Leseproben Romane
Randall Wallace, Der Chirurg ................................................. 2 Linda Nichols, Geborgtes Leben ........................................... 19 Kristen Heitzmann, Das Erbe der Michellis .......................... 26 Tamera Alexander, Land der Sehnsucht ................................ 32 Cathy Marie Hake, Ein Wirbelwind namens Millie ............. 38 Karen Witemeyer, Sturz ins Gl端ck ........................................ 46 Lisa T. Bergren, Waterfall ...................................................... 52
Randall Wallace Der Chirurg ISBN 978-3-86827-333-5 288 Seiten, gebunden erscheint im September 2012
Andrew Jones ist ein hochtalentierter Chirurg. Doch als es ihm nach einem tragischen Unfall nicht gelingt, seine Verlobte zu retten, gibt er das Operieren auf. Lara Blair ist seit dem Tod ihres Vaters Erbin und Leiterin seines biomedizintechnischen Unternehmens und arbeitet an der Entwicklung eines Operationswerkzeugs, das die Handbewegungen eines Chirurgen exakt nachahmen soll. Als sie von Jones’ außergewöhnlichem Talent erfährt, versucht sie, ihn für ihr Vorhaben zu gewinnen. Jones lehnt ab – bis er die Dringlichkeit hinter Laras Mission entdeckt ...
4
Als Michelangelo seine Deckenmalerei in der Sixtinischen Kapelle fertiggestellt hatte, beachteten weder der Papst, der ihn dafür engagiert hatte, noch die angesehenen Künstler von Rom die Darstellung in der Mitte der Decke. Dort streckte Gott, den Michelangelo in seiner Kühnheit als ein dem Menschen ähnliches Wesen gezeigt hatte, seine göttliche Hand dem ersten Menschen, Adam, entgegen, der in schöner, aber schlaffer Perfektion ausgestreckt lag und auf die Berührung wartete, die ihn zum Leben erwecken würde. Die Reichen, Gebildeten, Hochwohlgeborenen und gut Erzogenen lobten die Kapelle bei zahlreichen privaten Besichtigungen und bezeichneten sie als gute Arbeit, vielleicht sogar als bemerkenswert. Sie fanden, dass Michelangelo die schwierigen Krümmungen der Decke gut gemeistert hatte – und das neben der Herausforderung, den Putz zu bemalen, während der noch trocknete. Einzelne Figuren des Freskos wurden kritisiert, aber kein Bereich wurde besonders hervorgehoben. Erst als sie die Kapelle für die hungrigen Augen des Volkes öffneten, die diese beiden Fingerspitzen betrachteten, die eine göttlich und die andere menschlich, an denen gleich der Funke des Lebens überspringen würde, erkannten die Vertreter des Vatikans und die Gelehrten Roms allmählich, dass Die Erschaffung Adams etwas Besonderes war. Faith Thomas und Andrew Jones waren zwei dieser Menschen aus dem Volk, die im Laufe der Jahrhunderte als Touristen den Blick zur Decke der Sixtinischen Kapelle erhoben hatten und wie angewurzelt dastanden, mit offenem Mund, voller Freude und Staunen. Faith und Andrew waren in vielerlei Hinsicht nicht unbedingt typisch; beide waren Mitte zwanzig, sie waren ein attraktives Paar, Faith mit blauen Augen und dunkelbraunem Haar, und Andrew groß und blond, seine Augen grün und leidenschaftlich. Unter Zehntausenden junger Amerikaner, die im Sommer mit dem Rucksack durch Europa zogen, fielen sie auf und zogen genauso viele Blicke auf sich wie die Statuen und Mosaikböden der Paläste, die sie besuchten. Und doch waren sie ganz normale Menschen. Beide kamen aus den Appalachen, sie aus der Bergbaugegend von Pennsylvania und er aus den Blue Ridge Mountains, einem Gebirgszug in Virginia. Sie hatten sich beim Medizinstudium kennengelernt. Jetzt lagen sie rücklings auf dem Boden dieser großartigen Kapelle und blickten hinauf, die Köpfe auf ihren Rucksäcken ruhend, die jeder ein zerlesenes Exemplar von Europa ab 5
85 Dollar pro Tag enthielten. Faith machte sich Sorgen, dass die Wachen des Vatikans ihnen sagen würden, sie sollten aufstehen, weil es an Besuchstagen nicht gestattet sei, auf dem Boden der Sixtinischen Kapelle zu liegen, und an anderen Tagen auch nicht. Aber Andrew hatte einem von ihnen etwas zugeflüstert, als sie hereingekommen waren, und das Personal schien sie seither zu ignorieren. Vielleicht weil sie zu der letzten Gruppe gehörten, die man hereingelassen hatte, bevor die Führungen durch den Vatikan für diesen Tag beendet waren. Die anderen Touristen in ihrer Gruppe hatten die Decke bereits betrachtet; in ihren Augen lag schon der Glanz, der davon kommt, wenn man die Größe eines Kunstwerks einfangen und begreifen will, dessen Thema ebenso wie die Technik der Darstellung über jedes Begreifen hinausgeht. „Die göttliche Berührung“ war etwas, worüber man nachdenken musste; jeder Mensch, der die Augen zu diesem Bild aufhob, wusste, dass es ein Privileg war, es anzusehen. Aber Faith Thomas und Andrew Jones lagen auf dem Rücken darunter und erlebten die Faszination eines besonderen Augenblicks. Auf einem Boden zu liegen, über den Tausende, ja sogar Millionen von Füßen gelaufen waren, hätte ihrer amerikanischen Natur unhygienisch erscheinen können, aber die Heiligkeit des Ortes machte sogar den Fußboden makellos. „Ist es das Geschenk des Lebens?“, fragte Andrew nachdenklich, während sein Blick, im Einklang mit dem von Faith, von den Fingerspitzen, die sich noch nicht ganz berührten, zu Eva wanderte, die in Gottes anderer Hand als für Adam erschaffene Partnerin abgebildet war. „Oder das Geschenk der Liebe?“ „Beides“, flüsterte sie zurück. „Es besagt, dass Liebe und Leben dasselbe sind.“ Ohne den Blick länger als einen flüchtigen Moment abzuwenden, fügte sie hinzu: „Du hast auch solche Hände.“ „Wie Adam? Oder wie Michelangelo?“ Er grinste; sie kannte das schiefe Grinsen, ohne hinsehen zu müssen. „Wie der mächtige Mann mit dem weißen Haar. Deine Berührung erweckt mich zum Leben.“ In Nachahmung des Gemäldes streckte er ihr die Hand entgegen, und sie hob ihre Hand in der gleichen Geste. Aber dann, anstatt ihre Fingerspitze zu berühren, ergriff er ihre Hand, zog etwas aus der Tasche seiner Jeans und streifte es über ihren Ringfinger. 6
Es war ein Verlobungsring. Sie drehte sich auf die Seite, sah ihren Finger an und dann ihn. Plötzlich küssten sie sich und der ganze Raum voller Touristen applaudierte ihnen, und die Wachen zwinkerten Andrew zu. Selbst das Fresko direkt über ihnen schien heller zu leuchten. Für Faith bestand kein Zweifel daran, dass sie den Augenblick in der Sixtinischen Kapelle ihr Leben lang nicht mehr vergessen würde, selbst wenn dieses Leben noch hundert Jahre dauern sollte. Selbst wenn sie so lange lebte, bis sie sabbernd in der Ecke saß und sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Namen erinnerte, würde das Geschehene doch irgendwo in ihrem Herzen ruhen. Während Andrew und sie Hand in Hand durch die Tore des Vatikans gingen, sagte sie ihm das. Er lächelte sanft, und seine Augen leuchteten voller Emotionen, und obwohl sie gedacht hatte, dass sie niemals einen Menschen mehr lieben könnte als ihn in dem Augenblick, in dem er ihr den Ring auf den Finger gesteckt hatte, liebte sie ihn jetzt sogar noch mehr als zehn Minuten zuvor. „Du hattest das alles geplant!“, sagte sie. „Wie lange wusstest du schon, dass du es tun würdest?“ „Seit ich dich gefragt habe, ob du mit mir eine Europatour machst.“ „War das Ganze abgesprochen? Mit dem Wachmann?“ „Irgendwie schon. Ein Freund von mir kennt ihn.“ Vier Monate später, mitten im Herbst in Virginia, fuhren die beiden in die Berge, und eine Postkarte mit der Erschaffung Adams war am Armaturenbrett von Andrews altem Jeep festgeklebt. Faith saß am Steuer; nach tagelangem Studium und Praktikum und 24-Stunden-Schichten in der Notaufnahme freute sie sich immer darauf, die Unebenheiten der Straße unter sich zu spüren, auf den durchgesessenen Sitzen auf und ab zu wippen und das Summen des Lenkrades unter ihren Händen zu spüren, während sie ins Gebirge fuhren. Sie hatten die Universität am späten Nachmittag verlassen und die Autostraße 29 in südlicher Richtung genommen, wo sie in den Bezirk Nelson County führte, Virginias ärmste Region. Die Straße allerdings war eine der schönsten Strecken im Bundesstaat, die sich auf und ab durch Ackerland wand. Häuser und Kirchen und Antiquitätenläden standen 7
dort auf dem Grund und Boden, den Thomas Jefferson zweihundert Jahre zuvor auf seinem Weg von Charlottesville nach Lynchburg betreten hatte, als er das Sommerhaus besucht hatte, das er an einem Ort namens Poplar Forest hatte errichten lassen. Andrew liebte Geschichte, und so dachte er jedes Mal, wenn er auf dieser Straße fuhr, an Jefferson, den unnachgiebigen Bauherrn, der bei der Gestaltung von Monticello und der Universität von Virginia und Uhren und Silberkelchen mitgewirkt hatte und – was kein Zufall war – bei der Gestaltung der Vereinigten Staaten von Amerika. Faith lächelte geduldig, wenn Andrew laut über solche Dinge nachdachte; sie fand sie nicht so sehr spannend, sondern eher ungewöhnlich, denn Faith interessierte sich mehr für das, was jetzt war, für die Häuser, an denen sie vorbeifuhren und an denen im Mai oder Oktober noch die Weihnachtsbeleuchtung befestigt war, und für die Familien, die in diesen Häusern lebten. War irgendjemand krank? Warum nahmen sie die Lichterketten nicht ab, damit das Aufhängen zum nächsten Fest wieder etwas Besonderes war? Faith und Andrew waren zwei unterschiedliche Menschen – und diese Unterschiede machten ihrer beider Leben interessanter. Sie arbeitete gerade an einem Projekt, das sich mit der neurologischen Wirkung von Musik beschäftigte. „Frühe Studien legen nahe, dass der IQ von Kindern höher wird, wenn man ihnen klassische Musik vorspielt. Das hat mich auf einen Gedanken gebracht: Wenn Musik eine Wirkung auf das Gehirn hat –“ „Posttraumatisches Koma. Es könnte bei der Heilung helfen!“ „Bingo, mein Lieber! Siehst du, ich wusste, dass du nicht nur gut aussiehst.“ „Warum funktioniert es eigentlich? Beruhigt die Musik? Regt sie an? Oder werden Menschen gesünder, wenn sie von Schönheit umgeben sind?“ Er blickte von der Michelangelo-Postkarte am Armaturenbrett zu Faith hinüber. Sie hatte gerade die Scheinwerfer eingeschaltet und das Licht spiegelte sich sanft auf ihrer Haut. „Es ist Liebe. Kunst ist ein Ausdruck von Hingabe, ein greifbarer Beweis dafür, dass jemand genug empfand, um Schönheit zu erschaffen und mit anderen zu teilen. Vielleicht erreichen wir Ärzte, indem wir die Patienten berühren und Anteilnahme zeigen, mehr als mit unserer Wissenschaft.“ „Liebe heilt?“ „Liebe heilt.“ 8
„Faith ist mit seiner Bedeutung wirklich der richtige Name für dich: Glaube.“ Sie lächelte ihn an; dann schnellte ihr Blick zurück auf die Straße und ihre Augen weiteten sich vor Schrecken. Sie riss das Lenkrad herum und öffnete den Mund, als wollte sie schreien. Aber selbst dafür war keine Zeit mehr. Im Bruchteil einer Sekunde war für Andrew Jones alles anders – alles, was er sich erhofft und geplant hatte, alles, woran er im Leben glaubte. Im Bruchteil einer Sekunde war Faith nicht mehr da. Blair-Bio-Med besaß ein eigenes Hochhaus, das von einigen der vornehmsten Immobilien in Chicago umgeben war. Es war ein relativ junges Unternehmen, verglichen mit anderen Firmen, die in der Nähe ihren Sitz hatten, aber auf seinem Gebiet war es das älteste, da sein Gründer ein Pionier in der Entwicklung von Maschinen gewesen war, die unmögliche Operationen nicht nur möglich, sondern auch zweckmäßig gemacht hatten. Von außen sah das Gebäude eher unscheinbar aus, ein Turm aus Glas und Stahl mit genügend Stein dazwischen, um einen ebenso stattlichen Eindruck zu vermitteln wie ein Unternehmen, das auf Tradition gegründet war, zum Beispiel eine Bank oder eine Versicherungsgesellschaft. Aber im Inneren, wo die Labore und technischen Anlagen das eigentliche Herz der Firma für Biomedizintechnik bildeten, war Blair-Bio-Med ein schillernder Tanz aus Lichtern, gekreuzt von Laserstrahlen, eingerahmt von Computerbildschirmen und sogar dem Funkenflug von Schweißgeräten, da ihre Designer die Prototypen ihrer Erfindungen nicht nur entwarfen, sondern auch selbst bauten. Das Forschungszentrum befand sich im oberen Zentrum des Gebäudes und war das Herz des Unternehmens. Und mitten in diesem Forschungszentrum wiederum befand sich Dr. Blairs Labor für Operationstechnik. Dr. Blair – nicht der alte Dr. Blair, der das Unternehmen gegründet hatte, denn der war vor einigen Jahren verstorben, sondern Dr. Blair junior, jemand, der die ganze Begabung und Zielstrebigkeit des alten Herrn geerbt hatte, ganz zu schweigen von der kompletten Firma, die er gegründet hatte – arbeitete jeden Tag und beinahe jede Nacht in diesen Räumen. Dr. Blair war brillant, und Dr. Blair war ehrgeizig. Und Dr. Blair war eine Frau. Alle, die in der Firma arbeiteten – und es gab ein paar äußerst talentierte 9
Köpfe bei Blair-Bio-Med – wussten, wer der Boss war, und sie wussten, dass sie nicht wegen des Testaments ihres Vaters der Boss war, sondern durch die Kraft ihres eigenen Willens und ihre Fähigkeit, diesen Willen durchzusetzen. Sie beobachteten alles, was sie tat, so wie sie sie jetzt beobachteten, als sie das Zeichen gab, mit dem Experiment zu beginnen. Die Techniker im Kontrollraum, die durch eine doppelwandige Glasscheibe von dem Operationstisch getrennt waren, an dem Dr. Blair stand, fuhren mit den Fingern über Reihen von Knöpfen, die die Laser mit Strom versorgten, sodass sie mikroskopisch feine Strahlen in präzise ausgerichteten gekreuzten Linien aussendeten, ein feines Netz aus intensivem Licht, das jeden Luftpartikel um die Ärztin herum und um die Arbeit vor ihr abzutasten schienen. Monitore an der Wand unmittelbar hinter dem Operationstisch zeigten Daten, die in jeder Sekunde tausende Mal aktualisiert wurden. Eine menschliche Hand – Dr. Blairs zarte, weibliche Hand, die durch einen Operationshandschuh geisterhaft wirkte – schob sich geschickt in einen Präzisionsärmel, der wie eine zweite Haut saß und mit Sensoren jede Bewegung ihres Armes, ihres Handgelenks, der Knöchel und Fingerspitzen dokumentierte. Sie bewegte die Finger. Der mikroskopische Sensor, der sowohl in den chirurgischen Handschuh als auch den dazugehörigen Ärmel eingearbeitet war, spuckte Daten aus, die über die Bildschirme huschten und auf den angeschlossenen Computerfestplatten gespeichert wurden. „Ich bin so weit“, sagte sie, und die Worte klangen gedämpft hinter ihrer Maske. Die Antwort eines unsichtbaren Technikers ertönte aus einem Lautsprecher. „Dann geht es los.“ Schweißtropfen glänzten um Laras Augen. Was sie tat, hatte den Ernst von Leben und Tod. Entschlossen hob sie eine Sonde mit einer rasierklingenscharfen Spitze. Sie drückte ihr Gesicht an eine chirurgische Lupe, die ihre Bewegungen mit vollzog und ihren Augen mikroskopisches Sehvermögen verlieh. Mit beiden Händen hielt sie die Sonde ruhig und fädelte sie durch die Matrix aus Laserstrahlen … dann bewegte sie sie nach unten … weiter … in ein Gehirn. Nur dass dieses Gehirn nicht lebendig war. Es sah erstaunlich echt aus und war eine genaue Abbildung des menschlichen Gehirns, wie es durch 10
