„Diese Entscheidung treffe ich nicht allein, Janet“, sagte er schließlich. „Die Kinder müssen auch einverstanden sein. Ich habe aber das dumpfe Gefühl, dass das nicht der Fall sein wird.“ Kapitel 5 „Was lernt ihr gerade in Schule, Tory?“, fragte Sophie leise. Ihr war es peinlich, dass alle schwiegen, nachdem Alec und Janet das Wohnzimmer verlassen hatten. „In Mathe machen wir grade schriftliche Division, aber das mag ich nicht so gern.“ „Mathe war nicht mein Lieblingsfach. Was machst du gerne?“ „Geschichte. Meine Freundin Crystal Calkins und ich haben gerade eine Zeitleiste gemacht.“ „Über welche Zeit?“ „Von 1885 bis 1985.“ „Das sind ja viele Jahre! So was würde ich gerne sehen.“ „Die Leiste ist in der Schule. Unsere Lehrerin hat sie an die Wand gehängt.“ Sophie musste lächeln, als sie hörte, wie stolz die Stimme des Kindes klang. Dann wandte sie sich an Rita. „Geht ihr alle in gleiche Schule?“ „Nein. Ich gehe in die Edgewood-Schule und Tory und Craig sind auf einer Privatschule.“ Sophie nickte, doch weitere Fragen fielen ihr nicht ein. Wieder herrschte Schweigen, aber jeder im Raum war nachdenklich. Craig versuchte, seine hilflose Wut über den plötzlichen Tod seiner Mutter zu bekämpfen. Er wollte einfach nicht einsehen, dass sie eine Haushälterin brauchten. Die Mädchen dagegen schienen sich mit diesem Gedanken allmählich anzufreunden. Selbst Tory merkte, wie nervös Sophie war. Die fremde Frau hatte das kleine Mädchen für sich gewinnen können. Rita legte großen Wert auf Äußerlichkeiten. Sie fand Sophies Art, sich zu kleiden und zu frisieren, unmöglich, aber sie war fasziniert von ihren großen, dunklen Augen. Rita war beeindruckt von Sophies Freundlichkeit. Der harte Akzent war zwar ein bisschen schwer zu verstehen, aber Sophies Englisch war besser geworden, als ihr Vater und ihre Tante sie mit ihnen allein gelassen hatten. „Wir sind wieder da.“ Janets Stimme riss die Kinder und Sophie aus 46
ihren Grübeleien. „Sophie, ich möchte mit dir einen kleinen Rundgang durch das Haus machen.“ Sophie stand schweigend auf und folgte Janet. Alec setzte sich auf den Platz, den sie gerade verlassen hatte. Er begann zu sprechen, als er hörte, dass die beiden Frauen nach oben gegangen waren. „Also, was haltet ihr davon?“, fragte er seine Kinder. „Wovon denn?“, wollte Tory wissen. „Wir müssen endlich jemanden einstellen, der uns hier im Haushalt hilft, Tory. Diese Person wird oft mit euch zusammen sein, und deshalb ist es mir sehr wichtig, dass ihr euch gut mit ihr vertragt. Was haltet ihr von Sophie?“ „Ich versteh einfach nicht, warum wir ein Hausmädchen brauchen.“ Craigs Stimme klang so aggressiv, dass Alec erstaunt zu ihm sah. Sein Haar war zu lang, und er brauchte dringend neue Schuhe. Alec war sich ziemlich sicher, dass Craig schon das ganze Wochenende dasselbe Hemd anhatte. „Auch wenn du anderer Meinung bist, Craig, brauchen wir hier im Haus Hilfe. Es tut mir leid, dass mir das erst jetzt klar wird, aber auf Dauer sind wir alle, vor allem Rita, mit dem Haushalt überfordert.“ „Und wenn sie uns ekliges Essen vorsetzt?“ Alec musste ein Schmunzeln unterdrücken. Craig dachte ständig ans Essen. „Sie wird sich beim Kochen nach unseren Wünschen richten.“ Craig machte noch immer ein skeptisches Gesicht. Deshalb wandte sich Alec an seine Älteste. Rita überlegte angestrengt. „Ich mag sie.“ Tory konnte nicht mehr abwarten, bis sie um ihre Meinung gefragt wurde. Sie zuckte mit den Achseln, als ob sie sich entschuldigen wollte, weil sie zu vorlaut war, aber dann fügte sie hinzu: „Ich finde sie nett, und sie hat mich nicht wie ein kleines Kind behandelt.“ „Ja, sie scheint wirklich nett zu sein“, stimmte Rita ihrer kleinen Schwester zu. „Sie hat zwar nicht versucht, mit Craig zu reden, aber sein böses Gesicht hat sie wahrscheinlich abgeschreckt.“ „Halt den Mund, Rita.“ „Jetzt reicht es aber, Craig“, ermahnte ihn sein Vater. Craig lehnte sich wütend zurück, aber er schwieg. Rita stand auf. „Ich kann mir gut vorstellen, dass Sophie hier arbeitet. Sie ist anders als wir, aber deswegen kam es doch trotzdem klappen. Es könnte uns auch schlimmer treffen.“ Alec nickte zustimmend. „Musst du jetzt zur Schule?“ 47