die Entfernung einer Scheibe vom Schädel aussehen würde, aber kein Körper war damit verbunden und kein Blut. Die Mikrolaser zielten auf und in die Materie – überwiegend Polymere von unterschiedlicher Dichte –, aus der das nachgebaute Gehirn bestand. Hinten im Kontrollraum, hinter den Technikern, die gebannt auf ihre Monitore starrten, standen zwei Personen, ein Mann und eine Frau, er im Anzug, sie im Kostüm. Der Mann war Malcolm; schlank, grauhaarig und mit Ende fünfzig gut aussehend. Er war der beste Freund des alten Dr. Blair gewesen und wäre Laras Patenonkel gewesen, wenn ihr Vater an Gott geglaubt hätte. Die Frau war Brenda, die mit ihren fünfunddreißig Jahren sieben Jahre älter war als Lara. Brenda hatte im Laufe ihrer Karriere bereits mehrere Titel gehabt, was immer sich Malcolm für den Aufsichtsrat der Firma ausgedacht hatte, um ihr Gehalt zu rechtfertigen, aber in Wirklichkeit war es Brendas Aufgabe, auf Lara aufzupassen. Sie sollte wie eine Schwester, die Lara nie gehabt hatte, eine weibliche Rolle in ihrem Leben übernehmen und sie auf eine Weise unterstützen und beschützen, die Malcolm vielleicht nicht wahrnehmen konnte. Malcolm hatte eine große Hilflosigkeit verspürt, als Dr. Blair senior sich nach und nach zu Tode gearbeitet hatte, und er würde alles tun, damit Lara nicht das gleiche Schicksal ereilte. Malcolm und Brenda blickten durch das Beobachtungsfenster des Labors und wussten, was bei dem chirurgischen Versuch, den Lara gerade unternahm, auf dem Spiel stand. Sie konnten kaum hinschauen. Und von all den hoch konzentrierten Menschen in der Operationstechnik war Lara Blair diejenige Person, die am angespanntesten war, ihr Blick ganz starr, wie gebannt, als sie ihre Werkzeuge in winzigen Bewegungen führte, immer tiefer in die Nachbildung eines Gehirns. Dann erstarrte Lara. Sie hatte den Bereich des Gehirns erreicht, an dem sie und jeder andere Chirurg, der eine solche Prozedur versucht hatte, bislang gescheitert waren. Die Techniker im Kontrollraum warfen einander Blicke zu. Sie holte tief Luft und schloss einen Moment lang die Augen. Seit ihrem letzten fehlgeschlagenen Versuch hatte sie zahllose Stunden damit verbracht, durch Übungen ihren Körper, ihre Seele und ihren Geist zu einem ausgewogenen Ganzen zu formen. Sie konzentrierte sich auf ihre Lungenflügel und sang innerlich: Atmen … atmen … atmen … 11
Sie öffnete die Augen … konzentrierte sich auf die Linse des Mikroskops … und bewegte die Sonde. Ein schriller Alarm ertönte. Lichter blinkten. Die Monitore flackerten und alles schrie: VERSUCH FEHLGESCHLAGEN. Das Kreischen und das Aufleuchten waren widerlich. Die Techniker sanken auf ihren Plätzen zusammen. Lara zog den Arm aus dem Sensorärmel, riss sich Kopfbedeckung und Mundschutz ab und holte noch einmal tief Luft, diesmal ein Ausdruck ihrer Frustration. Die Tür zur Beobachtungskabine ging auf, und Malcolm und Brenda traten neben sie. Lara hob den Blick und schüttelte enttäuscht den Kopf. Ein Helfer im Sakko ging schnell auf Malcolm zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Sir? Einer unserer Scouts hat gerade etwas mitgebracht, was Sie sich ansehen sollten.“ Während Malcolm dem Mann aus dem Labor folgte, warf Brenda einen Blick auf den simulierten Körper auf dem Tisch mit dem Loch im Schädel und dem frei gelegten Gehirn. „Tut mir leid, Roscoe, sie hat dich schon wieder abgemurkst.“ Lara warf ihr einen strengen Blick zu. Aber wenn Brendas Humor nicht gewesen wäre, der ein weiteres Scheitern lediglich zu einem kleinen Hindernis auf dem Weg werden ließ, hätte Lara nicht gewusst, wie sie weitermachen sollte. Selbst mit Brendas Unterstützung, mit Malcolm und all den anderen – den Besten der Welt – um sie herum, spürte sie, wie die Niederlagen ihre Hoffnung aufzehrten. Zum ersten Mal im Leben hatte sie einen Anflug von Verzweiflung verspürt. Ein atemloser, aufgeregter Malcolm erschien in der Tür zum Konferenzraum. „Lara!“, rief er. „Das musst du dir ansehen!“ Lara verließ sofort die Besprechung und folgte Malcolm einen langen Flur mit Kabinen hinunter bis zur Treppe – Malcolm hasste Aufzüge – und gemeinsam liefen sie die zwei Stockwerke zum Labor, während Laras Assistentin Juliet von oben rief: „Sie haben in fünf Minuten eine Sitzung des Finanzkomitees!“ „Und ich brauche Ihre Zustimmung für die neue Gestaltung des AMAJournals!“, flehte der Redakteur, der vor dem Sitzungssaal gewartet hat12
te. Lara und Malcolm verschwanden im Ei – dem Laborstockwerk, wo ihre neuen Projekte ausgebrütet wurden. Malcolm konnte seine Erregung kaum im Zaum halten. „In den letzten beiden Jahren haben wir überall gesucht, um jemanden mit einem herausragenden Maß an Geschicklichkeit zu finden, der dem Roscoe-Projekt dienen könnte. Einer unserer Scouts hat in einem Kunstmuseum etwas gefunden.“ „In einem Kunstmuseum?“ „Ich weiß, was du jetzt denkst – dass unsere Scouts nicht ihre Zeit damit verschwenden sollen, sich Kunst anzusehen, und ich wünschte, ich könnte dir sagen, es wäre Teil unseres ausgeklügelten Plans, in ungewöhnliche Bereiche vorzustoßen, ungewöhnliche Talente zu finden, aber in Wahrheit war der Mann von einer Universitätsklinik zur anderen unterwegs und bekam immer wieder zu hören, einen Chirurgen mit der Fähigkeit, die mikroskopischen Kunstgriffe zu vollführen, wie wir sie brauchen, gebe es nicht. Also hat er eine Pause gemacht und ist in ein Museum gegangen. Und da gab es eine Ausstellung mit dem Titel ‚Die Größe des Kleinen‘.“ „Er ist also einfach darüber gestolpert?“ „Kopfüber reingefallen.“ Sie blieben vor einem Labor stehen, das mit Fenstern versehen war und in dem mehrere Forscher an der Arbeit waren. Die Geschäftigkeit im Raum war eine moderne Fassung von Frankensteins Braut: Hightech-Instrumente, verbunden mit dem Chaos eines Erfinders. Malcolm konnte es nicht näher erklären, er musste es ihr zeigen. Er stieß die Tür der Luftschleuse auf und führte sie in einen Raum, der vor weißer Emaille und Chrom blitzte. Sein Aktenkoffer – den hatte Lara ihm im ersten Jahr zum Geburtstag geschenkt, als sie nach dem Tod ihres Vaters die Firma übernommen hatte – lag auf einem der Labortische. Dieser Aktenkoffer war die Firmenversion eines Safes; alles, was Malcolm darin aufbewahrte, durfte nicht angerührt werden. Malcolm ließ die Messingschlösser aufschnappen und holte eine Schachtel aus poliertem Chrom heraus. Er öffnete die Schachtel. Sie schien leer zu sein. Malcolm nahm eine Pinzette und benutzte sie, um ein beinahe unsichtbares Objekt zu entnehmen und auf den Objektträger eines Mikroskops zu legen. Mit diesem Mikroskop konnte man das Objekt von allen Seiten betrachten. Malcolm stellte den Apparat ein – er war sowohl Arzt als auch Ingenieur, genau wie ihr Vater es gewesen war – und trat dann einen Schritt zurück. Lara ging zu dem Mikroskop. 13
Sie blickte durch das Okular, wich zurück, hielt die Luft an und blickte noch einmal hindurch. Was sie durch das Okular des Mikroskops sah, war eine Skulptur von Abraham Lincoln, der auf dem Lincoln Memorial stand, anstatt zu sitzen. Als sie wieder zurücktrat, rotierten die Gedanken in ihrem Kopf. Und Malcolm grinste. Sie grinste nicht. „Wie klein ist das genau?“, fragte sie kurz angebunden. „Es würde durch ein Nadelöhr passen“, antwortete Malcolm, noch immer grinsend. Lara blickte erneut durch das Okular. Für das bloße Auge war das Objekt, das Malcolm mit der gepolsterten Pinzette hielt, kaum größer als ein Punkt in einer Zehn-Punkt-Schrift. Durch das Okular betrachtet war Lincoln majestätisch und wie aus Granit gehauen. Lincolns Gesicht drückte sogar Emotionen aus. Selbst ohne die unglaubliche Verkleinerung der Skulptur war sie ein Kunstwerk, das den verehrten Präsidenten zeigte, wie er aufstand, als wollte er gegen die Welt, die er heute sah, protestieren. „Und es ist von Hand gefertigt?“, staunte Lara, die kaum glauben konnte, was sie sah. „Nicht nur das“, hörte sie Malcolm neben sich sagen. „Es ist von Hand gefertigt … und zwar von einem Arzt.“ Sie blickte ihn an. „Mit der Hilfe chirurgischer Instrumente“, fügte Malcolm hinzu. Sie legte das Auge wieder an das Okular des Mikroskops, um die Großartigkeit der winzigen Schnitzerei auf sich wirken zu lassen. „Ein Mann, der zu so etwas in der Lage ist …“ „Genau. Der wäre zu allem in der Lage.“ Sie richtete sich auf und sah Malcolm an. „Wo ist der Haken? Warum ist er noch nicht hier?“ „Wir überprüfen ihn gerade. Aber es scheint, dieser Arzt, dieser …“ Er warf einen Blick auf die Notizen, die sein Scout ihm gegeben hatte. „… dieser Andrew Jones – er operiert nicht mehr. Er lehrt und betreut jetzt andere, aber er hat in den letzten zwei Jahren keinen Schnitt mehr gemacht. Wir erstellen ein Profil von ihm. Der Kunstfertigkeit dieser Arbeit nach zu urteilen, ist dieser junge Arzt sehr nachdenklich … einfühlsam … ein empfindsamer Mensch …“ In dem Augenblick, in dem die Leute bei Blair-Bio-Med in Chicago versuchten, seine weicheren Eigenschaften zu definieren, befand sich der be14
sagte Dr. Jones auf einem Rugbyspielfeld des Campus der Universität von Virginia. Der Himmel war schiefergrau und die dünne Schneedecke vom Vorabend vereinte sich mit der Erde zu einem festgetretenen Matsch. Jeder, der bei diesem Wetter draußen war, musste verrückt sein. Und genau das schienen die Rugbyspieler zu sein, die in der bitteren Kälte herumrannten und ungepolsterte Leiber aufeinanderprallen ließen. Von einem Aussichtspunkt außerhalb des Spielfelds aus wirkte es wie ein einziges Chaos; wenn man mitten im Geschehen steckte, war es – na ja, ein einziges Chaos: kollidierende Schultern, zusammenprallende Köpfe, fliegende Ellenbogen. Ein tretender Fuß stieß den Ball hoch in die Luft; er fiel durch den steinigen Himmel in die dürren Arme eines Läufers, der nur ein paar Schritte vorwärts kam, bevor seine Gegner ihn zu Boden zerrten und die Spieler sich in neuerlichem Gedränge zusammenrauften, ein Durcheinander aus grunzenden Männern mit blutigen Knien und Knöcheln. Die Spieler hatten keine richtigen Trikots; sie trugen Hemden in zwei Farben, je nachdem, für welche Mannschaft sie an diesem Tag spielten, und Shorts, die überhaupt keine Farbe hatten. An diesem Tag war die vorherrschende Farbe allerdings Schlamm. Keiner der Männer hatte besondere Vorlieben für eine Mannschaft; wenn an einem Tag nicht genügend Spieler da waren, wechselten immer einige auf die andere Seite, um die Zahl auszugleichen. Sie machten das Ganze zum Spaß. Sie stießen einander ein paar Sekunden lang herum, bis einer von ihnen das Bein weit genug ins Gedränge vorstoßen konnte, um den Ball wieder zu seiner Mannschaft zu kicken, und als der Ball heraussprang, zerstreuten sie sich in ihre Aufstellung und rannten das Spielfeld hinunter, wobei sie Querpässe von einem zum anderen warfen. Ein besonders stämmiger Grobian fing einen dieser Pässe ab und sprintete an der Seitenlinie entlang, als ein Schatten – der nachdenkliche, einfühlsame, empfindsame Dr. Jones – sich auf ihn stürzte und eine knochenknirschende Kollision herbeiführte. Köpfe schlugen gegeneinander; der Ball flog in die Luft. Aber keiner kümmerte sich um den Ball, weil alle sich dem bevorstehenden Kampf widmeten. Mehrere Spieler rutschten in die beiden anderen hinein wie Eisenbahnwaggons bei einem Zugunglück, und der Mannschaftskollege des Läufers brüllte Jones zu: „Mann, das ist doch kein American Football!“ Jones sprang auf die Füße und sagte zu dicht vor der Nase des anderen: 15
„Es ist aber Amerika, oder etwa nicht? Meinst du, dieser Sport ist was für Schwächlinge?“ „Willst du damit etwa sagen, dass ich ein Schwächling bin?!“, bellte einer der anderen Spieler, der aufgesprungen war und Jones jetzt einen Stoß versetzte, ebenso wie zwei andere Männer in der Nähe, die genau wegen solcher Situationen in T-Shirt und Shorts durch den eisigen Schlamm schlidderten. „Das war ein sauberer Tackle!“, schrie Jones und schubste den Angreifer zurück. Während weitere Spieler sich in den Tumult einmischten, packte Jones den Arm des stämmigen Typen, den er zur Strecke gebracht hatte, und half ihm auf, als er sah, dass der Mann eine Platzwunde am Kopf hatte. „Hey, Jones“, sagte jemand, „mit dem Gesicht angreifen ist nicht erlaubt.“ „Er macht alles mit dem Gesicht“, sagte ein anderer. „Ihr braucht nur seine Freundin zu fragen!“ Die Männer lachten, während sie sich weiter boxten und stießen. Jones begutachtete die Wunde am Kopf des Läufers, mit dem er zusammengestoßen war. „Komm, lass mich mal sehen. Du, bringt mir mal meine Tasche, ja?“ Drei Minuten später hatten die dreckigen, blutigen Rugbyspieler sich am Spielfeldrand versammelt und zogen Grimassen wie sechsjährige Jungen, während sie zusahen, wie Jones die Platzwunde an der Stirn ihres Sportkameraden nähte. „Keine Sorge“, sagte Jones. „Du wirst genauso hübsch aussehen wie vorher. Schere.“ Der größte, raueste Kerl reagierte schnell, denn er war Operationshelfer. Er reichte Jones die Schere aus dessen Arzttasche – die er immer zu den Spielen mitnahm, denn Stiche auf dem Platz waren ebenso üblich wie das kalte Bier anschließend –, und Jones schnitt das Garn ab. Er war gerade dabei, seine Instrumente einzupacken, als er sah, dass sein Handy aufblinkte, so wie er es eingestellt hatte, wenn das Krankenhaus ihn zu einem Notfall rief. Immer noch mit seinem schlammigen Trikot bekleidet, betrat Jones das Krankenhaus und rief Nancy, der Schwester in der Notaufnahme, zu: „Was gibt es?“ „Wir haben ein Neugeborenes, das nicht richtig atmet, und der neue Arzt in der Notaufnahme hat keine pädiatrische Erfahrung.“ 16
Mit der in einer Notfallsituation nötigen flinken Konzentration wusch Jones sich die Hände, während sie ihm einen Krankenhauskittel über seine Rugbykleidung streifte. Nancy war fünfundvierzig, hatte alleine zwei Töchter großgezogen und kümmerte sich jetzt um zwei Enkel, weil eine ihrer Töchter in der Entzugsklinik war. Nancy hatte eine natürliche Pflegebegabung, aber sie konnte auch ausgesprochen raubeinig sein. Als Jones vor acht Jahren angefangen hatte, Schichten als Arzt in der Notaufnahme zu übernehmen, hatte sie ihn genauso behandelt, wie ein General einen Rekruten behandeln würde, nämlich so, als hätte er absolut keine Ahnung. Manchmal behandelte sie ihn immer noch so. Aber wenn Nancy im Dienst war, starb niemand aufgrund von Vernachlässigung oder wegen der Fehldiagnose eines jungen Arztes. Jones war sie lieber als alle anderen Schwestern. „Ist das Ihr Blut?“, knurrte sie ihn an. „Ich glaube nicht.“ Zwanzig Sekunden später untersuchte er das Baby, ein zitterndes, knochiges Häufchen Elend, das eher einem ungeborenen Vogel ähnelte als einem kleinen Menschen. „Sieht nach schlechter pränataler Versorgung aus“, sagte Jones zu Nancy. „Wie gesund ist ihre Mutter?“ „Wir haben keine Blutprobe von ihr. Das Baby wurde gestern Abend auf einer Trage in der Notaufnahme geboren, während Sie den Besoffenen zusammengeflickt haben. Die Mutter tauchte mitten im Schneesturm hier auf und trug nicht mal einen Mantel. Heute Morgen ist sie gegangen.“ „Ihre Tochter ist schwach, aber sie hält sich tapfer. Wenn sie schläft, schafft sie es vielleicht. Ich werde sie im Auge behalten.“ Jones zog einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Nancy blickte auf seine dreckigen, blutverschmierten Knie hinunter, und er zog den OP-Kittel darüber. „Haben Sie denn geschlafen?“, fragte sie, die Arme vor der Brust verschränkt, während sie ihn über den Rand der Lesebrille, die auf ihrer Nasenspitze saß, hinweg musterte. „Sie haben die letzte Schicht gearbeitet, Sie –“ „Mir geht es gut. Danke.“ Sie schob mit einem Finger die Brille auf ihrer Nase nach oben, als würde sie auf den Punkt zeigen, an dem sie ihm am liebsten eine Kugel zwischen die Augen jagen würde, und ging.