„Ja, ich habe in einer Stunde einen Test in Geometrie. Den will ich nicht versäumen.“ „Alles klar, Rita“, erwiderte Alec. „Du brauchst nicht auf Tory und Craig zu warten, ich fahre sie dann zur Schule. Bis heute Abend!“ Rita wollte schon das Zimmer verlassen, aber dann blieb sie noch einmal stehen. „Papa, wenn du Sophie engagierst, ist sie dann hier, wenn ich heute Abend zurückkomme?“ „Das glaube ich nicht. Sie muss ja erst ihren Umzug organisieren.“ „Wo soll sie denn wohnen?“ „Im Apartment über der Garage.“ „Dann bis später“, sagte Rita und machte die Tür hinter sich zu. „Was ist, wenn sie von Chicago hierher zieht und es dann doch nicht klappt?“ Alec war froh, dass sein Sohn doch noch etwas Interesse zeigte. Er antwortete: „Ich werde versuchen, ihr das klarzumachen. Craig, ich weiß, dass du niemanden hier im Haus haben willst. Aber hast du irgendwelche Vorbehalte speziell gegen Sophie?“ „Nein, ich denke nicht, aber erwarte nicht von mir, dass ich mich mit ihr anfreunde. Ich kann sie ja kaum verstehen.“ „Ich erwarte nicht, dass du mit ihr Freundschaft schließt, aber ich erwarte, dass du ihr Respekt entgegenbringst.“ Craig nickte. Alec wandte sich an seine Jüngste. „Und du magst sie, Tory?“ „Hmhm. Ich finde sie sehr nett, und ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man nervös ist.“ Die Nervosität war nicht zu übersehen gewesen. Alec konnte sich gut vorstellen, wie schwer es Sophie gefallen war, sich den kritischen Blicken und Fragen einer fremden Familie auszusetzen. Er hatte Mitleid mit ihr, obwohl er sich so distanziert verhalten hatte. „So, jetzt packt eure Sachen. Ich fahre euch zur Schule.“ „Und was ist mit Sophie?“ „Ich rede mit ihr und Janet, wenn ich wieder zurück bin. Heute Abend wisst ihr dann schon mehr.“
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Jenny B. Jones Ein Sommer am See ISBN 978-3-86827-222-2 320 Seiten, Paperback erscheint im März 2011
Maggie Montgomery ist lebenslustig, mutig und unkonventionell. Ihr Job als Kamerafrau führt sie rund um den Globus. Doch ihre Welt steht Kopf, als sie wegen eines Notfalls in ihre alte Heimat zurückkehren muss. Nichts fürchtet die furchtlose Maggie so sehr wie Ivy, das Städtchen ihrer Kindheit, die Begegnung mit ihrem Vater, ihre schwierige Schwester und … den See. Ihre 10-jährige Nichte Riley, ein unbändiger kleiner Wildfang, treibt Maggie bald an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Doch damit nicht genug, reißt sie die Freundschaft zu dem attraktiven Tierarzt Connor Blake in einen Strudel von Gefühlen, der ihr Angst macht. Denn die echte Maggie hat Angst vor der Liebe, Angst vor dem Leben und Angst vor sich selbst. Aber am meisten fürchtet sie die Erinnerung an den Abend, an dem ihre Mutter im See ertrank … Ein tiefgründiger, aber auch humorvoller und temporeicher Roman, der zeigt, dass die herausforderndste und befreiendste Reise nicht auf den Meeren oder über den Wolken stattfindet, sondern in uns selbst – hin zu dem Menschen, als den Gott uns geschaffen hat. 49
Prolog Die größte Angst mancher Frauen ist, dass ihr Mann eines Tages zur Haustür hinausgehen und nie wiederkommen könnte. Andere hingegen verfallen in Panik, wenn ihr Blick auf das kleine Schwarze ganz hinten im Kleiderschrank fällt und ihnen bewusst wird, dass sie nie wieder hineinpassen werden. Mich versetzt gerade ein Pariser Fluss in Panik, der so ruhig dahinfließt, als könnte er ein Baby in den Schlaf wiegen. Und trotzdem sind meine Hände so feucht, dass ich mich kaum an der Reling des Bootes festhalten kann. Mein Herz klopft wild in meiner Brust und nicht ein Wort, das während der letzten Stunde gesagt wurde, ist wirklich zu mir durchgedrungen. „Da sind wir. Steigen Sie jetzt bitte ganz vorsichtig ans Ufer.“ Pierre, unser Reiseführer, hilft dem Kapitän beim Anlegen, springt auf den Steg und bindet das kleine Schiff fest. Die Mitglieder des Drehteams von Passport to the World klettern nacheinander aus dem Boot. Ich muss erst einen Moment warten, bis mir nicht mehr schwarz vor Augen ist und sich meine wackligen Knie wieder beruhigt haben. „Gut gemacht, Maggie.“ Carley, meine Freundin und die Produzentin in unserem Team, klopft mir anerkennend auf die Schulter, während ich krampfhaft versuche, das Wasser zu ignorieren. Sie weiß, dass ich mich immer dann in ein psychisches Wrack verwandele, wenn ich eine Szene drehen muss, bei der Wasser im Spiel ist. Manchmal kann ich einen Praktikanten oder einen anderen Kameramann dazu bewegen, den Job für mich zu übernehmen, aber irgendwann muss ich schließlich dieser Schwäche den Kampf ansagen. Es ist geradezu lächerlich, beim Anblick der ruhigen Seine in Paris so in Panik zu verfallen. „Du brauchst eine Therapie“, sagt Carley. „Was ich jetzt brauche, ist ein Schokoladeneclair.“ Carley hält sich die Hand vor das Gesicht, um ihre Augen vor der Mittagssonne zu schützen. Sie reicht mir eine Flasche Wasser aus ihrer Tasche. „Komm, lass uns noch einige Sequenzen in diesem Café an der ChampsÉlysées drehen. Vielleicht sollte ich meine Hochzeitsreise nach Paris machen. Was meinst du?“ 50
Mein Job als Kamerafrau für eine Reisesendung hat viele Facetten: Er kann so bezaubernd sein wie der Eiffelturm bei Sonnenuntergang oder aber so reizlos wie eine Nacht in einer halb zerfallenen Urwaldhütte. Im letzten Jahr war unsere Sendung die Nummer eins des Reisekanals. Wir konnten einige Preise abräumen und werden nun zur besten Sendezeit ausgestrahlt. Ich sollte eigentlich der glücklichste Mensch auf der Welt sein – begeistert vom Leben. Aber irgendwie bin ich gerade das in letzter Zeit nicht. In meiner Tasche vibriert es und ich fische mein Handy heraus. Mein Dad. Er ruft schon wieder an. Und John, mein Freund, hat mir bereits zwei Nachrichten hinterlassen. Wissen Männer eigentlich instinktiv, wie sie einen am besten nerven können? Ich könnte bis ans Ende der Welt reisen und dennoch würde irgendein Mann mich aufspüren und ein großes Opfer von mir verlangen. Dass ich eine SMS schreibe, zum Beispiel. Oder mit ihm ausgehe. Oder zurückrufe. Aber ich bin schwer beschäftigt! Ich habe viele Dinge zu erledigen. Die Metropolen der Welt warten darauf, von mir gefilmt zu werden. Ich möchte endlich meine Promizeitschrift lesen, die bereits seit einer Woche in meiner Handtasche verkümmert. Und da ist auch noch ein Schokoriegel, der schon seit zwei Stunden meinen Namen ruft. Ich strecke mich und greife dann nach der Kamera. „Ich würde gern mit dem Besitzer des Cafés sprechen“, sagt Carley. „Kannst du wieder für mich übersetzen?“ „Klar.“ Wir überqueren die belebte Straße und betreten das malerische Restaurant. „Könnte ich bitte den Chef sprechen?“, frage ich einen Kellner auf Französisch und erkläre, wer wir sind und was wir wollen. Er deutet mit seinem Kopf nach hinten. „Er macht gerade eine Raucherpause.“ Der schlanke Mann wirft nervöse Blicke auf die voll besetzten Tische um ihn herum und zieht die Augenbrauen hoch, als einer der Gäste nach ihm ruft, um ein Getränk zu bestellen. „Wenn das für Sie in Ordnung ist, suche ich ihn einfach.“ Ich gebe dem Kellner mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er sich ruhig wieder um seine Gäste kümmern kann. „Wir kommen schon zurecht.“ Ich schlängele mich durch das Restaurant und betrete die geschäftige Küche, ab und zu hebe ich die Hand, um die Mitarbeiter zu grüßen. „Bonjour!“ Meine Augen fallen auf eine halb geöffnete Hintertür, ich schlüpfe nach draußen und blinzle in die Sonne. 51
Neben mir rumpelt es in einem Müllcontainer und ich schnappe erschrocken nach Luft, als ich die dünnen Beinchen eines kleinen Kindes daraus hervorschauen sehe, das angestrengt kopfüber im Müll herumstochert. „Hallo“, sage ich und verbessere mich dann schnell: „Salut!“ Ich gehe zur Mülltonne und ziehe an einem schmutzigen Schuh. Ein Kopf taucht auf und ich sehe in das mit Dreck beschmierte Gesicht eines kleinen Jungen, dessen Augen vor Furcht ganz weit werden. Wie ein Profiturner schwingt er sich vom Müllcontainer und landet mit beiden Füßen auf dem Boden. Ich strecke meine Hand aus. „Attends!“ „Warte doch!“ Doch er sprintet los und rennt, so schnell ihn seine kurzen Beine tragen können. Dabei lässt er Essensreste hinter sich fallen wie eine Spur aus Brotkrumen. Ich werfe mir die Kamera über die Schulter und renne schnell zur Straßenecke, während ich das Objektiv auf den Jungen richte, der aber nur noch als schemenhafte kleine Gestalt in der Ferne zu erkennen ist. „Warte doch bitte!“, rufe ich ihm in zwei verschiedenen Sprachen zu, doch er rennt einfach weiter. „Bettler!“ Ich fahre herum und sehe den Besitzer des Cafés vor mir stehen. „Wissen Sie, wer das war?“ Er zeigt in die Richtung, in die der Junge verschwunden ist. „Was gibt es schon über so einen zu wissen? Er ist ein Dieb und ein öffentliches Ärgernis.“ Das versetzt mir einen Stich ins Herz. „Aber er war noch so klein. Und so dünn.“ Ich gehe zum Restaurant zurück. „Er war sicher hungrig.“ Der Besitzer lacht, sodass sein runder Bauch auf und nieder wippt. „Ich habe ein Geschäft zu führen. Ich kann nicht jeden streunenden Hund füttern, der hier vorbeikommt.“ Mir stockt der Atem bei einer solch herzlosen Beleidigung, aber ich beiße mir auf die Zunge. Denn ich weiß, dass Carley sich meiner wie eines trockenen Croissants entledigen würde, falls ich es wagen sollte, den Besitzer wütend zu machen und damit ihr Interview zu ruinieren. „Wohnt er in der Nähe?“ „Und wenn schon, wen kümmert es?“ Er knallt den Deckel des Müll52