17
Der Stuhl in der Kinderabteilung war aus Metall und wäre für die meisten Menschen unbequem gewesen, aber das verstoßene Baby war eingeschlafen, alle Monitore zeigten stabile Werte, und Jones nickte ein. Während der Schlaf sich auf ihn senkte, fing er an zu zucken und scharfe, tiefe Laute der Angst auszustoßen. Was auch immer er träumte, es musste ein Albtraum sein. Er begann zu stöhnen … Der Schrecken seines Traumes nahm zu. Er fing an, sich gegen die Lähmung, die Hilflosigkeit des Traumes zu wehren. Er versuchte zu schreien und fuhr plötzlich aus dem Schlaf auf. Als er sich umsah, stellte er fest, dass er immer noch auf der Frühgeborenenstation war, wo alles still war, abgesehen von den winzigen Wesen, die sich an ihr Leben klammerten. Er stand von dem Metallstuhl auf, streckte die Hand aus und berührte mit hauchzarten Fingern die Wange des verlassenen Babys. Die Kleine schlief weiter. Jones ging in die Notaufnahme, wo alles ruhig war; der junge diensthabende Arzt schlief auf einer Liege, war aber durch die offene Tür einer Untersuchungskabine zu sehen. Nancy, die hinter dem Empfangstresen saß, bemerkte Jones und fragte: „Wie geht es ihr?“ „Sie wird lange genug leben, um einen Namen zu brauchen. Und eine Mutter. Hat sie eine Adresse angegeben?“ Nancy kramte in ihren Unterlagen. „Wir haben sie ihr zwischen den Schreien entlockt, als sie in den Wehen lag. Aber es wird nicht viel bringen, sie kommt nicht wieder.“ Sie reichte Jones einen Zettel mit einem Namen und einer Anschrift darauf. In diesem Moment ging die Tür auf und ein Mann in Motorradkleidung – beziehungsweise in der Hälfte davon, denn seine Jacke war ihm vom Körper geschliffen worden, als er über den Asphalt gerutscht war – kam herein, in Begleitung zweier Polizisten, von denen einer der Mann war, den Jones beim Rugbyspiel zusammengenäht hatte. Jones winkte dem Beamten zu, und während die Schwestern in Aktion traten, um den neuen Patienten in eine der Untersuchungskabinen zu führen, steckte Jones die Adresse in seine Tasche und ging zur Tür. Auf seinem Weg nach draußen blieb er stehen, um den diensthabenden Arzt aufzuwecken. „Hey, Maestro – Showtime!“ Der junge Arzt erhob sich sofort; Schlaf war in der Notaufnahme immer eine halbe Sache. „Was gibt es?“, fragte er. „Sieht aus wie ein Typ, der sich mit seiner Harley hingelegt hat und 18
Tätowierungen im Wert von, na sagen wir ungefähr dreitausend Dollar verloren hat.“ Der Arzt lächelte, als Jones ging. Jones fuhr sechs Häuserblocks weit zu einem Geldautomaten und hob etwas von seinem Konto ab. Er benutzte Bargeld, damit er keine Spuren hinterließ. Dann fuhr er zu einem Outlet für Armeebedarf, in dem er früher schon gewesen war; die Leuchtreklame draußen warb mit den Worten: „24 Stunden geöffnet.“ Sein Weg führte ihn zu einem Stadtteil, wo niemand eine Kreditkarte hatte und die Leute ihr Bargeld für Milch, Brot, Drogen oder Sex ausgaben. Der Schneeregen hatte alle anderen von der Straße vertrieben. Ein paar junge Männer beobachteten die Umgebung von Hauseingängen aus, immer bereit herauszukommen und irgendwelche Deals abzuwickeln. Jones blieb vor einem Häuserblock mit Sozialwohnungen stehen und überprüfte die Adresse in seiner Tasche. In der Wohnung im ersten Stock saß ein fünfzehnjähriges Mädchen an dem schmuddeligen Fenster, aber sie blickte nicht in den Regen hinaus. Wie es aussah, saß sie schon lange dort. Sie hielt eine billige, aber alte Puppe im Arm – eine Puppe, die sie aus ihrer eigenen Kindheit herübergerettet hatte. Tränen liefen über ihr Gesicht wie der Regen über die Fensterscheiben. In der Wohnung gab es keine Heizung; ihr Atem bildete Wölkchen in der Luft, und sie hatte die Arme um die Puppe geschlungen, als wollte sie sie warm halten – und sich dadurch selbst vor der Kälte schützen. Sie war überrascht, als die scheppernde Türklingel ertönte. Es beunruhigte sie; wer würde um diese Uhrzeit bei ihr klingeln? Sie ging zur Tür und spähte zögernd durch den Spion. Sie sah nichts. Vorsichtig schloss sie die Tür auf und öffnete sie einen Spaltbreit, um hinauszusehen, wobei sie die Kette vorgeschoben ließ. Nachdem niemand zu entdecken war, entfernte sie die Kette und öffnete die Tür weiter, um mehr zu sehen. Sie streckte den Kopf zur Tür hinaus und blickte in beide Richtungen. Der Gang war menschenleer. Aber vor ihrer Tür lag eine Tasche. Sie hob sie vorsichtig auf und nahm sie mit in die Wohnung, um anschließend die Tür zuzuziehen und dreifach zu verschließen. Sie öffnete die Tasche und holte den Inhalt heraus. Ein gefütterter Re19
genmantel entfaltete sich auf ihrem Arm. Zuerst verstand sie nicht. Was war das? Wer hatte ihn dort zurückgelassen? War es ein Trick? Der Mantel konnte nicht für sie sein; noch nie im Leben hatte ihr jemand etwas geschenkt – selbst die Puppe, die ihr einziger Schatz war, hatte sie in einem Laden gestohlen. Aber der Mantel war in einer Tüte gewesen – vor ihrer Tür. Und jemand hatte geklingelt. Konnte er wirklich für sie sein? Vier Minuten später hatte sie den Mantel angezogen und betrachtete sich im Spiegel über dem Waschbecken im Badezimmer. Der Spiegel war gesprungen, und seine silberne Rückseite hatte sich an einigen Stellen gelöst, so dass das Bild verschwommen wirkte, aber sie konnte sich sehen – in dem Mantel. Er war nicht teuer; sah eher nach einem Armeemantel aus. Aber er war neu, lang und schwer. Sie steckte die Hände in die Taschen und starrte ihr Spiegelbild an, umhüllt von der Wärme und dem Geheimnis. Ihre Finger berührten etwas in der Tasche, und als sie die Hand herauszog, hielt sie mehrere Hundertdollarscheine darin.
20
Linda Nichols Geborgtes Leben ISBN 978-3-86827-330-4 368 Seiten, Paperback erscheint im Juni 2012
Mary Bridget Washburn verabscheut das Leben, das sie führt. Wie nur konnte aus dem kleinen Mädchen mit all den Hoffnungen und Träumen, das sie einmal war, eine Frau werden, die auf der falschen Seite des Gesetzes steht? Fest entschlossen, sich ein neues Leben aufzubauen, flieht sie in die Kleinstadt Alexandria. Sie nimmt eine neue Identität an und bemüht sich, ein ruhiges, unauffälliges Leben zu führen. Doch dann reißt sie das herzzerreißende Gebet eines kleinen Mädchens aus ihrer Deckung – und schon bald ist sie für einen verwitweten Pastor und seine drei Kinder verantwortlich, die allesamt ihre eigenen Probleme haben. Aber ist Mary Bridget wirklich die Richtige, um diese Familie zusammenzuhalten? Sollte Gott tatsächlich ausgerechnet sie gebrauchen wollen, um den MacPhersons neue Hoffnung zu bringen? Und kann sie ihre Vergangenheit für immer unter Verschluss halten? 21
„Ist das dann alles für Sie?“ Der Kassierer, ein alter Mann mit Zweistärkenbrille und einem hängenden grauen Schnurrbart, sah sie neugierig an, aber das war alles. Mary Bridget Washburn lächelte zaghaft. Ihre Schüchternheit war nicht gespielt und sie senkte den Blick, als sie die Sammlung an Husten- und Erkältungsmitteln auf dem Tresen vor ihr sah. „Es ist die Grippe“, log sie. „Die ganze Familie hat es erwischt – meinen Mann und die Kinder. Und meine Eltern pflege ich auch noch.“ Sie befühlte mit den Fingern den Führerschein in ihrer Tasche, einen der vielen, die Jonah bei dem Typen in Charlotteville für sie hatte herstellen lassen. Manchmal wollten sie einen Ausweis sehen, wenn man so viel kaufte, selbst wenn man bar bezahlte. „Mhm.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie sehen gar nicht alt genug aus, um verheiratet zu sein, geschweige denn Kinder zu haben.“ Mary überlegte, was sie darauf erwidern sollte, aber dann wurde ihr klar, dass der Mann keine Antwort erwartete. Er gab die Waren in die Kasse ein und packte die Flaschen in eine Tüte. Also nickte sie nur. Wieder einmal hatten ihre seidigen blonden Haare und die großen blauen Augen ihren Zweck erfüllt. „Ich werde fünfundzwanzig“, sagte sie. Es war das einzige Wahre, was sie dem Mann während ihres Gesprächs erzählt hatte. „Mhm“, wiederholte er. „Sie sehen keinen Tag älter aus als siebzehn.“ Sie hielt die Luft an, bis er ihr das Wechselgeld auf ihren Hunderter herausgegeben hatte. „Danke“, sagte sie und zwang sich aufzublicken. Er sah ihr jetzt unmittelbar in die Augen, als wäre ihm mit einem Mal aufgegangen, was sie im Schilde führte. Sie ließ sich nichts anmerken, sondern lächelte noch einmal. Als die Türklingel hinter ihr ertönte, verspürte sie das vertraute Gefühl der Erleichterung. Sie trat auf den Gehweg hinaus und sah sich nach dem Kleintransporter um, der ausnahmsweise sogar da war. Normalerweise musste sie ewig darauf warten, dass Dwayne seine Einkäufe in der Eisenwarenhandlung und dem Markt für Landwirtschaftsbedarf erledigt hatte und zurückkam, aber diesmal wartete er auf sie. Das war gut so, denn es war kalt, selbst für Virginia im Oktober. Sobald die Sonne fort war, würde es wieder gefrieren. Dwayne schnipste seine Zigarette aus dem Fenster und ließ den Motor an, während sie den Beutel mit der Erkältungsmedizin auf der Ladefläche 22
verstaute, neben den Flaschen mit Frostschutzmittel und Abflussreiniger und den beiden großen Kanistern mit getrocknetem Ammoniak. Sie versuchte nicht daran zu denken, was aus all dem werden würde. In der Schule hatte sie einmal Bilder von einem Mann gesehen, der Methamphetamin genommen hatte. Auf dem ersten Bild sah er normal aus. Das zweite Bild schien zehn Jahre später aufgenommen worden zu sein und das dritte, als er ein alter Mann war. „Zwischen diesen Fotos“, hatte der Beamte von der Polizei, der die Schüler über Drogen aufklären sollte, gesagt, „liegen jeweils sechs Monate. Das ist die Wirkung von Crystal Meth.“ Mary verdrängte den Gedanken. Jedenfalls versuchte sie es. Sie kletterte auf den Beifahrersitz und zum Glück sagte Dwayne nichts, sondern grunzte nur und legte den Gang ein. Dann fädelte er sich in den Verkehr ein, fuhr in Richtung Umgehungsstraße und nach Hause. Nach Hause, dachte sie mit einem Schaudern. Ein schmaler Wohnwagen, in dem sie aßen und schliefen, und eine alte, baufällige Räucherhütte im Hinterland, wo Jonah den Kandis herstellte, wie Dwayne das Zeug nannte. Sie schloss die Augen und versuchte die Stimme zu ignorieren, die sie mit jedem Tag lauter fragte, was sie eigentlich hier tat. Es ist nicht meine Schuld, widersprach sie der Stimme. Ich muss doch auch irgendwie überleben. Schließlich hatte sie nach dem HighschoolAbschluss bewusst beschlossen, eine Karriere in der Drogenproduktion einzuschlagen. Nein. Wie ihre Großmutter immer sagte, war es so gewesen, als würde man einen Frosch kochen. Die Hitze hatte langsam zugenommen, bis das Wasser um sie herum in Bewegung geraten war, und jetzt saß sie immer noch hier. Sie dachte an die Schritte zurück, die sie hierher gebracht hatten. Die guten Gründe, warum sie mit Jonah von zu Hause weggegangen war und sein Angebot, schnell und einfach Geld zu verdienen, angenommen hatte. Aber während sie ihr Verhalten vor sich selbst rechtfertigte, konnte sie die Stimme ihrer Mutter hören, die sie liebevoll, aber bestimmt, selbst aus dem Grab heraus noch warnte, dass es keine guten Gründe gab, falsche Dinge zu tun. Wenn Mama hier wäre, würde noch immer alles richtig laufen. Oder zumindest nicht so falsch wie jetzt. Aber Mama war tot, Papa war nicht mehr da und ihre Brüder und Schwestern waren überall verstreut. Und sie war hier. 23
Jedenfalls im Moment. In den letzten fünf Jahren hatte sie an mehr Orten gelebt, als sie zählen konnte. Sie waren wie Nomaden gewesen. Jedes Mal wenn die Gesetzeshüter anfingen, sich für sie zu interessieren, ihre Sache gepackt, um weiterzuziehen. Manchmal war ihr Timing nicht so gut gewesen, und Jonah oder Dwayne waren verhaftet worden. Sie hatten eine Zeit im Gefängnis abgesessen, wieder herausgekommen und hatten weiter gemacht. Sie selbst war nie gefasst worden. Aber das war wohl nur Glück, vermutete sie. Eigentlich hätte sie während einer der Haftstrafen der beiden gehen können. Sie könnte auch jetzt gehen. Sie war keine Gefangene. Zumindest nicht im praktischen Sinne. Sie hatte mehrmals am Tag die Gelegenheit abzuhauen, indem sie eine Apotheke durch die Hintertür verließ, während Dwayne vorne mit dem Pickup wartete. Oder zur Bushaltestelle zu gehen, während er etwas verkaufte. Aber wohin sollte sie gehen? Und was sollte sie tun, wenn sie dort angekommen war? Nach Hause konnte sie nicht mehr. Allein der Gedanke an zu Hause – bei dem vor ihrem geistigen Auge das Bild eines alten, weißen, mit Schindeln bedeckten Hauses aufstieg – versetzte ihr einen schmerzlichen Stich. Sie konnte nicht nach Hause. Es war nicht nur eine Stunde entfernt, sondern ein ganzes Leben. Nein, nach dem, was sie getan hatte und geworden war, konnte sie nicht dorthin zurückkehren. Und sie hatte kein Geld, um woanders neu anzufangen. Der versprochene Gewinn war ihr nie ausgezahlt worden. Hin und wieder bat sie um Geld, doch Dwayne sagte dann, sie solle Jonah fragen, und Jonah gab ihr immer nur zwanzig Dollar auf einmal. Den Hundertdollarschein, den Dwayne ihr jedes Mal gab, wenn sie in eine Apotheke ging, um Erkältungsmittel oder Diätpillen zu kaufen, nicht eingerechnet. Wahrscheinlich ahnten sie, dass sie sich aus dem Staub machen würde, wenn sie jemals mehr Geld in die Finger bekommen sollte. Und was dann?, fragte sie sich müde. Sie hatte keine Ausbildung. Keine Fähigkeiten, außer Zutaten für Crystal Meth zu kaufen, und sie hatte Angst vor dem, was geschehen könnte, wenn sie auf der Straße lebte. Schon jetzt warfen ihr die Männer, die mit Dwayne Geschäfte machten, vielsagende Blicke zu, ganz zu schweigen von Dwayne selbst. Einmal war sie gegen fünf Uhr morgens aufgewacht und aufgestanden, um ins Bad zu gehen. Dabei hatte sie Dwayne auf dem Sofa schnarchen hören können. Als sie zu ihrem Zimmer zurückgegangen war, war Dwayne 24
aufgewacht, aufgestanden und ihr den Flur hinunter gefolgt. Hastig war sie in ihr Zimmer gelaufen, hatte die Tür leise zugedrückt und den lächerlichen Riegel vorgeschoben. Nicht, dass der viel nützen würde, wenn Dwayne beschloss hereinzukommen. Er war näher gewankt, und sie hatte gehört, wie er vor der Tür stehen blieb. Sie hatte die Luft angehalten. Nach ein paar Minuten hatte der Fußboden geknarrt und sie hatte gehört, wie seine Schlafzimmertür sich öffnete und schloss. Aber sie hatte gewusst, dass es nicht mehr lange dauern würde. In dieser Nacht hatte sie die Stirn gegen ihre Zimmertür gelehnt und versucht zu beten, aber sie hatte keine Worte gefunden. Jetzt wandte Mary ihr Gesicht dem Fenster des Pick-ups zu, doch sie bemerkte die Schönheit der Berge kaum, die flammend roten Blätter an den Bäumen. Wie war ihr Leben zu solch einer trockenen, heißen Wüste geworden? Es war, als hätte sie sich in einem Canyon aus Stein und Staub verirrt, in den jede Biegung sie weiter hineinführte anstatt hinaus in grüne Täler mit schattigen Bäumen und stillen Seen. Sie fühlte sich bis auf die Knochen erschöpft. Müde lehnte sie den Kopf an die Fensterscheibe. Wer war sie eigentlich in Wirklichkeit? Gewiss nicht die Person, die sie geworden war. Mary versuchte sich an das letzte Mal zu erinnern, als sie ihr wahres Selbst gesehen hatte. Sie konzentrierte sich, weil sie nicht nur mit dem Gedanken spielen, sondern sich wirklich erinnern wollte, und ihre Erinnerung brachte sie an einen Ort zurück, den sie immer krampfhaft vermieden hatte. Ihr Mädchengesicht strahlte sie aus der Vergangenheit an. Ihre Zähne waren ein bisschen zu groß für ihr Gesicht, ihr Haar fiel hellblond auf ihre Schultern. Ihre Beine waren dünn und vom Spiel verschrammt, und in ihren hellen Augen leuchtete ein Licht, das noch nicht verloschen war. Mary Bridget lächelte, als sie sich an den Höhepunkt jenes Jahres erinnerte. Sie hatte in der Sonntagsschule einhundert Bibelverse auswendig gelernt und eine nagelneue, in weißes Leder gebundene Bibel gewonnen, auf deren Einband in geschwungenen goldenen Buchstaben ihr Name stand. Eine andere Szene tauchte vor ihrem geistigen Auge auf, und plötzlich war sie mit ihrer Mutter bei Grandma, wo sie Bohnen putzte und diese Verse lernte. Beinahe konnte sie den vertrauten Duft von Grandmas Küche riechen – eine Mischung aus Kaffee und Keksen und Äpfeln und Holzrauch und dem, was es jeweils zum Abendessen gab. Sie konnte fast 25
das energische Zischen des Schnellkochtopfes hören, das Knarren ihrer Stühle, die Klänge von Grandmas Gospelmusik im Hintergrund. Mama und Grandma waren beide an dem Abend in der Kirche gewesen, als sie ihre Bibel verliehen bekommen hatte. Mary starrte geradeaus und anstelle des staubigen Armaturenbretts des Pick-ups sah sie die beiden in ihren gestärkten und gebügelten Sachen, wie sie in der ersten Reihe saßen und vor Stolz so strahlten, dass sie noch immer die Wärme spüren konnte. Sie hielt das bittersüße Bild so lange fest, wie sie konnte, aber nach einigen Augenblicken verblasste es. Bekümmert starrte sie aus dem schmierigen Fenster des Pick-ups. Wo war dieses Mädchen geblieben? Was war geschehen, dass sie sich so verändert hatte? Das war eine Frage, die zu stellen sie sich selbst nie gestattet hatte. Und der einzige Grund, warum sie sich die Frage jetzt stellte, war die nagende, fauchende Qual, die sie in letzter Zeit immer wieder überfiel. Etwas in ihr, das sie all die Jahre unterdrückt hatte, erwachte allmählich, und wand und mühte sich, in die Freiheit zu gelangen. Und es tat weh. Seit den ersten Tagen hatte sie sich nicht mehr so elend gefühlt, seit dem ersten Morgen, an dem sie neben Jonah aufgewacht war und ihr bewusst geworden war, was sie getan hatte. Ein Schamgefühl hatte sich in ihrer Brust und ihrem Magen ausgebreitet wie etwas Kaltes, Giftiges. Es hatte sich so schlimm angefühlt, dass sie geglaubt hatte, sie würde es nicht überleben. Deshalb hatte sie gelernt, das Gefühl zu verdrängen. Man dachte einfach nicht daran, das war alles. Man blickte stur geradeaus und dachte nicht nach und fühlte nichts und tat nur, was als Nächstes zu tun war, und wann immer es etwas gab, weswegen man sich schlecht fühlte, sah man weg oder klappte das Buch zu oder schaltete den Fernseher aus oder fand etwas, das einen ablenkte. Aber offenbar wurde sie allmählich müde oder das Gefühl wurde stärker, denn diese Methode funktionierte nicht mehr. Immer häufiger, wenn sie in ihrem Bett lag und kurz vor dem Einschlafen war, wenn sie aus dem Fenster starrte und sich nicht in Acht nahm, wurde diese Stimme in ihr laut. Wer bist du?, fragte sie. Zu wem gehörst du? Und wann auch immer die Stimme das fragte, erschien das Gesicht des kleinen Mädchens vor ihrem inneren Auge. Mary konnte nicht sagen, ob sie verhöhnt oder zu etwas zurückgerufen wurde, das immer noch möglich war. War es möglich? Existierte diese Person noch immer irgendwo in ihr 26
drin oder war sie für immer verloren? Während diese Frage in Mary widerhallte, fielen ihr die lange verschollenen Worte wieder ein. Plötzlich erschienen sie ihr richtig und wie eine genaue Beschreibung dessen, was aus ihrem Leben geworden war. Sie schloss die Augen und flüsterte sie lautlos in sich hinein. „Angst und Schrecken überkommen mich und ich zittere am ganzen Leib …“ Der Vers ging noch weiter, aber sie konnte sich nicht erinnern. Den ganzen Heimweg über wiederholte sie den ersten Teil und versuchte, sich an den Rest zu erinnern. Schließlich, als Dwayne von der Autobahn abfuhr und durch die sich windenden Seitenstraßen kurvte, fiel ihr wieder ein, wie es weiterging. „Hätte ich doch Flügel wie eine Taube“, flüsterte sie lautlos, „dann würde ich fortfliegen und zur Ruhe kommen!“ „Fortfliegen und zur Ruhe kommen“, wiederholte sie im Geiste, als sie in den langen Schotterweg einbogen, der zu ihrem Wohnwagen führte. „Fortfliegen und zur Ruhe kommen“, flüsterte sie, als ihr Blick auf den Müll von der Drogenherstellung im Graben fiel – Berge von leeren Frostschutzmittelkanistern und Abflussreinigerflaschen und aufgebrauchten Petroleumdosen. Sie murmelte die Worte immer wieder, und als der Pick-up zitternd vor dem rostigen Wohnwagen zum Stehen kam, hatte sich irgendwie etwas verändert. Jetzt waren die Worte kein Gebet mehr, sondern ein Plan.