containers zu und stößt die Tür zum Café auf. Er geht wieder hinein und zurück bleibt nur der Gestank von Zigarettenqualm. Wen kümmert es? Manchmal stelle ich mir genau dieselbe Frage. Hätte ich dem kleinen Jungen helfen können, wenn er nicht weggerannt wäre? Einen Augenblick lang stehe ich einfach nur da, obwohl die grelle Sonne brennend heiß auf meine roten Haare scheint. Wer bin ich schon, dass ich überhaupt irgendjemandem helfen könnte? Ich bin nur das Mädchen mit der Kamera und dem Koffer. Viel mehr habe ich nicht zu bieten. Ich habe zwar die Welt gesehen. Aber manchmal frage ich mich … hat sie mich jemals gesehen? Kapitel 1 Ich sitze an meinem Esszimmertisch und drehe die Linguini auf meine Gabel. Spätestens als John zum wiederholten Male versucht, eine widerspenstige Kerze anzuzünden, fühle ich mich hochgradig unwohl. „Wann willst du es dir hier eigentlich endlich etwas schön machen?“ Er legt das Feuerzeug beiseite und blickt mich mit dem gewinnenden Lächeln eines Mannes an, der sich seiner Attraktivität sicher ist. „Wir hätten zu mir gehen sollen.“ „Aber ich war seit Wochen nicht zu Hause.“ Mein Blick wandert über den Ess- und Wohnzimmerbereich. Okay, eigentlich wollte ich schon lange das eine oder andere Bild an die Wand hängen. Und ich habe auch ab und zu nach diversen Gemälden geschaut, aber irgendwie sind seitdem wieder ein paar Jahre ins Land gezogen und die Wände sind immer noch genauso kahl wie der Holzfußboden. „Ich bin ja nun nicht gerade ständig hier“, werfe ich zwischen zwei Bissen Brot ein. „Aber danke, dass du für mich gekocht hast.“ Während ich mir mit der Serviette den Mund abwische, frage ich mich, was wohl das seltsame Glänzen in Johns Augen zu bedeuten hat. „Maggie, weißt du, welcher Tag heute ist?“ Er nimmt meine Hand und ich beobachte, wie seine langen Finger die meinen umschließen, sodass meine Hand völlig in seiner verschwindet. Ich muss den Schal um meinen Hals lockern, einen Schatz, den ich von meiner letzten Reise nach Ecuador mitgebracht habe. Ein Straßenverkäufer, der kaum älter als acht oder neun Jahre alt gewesen sein kann, hatte 53
ihn mir verkauft. Ich greife nach meinem Glas Eiswasser und stürze es hinunter. „Heute sind wir seit genau fünf Monaten zusammen.“ John redet und redet. Um ehrlich zu sein, bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn wirklich als meinen Freund bezeichnen sollte. Er ist eher derjenige, mit dem ich ab und zu ausgehe, wenn ich denn mal zu Hause bin. John streichelt meine Hand und es kribbelt in meinem Bauch. Allerdings ist es nicht die Art von Kribbeln, bei der man vor Freude laut lossingen möchte. Eher dieses nervöse Flattern im Magen, das man bekommt, wenn man ein bisschen zu viel Sushi gegessen hat und sich fragt, ob es überhaupt noch gut war. Ich versuche mich wieder auf die romantische Szene zu konzentrieren, die sich vor mir entfaltet, und zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen. Das Kerzenlicht bescheint Johns dunkle geweitete Pupillen. „Ich möchte, dass du weißt, wie wichtig du mir geworden bist“, sagt er. Plötzlich liegt eine Stimmung in der Luft, die mir Angst macht. Mein Gefühl sagt mir: Die Situation gerät außer Kontrolle. Mit Chaos kann ich leben. Dafür muss man nur einen Blick in meine Handtasche werfen. Aber diese Beziehungskisten? Drücken wir es einmal so aus, ich bin eine gute Kamerafrau, aber definitiv keine gute Partnerin. Ich räuspere mich kurz und schaffe es gerade noch, ihn davon abzuhalten, ein Gedicht für mich aufzusagen. „John, ähm, wie war eigentlich dein Tag?“ Er blinzelt. „Hast du mir überhaupt zugehört?“ Ich zwinkere erschöpft mit schweren Augenlidern. „Ich bin supermüde. Wir haben bis tief in die Nacht hinein gedreht und dann habe ich noch einen Zwölf-Stunden-Flug hinter mir.“ Oh, dieser mitfühlende Blick. Er verspricht mir, immer für mich da zu sein, egal, ob ich gerade unter Jetlag, Schlafentzug oder PMS leide. Man könnte meinen, ich müsste überaus dankbar sein, jemanden wie ihn gefunden zu haben. Wahrscheinlich sollte ich das auch. „Wir müssen über unsere Beziehung reden, Maggie. Darüber, wie es mit uns weitergehen soll.“ „Ich habe ein Vorstellungsgespräch beim National Geographic Channel.“ Sein Blick erstarrt. „Wie bitte?“ 54
„Selbst Carley weiß noch nichts davon. Es hat sich alles ganz kurzfristig ergeben.“ Ich blicke nach unten und beschäftige mich mit den restlichen Eiswürfeln in meinem Getränk. „Es findet in ein paar Wochen statt. Sie haben erst heute angerufen.“ „Heißt das, du müsstest noch mehr reisen?“ John hat in letzter Zeit immer mal wieder angedeutet, dass ich versuchen sollte, mehr zu Hause zu sein. Doch jedes Mal, wenn er davon anfängt, bekomme ich diese kleinen juckenden Pusteln am Hals. „Das ist die Chance meines Lebens. Ich könnte eine ihrer Fernsehshows produzieren.“ Ich sehe, wie seine Augen bei dem Gedanken aufleuchten. Warum freue ich mich eigentlich gar nicht so sehr darüber? Ich sollte in Begeisterungsstürme ausbrechen. Mir scheint es, als hätte sich viel verändert, seit ich letztes Jahr zum Glauben an Jesus gekommen bin. Unter anderem die Einstellung zu meiner beruflichen Karriere. Und ich habe keine Ahnung, was es mit dieser Langeweile auf sich hat, die mich nun regelmäßig beim Aufwachen überfällt. „Ich könnte endlich die richtigen Leute treffen, um meinen Dokumentarfilm zu produzieren.“ John lehnt sich zurück und lässt seine Ellenbogen auf die Stuhllehne sinken. „Dein Dokumentarfilm wurde bereits fünfmal abgelehnt. Vergiss es einfach.“ „Ja, wahrscheinlich sollte ich mir die Sache aus dem Kopf schlagen.“ Voilà, noch ein Bereich, über den wir uns nie einig sein werden – genauso wenig wie über ausländische Sportwagen und über den Sinn von Sportsendungen, die rund um die Uhr laufen. Ich habe bereits einige Sender wegen dieser Doku-Serie angeschrieben. Alle haben abgelehnt. Selbst John findet die Idee blöd. „Es gibt einfach schon zu viele Filme über benachteiligte Kinder.“ John ergreift wieder meine Hand. „Du weißt, ich bin davon überzeugt, dass du eine sehr gute Arbeit machst, aber die finanziellen Mittel in der Branche sind knapp.“ Ich will mit aller Macht glauben, dass John mit seiner Einschätzung falschliegt. Wahrscheinlich hat er jedoch recht. Er lächelt mich voller Wärme und Fürsorge an. „Du musst lernen, Beruf und Hobby auseinanderzuhalten.“ Ich umfasse mein Wasserglas fester. „Du tust es schon wieder.“ „Was?“ 55
„Du redest mit mir, als wäre ich ein kleines Kind.“ „Aber ich möchte doch nur das Beste für dich.“ John arbeitet als Anwalt für unseren Sender. Manchmal habe ich den Eindruck, er findet, es sei ein bisschen unter meiner Würde, einfach nur hinter der Kamera zu stehen. Oder unter seiner Würde. „Maggie, heute Abend ist ein ganz besonderer Abend.“ Oh-oh. Da sind sie wieder, diese verträumten Augen. „Du bedeutest mir sehr viel. Und in letzter Zeit habe ich gemerkt, dass meine Gefühle für dich stärker geworden sind. Ich bin verrückt nach deinem Humor, deinem Lachen, nach deiner Abenteuerlust. Ich wollte dir sagen, dass ich –“ „Oh Mann, bin ich müde.“ Ich schätze die Unverbindlichkeit unserer Beziehung – wir sind ein Paar, wenn ich gerade mal da bin. Wir reden, wir schreiben uns SMS und E-Mails. Wir gehen auch mal zum Thailänder oder ins Kino. Aber wir sagen nicht „Ich liebe dich“. „Vielleicht sollten wir das Dessert weglassen und den Abend beenden.“ Er beugt sich über den schmalen Tisch so weit nach vorne, dass sein Gesicht dem meinen viel zu nahe kommt. Er fährt mit seinem Finger zärtlich über meine Wange. „Maggie, ich liebe –“ Klingeling! „Oh, sorry.“ Rettung in letzter Minute! „Ich muss da schnell rangehen.“ John ist sichtlich frustriert, als ich ans Telefon gehe, ohne auch nur auf die Nummer zu schauen. Wer auch immer das ist, ich bin ihm zu größtem Dank verpflichtet. „Hallo?“ „Maggie?“ Mein Herz rutscht in die Hose wie ein Fahrstuhl, der ungebremst mehrere Stockwerke in die Tiefe stürzt. „Dad?“ „Ich versuche seit Wochen, dich zu erreichen. Hast du denn keine meiner Nachrichten bekommen?“ „Ich war im Ausland.“ Ich erschrecke über meinen Tonfall, aber immerhin habe ich gerade meinen Dad am Telefon. Der Mann, der mich vielleicht zweimal im Jahr anruft und dann auch nur, um mich darüber zu informieren, dass wieder irgendein alter entfernter Verwandter das Zeitliche gesegnet hat. Sicher ist er jetzt nicht so verrückt geworden, dass er anruft, weil er mich sehen will oder fragen möchte, wie es mir geht. Oder weil er an meinen Geburtstag gedacht hat. 56