27
Kristen Heitzmann Das Erbe der Michellis ISBN 978-3-86827-332-8 448 Seiten, Paperback erscheint im September 2012
Die Villa im Weinberg hat einige Geheimnisse offenbart, doch vieles liegt noch im Dunkeln. Zum Beispiel die Zukunft: Wie geht es mit Rese und Lance weiter, die beide eine Besitzurkunde für das Haus in den Händen halten? Gemeinsam reisen sie nach New York, um darüber persönlich mit Lances Großmutter Antonia zu sprechen. Die Fahrt entpuppt sich nicht nur als Reise in eine aufregende Vergangenheit, sondern zieht Rese in den Wirbel der Michelli-Familie, dem sie nur schwer wieder entkommen kann. Doch haben Lance und sie tatsächlich eine Chance? Und kann ihr neu gefundener Glaube den unerwarteten Herausforderungen standhalten, die ihr Leben schon bald auf den Kopf stellen? 28
Man sagt, der Blitz schlägt nie zweimal ein, aber Lance hoffte darauf, dass der erste Einschlag genügte, um die Sache zwischen ihm und der Frau, die steif im Taxi neben ihm saß, weitergehen zu lassen. Er hoffte, es würde reichen, um sie seiner Familie vorzustellen, seine Schattenseite zu offenbaren; den Ort, die Menschen, die ihn geprägt haben – und wegen denen er noch immer verwundbar war. Er sah Rese an. Liebe und Bedürfnis, eine riskante Sache. Während sie LaGuardia verließen, wunderte er sich darüber, dass sie die Pension eine Woche lang geschlossen hatte, um ihn zu begleiten. Dass sie ihn überhaupt begleitete! Sie hatte ihm eine zweite Chance gegeben, aber die zweite Chance bedeutete, dass er es diesmal nicht wieder vermasseln durfte, sonst konnte er alles vergessen. Und wie groß war die Chance, dass er es nicht vermasselte? Rese starrte zum Fenster hinaus, während sie durch die Bronx bis in sein Viertel fuhren. Sie betrachtete die Architektur der Belmont Avenue, während sie die 186. Straße hinunterfuhren bis zu dem vierstöckigen Haus, das seiner Familie gehörte. Keine Fenster mit Gittern davor, kein Graffiti, und die Ziegel und Sandsteine waren schön, vor allem unterm Dach. Rese bemerkte all das mit geübtem Auge, aber ihre Gedanken konnte er nicht lesen. Sah sie, dass seine Familie das Gebäude, das sie seit den dreißiger Jahren besaß, liebevoll pflegte? Oder sah sie eine heruntergekommene Gegend, die sich an ihre Vergangenheit klammerte? Das Taxi hielt am Straßenrand und der Fahrer öffnete den Kofferraum. Lance trat auf den Gehweg, auf dem er früher mit Kreide gemalt, Knallfrösche geworfen und Zigarettenkippen hinterlassen hatte. Mehr noch: Dieser Gehweg war der Ort, wo er und seine Freunde gesungen hatten, wenn man sie vor die Tür geschickt hatte, nur um jemand anderem zur Last zu fallen. (…) Der Gurt ihres Seesacks grub sich in ihre Schulter, und Rese hatte das Gefühl, als würden Stahlstangen ihren Kopf mit dem Rücken verbinden. Warum hatte sie sich auf diese Reise eingelassen? Hatte sie noch immer nicht gelernt, dass sie in eine Richtung geführt wurde, in die sie nicht gehen wollte, wenn sie auf Lance hörte? „Ich muss Nonna Antonia zeigen, was ich gefunden habe, damit sie beruhigt ist. Aber es hat auch mit dir zu tun, Rese. Ich möchte, dass sie 29
dich sieht und erfährt, was du mit dem Haus machst, wie deine Pläne aussehen.“ Wie immer hatte seine Idee Wurzeln geschlagen, und jetzt war sie am anderen Ende ihres Heimatlandes mit einem Mann, dem sie nicht vertrauen konnte, dem sie aber trotzdem nicht widerstehen konnte. Wann würde sie es endlich lernen, Nein zu sagen? Es war nie ein Problem gewesen, bevor dieser Mann mit den dunklen Augen und der goldenen Zunge in ihre Pension gekommen war, voller Ideen, die ihre einfachen Pläne auf den Kopf stellten. Und das Schlimmste war, dass sie es ihm erlaubt hatte – so wie jetzt und wahrscheinlich auch in Zukunft wieder. Dies war nicht ihr Normalzustand. Dies war das Chaos, das Lance Michelli angerichtet hatte. Sie rückte ihren Beutel zurecht und blickte zu dem roten Steingebäude hinauf – etwa 1935, den Art-Deko-Motiven nach zu urteilen: weiße Steinbögen über den höchsten Fenstern mit einem herausragenden Schlussstein, der Maya- oder ägyptische Elemente andeutete, wie sie bei der Pariser Weltausstellung von 1925 zu sehen gewesen waren. Das gleiche Motiv aus weißem Stein bildete ein horizontales Muster unterhalb des obersten Stockwerks und schmückte die Ränder der beiden mittleren Geschosse. Die unteren Fenster waren mit einem bootförmigen Kopfstück versehen, das der gleiche verlängerte Schlussstein zierte. Irgendwie zerstörte die metallene Feuerleiter, die an der Fassade herunterführte, die Wirkung nicht. Lance warf sich seine Tasche über die Schulter und führte sie an einem Ladengeschäft vorbei, auf dessen Markise Bella Tabella stand, zu einer mit Metallbeschlägen versehenen Tür. Er schloss auf, und sie folgte ihm durch einen Flur, in dem mehrere Fahrräder standen. Oben, wo die Wände auf die hohe Decke trafen, waren Risse zu sehen, und ein gestrichenes Rohr führte daran entlang – eine später installierte Abwasserleitung oder eine Reparatur, die so billig wie möglich und auf wenig ästhetische Weise vorgenommen worden war. Rese juckte es in den Fingern. Das alte Haus hatte etwas Besseres verdient. Aber es gab auch schöne Elemente. Die Marmortreppe im hinteren Teil hatte geometrische Muster am Treppenpfosten, die der Epoche entsprachen, und die Lampen aus Beaumont-Glas schienen Originale zu sein. Mit ein bisschen Liebe konnte das Gebäude wieder in einen hervorragenden Zustand versetzt werden. 30
Aber was dachte sie da eigentlich? Sie war nicht mehr im Renovierungsgeschäft, sondern im Gastgewerbe tätig, und deshalb brauchte sie Lance. Deshalb hatte sie eingewilligt, mit seiner Großmutter zu sprechen, um alle Hindernisse auszuräumen. Hier ging es um ihre Pension. Das musste sie immer im Blick behalten. Sie gingen die erste Treppe hoch, ein Stück den Flur entlang bis zur zweiten Tür. Dahinter stellte er seinen Rucksack in die Ecke, legte ihren Seesack darauf und brüllte: „Mama! Hier ist jemand, den ich dir vorstellen möchte.“ Rese erstarrte. Mama? Eine Frau trat aus einem Seitenzimmer in den Flur und kam näher, während sie sich mit einer Hand durchs Haar fuhr. „Wie, du sagst mir nicht, dass du jemanden mitbringst? Willst du nicht, dass ich gut aussehe, wenn du mir jemanden vorstellst?“ Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Du siehst gut aus, Mama.“ Mehr als gut. Die Frau hatte eine tolle Figur, eine klassische Sanduhrform, mit olivefarbenem Teint und schulterlangem mahagonifarbenem Haar, das mit Silber durchsetzt war. Sophia Loren in einem Hauskleid. Rese’ Kehle war wie zugeschnürt. Lance zog sie am Ellbogen näher. „Das ist Rese Barrett.“ „Rese?“ Seine Mutter blickte verwirrt drein. „Theresa, aber sie wird Rese genannt.“ Seine Mutter wandte sich ihr zu. „Thérèse von Lisieux oder Teresa von Avila?“ „Einfach nur Rese“, brachte sie heraus. Sie sollten seine von einem Schlaganfall gelähmte Großmutter treffen, die Sache mit der Pension erklären und einen Geschäftsplan erstellen. Und jetzt sah seine Mutter sie mit dem erwartungsvollen Blick einer Katze an, die vor dem Mauseloch hockt. „Du bist das Geheimnis, das er nicht verraten wollte, was?“ Tod durch Erschlagen. Wo war ein Hammer, wenn sie einen brauchte? „Tut mir leid, dass ich unerwartet hier auftauche.“ „Ach, macht doch nichts.“ Die Frau nahm sie in ihre Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Rese stand stocksteif da, während Mrs Michelli sie auf die andere Wange küsste. Dann warf sie ihrem Sprössling einen 31
tadelnden Blick zu. „Ich hätte ein schönes Essen gemacht; und ich hätte mich umgezogen.“ Er grinste, und Rese konnte den kleinen Jungen sehen, der er einmal gewesen war, den Jungen, der gelogen hatte, nur um zu sehen, ob er damit durchkam – und den Mann, der sie angelogen hatte. Oder waren es die Geheimnisse? Er hatte ihr eigentlich nichts Falsches erzählt; er hatte ihr nur nicht alles erzählt – so wie er seiner Mutter nicht gesagt hatte, dass sie mitkommen würde. „Wie geht es Nonna? Kann ich sie sehen?“ „Sie schläft. Ich war gerade bei ihr.“ Er nickte. „Ich bringe Rese nach oben. Wir sehen uns später.“ Dann nahm er seinen Rucksack, sie packte ihren Beutel und zusammen gingen sie durch den Flur zurück zur Treppe. Als sie das nächste Stockwerk erreicht hatten, zischte sie ihm zu: „Du hast ihr nicht gesagt, dass ich komme?“ Er stellte seinen Rucksack ab. „Ich habe sie geschont.“ „Wie bitte?“ Er schloss die nächste Tür auf. „Wenn ich ihr gesagt hätte, dass ich dich mitbringe, hätte sie jeden Quadratzentimeter dieses Hauses geschrubbt, sich die Haare färben lassen, fünf Pfund abgenommen und genug Essen gekauft, um dich ein Jahr lang durchzufüttern.“ Rese öffnete den Mund, aber es kam keine Antwort heraus. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand einen solchen Aufwand wegen ihr betreiben würde. „Also ... sie ... ich weiß nicht einmal, wie sie heißt.“ „Doria, aber nenn sie einfach Mama. Das tun alle.“ Rese funkelte ihn an. „Du hast nicht gesagt, dass wir deine Mutter treffen. Du hast gesagt, wir erzählen –“ „Das tun wir ja auch. Aber ich konnte dich wohl kaum mit nach oben schleifen, ohne dich vorzustellen. Er stieß die Tür auf und ließ sie in einen schmalen Raum treten, der eine hohe Decke und einen Linoleumboden hatte. Wie im restlichen Gebäude waren die Türen und Leisten mit siebzig Jahren weißer Farbe gestrichen, unter der das Holz erstickt wurde. Ein dunkelblaues Sofa stand in der Mitte des Zimmers, daneben zwei cremefarbene Sessel und Glastische mit Edelstahlgestell. Die bunt gemischten Kunstwerke an den Wänden sahen aus wie Originale, hatten aber kaum Museumsniveau. Weiche rote und 32
beigefarbene Teppiche sorgten dafür, dass die Wohnung nicht hart und kalt wirkte. Und in der Ecke standen natürlich ein Schlagzeug, ein Keyboard und weitere Gegenstände, die zu einer Musikausrüstung gehörten. Ihr Blick blieb am Ende des Zimmers hängen. „Eine Kochnische? Lance Michelli mit einer Kochnische?“ Er zuckte mit den Schultern. „Meistens koche ich unten.“ „In der Küche deiner Mutter?“ Vor ihrem geistigen Auge entstand ein merkwürdiges Bild. „Ganz unten. Bella Tabella, Nonnas Restaurant.“ Er ging zum Fenster, das auf die Straße hinausging. Im Fenster links daneben befand sich eine Klimaanlage, aber sie war nicht eingeschaltet. Lance machte es auf und ließ den Geruch von Verkehr und Bürgersteig herein. „Im Moment ist da unten nicht viel los, aber wenn das Restaurant aufmacht, stehen die Leute Schlange, während sie auf ihren Tisch warten. Es ist wie ein Familientreffen. Von hier oben aus kannst du sie streiten und angeben hören und so ziemlich alles, was Menschen so erleben. Mehr, als dir lieb ist.“ Die Angelegenheiten der Leute wurden weitergereicht wie die Grippe. Lance lehnte sich mit der Hüfte ans Fenster. „Bist du noch sauer?“ „Ich sollte es sein.“ Er hatte sich in Sachen Kommunikation offensichtlich nicht gebessert. Wenn man bedachte, wie viel er redete, sollte man meinen, er würde die wichtigen Dinge weitergeben, zum Beispiel: „Ich bringe einen Gast mit“, und: „Sobald du mein Viertel betrittst, wirst du meine Mutter kennenlernen.“ „Du hättest es sagen müssen.“ Er hob die Hände. „Wenn die Nachricht erst mal rum ist, wird es ziemlich chaotisch. Ich dachte, es wäre einfacher für dich, wenn nicht der ganze Trupp an der Tür wartet und die Leute sich vordrängen, um dich als Erste zu küssen.“ „Wie schlimm wird es?“ „Ungefähr dreißig neugierige Verwandte, würde ich sagen. Ich dachte, es wäre dir lieber, sie nach und nach kennenzulernen.“
33
Tamera Alexander Land der Sehnsucht ISBN 978-3-86827-334-2 432 Seiten, Paperback erscheint im Juni 2012
Die elegante Véronique muss ihrem geliebten Paris den Rücken kehren, hat sie doch ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprochen, ihren lang verschollenen Vater zu finden. Für die verwöhnte junge Frau wird es die Reise ihres Lebens. Sie führt sie ins wilde, ungezähmte Colorado, wo ungeahnte Herausforderungen auf sie warten. Zusammen mit dem ehemaligen Treckführer Jack Brennan sucht Véronique in den Bergarbeiterdörfern der Rocky Mountains nach ihrem Vater, einem Goldsucher und Pelzjäger. Véronique und Jack könnten unterschiedlicher kaum sein. Eigentlich verbindet sie nur eins: Die Sehnsucht nach einer hoffnungsvollen Zukunft ... 34
Willow Springs, Colorado-Territorium 5. April 1871 Véronique war der letzte Fahrgast, der in Willow Springs aus der Postkutsche stieg. Sie hatte kaum einen Fuß zur Tür hinausgestreckt, als auch schon eine Gruppe von einem halben Dutzend Gentlemen – sie benutzte diese Bezeichnung sehr großzügig – mit ausgestreckten Händen und einem erwartungsvollen Lächeln bereitstanden, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Die Mienen der Männer waren ihr ein wenig zu erwartungsvoll. Sie entschied sich für den Gentleman in der Gruppe, von dem sie wusste, dass diese Bezeichnung auf ihn wirklich zutraf – den redseligen älteren Herrn, der sie auf dem Weg von New York City in diese weite, kahle Wildnis begleitet hatte, die diese Amerikaner allen Ernstes ColoradoTerritorium nannten. Wenn sie mit Territorium ein weites, dürres, verlassenes Stück Erde meinten, dann hatten sie den richtigen Begriff gewählt. Allerdings mit einer beeindruckenden Ausnahme, wie sie einräumen musste: Die hohen, imposanten Berge, die so stolz den Horizont im Westen säumten. Ein Gipfel tat sich in seiner stolzen Pracht besonders hervor und überragte alles andere, das in seinem Schatten stand, bevor er, so schien es, die Schwelle zum Himmel berührte. Die höchsten Gipfel waren von einer frischen Schicht Neuschnee bedeckt, was bei der Kälte, die hier in der Luft lag, nicht überraschend war. Dieser Anblick war atemberaubend schön! Und sie musste zugeben, dass die Luft so frisch roch, dass sie gerne tief einatmete. Es war das genaue Gegenteil von der stickigen Luft in Paris, die den beißenden Gestank von Abfällen und Abwässern mit sich trug. „Passen Sie auf, wohin Sie treten, Miss“, grinste Monsieur Bertram Colby, während seine schwielige Hand ihre kleine Hand, die in einem Handschuh steckte, festhielt. „Diese erste Stufe ist für jemanden von Ihrer Statur ein wenig groß.“ Véronique hielt ihren ungeöffneten Sonnenschirm in der Hand und schaffte es, mit derselben Hand die Falten ihres Rocks etwas zu raffen und ihren Fuß auf die wackelige Stufe zu stellen. Nachdem sie drei Wochen in Monsieur Colbys Begleitung gereist war, hatte sie sich an die übliche Warnung des Mannes gewöhnt und konnte mit seiner Hilfe das Gleichgewicht halten. Auch wenn ihr erster Eindruck von den Amerikanern nicht 35
allzu positiv ausfiel – sie fand sie insgesamt zu aufdringlich, zu laut und viel zu direkt –, gab sie gern zu, dass Bertram Colby trotz seines rauen Äußeren in jeder Hinsicht ein Gentleman war. „Herzlichen Dank, Mr Colby.“ Véronique entging das Funkeln in seinen Augen nicht. „Merci beaucoup, Monsieur“, fügte sie leiser hinzu und wurde mit der erwarteten hochgezogenen Braue belohnt. Er nickte kräftig. „Es gefällt mir, wenn Sie in Ihrer Sprache sprechen, Madam. Sie klingt sehr hübsch und passt gut zu Ihnen.“ Mehrere der Männer, die in der Nähe standen, nickten zustimmend, bevor ihre kollektive Aufmerksamkeit von ihrem Gesicht zu einer Stelle wanderte, die erheblich tiefer lag: zu ihrem Rock, der durch ein darunterliegendes Gestell direkt über dem Gesäß aufgebauscht war. Véronique blickte auf die Kleidung hinab, die sie heute Morgen ausgewählt hatte. Anscheinend kannte man den „Cul de Paris“ hier im Wilden Westen nicht. Obwohl sie sich inzwischen ein wenig daran gewöhnt hatte, dass sie mit ihrer Kleidung viel Aufmerksamkeit auf sich zog, fühlte sie sich immer noch nicht ganz wohl dabei. Die Jacke mit den Blumenapplikationen und der Rock mit der kunstvollen Schärpe, der früher in einem faszinierenden Smaragdgrün geleuchtet hatte, waren inzwischen verblasst und von Staubschichten überzogen. Viele Frauen hatten ihr Komplimente für den Stil ihrer Kleider gemacht. Je weiter sie in den Westen kamen, umso häufiger hatte sie diese Komplimente gehört. Die Frauen hier hatten auch Bemerkungen über ihren Federhut, der mit einer Schleife und einer Straußenfeder geschmückt war, gemacht. Er saß modisch schief über einer Seite ihrer Stirn. Einige behaupteten, sie hätten noch nie eine so elegante Mode gesehen. Aber die einzige Reaktion, die sie vom anderen Geschlecht erntete, waren ausgiebige Blicke. Obwohl in diesem neuen Land vieles anders war als in Frankreich, änderten sich manche Dinge anscheinend nie. Mit einem Kopfnicken bedankte sie sich bei den umstehenden Männern, da sie nicht unhöflich erscheinen, sie aber auch nicht zu weiteren Avancen ermutigen wollte. Mit einer geübten schwungvollen Bewegung öffnete sie ihren Sonnenschirm und strich dann mit der Hand leicht über den Staub, der an ihrem Rock hing, leider jedoch mit nur geringem Erfolg. Der Rock und die Jacke waren zweifellos ruiniert. „Machen Sie sich keine Sorgen um das Kleid, Miss.“ Monsieur Colby 36
warf den anderen Männern einen Blick zu, der ihnen klarmachte, dass sie Véronique in Ruhe lassen sollten. Diesen Blick hatte er während ihrer gemeinsamen Reise schon eingeübt. Dann führte er sie über die Straße zu einem dreistöckigen Gebäude mit dem Namen Baird & Smith Hotel. Seine Hand lag unter ihrem Ellenbogen. „Hier in der Stadt gibt es eine Frau, die für andere die Wäsche macht. Sie schrubbt immer den ganzen Dreck aus meinen Sachen. Sie kann Ihre modernen Klamotten wieder sauber und frisch wie den Frühling machen. Das garantiere ich Ihnen.“ Véronique trat lächelnd die Stufen zum Gehweg hinauf. „Danke sehr, Mr Colby“, erwiderte sie und sah im Geiste vor sich, wie die erwähnte Waschfrau ihre empfindliche Kleidung in einen schmutzigen Waschzuber tauchte und den ganzen Dreck aus ihren Klamotten „herausschrubbte“, wie er es formuliert hatte. Mit seinen silbergrauen Haaren und seinem Vollbart war Bertram Colby auf ungezähmte Art ein beeindruckend aussehender Mann, dem dieses wilde Leben nicht fremd war. Obwohl er von den kultivierten Männern, die sie von zu Hause kannte, weit entfernt war, war Monsieur Colbys Höflichkeit vorbildlich. Sie schätzte ihn auf ungefähr sechzig, war sich aber nicht ganz sicher. Die tiefen Falten in seinem gebräunten Gesicht waren ein stummer Zeuge für die unzähligen Meilen, die er als „Treckführer“, wie er sich selbst nannte, in diesem von der Sonne ausgedörrten Land zurückgelegt hatte. Und eines war unbestritten: Monsieur Colby war der freundlichste Mann, den sie je getroffen hatte. Er sah fast immer so aus, als warte er nur auf einen Grund zu lächeln. Er deutete mit dem Kopf zum Hotel. „Gehen Sie hinein und lassen Sie sich ein Zimmer geben. Ich kümmere mich um Ihr Gepäck.“ Während er die Stufen vom Gehweg auf die Straße hinabstieg – kein Kopfsteinpflaster war weit und breit zu sehen, stellte sie fest –, rief er ihr über die Schulter zu: „Sie können auspacken und sich ausruhen. Ich hole Sie später ab und wir gehen zu einem guten Essen in Myrtle’s Restaurant.“ Ein junges Mädchen kam aus einer Seitentür neben der Empfangstheke. Ihre Arme waren mit gefalteter Bettwäsche beladen, und aus ihrem konzentrierten Gesichtsausdruck schloss Véronique, dass sie sich voll und ganz ihrer Arbeit widmete. Mit ihr zog ein köstlicher Geruch nach frisch gebackenem Brot durch die Lobby. Véronique lief beim Gedanken an eine warme Scheibe Brot, die mit Butter bestrichen war und mit frischen Bee37
ren und Sahne serviert wurde, das Wasser im Mund zusammen. Sie und ihre Mutter hatten das abends oft gemeinsam genossen. Sie berührte die Kamee an ihrem Hals, ein Geschenk von ihrem Vater an ihre Mutter, und sie spürte, wie sich ihr Brustkorb vor Heimweh zusammenzog. In diesem Moment drehte sich die junge Frau um und grinste sie an. „Guten Tag, Madam. Willkommen im Baird and Smith Hotel. Was kann ich für Sie tun?“ Véronique erwiderte das Lächeln, starrte sie aber unwillkürlich an. Die makellose Haut des Mädchens und ihre langen, schwarzen Haare und veilchenblauen Augen bildeten eine faszinierende Kombination. Hier in diesem unzivilisierten Land eine solche Etikette anzutreffen, ganz zu schweigen von der Anmut und Schönheit dieses Mädchens, überraschte sie. Sie war in den vornehmsten Häusern in Paris und von älteren, weitaus erfahreneren Bediensteten schon deutlich weniger herzlich begrüßt worden. Sie trat an die Empfangstheke. „Ich hätte bitte gern ein Zimmer. Meine Aufenthaltsdauer ist noch unbestimmt.“ Es folgte eine lange Pause, die zweifellos auf ihren unerwarteten Akzent zurückzuführen war. Das Mädchen erholte sich jedoch schnell von seiner Überraschung. „Natürlich, Madam. Wir haben mehrere Zimmer frei und freuen uns, Sie als Gast begrüßen zu dürfen. Sie können gern bleiben, solange Sie möchten.“ Das Mädchen konnte nicht älter als dreizehn oder vierzehn sein, aber ihre reife Stimme und ihr erwachsenes Auftreten ließen sie älter wirken. Véronique mochte sie auf Anhieb. „Möchten Sie lieber ein Zimmer im Erdgeschoss oder eines in einem höheren Stockwerk?“ Véronique entdeckte einen leichten Anflug von eingeübter Förmlichkeit in der Stimme des Mädchens, woraus sie schloss, dass sie gerne für älter gehalten werden wollte. Véronique lächelte. Wie gut sie diesen Wunsch verstand! In ihr regte sich Abenteuerlust, und sie zog fragend eine Braue in die Höhe. „Ich vertraue Ihrer Empfehlung, Mademoiselle.“ Als Lilly durch die Seitentür verschwand, erregte ein lautes Lachen, das von draußen kam, Véroniques Aufmerksamkeit. Sie trat näher zum Fenster, um besser sehen zu können. Bertram Colby stand unweit der Tür auf dem Gehweg und unterhielt sich mit einem anderen Mann. Der Fremde stand mit dem Rücken zu ihr, 38
aber der Klang seines tiefen Lachens drang durch das offene Fenster herein. Sie konnte ihre Stimmen hören, aber ihr Gespräch nicht verstehen. Der Mann war mindestens einen Kopf größer als Monsieur Colby, hatte breite Schultern und eine Haltung, die Vertrauen weckte und Freundlichkeit ausstrahlte. In diesem Moment drehte er sich in ihre Richtung herum, und Véroniques Interesse wuchs noch mehr. Monsieur Colbys Stimme wurde leiser. Er sprach weiter, und der andere Mann legte Colby eine Hand auf die Schulter und nickte. Offensichtlich hatte Monsieur Colby einen Mann getroffen, den er gut kannte und dem er vertraute. Das sprach sehr für diesen Mann. Als sie hörte, dass hinter ihr eine Tür geöffnet wurde, drehte sich Véronique um. „Ich habe Ihren Schlüssel und habe veranlasst, dass Wasser für Ihr Bad auf dem Ofen aufgeheizt wird, Mademoiselle Girard.“ Lilly trat zu ihr ans Fenster. „Danke, Lilly.“ Véronique deutete in die Richtung von Bertram Colby und seinem Freund. „Was weißt du über den Mann, der da steht?“ „Mr Colby? Jeder kennt …“ „Non, non, Entschuldigung“, flüsterte Véronique. „Mr Colbys Bekanntschaft habe ich bereits gemacht. Ich meinte den anderen Herrn.“ Lilly schüttelte den Kopf. „Diesen Mann habe ich hier noch nie gesehen.“ Ein verschmitztes Grinsen zog über ihr hübsches Gesicht. „Und ich denke, ich würde mich an ihn erinnern. Er sieht ganz passabel aus, nicht wahr?“ Obwohl sie mit Lillys Formulierung nicht vertraut war, verstand Véronique ihren Tonfall und stimmte ihr von ganzem Herzen zu, auch wenn sie das bestimmt nicht laut zugeben würde. Sie stieß Lilly sanft an und lächelte verspielt. „Wie kommt es, dass dir so etwas auffällt, ma Chérie? Dieser Mann ist viel zu alt für dich.“ Lilly sah sie unschuldig an. „Oh, ich habe nicht von mir gesprochen, Mademoiselle Girard.“ Ein leichtes Funkeln trat in ihre Augen, als sie sich umdrehte. „Ich habe versucht, ihn mit Ihren Augen zu sehen.“
39
Cathy Marie Hake Ein Wirbelwind namens Millie ISBN 978-3-86827-329-8 320 Seiten, Paperback
Millicent Fairweather liebt Kinder und das Leben. Doch als sie über Nacht ihre langjährige Stellung als Kinderfrau verliert, hält sie nichts mehr in London. Zusammen mit ihrer Schwester Isabelle und deren Mann reist sie mit dem Schiff nach Amerika. Früher, als ihr lieb ist, muss sie ihre Kompetenz wieder unter Beweis stellen: Witwer Daniel Clark, Passagier erster Klasse, sucht verzweifelt nach einem Kindermädchen für seinen Sohn. Millicent akzeptiert die Stellung und bringt Daniels Leben gründlich durcheinander. In Amerika überstürzen sich die Ereignisse auf dramatische Weise. Und mit einem Mal sind Millie und Daniel verheiratet. Doch kann das gut gehen? Werden die energiegeladene, kreative Millie und der strukturierte, spröde Daniel lernen können, einander zu vertrauen – und sich zu lieben? 40
London im Frühling 1892 „Ich habe eine Entscheidung getroffen.“ Millicent Fairweather faltete die Hände vor ihrer Taille und wartete schweigend auf das, was ihr Boss ihr zu sagen hatte. Die Standuhr in der Ecke des nur schwach beleuchteten Arbeitszimmers tickte laut. „Meine Töchter sind jetzt alt genug, um ihren Horizont zu erweitern. Eine Veränderung wird ihnen gut tun. Deshalb habe ich einen neuen Platz für sie gefunden.“ „Einen neuen Platz?“ Fassungslos wiederholte Millicent seine letzten Worte. Ein kalter Angstschauer lief ihr über den Rücken. Mit acht und sechs Jahren waren Audrey und Fiona immer noch kleine Mädchen. Er meinte doch nicht etwa ... „Ein Internat für junge Damen.“ Langsam ging er vor dem Bücherregal auf und ab. Edle chinesische Seidenteppiche verschluckten das Geräusch seiner Schritte, und ein großer mit Edelsteinen besetzter Globus zeugte von dem Reichtum, den Mr Eberhardt auf seinen vielen Reisen angehäuft hatte. Doch seine häufigen und langen Reisen machten ihn zu einem Fremden in seinem eigenen Haus. Er nickte bekräftigend. „Erziehung, Benehmen – für meine Töchter nur das Beste.“ Die Luft gefror Millicent in der Lunge. „Mr Eberhardt, Ihre Töchter sind immer noch sehr jung. Wenn sie vielleicht erst einmal ein bisschen Zeit mit ihnen verbringen könnten ...“ „Nein!“ Er wirbelte herum. „Meine Entscheidung steht fest. Ich habe Mrs Witherspoon angewiesen, ihre Sachen zu packen. Um fünf Uhr kommt die Kutsche.“ Um fünf? Millicent schaute auf ihre Uhr – es war viertel nach zwölf. Verzweifelte versuchte sie, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich räusperte sie sich und sagte leise: „Wir werden rechtzeitig fertig sein.“ Er winkte ab. „Ich habe jemanden engagiert, der die Mädchen begleiten wird. Ich werde Ihre Dienste dann nicht mehr benötigen. Ich habe ein Empfehlungsschreiben für sie aufgesetzt. Alastair wird sich darum kümmern, dass Ihnen das Gehalt für zwei weitere Monate ausgezahlt wird. Bis dahin haben Sie bestimmt eine neue Stelle gefunden.“ Millicent atmete tief ein. Eine Gouvernante musste sich nach den Launen ihres Arbeitgebers richten. Sie hatte kein Recht sich zu beschweren, 41
aber wie konnte er das nur seinen Töchtern antun? „Fiona und Audrey wollen sie sicher noch einmal sehen. Das Mittagessen –“ „Ich habe viel zu tun.“ Er zog ein Buch aus dem Regal und studierte das Buchcover. „Vielleicht zum Tee?“ Ärgerlich schob er das Buch wieder ins Regal. „Nein. Bis um fünf können Sie mit den Mädchen machen, was Sie wollen. Das ist alles.“ Zitternd verließ Millicent das Arbeitszimmer. (…) Zwanzig Minuten später standen die Kinder in der Mitte der versammelten Dienerschaft. Jeder stand da, frisch gekämmt und gewaschen, und blickte ernst in die Kamera. Poff! Der Blitz leuchtete auf, und Millicent musste kurz die Augen schließen. Als sie wieder etwas sehen konnte, schlich Mr Eberhardt gerade an der offenen Wohnzimmertür vorbei. Sie machte den Mund auf, um ihn zurückzurufen, doch dann brachte sie keinen Laut über die Lippen. Eine Dame erhebt nie ihre Stimme, und eine Angestellte ruft niemals ihren Vorgesetzen zu sich. Und schließlich hatte er selbst angeordnet, dass die Mädchen nicht erfahren sollten, dass er zu Hause war. Sie tröstete sich damit, dass die Kinder dann auch seine Ablehnung nicht zu spüren bekommen würden. „Miss Fairweather?“ Sie drehte sich zu dem Fotografen um. „Ja, bitte?“ „Ich würde vorschlagen, dass Sie sich auf den Stuhl setzen, und ich stelle dann die Mädchen in einem guten Winkel neben Sie. Ich kann gerne zwei Abzüge von dem Bild machen. Dann können Sie das eine behalten, und die Mädchen bekommen das andere.“ „Vielen Dank, aber ich hätte gerne drei Abzüge davon, damit jedes der Mädchen ihr eigenes Photo haben kann.“ Millicent setzte sich auf den Stuhl und wartete, bis der Fotograf Fionas Locken gezähmt und Audreys Schleife gerichtet hatte. „Kinder, jetzt müsst ihr ganz still stehen.“ Der Fotograf spähte durch die Linse und schaute Fiona ermahnend an. Dann fügte er noch hinzu. „Und nicht lächeln!“ Fiona und nicht lächeln? Undenkbar. Millicent liebte ihr sonniges Gemüt. „Fee, du musst ganz still stehen“, flüsterte sie, „aber du darfst gerne lächeln.“ 42
Audrey sah sie mit ihren ernsthaften Augen an. „Werden Sie lächeln, Miss Fairweather?“ „Lasst uns alle lächeln. Schließlich tun wir das fast immer. Dann sind wir immer froh und glücklich, wenn wir das Bild anschauen, denn es erinnert uns an die schöne Zeit, die wir zusammen verbracht haben.“ Während sich der Fotograf im oberen Bad einschloss, um die Bilder zu entwickeln, ging Millicent mit den beiden Mädchen spazieren. Ein kleiner Bach floss durch einen Teil des Gartens, und heute erlaubte Millicent den beiden Mädchen darin zu waten. Sie versuchte sich die Bilder einzuprägen, um ja nichts von diesem wunderbaren Nachmittag zu vergessen – die glücklichen Gesichter der Mädchen und ihr Gekicher. Da sie kein Handtuch dabei hatten, sah sie sich kurz um, ob sie auch keiner beobachtete, und trocknete die Füße der Mädchen mit ihrem Unterrock ab. Während Audrey zuschaute, wie Millicent die Schuhe ihrer Schwester wieder zuschnürte, fragte sie: „Was machen wir jetzt?“ „Warum pflücken wir nicht einen hübschen Blumenstrauß für Mrs Witherspoon?“ Fiona klatschte in die Hände. „Ich mache einen für Alastair!“ „Du bist ja dumm, Männer mögen doch keine Blumensträuße.“ Millicent richtete sich auf. „Aber warum denn? Es wäre doch nett, wenn wir für alle einen kleinen Strauß pflücken.“ Was machte es schon, wenn sie den ganzen Garten plünderten? Mr Eberhardt blieb bestimmt nicht lange genug, um den Garten zu genießen oder mit einer Dame darin einen Spaziergang zu machen. Als sie endlich um jeden Strauß eine kleine Schleife gebunden und sie den Dienstboten ausgehändigt hatten, wies Mrs Witherspoon die Kutscherjungen auch schon an, die Kleiderkoffer der Kinder nach unten zu tragen. Trauer traf Millicent bei diesem Anblick wie ein Schlag. „Wo ist Flora?“ Fionas Stimme klang schrill vor Angst. Sie liebte die Stoffpuppe, die Millicent ihr gemacht hatte. „Sie ist im Koffer.“ Mrs Witherspoons Fröhlichkeit klang etwas zu überschwänglich. „Im Koffer!“ Fiona brach in Tränen aus. „Mach dir keine Sorgen, Fiona.“ Millicent kniete sich neben das weinende Mädchen und nahm ihre kleinen Hände in ihre. „Flora hat bestimmt viel Spaß, wenn sie so die Treppen hinunter hoppelt.“ 43
„Kann ich auch die Treppe hinunterfahren?“ Bevor sie recht wusste, was sie tat, sagte Millicent ja. Ein paar Minuten später stand Millicent am Fuß der Treppe. „Ganz langsam.“ „Nein, ganz schnell!“ Fiona hüpfte in die mit Decken ausgelegte hölzerne Box, die oben an der Treppe direkt vor der ersten Stufe stand. Die Kutscherjungen hoben die Kiste auf ein großes Stück Pappe, und Alastair hielt sie mit einer langen Wäscheleine, die sie an die Kiste geknotet hatten, fest, damit die Kiste nicht sofort die Treppe hinunter schoss. „Whiiiieeee!“, schrie Fiona, als die Kiste die Treppe hinunterrutschte. „Jetzt bin ich dran!“, rief Audrey oben über das Treppengeländer. „Ich will aber noch mal!“ Fiona kletterte aus der Kiste und rannte die Treppe hoch. „Millicent, Sie haben es geschafft, die Mädchen völlig von dem Abschied abzulenken.“ Mrs Witherspoon tupfte sich die Tränen aus den Augen. „Ich hätte es nicht gedacht, aber –“ „Die Pappe ist ziemlich hinüber“, sagte einer der Jungen und hielt wie zum Beweis das durchlöcherte Pappstück hoch. „Ich bin sicher, dass es trotzdem noch für ein Mal hält.“ Millicent wollte auf keinen Fall, dass Audrey nicht mehr fahren durfte. Audrey war immer so ernst und sensibel, bat nie um irgendetwas und nahm sich alles sehr zu Herzen. Doch diesmal hatte sie gesagt, dass sie auch in der Kiste die Treppe hinuntersausen wollte. Alastair warf einen prüfenden Blick auf die Pappe und schüttelte den Kopf. „Das geht nicht mehr. Nein, ich bin mir ganz sicher.“ Er schaute die Haushälterin am Fuß der Treppe an. Mrs Witherspoon, ich glaube unsere großen Tabletts müssen mal wieder ordentlich poliert werden.“ Millicent traute ihren Ohren kaum. Trotz der Entfernung sah sie, wie sich der immer so ernste und nüchterne Mund des Butlers zu einem feinen Lächeln verzog. „Welche meinen Sie denn?“, rief Mrs Witherspoon zurück. Der Butler richtete sich zu seiner vollen Größe auf und erwiderte mit seiner würdevollsten Stimme: „Jedes einzelne, denke ich, Mrs Witherspoon.“ Während der nächsten halben Stunde sausten Audrey und Fiona auf runden, eckigen und ovalen Tabletts die Treppe hinunter. Da die Haushälterin Bedenken hatte, dass die Kiste Spuren auf den Tabletts hinterlas44