„Was ist los?“, flüstert John. Ich bitte ihn mit einer Handbewegung, ruhig zu sein. „Maggie, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, also werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Du … du musst nach Hause kommen.“ Ich schnaube ins Telefon. „Ganz bestimmt.“ Vielleicht, wenn die Erde anfängt, sich rückwärts zu drehen. „Ich war doch erst an Weihnachten zu Hause.“ „Das ist fünf Jahre her.“ „Oh.“ Mir scheint es, als sei es erst gestern gewesen. „Deine Schwester ist letzten Monat hier aufgetaucht … Wir brauchen Hilfe.“ „Es tut mir leid. Ich kann euch jetzt nicht besuchen. Wir stecken mitten in der Endphase für diese Staffel und mein nächster Flug geht in vier Tagen.“ „Hör zu, du weißt, dass ich nicht fragen würde, wenn es irgendeine andere Möglichkeit gäbe. Seit letzter Woche muss ich wieder in der Fabrik arbeiten.“ „Warum hast du wieder angefangen zu arbeiten?“ Dad hat sich vor fünf Jahren zur Ruhe gesetzt, nachdem er praktisch sein ganzes Leben der Reifenfabrik am Ort gewidmet hatte. Die Firma hat mehr von ihm gesehen als seine Familie. „Ich kann das jetzt nicht so einfach erklären.“ „Wo ist Allison? Steckt sie in Schwierigkeiten?“ Meine Macken sind immerhin noch einigermaßen gesellschaftsfähig, aber die meiner jüngeren Schwester? Nicht wirklich. Ich will nicht wissen, was sie diesmal wieder angestellt hat. „Sie ist weg. Sie ist einfach verschwunden, okay? Kannst … kannst du nicht einfach für ein paar Tage vorbeikommen?“ Die Stimme meines Vaters klingt abgehackt und unsicher. Mir dämmert, dass dies wohl die längste Konversation ist, die ich jemals mit meinem Vater geführt habe. Ich meine, immerhin redet er in ganzen Sätzen! „Dad, wenn einer von euch Geld braucht, bin ich gerne bereit, euch etwas zu geben. Ich kann die Überweisung morgen fertig machen. Aber ich kann hier nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Ich muss nächste Woche zu Dreharbeiten nach Taiwan fliegen!“ 57
„Ich brauche kein Geld von dir“, knurrt er. „Ich brauche … Hilfe.“ Auf einmal ist es so still, dass man sogar das Knistern der Telefonleitung hören kann. „Hilf mir, Maggie. Bitte.“ Ich ignoriere seinen wehleidigen Tonfall. So kenne ich meinen Dad gar nicht. Das macht mir beinahe so viel Angst wie der Gedanke, zurück nach Texas zu fahren. Ich schulde diesem Mann nichts. Und doch überkommen mich die altbekannten Gewissensbisse. Ich muss an meine Schwester denken, die drei Jahre jünger ist als ich und mit ihren siebenundzwanzig Jahren noch immer nicht erwachsen. Seit ich mein Zuhause kurz nach meinem Highschoolabschluss verlassen habe, habe ich nie mehr zurückgeschaut. Ich bereue nur, dass ich Allison damals bei einem herzlosen Griesgram zurückgelassen habe, der kaum zu Hause war und immer über irgendetwas zu meckern hatte. Immerhin hatte ich Mom, bis ich sechzehn war. Doch seit Allisons dreizehntem Geburtstag hatte sie nur mich und Dad … und dann bin ich weggegangen. Ich bin einfach losgezogen, mit einem Koffer in der Hand und im Gepäck die Schuldgefühle, meine kleine Schwester allein zurückzulassen. „Es geht einfach nicht, Dad. Ich habe im Moment zu viel um die Ohren. Es tut mir leid.“ „Tu es wenigstens für Allison.“ Meine Schwester – meine Achillesferse. „Du kannst über mich denken, was du willst, Maggie, aber sie hat dich noch nie so sehr gebraucht wie jetzt. Ich glaube, du bist die Einzige, die sie dieses Mal noch retten kann. Tu es für deine Schwester.“ Ich schließe meine Augen und wappne mich gegen das Unausweichliche. „Ich nehme den ersten Flug morgen früh.“ Eine Stunde später bringe ich John zur Tür und rede mich damit heraus, müde zu sein und noch packen zu müssen. „Wie lange wirst du weg sein?“ Sein Gesicht drückt so viel Fürsorge aus und er zieht mich in seine Arme. „Drei Tage. Danach fliege ich direkt weiter zu den Dreharbeiten.“ „Ich werde dich vermissen.“ Ich muss über diese vorhersehbare Bemerkung schmunzeln. Natürlich wird er mich vermissen. Er tritt zurück und nimmt mein Gesicht in beide Hände. „Ich wollte, dass dieser Abend perfekt wird. Ich wollte dir sagen, dass ich –“ 58
„John, vielleicht sollten wir die Zeit, in der wir uns nicht sehen, dazu nutzen, über unsere Beziehung nachzudenken.“ „Aber ich denke doch die ganze Zeit darüber nach.“ Und das ist ein weiteres Problem zwischen uns: Ich tue das nämlich nicht. „Ich glaube, wir haben einfach unterschiedliche Vorstellungen. Mir geht das alles ein bisschen zu schnell.“ Er nimmt meine Hand und küsst sie. „Du bist müde. Ich lass dich jetzt packen.“ „Nein, ich meine das ernst.“ „Ruf mich an, wenn du mich brauchst.“ Er drückt sanft seine Lippen auf meine Stirn. „Ich melde mich bei dir.“ Ich schließe die Tür ab. Das Geräusch des Schlüssels im Schloss vermittelt mir ein Gefühl von Geborgenheit … und ich lasse mich langsam zu Boden fallen. Angst, ich? Ich habe Schlangen auf den Reisfeldern Kambodschas gezählt. In Botswana habe ich Sachen gegessen, die meine Kehle heruntergekrabbelt sind. Im Amazonas bin ich Moskitos ausgewichen, die so groß wie Vögel waren. Aber ich, Maggie Montgomery, die die ganze Welt gesehen hat, war noch nie an einem Ort, der auch nur im Entferntesten so furchteinflößend ist wie zu Hause.