sen könnte, band Alastair stattdessen einen Gürtel um die Taille der Mädchen und knotete die Wäscheleine daran fest. Alle anderen Dienstboten ließen ihre Arbeit Arbeit sein und kamen an die Treppe, um die Mädchen anzufeuern. Millicent beobachtete, wie sich der Butler neben die Kinder kniete und ihnen etwas zuflüsterte. Schon vom ersten Tag an hatte Millicent den würdevollen, alten Mann gemocht. Er besaß eine natürliche innere Autorität und leitete das Haus mit Wärme, Feingefühl und Stärke. Als Millicent jetzt sah, dass er seine würdevolle Haltung den Mädchen gegenüber für kurze Zeit vergaß, sich neben sie hockte und sie angrinste, traten Millicent die Tränen in die Augen. „Miss Fairweather.“ Er stand wieder auf und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich würde gerne mit Ihnen reden.“ Millicent hob ihre Röcke ein kleines Stück und stieg langsam die Treppe hoch. „Ja?“ Audrey reichte dem Butler ein Tablett. Jedenfalls versuchte sie das. Es war fast einen Meter lang. „Das hier?“ „Ich denke, damit wird es gehen, Miss Audrey.“ Alastair hob das Tablett etwas an, dann hob er die Nase und sagte in einem übertrieben diensteifrigen Ton: „Miss Fairweather, Miss Audrey und Miss Fiona haben festgestellt, dass Sie Ihren Teil der Arbeit noch nicht erledigt haben. Dieses silberne Tablett muss noch poliert werden.“ Ungläubig sah Millicent den Butler an, doch das Funkeln in den Augen des alten Mannes sagte ihr, dass sie ebenso hochtrabend antworten sollte, um das Spiel fortzuführen. „Die Mädchen haben recht, Alastair. Aber Gouvernanten... nun, sie polieren nun mal kein Silber.“ „Ja, das gilt vielleicht für die durchschnittlichen Gouvernanten. Aber Sie sind eine ganz besondere Gouvernante.“ „Vielen Dank. Wie –“ „Ganz einfach“, unterbrach er sie, bevor sie ihren Satz beenden konnte. „Dieses Tablett hier ist lang genug für Sie und die Mädchen, um ... ähem ... zusammenzuarbeiten.“ Sofort wollte Millicent widersprechen, aber dann sah sie das stille Bitten in Audreys Kinderaugen. Entschlossen schob Millicent ihre Ärmel ein Stück höher und nickte. „Es soll niemand sagen können, dass ich mich vor der Arbeit drücke.“ 45
Kurze Zeit später zog Alastair prüfend an dem Strick, den er um ihre Taille gebunden hatte. „Sitzt sicher und fest, Miss Fairweather. Ich bin sicher, das wird ein durchschlagender Erfolg.“ „Das ist ja nicht wirklich beruhigend“, murmelte sie vor sich hin. Erleichtert stellte sie fest, dass Alastair und die anderen Männer unter den Bediensteten sich umdrehten, als sie sich auf das Tablett setzte. Es gab nur eine Möglichkeit, wie sie ihr Kleid ordnen konnte, ohne dass es ihr völlig undamenhaft ins Gesicht flog. Sie musste ihren Reifrock eng an sich ziehen und die Beine spreizen. Mit den beiden Mädchen auf dem Schoß würde das wenigstens ... einigermaßen annehmbar aussehen. „Audrey ...“ Als sich das ältere Mädchen zwischen ihre Beine gesetzt hatte, winkte Millicent. „Fee.“ Mit den Kindern auf dem Schoß blickte Millicent auf ihre Stiefel, die vorne überstanden und nicht mehr auf das Tablett passten. „Ich glaube, das geht einfach nicht.“ „Ah doch, das schaffen wir schon.“ Alastair schob ein kleines silbernes Tablett unter ihre Absätze. „Jetzt geht’s los!“ Einer der jungen Diener schob Millicent von hinten an. Millicent merkte, dass sie viel zu schnell waren. Alastair hielt den Strick nicht mehr fest! Bumpbumpbumpbump. Wie konnte etwas nur so holpern und rutschen und trotzdem so unglaublich schnell sein? Oh Gott, lass den Mädchen nichts geschehen. Vor lauter Panik verschlug es ihr den Atmen, so dass sie nicht einmal schreien konnte. Doch in den wenigen Sekunden, die sie die Treppe hinunterflogen, betete Millicent ununterbrochen. Alles verschwamm vor ihren Augen, dann flogen auf einmal Rittersporn, Rosen und Farnblätter in alle Richtungen und das Tablett kam mitten in dem marmorverkleideten Foyer zum Stehen – direkt unter dem gewaltigen, ovalen Tisch im Zentrum. „Kinder! Habt ihr euch wehgetan?“ Aus Millicents trockenem Mund hörten sich die Worte mehr wie ein Krächzen an. Lachend schüttelte Fiona den Kopf, und Audrey konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern. Da die Mädchen auf ihrem Kleid saßen, konnte Millicent sich nicht bewegen. Sie tastete sie ab und versuchte verzweifelt festzustellen, ob sie sich nicht doch irgendwo verletzt hatten. Von der Wohnzimmertür her ertönte plötzlich eine drohende Stimme: „Was ist denn hier los?“ 46
Fiona kletterte von Millicents Schoß und spähte unter dem Tisch hervor. „Wer war das?“ Audrey schrie auf. „Vater?“ „Vater!“ Fiona kroch schnell unter dem Tisch hervor, und Audrey folgte ihr. „Miss Fairweather.“ Millicent spürte Alastairs Hand auf ihrer Schulter, „Darf ich Ihnen behilflich sein?“ Sie nickte schweigend. Als der Butler sie unter dem Tisch hervorzog, kratzte das Tablett unter ihr über den Marmorboden. Dann half ihr Alastair wieder auf die Füße. Nein, auf den Fuß, denn der andere hatte sich irgendwie in dem kleinen silbernen Tablett verhakt. Selbst durch ein dezentes Schütteln könnte Millicent ihren Schuh nicht von dem Tablett befreien, stattdessen saß es noch fester als vorher. Ihr Rock war leider nicht lang genug, um dieses Missgeschick zu verdecken. „Miss Fairweather.“ Mr Eberhardt deutete mit dem Kinn auf sein Arbeitszimmer. In einem Ton, der sich fast wie ein Kanonenschuss anhörte, fügte er hinzu: „Sofort.“ Die Kämme und Haarnadeln in ihrem Haarknoten versagten ausgerechnet in diesem Moment, wo sie sie so dringend brauchte. Audrey schob ihre Hand in Millicents. Millicent drückte sie beruhigend. „Mädchen, macht vor eurem Vater einen Knicks. Dann dürft ihr zu Mrs Witherspoon gehen.“ Während die Mädchen ihren Vater etwas förmlich begrüßten, versuchte Millicent, ihre Gedanken zu ordnen und ihre äußere Erscheinung so gut es ging wieder in Ordnung zu bringen. Wenn sie das Arbeitszimmer betrat, wollte sie wieder einigermaßen präsentabel aussehen. Sie wusste nicht, wie sie das schaffen sollte, aber sie konnte es versuchen. Alastair flüsterte ihr von hinten zu: „Es tut mir schrecklich leid, Miss Fairweather, aber ich kann das Tablett nicht von ihrem Schuh lösen.“ Millicent unterdrückte ein verzweifeltes Stöhnen. Dann machte sie einen etwas unsicheren Schritt auf die Arbeitszimmertür zu. Das metallische Geräusch des Tabletts auf dem Marmorboden war laut und deutlich zu hören. Millicent beschloss so zu tun, als hätte sie kein Tablett unter dem Fuß und keine Wäscheleine um die Taille geknotet, sondern nahm erleichtert den Arm, den der Butler ihr anbot. 47
Karen Witemeyer Sturz ins Glück ISBN 978-3-86827-335-9 304 Seiten, Paperback erscheint im Juni 2012
Adelaide Proctor träumt von der großen Liebe. Doch als sie bei der Jagd nach einem Ehemann jämmerlich auf die Nase fällt, beschließt sie ihre romantischen Jungmädchenträume hinter sich zu lassen. Kurzerhand bewirbt sie sich um eine Stelle als Gouvernante auf einer Schaffarm in Texas. Gideon Westcott hat sein privilegiertes Leben in England aufgegeben, weil er davon träumte, sich einen Namen in der amerikanischen Wollindustrie zu machen. Niemals hätte er gedacht, dass er eines Tages allein mit einem Kind dastehen könnte. Noch dazu mit einem, das seit dem Tod seiner Mutter kein Wort spricht. Die unkonventionelle Art seiner neuen Gouvernante sieht er zugleich mit Besorgnis und mit Faszination. Aber wenn er sich eines nicht leisten kann, dann ist das Ablenkung. Egal, wie reizvoll sie auch sein mag ... 48
„Gute Neuigkeiten, Bella.“ Gideon legte so viel Warmherzigkeit und Freude in seine Stimme wie möglich. „Sie sind auf dem Weg zu uns. Bald hast du eine neue Hauslehrerin, die dich unterrichtet und ganz viel mit dir spielt. Freust du dich?“ Das Mädchen schaute ihm nicht einmal in die Augen. Sie zuckte nur mit den Schultern und stocherte in ihrem Essen herum. Da er nicht so leicht zu verunsichern war, sprach er einfach weiter. „Wir werden drei Damen hier haben und ich hoffe, dass du mir sagen wirst, welche du am liebsten hast.“ Ihre Augenbrauen hoben sich ein wenig und sie legte den Kopf ein ganz klein wenig nach links. Bei den meisten Kindern hätte man so eine winzige Veränderung überhaupt nicht bemerkt, doch für Isabella war das schon fast ein Gefühlsausbruch. Sie schien sehr interessiert zu sein. Langsam richtete sie ihre Augen auf ihn und tippte sich mit dem Finger an die Brust. Gideon zwinkerte ihr zu und hoffte, etwas von dem glücklichen Kind in ihr wecken zu können. „Ich finde, du solltest bei der Entscheidung ein großes Mitspracherecht haben, da du ja die meiste Zeit mit ihr verbringen wirst. Meinst du, du kannst so eine wichtige Entscheidung treffen?“ Sie dachte einen Augenblick lang nach, dann nickte sie. „Wunderbar.“ Isabella hob ihren Teller leicht an und warf ihm einen fragenden Blick zu, ihre Art zu fragen, ob sie vom Tisch aufstehen durfte. Gideon versteckte seine Enttäuschung. „Ja, Liebes. Du kannst spielen gehen. In ein paar Minuten kann ich dir auch eine Geschichte vorlesen.“ Sie schlüpfte aus dem Zimmer, ohne ein Geräusch zu machen. Ihre goldenen Locken hüpften nicht. Ihre Schuhe quietschten nicht. Kinder sollten nicht schleichen. Sie sollten hüpfen und laut rufen. Er würde alles dafür geben, sie lächeln zu sehen. Die Trauer sollte irgendwann verschwinden, doch Isabella hatte sich in sich zurückgezogen. Und bisher hatte er noch nicht herausgefunden, wie er an sie herankommen konnte. Als er mit ihr hier angekommen war, hatte er sehr viel um das Haus herum arbeiten müssen und er hatte sie ermuntert, bei ihm zu sein. Er hatte gehofft, dass sie sich bald wohlfühlen und sich ihrer Umgebung öffnen würde, aber sie schien sich von Tag zu Tag mehr einzukapseln. Sie 49
saß nur in der Ecke, blätterte in einem Bilderbuch oder spielte still mit ihrer Puppe. Aber genau das war ja das Problem. Man konnte sie leicht übersehen. Sie brauchte jemanden, der sich um sie kümmerte und nicht von anderen Aufgaben abgelenkt wurde. Jemanden, der sie aus ihrer Stille holte und ihr ihre Lebensfreude zurückgab. Was sie wirklich brauchte, war ein Wunder. Wunder hatte es in ihrem Leben nicht oft gegeben, aber wenn sie es schaffte, diesen Job zu bekommen, würde aller Dank dem Allmächtigen gebühren. Adelaide hielt sich an der Wand der geschlossenen Kutsche fest, als diese zum wiederholten Mal über einen Stein schaukelte. In den letzten beiden Tagen war die Reise für sie angenehmer gewesen, da sie auf ihrer Stute Saba geritten war, doch auf diesem letzten Abschnitt der Reise wollte sie sich angemessener fortbewegen. Die anderen beiden Damen, die sich um die Position bewarben, waren kultivierte Ladys aus dem Osten, die bisher noch nicht in Texas gewesen waren. Sie hatten Adelaide fassungslos angestarrt, als sie sie am ersten Tag in ihrem geschlitzten Reitkleid gesehen hatten. Sie hatten nicht glauben können, dass sie ritt. Auf einem Pferd. Rittlings. Oh Graus! Es stimmte, dass die meisten Frauen in dieser Gegend ihr Pferd mit Damensattel ritten, wenn sie sich überhaupt in die Nähe eines so großen Tieres trauten. Doch als Tochter eines Farmers, die mit Pferden groß geworden war, hatte sie den Sinn darin nie erkennen können. Ihr Reitkleid gab nichts von ihren Beinen preis und doch wusste Adelaide, dass die anderen beiden Frauen sie für unanständig hielten. Es würde ihr nichts bringen, wenn ihr potenzieller Arbeitgeber das gleiche von ihr dachte. „Da sind wir, Ladys“, rief Mr Bevin, der die Kutsche mit den drei Frauen lenkte. „Ihr erster Blick auf das Anwesen Westcott Cottage.“ Adelaide machte sich lang, um über die Köpfe vor sich hinwegblicken zu können. Was sie sah, verschlug ihr den Atem. Nur ein verwöhnter Engländer konnte dieses monströse Anwesen als Cottage bezeichnen. Das elfenbeinfarbene zweistöckige Schlösschen lag auf einem leichten Hügel und stand in krassem Gegensatz zu der rustikalen texanischen Landschaft. Ein verträumtes Seufzen entfuhr ihr. Es war das romantischste Haus, das sie jemals gesehen hatte. Es hatte eine Veranda, die das ganze Gebäude umgab, riesengroße Fenster und sogar einen kleinen Erker. 50
Nachdem Mr Bevin das Zeichen zum Anhalten gegeben hatte, kletterte Adelaide vom Wagen, ohne auf seine Hilfe zu warten. Stattdessen nutzte sie die Speichen der Räder als Treppe. „Also wissen Sie, Sie sollten mir wirklich gestatten, Ihnen zu helfen.“ Das unterdrückte Lachen in Mr Bevins Stimme entlockte ihr ein Lächeln. „Sie schienen mit den beiden anderen Ladys alle Hände voll zu tun gehabt zu haben.“ Adelaide strich ihren Rock glatt und machte sich daran, die Leine loszuknoten, die Saba mit der Kutsche verband. Während er sich gegen den Wagen lehnte, flüsterte er ihr leise zu: „Unter uns, ich glaube nicht, dass ich es noch eine Minute länger mit den beiden aushalte. Ich habe schreckliche Angst, dass Mr Westcott Sie einstellt und mich mit diesen Schreckgespenstern in lila und grau wieder zurück nach Fort Worth schickt.“ Adelaide kicherte. „Schämen Sie sich, Mr Bevin.“ Dann erhob sie sich auf die Zehenspitzen, um zurückzuflüstern. „Ich versprechen Ihnen etwas. Wenn Mr Westcott mich nicht nimmt, dürfen Sie den halben Tag lang auf Saba reiten.“ Er legte seine Hand aufs Herz und seufzte übertrieben erleichtert. „Sie sind ein Engel, Miss Proctor. Ein wahrer Engel.“ Dann fing er an zu grinsen. „Es ist Ihnen hoffentlich klar, dass ich jetzt keinerlei Anreiz mehr habe, ein gutes Wort für Sie einzulegen.“ Sie lächelte breit zurück und war nicht im Mindesten beeindruckt von seiner Aussage. „Sollen wir etwa den ganzen Tag hier herumstehen, Sir?“, keifte die eine der beiden Mitbewerberinnen. „Bringen Sie uns zum Haus.“ Mr Bevin seufzte theatralisch und setzte dann wieder seine höfliche Maske auf. „Kommen Sie, Ladys.“ Er bot Adelaide seinen Arm an, doch sie lehnte ab. „Ich will mich erst um Saba kümmern.“ „Lassen Sie mich etwa jetzt schon im Stich?“ Er zwinkerte. „Der Stall ist hinter dem Haus in Richtung Westen.“ Adelaide führte Saba in die Richtung, die Mr Bevin ihr genannte hatte. „Da sind wir, Mädchen.“ Adelaide fand eine unbenutzte Box nahe der Rückwand des Stalles und führte Saba hinein. Sie sah nach dem Heu im Futtertrog und griff nach einem kleinen Eimer. „Ich hole dir frisches Wasser und schaue, ob ich dir auch ein bisschen Hafer besorgen kann.“ 51
Als sie mit dem vollen Wassereimer zurückkam, sah sie am Ende des Ganges eine große Futtertonne. Sie warf einen Blick hinein und hörte dann Männerstimmen, die sich näherten. „Esmeralda hat endlich gelammt, Miguel. Zwillinge.“ „Ah. Muy bien, Señor.“ „Haben Sie ein Auge auf sie. Sie scheint nicht allzu glücklich über die beiden Nervensägen zu sein. Vielleicht müssen Sie sie anbinden, damit sie ihren Nachwuchs säugen lässt.“ „Sí. Ich achte auf sie, Patrón. Sie sollten sich für Ihre Gäste sauber machen.“ Patrón? Der erste Mann hatte tatsächlich mit englischem Akzent gesprochen. Würde sie jetzt Mr Westcott kennenlernen? Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie hatte noch nicht die Chance gehabt, sich frisch zu machen. Das war typisch. Die echten Damen waren im Haus und erwarteten ihn dort, während sie sich im Stall herumtrieb. Hoffentlich war sie nicht in einen Pferdeapfel getreten. Nichts war schlimmer, als seinem zukünftigen Arbeitgeber stinkend gegenüberzutreten. Ihr Haar saß mit Sicherheit auch nicht mehr so wie es sollte. Warum war sie nicht einfach mit Mr Bevin ins Haus gegangen, als sie die Chance dazu gehabt hatte? Sie stand regungslos da und lauschte. Außer Schritten, die sich vom Stall entfernten, hörte sie nichts mehr. Vielleicht würde sie unbeschadet aus dieser Situation herauskommen. Als alles still blieb, atmete sie erleichtert auf und entspannte sich. Jetzt wollte sie sich so schnell wie möglich um Saba kümmern und sich dann zum Haus aufmachen. Adelaide schnappte sich eine Kelle von der Wand und hob den schweren Holzdeckel von der Futtertonne. Verflixt. Die Tonne enthielt zwar Hafer, aber sie war so gut wie leer. Adelaide musste sich weit über den Rand beugen, um überhaupt in die Nähe der Körner zu kommen. Der Rand der Tonne drückte ihr unangenehm in den Bauch, als sie sich immer länger streckte. Die Kelle kratzte über den Boden, während sie den Hafer zusammenschob. Das musste reichen. Sie konnte hier nicht länger mit in die Luft gestreckten Beinen über dem Rand der Kiste hängen. „Kann ich Ihnen meine Unterstützung anbieten?“ Die tiefe männliche Stimme mit dem britischen Akzent erschreckte sie so sehr, dass sie erschrocken auffuhr. In der Hektik verlor sie das Gleich52
gewicht und musste mit den Armen rudern, um nicht zu stürzen. Dabei verteilte sie den gesamten Hafer aus der Kelle auf dem Mann, der nur Gideon Westcott sein konnte. Sein blaues Hemd war noch feucht von der Arbeit, die er vorher gemacht hatte, und die Futterkörner blieben allesamt an ihm kleben. Adelaides Magen verkrampfte sich. „Es tut mir leid, Sir.“ Sie sprang nach vorne, um die Körner von ihm abzuklopfen, doch nach den ersten Berührungen waren ihre Hände so krümelig wie sein Hemd. Da sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, trat sie einen Schritt zurück und versuchte, sich zu erklären. „Ich wollte meiner Stute Hafer geben, aber die Tonne war fast leer und ich bin so klein, dass ich nicht gut dran kam … da musste ich mich ganz weit über den Rand beugen, aber dann kamen Sie und haben mich erschreckt … der Hafer hat Sie völlig … Ich … Es tut mir leid.“ Der arme Mann stand einfach nur da, erstarrt. Er trug einfache Arbeitskleidung, wie jeder andere Farmer in Texas und hatte eine Statur, die ihn als Arbeiter kennzeichnete, nicht als englischen Dandy. Er war so völlig anders, als Adelaide erwartet hatte. Da sie sich nichts sehnlicher wünschte, als zu verschwinden, drückte sie ihm schnell die Kelle und den Wassereimer in die Hände. „Wenn Sie sich bitte darum kümmern würden, dass sie Wasser und Hafer bekommt …?“ Dann floh sie und betete darum, dass der Schock dafür sorgen würde, dass er sie bei ihrer nächsten Begegnung nicht erkannte. Westcott Cottage hatte ganz offensichtlich einen gutaussehenden Traumprinzen – und sie hatte ihn gerade paniert wie eine Hähnchenkeule, die Kurs auf eine Bratpfanne nahm.
53
Lisa T. Bergren Waterfall ISBN 978-3-86827-359-5 ca. 336 Seiten, Paperback erscheint im September 2012
Die meisten Jugendlichen wären begeistert, wenn sie die Ferien in der Toskana verbringen könnten, aber die Betarrini-Schwestern verbringen jeden Sommer in Italien – dank ihrer Eltern, die Archäologen sind. Gabi langweilt sich zu Tode ... bis sie Hals über Kopf im 14. Jahrhundert landet und eine komplett neue Welt entdeckt. Eine Welt voller Intrigen, Machtkämpfe, Burgen, Schwerter und gutaussehender junger Ritter in glänzender Rüstung ... Wenn sie nur googeln könnte, welche Seite den Kampf gewinnen wird und wie sie da wieder raus kommt! Aber will sie das überhaupt? 54
Wir legten auf unserer Wanderung eine kleine Pause ein, verschnauften und wischten uns den Schweiß von den Oberlippen, während unser Führer – ein alter italienischer Bauer, dem das Land hier gehörte – auf ein kleines Bäumchen einhackte, wodurch ein überwachsener Pfad sichtbar wurde. „Ecco, vedi“, sagte er und deutete auf den Boden. Schaut hier. „Seht ihr das?“, rief meine Mutter, drückte die Äste noch weiter zurück und kauerte sich neben eine schemenhaft behauene Kalksteinplatte. Sie erwartete nicht wirklich eine Antwort, sie sprach eher mit sich selbst – oder redete sie mit dem Geist meines Vaters? – als mit uns. Dennoch ließ allein das Echo ihrer Aufregung meine Nackenhaare kribbeln. „Da auch“, sagte sie mit weit aufgerissenen blauen Augen und zeigte auf einen weiteren Stein. Sie folgte unserem Führer, warf sich ihr blondes Haar über die Schulter, und beachtete die Brombeersträucher nicht, die ihre sonnengebräunten Beine verkratzten. In solchen Situationen achtete sie auf nichts. Ich hätte hinfallen und mir ein Bein brechen können, sie hätte sich erst dann herumgedreht und nach mir geschaut, wenn ich eine ganze Zeitlang geschrien hätte. Meine Schwester Lia verdrehte ihre blauen Augen – die gleichen wie die unserer Mutter – so als wollte sie sagen: ,Oh Mann, jetzt geht das schon wieder los.‘ Wir erlebten das schließlich nicht zum ersten Mal. Meine Mutter, Dr. Adri Betarrini, war weiteren Etruskern auf der Spur, jenem geheimnisvollen Volk, das vor den Römern in dieser Gegend Italiens gelebt hatte. Die meisten hielten sie und meinen Vater für die weltweit herausragendsten Forscher auf diesem Gebiet. Als er starb, kamen Archäologen aus aller Welt zusammen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Seufzend folgte ich meiner Mutter den Pfad hinunter. Wenn wir nicht direkt hinter ihr blieben, würde sich dieser verrückte Weg vor uns schließen und die Büsche und Bäume würden sie und unseren Führer verschlucken wie ein Märchenwald die Feen. Diese Ruinen zu finden war bei ihr so etwas wie eine Besessenheit geworden, so etwas wie irgendeine irrwitzige Verbindung zu meinem Vater. „Komm schon, Lia“, grummelte ich über die Schulter. Meine Schwester liebte solche Fußmärsche noch weniger als ich und hatte die Tendenz, sich zurückfallen zu lassen, hier eine Blume zu betrachten und dort einen bestimmten Ast, immer schon mit einem Bild vor Augen. Wenn ich nicht 55
auf sie aufpassen würde, würde sie sich einfach dort, wo sie war, hinsetzen und malen, genauso gedankenverloren und vertieft wie meine Mutter, wenn sie ihre Ausgrabungen machte. „Warte auf mich, Gabi.“ Genervt über ihre langsamen Schritte drehte ich mich wieder nach vorn. Als ich um mich herum nur Bäume sah, überkam mich eine leichte Panik. In den meisten Ecken der Toskana standen die Bäume weiter auseinander und waren älter; große alte Eichen und Pinien brauchten mehr Platz. Hier waren die Setzlinge jung und kämpften miteinander und mit dem Unterholz um einen Platz an der Sonne. Doch dann tauchte meine Mutter in meinem Blickfeld auf. Sie kletterte hinter dem ziegenartigen Bauern auf einen großen Felsen. Wir warteten unter ihnen und sahen hinauf. Der alte Mann sah meine Mutter an, in den Augen eine Mischung aus Neugierde und Triumph. „Das ist gut, oder?“, sagte er. Meiner Mutter hatte es anscheinend die Sprache verschlagen. „Gut“, sagte sie mit einem Husten. „Sehr gut.“ Ich konnte an ihrer Stimme hören, dass sie sehr aufgeregt war, aber ihre Gefühle im Zaum halten wollte. Sie wusste, dass es ungünstig wäre, ihren Enthusiasmus allzu offen zu zeigen, wenn sie erst noch über die Ausgrabungsrechte verhandeln musste. „Was ist es?“, fragte ich ein bisschen verstimmt, weil ich bei der Entdeckung keine Rolle spielte. „Was haben sie denn gefunden, Gabi?“, fragte Lia. „Ich weiß es nicht.“ Mutter hörte uns nicht, also schlug ich mich durch die restlichen Büsche und kletterte auf den Felsen. Der alte, stämmige Bauer beugte sich herunter und half zuerst mir und dann meiner Schwester hinauf. Meine Mutter arbeitete sich bereits durch die Brombeerhecken. Der Wald war hier ausgedünnt, und auf dem Feld vor uns standen größere Bäume. Doch ich wusste, dass nicht das die Aufmerksamkeit meiner Mutter geweckt hatte – es waren die runden Grabhügel, die unter der Erde und dem Gras von Tausenden von Jahren bedeckt waren, sodass sie beinahe für immer verschwunden waren. Während wir uns nach vorn kämpften, nahm ich im Augenwinkel auf einem der nahegelegenen Hügel die Ruinen einer mittelalterlichen Burg wahr, ohne jeden Zweifel der Besitz eines untergegangenen toskanischen 56
Herrschergeschlechts, nun wenig mehr als ein paar Mauern und die kaum erkennbare Rundung eines Turmes. Meine Mutter hatte dafür keinen Blick. Sie hatte ihre Augen nur auf die alten, gerundeten tumuli gerichtet – solche hatten wir bisher nur ein einziges Mal südlich von Rom gesehen. Der Bauer führte sie zu dem nächstgelegenen Grabhügel und winkte Lia und mich nach vorn. Als wir näher kamen, konnten wir sehen, dass das Grab oben geöffnet worden war, so wie wenn man ein Wachssiegel von einem Gefäß entfernt hat. Hektisch riss sich meine Mutter den Rucksack herunter. Ihre Augen glänzten wie die Sonne. Ich tat dasselbe und beobachtete ihren gespannten Gesichtsausdruck, als sie mit ihren langen, eleganten Fingern die Taschenlampe fand und herausholte. Ihren Rucksack ließ sie offen zurück. Es gab keinen Zweifel, sie dachte, wir waren auf eine schwer erreichbare Kolonie gestoßen. Auf die, nach der mein Vater gesucht hatte, als er starb. Okay, schneller Vorlauf. In den nächsten Wochen richtete sich meine Mutter ein und fand ein ziemlich langweiliges Appartment für uns – vermutlich in den 1970er Jahren gebaut, wie das dunkelorange und im Avocado-Stil gehaltene Design unschwer erkennen ließ. Es lag etwas außerhalb von Radda in Chianti, einem Ort, der, das kannst du mir glauben, nicht gerade besonders aufregend war. Trotzdem war er immer noch eine halbe Stunde mit dem Auto über Buckelpisten von der Ausgrabungsstätte entfernt. Habe ich schon erwähnt, dass Lia und ich jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen mussten, um mit ihr zu gehen? Das einzig Gute an der Sache war, dass wir jeden Abend früh ins Bett fallen konnten, wo ich von den anderen Plätzen träumen konnte, an denen ein Teenager besser seinen Sommer verbringen sollte. Die Arbeiten auf dem Tumuli-„Campus“, wie Mutter ihn nannte, liefen so wie erwartet; zwei alte Gräber waren im Wesentlichen von der ein Meter fünfzig tiefen Erdschicht befreit, alle Bäume und Büsche waren gefällt und von den restlichen Gräbern entfernt worden. Der Rest würde von Ehrenamtlichen ausgegraben werden, die aus Rom und Florenz in den kommenden Wochen angekarrt werden würden, aber auch von amerikanischen Universitäten. Doch meine Mutter war völlig aufgeregt und wollte unbedingt die ersten beiden Gräber von innen erkunden – das 57
eine, das der Bauer aufgebrochen hatte – „Grab Zwei“ – und das andere, das sie nur das „Mutterschiff“ nannte. Sie ließ uns nicht einmal in die Nähe. Natürlich war sie glücklich, wenn sie uns Eimer und Schaufel in die Hand drücken konnte, mit der wir uns bis auf fünfzehn Zentimeter der Struktur nähern durften. Aber hineingehen? Nein. Sie und Vater waren immer so, wenn es um Ausgrabungen ging. Besorgt, dass wir die Fundstelle „kompromittieren“ könnten. Du brauchtest praktisch einen Doktortitel, um so ein Grab betreten zu dürfen, jedenfalls so lange, bis alles von Kopf bis Fuß dokumentiert, skizziert, fotografiert, gefilmt und auf Papier aufgeschrieben war. Dann, ein paar Wochen später, ließen sie auch „die Kinder“ hinein. Ehrlich gesagt hatte ich davon die Nase voll. Ich war siebzehn. Ich fühlte mich ignoriert. Ausgenutzt. Wieviel Schaden könnten Lia und ich schon anrichten? Und ich war neugierig. War das wirklich die Fundstelle, die Vaters Leben wert gewesen war? (…) „Los, komm, Lia, lass uns einmal einen Blick hineinwerfen“, sagte ich deshalb eines Tages. „Wo hinein?“, fragte sie und verzog das Gesicht, als sei sie in eine Nebelwand geraten. „In die Grabhöhle“, sagte ich mit glänzenden Augen. „Wir werden wohl kaum wieder so eine Gelegenheit bekommen – jedenfalls nicht in den nächsten ein oder zwei Monaten. Während die im Zelt debattieren, können wir uns mal anschauen, worum da so ein Aufhebens gemacht wird.“ Lia zögerte und runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht ...“ „Komm schon“, sagte ich. Ihre Zauderei machte mich wütend. Was riskierten wir schon? Wenn wir den ganzen Sommer hier verbringen mussten, dann sollten wir doch wenigstens erfahren, wofür wir so ein Opfer bringen mussten. Ich jedenfalls war fest entschlossen, einen Blick darauf zu werfen, ob nun mit ihr zusammen oder allein. Ich stapfte los und drehte mich nach einer Weile um, um zu sehen, ob Lia hinter mir ging. Selbstzufrieden lächelte ich vor mich hin. Ich konnte sie immer zu allem bewegen – besonders, wenn sie Angst hatte, zurückgelassen zu werden. Mein Kopf schwirrte vor Erinnerungen an flüsternd geführte, aufgeregte Gespräche meiner Eltern, gehalten in vertraulichem Ton. Zwischen ihnen hatte es immer ebenso eine Kopf- wie eine Herzensbeziehung gege58
ben. Kein anderes Paar, das ich kannte, war so eng miteinander verbunden gewesen. Ich hatte es geliebt. Und gehasst. Natürlich, ich war glücklich gewesen, dass meine Eltern einander liebten, aber wir hatten uns immer außen vor gefühlt. Es war, als ob Mutter und Vater immer in demselben Orbit gewesen waren, Lia und ich hingegen in irgendeiner Umlaufbahn um sie herum. Unsere Wege hatten sich niemals gekreuzt. Ich sehnte mich danach zu erfahren, wie es war, im selben Luftraum unterwegs zu sein, selbst wenn es nur für einen Augenblick wäre. Und seit Vater gestorben war ... na ja, seitdem war es so, als ob Mutter noch nicht einmal in derselben Galaxie zuhause war wie wir. Also stolperte ich vorwärts und ignorierte die fragenden Blicke einiger Studenten, die in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren. Die Sonne wurde mittlerweile kräftiger, umkränzte die Bäume im Osten und warf lange, staubige Strahlen über das Feld, wobei sie die Spitzen des wilden Lavendels erleuchtete und die Kuppeln der Tumuli beschien. Ich achtete nicht auf meinen plötzlich schneller werdenden Herzschlag und ging direkt zu dem nächstgelegenen Grab, so als hätte mich meine Mutter mit einem Auftrag dorthin geschickt, Lia dicht hinter mir. Am Eingang des Tunnels zögerte ich einen Augenblick lang. Ich atmete tief ein, beugte mich nach vorn und krabbelte hindurch, froh darüber, meine Jeans anzuhaben. Ich hoffte, dass Mutter eine elektrische Lampe zurückgelassen hatte, so wie sie das oft in einer Grabungsstätte tat. Einen Moment später stolperte ich praktisch darüber und fingerte ungeduldig an ihrem Schalter herum. Ich war in Grab Zwei. Nachdem die Halogenlampe flackernd zum Leben erwacht war und alles in ein bläuliches Licht getaucht hatte, starrte ich die Kunstwerke an den Wänden an. Mutter hatte immer wieder von ihnen erzählt, aber ihre Stimme war wie eine summende Biene, und deshalb hatte ich sie ausgeblendet. Die Farben waren prächtig und die Zeichnungen so ziemlich die Besten, die wir bisher gesehen hatten. Kräftig. Und so viele davon ... Männer und Frauen, schwarze Strichfiguren, die Feste, Jagdgesellschaften und Schlachten darstellten. Ich hob die Lampe an und betrachtete zunächst eine Wand, dann eine andere, den Mund offen, während meine Schwester durch den Tunnel kam. „Gabi, wir sollten wirklich nicht hier sein“, sagte sie, so als hätte sie nicht längst die Entscheidung getroffen, bei mir zu sein. 59
„Wir sind hier. Bist du nicht wenigstens ein bisschen neugierig?“ „Ja, schon, aber du weißt doch, wie Mama ist.“ Sie rieb sich die Hände an ihren Jeans ab. „Unsere Eltern – Mama möchte gern selbst entscheiden, wann sie uns einlädt.“ „Dann tun wir eben überrascht“, sagte ich. „Schau dir das mal an. Wenn das Grab Zwei ist, wie wird dann erst Grab Eins aussehen?“ Ich hob die Laterne hoch, damit wir beide besser eine Familie an einem Tisch essen sehen konnten. Ein großer, gegrillter Vogel lag auf einer Platte vor ihnen. „Sieht aus wie Thanksgiving.“ „In China. Das ist eine Gans.“ „Nee, nicht groß genug. Wahrscheinlich ein Fasan. Oder eine Wachtel.“ „Wenn das eine Wachtel ist, dann haben die ganz schön große gezüchtet, die Etrusker damals.“ Ich grinste. „Okay, ein Fasan.“ Ich bewegte die Lampe an der Wand herunter, während Lia die Bilder betrachtete, die ich bereits studiert hatte. Ein Geräusch am Tunneleingang ließ uns beide für einen Moment den Atem anhalten. Doch was immer es war, es ging vorbei, und so auch unsere Angst. Ich starrte auf ein Porträt eines kühnen Kriegers mit einem Schwert in der Hand. Vater und ich hatten ab und zu ein paar Trainingsrunden gemacht. Er hatte die Kunst des Fechtens beherrscht und sie mir auch beigebracht. Mir war das Fechten immer ziemlich egal gewesen – es war nur eine Möglichkeit, um Zeit miteinander zu verbringen. Jetzt, wo er von uns gegangen war, vermisste ich es allerdings irgendwie. Doch der Kerl auf der Wand hielt ein Schwert, das viel schwerer und breiter war als alles, was ich bisher in der Hand gehabt hatte. Rechts von dem Krieger waren ein Mond, eine Sonne und zwei Handabdrücke. „Lia, schau dir das mal an“, sagte ich. Sie kam zu mir herüber und guckte. „Hast du so was schon mal gesehen?“ Ich sah sie an und sie schüttelte den Kopf. „Und du?“ „Nein.“ Ich reichte ihr die Lampe und hob dann meine Hand zu dem Abdruck. Er wirkte irgendwie vertraut. So, als hätte ich ihn schon einmal gesehen, obwohl ich wusste, dass das nicht der Fall sein konnte. Ich hörte, wie meine Schwester plötzlich die Luft anhielt – unsere Mutter würde mich umbringen, wenn sie herausfand, dass ich hier drin irgendetwas an60