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Cathy Marie Hake Ärztin in Rot ISBN 978-3-86827-221-5 320 Seiten, Paperback erscheint im März 2011
Das kleine Städtchen Gooding in Texas steht Kopf. Endlich ist das lang erwartete Zwillingspaar eingetroffen, das die in Gooding so dringend benötigten Qualifikationen mitbringt. Taylor Bestman ist Arzt, Enoch Bestman Tierarzt. Doch niemand hat damit gerechnet, dass Taylor eine Frau ist! Gegen seinen Willen wird der Schmied Karl Van der Vort zu Taylors erstem Patienten. Dabei gehört er zur wachsenden Gruppe derer, die eher zum Tierarzt gehen würden als sich von einer Frau behandeln zu lassen. Selbst als Taylor ihm das Leben rettet, überzeugt Karl das nicht von ihren Fähigkeiten. Trotzdem ertappt er sich zunehmend dabei, dass diese ungewöhnliche Frau, die allein durch die Gegend fährt und es sogar wagt, Rot zu tragen, seine Beschützerinstinkte weckt. Doch Taylor will nicht beschützt werden. Sie will nur eins: der Stadt beweisen, dass sie zur Ärztin berufen ist. Und sich dabei von nichts und niemandem ablenken lassen – schon gar nicht von einem sturen, leider überaus faszinierenden Hinterwäldler ... 60
Mit einem asthmatischen Schnaufen verließ der Zug den letzten Bahnhof vor Gooding. Tierarzt Enoch Bestman warf einen Blick auf das Bett im Abteil. Erschöpft von einem schwierigen ärztlichen Notfall schlief seine Zwillingsschwester Taylor genauso tief und fest wie auch schon sein Vater und Großvater nach durchwachten Nächten am Bett von Patienten. Als Enoch noch in Chicago gewesen war, hatte er förmlich mit den Hufen gescharrt. Er hatte sich seine Rastlosigkeit nicht erklären können, denn trotz einer florierenden Tierarztpraxis hatte er das Gefühl, dass er nicht am richtigen Ort war. Das alles lag jetzt hinter ihm. „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen!“, zitierte Enoch aus dem dreiundvierzigsten Kapitel des Buches Jesaja. Dieser Vers war ihm sofort in den Sinn gekommen, als er die Stellenanzeige aus Gooding, Texas, für einen Arzt und einen Tierarzt gelesen hatte. Es hätte nicht klarer sein können, was Gott von ihm und Taylor erwartete. Ein paar wenige Schritte brachten ihn zum Fenster. Das Land erstreckte sich anscheinend endlos vor ihm, frei und offen anstatt gedrängt und überfüllt. Jede Meile, die der Zug zurücklegte, brachte ihn näher zu seinem neuen Leben. Herr, danke, dass du alles so gut geführt hast, dass auch Taylor mitgekommen ist. Ich lobe dich für die Möglichkeiten, die uns in den nächsten Tagen und Jahren offenstehen. Schließlich wachte Taylor auf und blieb am Tisch stehen, um sich etwas zu essen zu nehmen. „Warum hast du mich nicht geweckt?“ „Du hast den Schlaf gebraucht.“ „Wenn diese Stadt wirklich so ländlich ist, wie wir vermuten, werde ich in den nächsten vier Jahren wohl genug Schlaf bekommen.“ Enoch zuckte mit der Schulter. „Aber wenn die Gegend wirklich so ländlich ist und es keinen Arzt gibt, wird es bestimmt ein paar dringende Fälle für dich geben.“ „Ja, aber auch du wirst wahrscheinlich von den Leuten überrannt, sobald du aus dem Zug steigst. Eine Stadt ohne Tierarzt in einer Gegend, wo Landwirtschaft so wichtig ist, schreit förmlich nach dir.“ Mit einem leichten Lächeln fügte Taylor hinzu: „Es gibt dort bestimmt tausendmal mehr Tiere als Menschen. Vielleicht solltest du lieber noch ein bisschen schlafen.“ 61
Enoch schnappte Taylor ein Stück Kuchen weg und schob es sich schnell in den Mund. „Das war das letzte!“ „Sie werden in Gooding bestimmt etwas zu essen für uns haben. Außerdem –“, er grinste breit, „– bin ich älter und größer.“ „Einen Zentimeter größer und älter nur, weil du es eilig hattest.“ „Hey!“ Er sah Taylor übertrieben böse an. „Ich wollte dir einen Gefallen tun. Jeder weiß, dass der erste Zwilling mit viel kälterem Wasser abgerieben wird.“ Taylor lachte. „Ärzte reiben Babys nicht mit kaltem Wasser ab.“ „Nein?“ „Enoch“, sagte Taylor geduldig wie zu einem begriffsstutzigen Kind, „menschlicher Nachwuchs ist ein bisschen anders als deine Tiere, die –“ „Stimmt. Der Nachwuchs meiner Patienten ist viel talentierter. Nur wenige Sekunden nach der Geburt stehen die Kleinen schon. Und nach ein paar Minuten machen sie die ersten Schritte.“ Er nickte und verkündete voller Überzeugung: „Tiere sind da viel unkomplizierter.“ „Wie ich schon sagte, menschlicher Nachwuchs ist anders. Die Nackenmuskulatur ist noch viel zu schwach. Auch wenn sie nicht so schnell aus dem Nest fliegen – was ein beängstigender Gedanke wäre –“ „Beängstigend? Doch wohl eher lustig. Man müsste nur jemanden an die richtige Stelle schicken, um das Kind aufzufangen.