gefasst hatte – trotzdem konnte ich nicht aufhören. Meine Hand wurde geradezu zu ihm hingezogen. „Mama wird dir dafür wochenlang Hausarrest aufbrummen“, zischte Lia, als ich meine Hand auf das Fresko legte. Das Fett auf unserer Haut und antike Gemälde durften niemals miteinander in Kontakt kommen; das war eine der Grundregeln in einer Ausgrabungsstätte der Betarrinis. Ich wusste das. Lia wusste es. Und trotzdem konnte ich nicht widerstehen. „Er passt perfekt! Sieh doch!“, sagte ich, während ich zu dem Abdruck nickte. „Und was noch verrückter ist ... er ist warm, Lia. Warm.“ Ihre wütenden blauen Augen bewegten sich zwischen mir und der Mauer verwirrt hin und her. Stein war nicht warm. Er war nie warm. „Vielleicht ist auf der anderen Seite eine heiße Quelle.“ „Das habe ich auch schon gedacht. Aber ich rieche keinen Schwefel, du etwa?“ Wir holten beide tief Luft. Nein, da war nur der übliche etruskrische Grabduft – mit dem Geruch von Wasser, das vor langer Zeit auf alten Steinen verdunstet war. „Und es ist auch nur der eine Handabdruck warm. Dieser, der genauso groß ist wie meine Hand.“ Ich trat einen Schritt zurück und sah erneut auf die beiden Abdrücke auf der Mauer. Der linke passte auf meine Hand, aber der rechte war kleiner – und hatte die Normaltemperatur kalter Steine, die man an dieser Stelle erwarten würde. „Lia, hier. Komm her.“ Ich legte meinen rechten Arm um sie, sodass sie näher herankam, direkt neben mich. „Der linke Abdruck passt auf meine Hand, aber der rechte ist zu klein.“ Ich sah von dem Abdruck auf meine Schwester. „Probier du ihn mal aus.“ Lia sah mich an und blickte dann zum Eingang des Grabes, den langen Korridor rechts von mir hinunter. Wir dachten beide an unsere Mutter, die sich mit Manero auf Italienisch stritt. Ich bezweifelte, dass der Espresso half. „Die kommen so schnell noch nicht. Auf jetzt, probier es aus. Es ist ein komisches Gefühl, den Handabdruck von jemandem anzufassen, der seit ein paar tausend Jahren tot ist.“ Noch bevor Lias Finger innerhalb der Linien lagen, wusste ich, dass der Handabdruck so sehr zu ihrer Hand passte wie der andere zu meiner. „Hast du nicht gesagt, dass der hier kalt ist?“, fragte Lia. „Ja, das hab ich.“ „Er – er ist warm“, sagte sie verwundert. „Deiner auch?“ Ich runzelte die Stirn. „Wirklich?“ Ich beugte mich vor und legte meine Hand wieder auf den linken. „Wenn ich ihn berühre –“ 61
Meine Stimme brach ab, weil irgendetwas Seltsames passierte. Der Raum begann sich zu drehen, die Bilder auf der Mauer zogen sich in die Breite, als würde ich sie in einem Zerrspiegel betrachten. Und die Mauer wurde wärmer. Ich versuchte, meine Hand wegzuziehen, aber es ging nicht. „Gabi!“, schrie Lia. Ich versuchte mich auf sie zu konzentrieren, das einzige im Raum, das stabil zu bleiben schien. In ihren weit aufgerissenen blauen Augen blitzte Entsetzen auf. „Er ist heiß!“ Ich sah hinauf zu dem Loch der Grabräuber. Dort oben konnte ich Bäume sehen, was mich einen Augenblick lang tröstete, doch dann blinzelte ich und sah noch einmal hin. Hundert Jahre alte Eichen schrumpften zusammen, richteten sich auf, schrumpften und richteten sich wieder auf wie in diesen Zeitrafferfilmen ... mit denen die Jahrtausende aufgezeichnet werden. Man konnte kein Geräusch hören. Ich konnte nicht einmal mehr Lia hören. Mein Kopf raste. Handabdrücke, die zu unseren Händen passten. Hitze, wo es eigentlich kalt sein müsste. Ein Raum, der sich schneller und schneller um uns drehte. Ein Grab, das drei- oder vierhundert Jahre, bevor Christus auf die Erde kam, gebaut worden war. Waren wir ... Ich schrie, doch es hörte sich nur wie ein Atemzug an, kam und ging, als wäre es nie passiert. Ich sah wieder hinauf. Die Bäume draußen wuchsen, schrumpften, wuchsen, schrumpften, schneller als jemals zuvor. Wir mussten es irgendwie anhalten. Mussten unsere Hände von der Wand bekommen. Es war so heiß, dass meine Hand regelrecht festgebrannt zu sein schien, so als ob das Fleisch meiner Handfläche an der Wand hängen bleiben würde, wenn ich es wagen sollte, die Hand wegzuziehen. Trotzdem mussten wir es tun. Wir mussten es! Ich sah wieder meiner Schwester in die Augen, machte ihr schweigend klar, dass sie sich bereit machen sollte, weil wir ja nicht reden konnten. Ich musste meinen Fuß gegen die Wand drücken und mit aller Kraft ziehen, so sehr war meine Hand mittlerweile mit dem Abdruck verwachsen. Als ich sie schließlich losgerissen hatte – es war so schwer wie wenn man zwei sehr starke Magnete trennen will – schlang ich beide Arme um meine Schwester und fiel auf den Boden hinter uns wie ein Football-Spieler, der sich auf den Quarterback stürzt. Nur nach hinten. Doch als meine Schulter auf dem Boden aufschlug, hatte ich sie irgendwie nicht mehr. Meine Arme waren leer. 62
Es war dunkel. Ich stöhnte, sah mich prüfend um und überlegte, ob ich mir den Kopf gestoßen hatte. Aber er fühlte sich ganz in Ordnung an. Selbst meine Hand hatte schlagartig zu brennen aufgehört. Ich blinzelte verwirrt, in der Hoffnung, dass ich dadurch einen klareren Blick bekommen würde. „Lia?“, fragte ich ins Blaue hinein. Sobald ich das gesagt hatte, wusste ich, dass ich allein war. Meine Stimme hallte in der Kammer wider, als ob dort nur unbelebte Dinge den Schall aufnehmen könnten. Mutters Lampe war schon lange verschwunden. Über mir war kein Tageslicht mehr. War ich ohnmächtig geworden? War jetzt Nacht? Mama wird so wütend sein ... Dann bemerkte ich andere Geräusche, seltsame, gedämpfte Geräusche, Geräusche von Männern, die herumbrüllten, und beängstigende Geräusche wie von Pferden, klirrendem Metall, schreienden Männern. Hatte Manero Verstärkung geholt? „Mama?“, rief ich. „Lia!“ Ich musste mir irgendwie den Kopf gestoßen haben, vermutlich hatte ich es nur vergessen. Ich sah hinauf – wollte, dass meine Augen die Sterne sahen, Mondlicht, irgendetwas – aber da war nur Dunkelheit. „Hey!“, brüllte ich wieder hinauf. „Hey, ich bin hier drin!“ Alles, was mir einfiel, war, dass die Kerle von der Archeologica Societa das Grab wieder versiegelt, den Stein auf seinen Platz gelegt und den Eingang verschlossen hatten. Meine Mutter hatte ihre zeitweise Verfügungsgewalt über diesen Ort verloren und irgendwie nicht gemerkt, dass meine Schwester und ich noch in der Grabhöhle waren – oder zumindest noch ich – bevor sie wieder verschlossen worden war. Was den warmen Handabdruck anging, das Verschwinden meiner Schwester, den Wald im Zeitraffer ... ich hatte keine Ahnung, wie ich mir das erklären sollte. Ich musste irgendwie ohnmächtig geworden sein oder so etwas Ähnliches. Oder ich hatte mir irgendeine seltsame Krankheit eingefangen und lag nun im Fieber. Vielleicht hatten wir beim Öffnen dieses Grabes irgendeinen komischen Virus wieder zum Leben erweckt. Das wäre ziemlich uncool. Ich hob die Hand, um meine Stirn zu fühlen. Bestimmt hatte ich hohes Fieber. Aber so fühlte es sich nicht an. „Keine Panik“, sagte ich zu mir selbst, als ich spürte, wie mein Herz zu 63
rasen begann. „Gabriella, reiß dich zusammen.“ Ich hatte viel zu viele Jahre in und außerhalb von etruskischen Gräbern verbracht, um jetzt Panik zu schieben. Und ich wusste, wo der Eingang war. Ich kannte den Weg nach draußen. Ich rappelte mich auf und ertastete meinen Weg zum Tunnel. „Sorry, Mama“, stammelte ich, weil ich wusste, dass ich das Fett meiner Haut nun überall auf den Wänden verteilte. Ich benutzte meine rechte Hand; meine Schulter schmerzte von meinem Fall auf den Boden. Ich stieß gegen eine glatte Form und zuckte zusammen, als ich merkte, dass sie zurückwich und dann auf dem Boden zerbrach. Ich hatte die Urnen auf meinem Weg hinein gesehen – Magna Graecia, siebtes Jahrhundert, hatte Mutter gesagt. Vier gleichartige Urnen, jetzt nur noch drei, die auf wundersame Weise drei Jahrhunderte überlebt hatten, bevor sie in dieses Grab gebracht worden waren. Aus welchen Gründen auch immer hatten die Grabräuber sie zurückgelassen. Diese Urnen hatten meine Mutter regelrecht in Extase versetzt, weil sie den Stil der Fresken nicht mit der Datierung der Urnen in Verbindung bringen konnte. „Oh, jetzt bringt sie mich wirklich um“, sagte ich. Ich war den Tränen nahe. Niemals zuvor hatte ich eine Grabungsstätte oder ein Artefakt so sehr beschädigt, nicht einmal als kleines Kind. Meine Mutter würde unglaublich wütend werden, wenn sie entdeckte, was ich getan hatte. Doch ich hätte lieber ihre Wut ertragen als noch weiter hier festzusitzen. Die Urne brachte mir wenigstens Gewissheit. Ich wusste nun ganz genau, wo ich war. Am Ende des Durchgangs war der gewölbte Stein, der den Eingang markierte. Während ich mich ihm näherte, konnte ich um ihn herum einen Spalt Tageslicht erkennen. Da war nur ein kleines Problem: Der Verschlussstein war wieder vor dem Eingang. Und diese Verschlusssteine waren schwer, vielleicht hundertundfünfzig, zweihundert Kilo schwer. Ich kniete nieder und fingerte an seinem Rand entlang, während ich überlegte, wie ich ihn entfernen könnte. Mir fiel ein, dass mein Vater sie immer mit einem Brecheisen weggehebelt hatte. Aber stets von außen. Ich lehnte mich mit der Schulter an ihn und drückte. Durch meine Größe – und das Fechten – war ich stärker als die meisten Mädchen. Aber der Stein bewegte sich kaum. Ich verschnaufte. Von der anderen Seite kamen seltsame Geräusche. Männer schrien und grunzten. Dann wieder das Klirren von Metall, so 64
als ob ... ich schob den Gedanken beiseite. Unmöglich. Und die einzige Sache, auf die ich mich jetzt konzentrieren musste, war mein Entkommen. „Hey! Hilfe! Ich bin hier drinnen! Hilfe!“ Ich schrie so laut, dass mir die Kehle wehtat. Was immer auch für Metallarbeiten draußen vonstatten gingen, sie hörten auf einmal auf. „Mama? Lia! Hilfe! Helft mir!“ Ich brüllte erneut. Aber dann fingen die Geräusche wieder an. „Oh, Mann“, brummte ich. Ich verkeilte mich so in dem Tunnel, dass mein Rücken und meine Schultern auf einer Seite waren und ich mit meinen Füßen gegen den Stein pressen konnte. Ich drückte, drückte so fest, dass mein Hintern nicht mehr den Boden berührte. Ich stöhnte, wollte, dass dieser blöde Stein sich endlich bewegte, bewegte, bewegte ... und dann tat er es. Kratzend und knirschend fiel er mit einem dumpfen Schlag in den Dreck vor der Grabhöhle. Meine Augen wurden zu Schlitzen, als ich vorsichtig nach draußen sah. Dort schien irgendein Renaissance-Jahrmarkt stattzufinden, auf dem eine Kampfszene nachgespielt wurde. Wie waren all diese Männer hierher gekommen? Und warum gerade hierher? War das vielleicht irgendeine Demonstration der örtlichen Sienesen, die ihr Land wiederhaben wollten? Oder steckte Manero dahinter? Das war eine naheliegende Vermutung ... jetzt, wo sie wussten, welche Schätze es enthielt. Doch dann sah ich, wie ein Mann den Schwerthieb eines anderen mit seinem eigenen Schwert parierte, um gleichzeitig mit der anderen Hand einen Dolch in ihn hineinzustoßen. Ich schnappte nach Luft, zu überrascht, um zu schreien. Der verwundete Mann fiel auf die Knie, umfasste den Griff des Messers, den Mund weit geöffnet. Auf seinem weißen Hemd breitete sich in einem langsam größer werdenden Kreis Blut aus. Kein Renaissance-Jahrmarkt, auf dem ich jemals gewesen war, hatte solche Spezialeffekte zu bieten gehabt. Mit wachsendem Entsetzen blickte ich nach rechts, wo sich ein anderer Mann stöhnend auf dem Boden wälzte. Ich hielt mir die Hand vor den Mund. Sein Bauch war aufgeschlitzt und einige seiner Gedärme quollen heraus. Blut schoss aus ihm heraus und bildete vor ihm eine große Pfütze. Es war echt. Ich war mitten in einer echten Schlacht. Plötzlich konnte ich auch überall um mich herum den Gestank von Schweiß und gerinnendem Blut riechen. Männer, die verwundet waren oder starben. Andere schienen fel65
senfest vorzuhaben, hier ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ich warf einen Blick nach rechts und sah einen, der nicht mehr kämpfte. Stattdessen starrte er mich an, als wäre ich so etwas wie ein weiblicher Lazarus, der in seinen Leichentüchern aus dem Grab gestiegen war. Ich wollte von ihm wegschauen, aber ich konnte es nicht. Das war der bestaussehendste Kerl, den ich jemals zu Gesicht bekommen hatte, mit der Figur eines Unterwäschemodells und dem entsprechenden Gesicht. Große, schokoladenbraune Augen, eckiges Kinn, aristokratische Nase, hervortretende Wangenknochen ... ein echt heißer Typ. Außerhalb von Rom hatte ich noch nie zuvor einen so sexy Italiener getroffen. Und er war mit Sicherheit der erste Mann, den ich jemals mit einem echten Schwert in der Hand und in voller Rittermontur gesehen hatte – Waffenrock, Beinlinge, Brustpanzer, das ganze Paket. Irgendwie hinterließ der Anblick einen bleibenden Eindruck – In diesem Augenblick bemerkte ich den jungen Mann hinter ihm, genauso groß, aber an den Schultern etwas niedriger. Seine Augen waren hart und bewegten sich zwischen mir und dem Mann vor ihm hin und her. Er hob sein Schwert, so als wollte er gleich zuschlagen. „Pass auf!“, schrie ich. Der erste Mann zuckte – als würde ihm auf einmal wieder einfallen, wo er war – und wirbelte dann herum, wuchtete sein schweres Schwert vom Boden, beschrieb mit ihm einen Bogen und parierte den Schlag des anderen Mannes. In meinem Kopf ließ ich den Gedanken fallen, dass das hier ein nachgespieltes Renaissancegefecht war, und beschäftigte mich erneut mit der Frage, was hier eigentlich passierte. Diese Männer kämpften auf Leben und Tod. Warum? Was war hier los? Die Frage starb in meinem Kopf, als ich einen Blick auf die in der Nähe gelegene Burg warf, die auf dem Hügel, die ein Trümmerhaufen gewesen war, als ich sie zum ersten Mal wahrgenommen hatte. Sie war keine Ruine mehr. Die Mauern standen, der Turm war so, wie er sein sollte. Blutrote Fahnen wehten von den Wehrgängen, eine Verzierung, die zu der Rüstung des zweiten Ritters passte und sein Schild schmückte, das er immer wieder hob, um die Schläge des ersten Ritters abzuwehren. Meine Augen wanderten zurück zur Burg. Es war, als wäre ich in der Zeit zurückgegangen ... 66