“ Taylor gluckste. „Für einen Moment hattest du mich davon überzeugt, dass du nicht die leiseste Ahnung von der Materie hast, aber jetzt …“ Enoch zuckte mit den Schultern. „Hab ich auch nicht. In der Stadt wirst du dir eine Frau suchen müssen, die dir bei Geburten hilft.“ Taylors grüne Augen funkelten. „Du hast mich mit dem Argument aus Chicago weggelockt, dass du mir helfen wirst, wenn ich deine Hilfe brauche. Deine medizinische Ausbildung wird ja wohl ausreichen, um ein paar Anweisungen zu befolgen.“ Der Zug wurde langsamer. „Ich werde dir assistieren … bei allem anderen außer Geburten.“ Um abzulenken zeigte Enoch zum Fenster. „Schau mal. Das sind bestimmt dreißig Leute, die am Bahnsteig stehen, um uns zu begrüßen. Ich bin sicher, du wirst eine Frau finden, die dir mit den Geburten hilft. Und es gibt sogar ein Spruchband. ‚Willkommen Doktores Bestman‘.“ 62
„Schön, dass sie als Plural wenigstens nicht ‚Bestmen‘ geschrieben haben. Sieh dir mal die Wolken da hinten an. Gut, dass so viele Leute gekommen sind, um uns mit dem Gepäck zu helfen, bevor der Sturm losbricht.“ „Genau.“ Der Zug hielt an und sie stiegen aus. Ein rundlicher Mann mit einer Frau im Schlepptau kam auf sie zu. „Willkommen in Gooding! Ich bin Gustav Cutter, der Bürgermeister.“ Mit ausgestreckter Hand sagte Enoch: „Enoch –“ „Der Tierarzt!“, rief der Bürgermeister laut den Umstehenden zu. „Der hier ist für eure Viecher zuständig. Und es sieht so aus, als hätte er sich selbst schon eine hübsche junge Stute geangelt!“ Erstaunen und Ärger zeigte sich in Taylors Augen, als sie ihrem Bruder einen Seitenblick zuwarf. Er hatte sich alleine um ihre Verträge und den Umzug nach Gooding gekümmert. Enoch raunte Taylor zu: „Sie müssten es eigentlich wissen, Schwesterherz. Dr. Glendales Empfehlungsbrief war eindeutig. Er hat geschrieben, dass du eine Frau bist.“ Erleichterung machte sich in Taylor breit, bevor sie anfing zu lachen. „Mein Bruder? Verheiratet? Also, Mr Cutter, nach dieser langen Reise tut es gut, einen Witz zu hören.“ „Danke für das herzliche Willkommen!“, sagte Enoch jetzt so laut, dass alle Anwesenden ihn hören konnten. „Darf ich Ihnen Taylor vorstellen. Sie ist –“ „Sagen Sie bitte, dass sie Ihre Schwester ist!“, rief einer der Männer im Begrüßungskomitee. „Und dass sie noch nicht vergeben ist!“, fügte ein anderer hinzu. Die Männer hinter dem Bürgermeister wurden unruhig. Einer zwirbelte seinen Bart, während zwei andere versuchten ihre wilde Haarmähne ein wenig zu ordnen. Ein paar der Männer richteten sich merklich auf. Ich werde einige Mühe haben, die alle von meiner Schwester fernzuhalten. „Ah, sie hat wunderschöne Grübchen“, rief einer, dessen Gesicht Taylor sich merken wollte, um ihm niemals mehr als kühle Zurückhaltung entgegenzubringen. Die Frau des Bürgermeisters wandte sich jetzt erbost um. „Wenn ihr schon so dumm seid, dass ihr nicht nachdenken könnt, dann versucht wenigstens, ein bisschen höflicher zu sein. Ihr habt Dr. Enoch Bestman 63
unterbrochen, als er uns die junge Dame vorstellen wollte. Natürlich ist sie seine Schwester. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Und denkt doch mal nach. Wenn sie verheiratet wäre, wäre sie nicht mit ihren Brüdern hierhergekommen.“ „Yipiiie!“ Einer der Cowboys ergriff Mrs Cutter und wirbelte sie umher. Der Bürgermeister kam seiner Frau zur Hilfe. Taylor lächelte mit zusammengebissenen Zähnen und flüsterte Enoch zu: „Wo hast du uns da nur hereingeritten? Sie hat Brüder gesagt. Plural.“ Das war Enoch auch aufgefallen. Aber jetzt mussten sie da hindurch. Sich bei Taylor zu entschuldigen, würde im Moment nichts bringen, das war ihm klar. Leise flüsterte er zurück: „Du hast nicht zufällig ein Wundermittelchen, was dir einen Bart wachsen lässt?“ Taylors Augen wurden groß und sie musste ein Lachen unterdrücken. „Jedes Mal, wenn ich eine Hose von dir anziehen wollte, hast du mir gesagt, ich solle stolz darauf sein, dass ich eine Frau bin. Und jetzt willst du auf einmal, dass ich ein Mann in einem Kleid werde?“ Temperament. Grips. Humor. Enoch war so stolz auf seine Schwester. „Vergiss es. Du bist stärker als jeder Mann, den ich kenne. Was auch immer geschieht, wir werden es zusammen durchstehen.“ „Wie gut, dass wenigstens Gott auf unserer Seite steht.“ Der Bürgermeister wischte sich nach der Rettung seiner Frau erschöpft den Schweiß aus dem Gesicht und kam wieder zu ihnen herüber. „Es tut mir leid, Dr. Bestman. Sie wollten uns gerade ihre Schwester und ihren … Zwillingsbruder vorstellen.“ Der Bürgermeister reckte den Hals, als suche er hinter ihnen noch nach jemandem. „Wo ist er denn überhaupt?“ Enoch ergriff Taylors Ellenbogen. „Mr Cutter, darf ich Ihnen meine Zwillingsschwester vorstellen, Miss Taylor MacLay Bestman, Ärztin aus Chicago.“
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