Jenny B. Jones Scheinbar verliebt ISBN 978-3-86827-303-8 ca. 304 Seiten, Paperback erscheint im März 2012
Lucy Wiltshire ist die Leiterin einer gemeinnützigen Einrichtung, die sich um junge Frauen kümmert, die aus dem Pflegesystem herausfallen. Als ihr größter Geldgeber ihr plötzlich den Geldhahn abdreht, ist sie fest entschlossen herauszufinden, warum. Kampflos will sie nicht aufgeben, schließlich geht es um das Überleben ihrer Einrichtung und die Zukunft ihrer Mädchen. Doch als sie den früheren Footballstar und Mitbesitzer von Sinclair Enterprises mitten auf der Tanzfläche einer Galaveranstaltung zur Rede stellt, kommt alles anders als gedacht. Woher hätte Lucy aber auch wissen sollen, dass diese Aktion ihr Leben noch mehr auf den Kopf stellen würde? Denn Alex Sinclair, der Kongressabgeordneter werden will und sich mitten im Wahlkampf befindet, macht ihr einen absolut verrückten Vorschlag. Sowohl Lucy als auch er könnten davon profitieren. Doch wie weit ist Lucy bereit, für ihre Mädchen zu gehen? Was, wenn dieser Plan sie mehr kostet, als sie zu geben bereit ist? Wenn mit einem Mal nicht mehr nur ihre Zukunft, sondern auch ihr Herz – und ihr Leben – auf dem Spiel stehen? 2
Es war ein guter Abend, um sich zu verloben. Der Mond stand rund und voll am Himmel. Die Kerzen waren entzündet. Und Lucy Wiltshire trug ein neues schwarzes Kleid, das Audrey Hepburn vor Neid hätte erblassen lassen. Es war das perfekte Outfit, um einen Heiratsantrag zu bekommen. Von diesem Tag hatte sie geträumt, seit sie sechs Jahre alt gewesen war und eine Hochzeit für Barbie geplant hatte. Und nun stand ihr eigener Ken nur ein paar Meter von ihr entfernt und war nervös, als stünde er schon vor dem Traualtar. Matthew lockerte seine Krawatte und setzte sich an den Küchentisch. „Hattest du einen schönen Tag?“, fragte Lucy, während sie das Knoblauchbrot in den Ofen schob und vor sich hin summte. „War in Ordnung.“ Seine Stimme klang abwesend und sein Blick war auf den Stapel ungeöffneter Post gerichtet, den sie noch nicht angerührt hatte. „Was ist das?“ Er hob eine mit Gold verzierte Karte hoch. Sie sah in seine Richtung, wandte sich dann aber schnell wieder ab. „Das ist nichts.“ „Sieht aus wie eine Einladung zum Klassentreffen oder sowas. Ich dachte, du hättest deinen Abschluss nicht in Charleston gemacht.“ Ihre Kindheit und Jugend in South Carolina war das Letzte, was sie heute Abend diskutieren wollte. Was sie überhaupt jemals diskutieren wollte. „Ganz offensichtlich ist da irgendjemandem ein Fehler unterlaufen.“ Oder ein gemeiner Witz. Als Tochter eines Hausmädchens war Lucy an der elitären Montrose Academy in der Hackordnung ganz weit unten gewesen. Ihre Mutter hatte die Häuser ihrer Mitschüler sauber gehalten. Und die hatten Lucy niemals vergessen lassen, dass sie nicht zu ihnen gehörte. Aber jetzt, hier in Charleston, hätte es nicht schöner sein können. „Oder sie wollen dich aus einem anderen Grund sehen.“ Lucy setzte sich und starrte den Mann an, der sie heute vor einem Jahr zum ersten Mal ausgeführt hatte. Matts Finger trommelten neben seinem Teller auf die Tischplatte und momentan entsprach er überhaupt nicht dem ruhigen Typ, der er sonst war. Sein sandblondes Haar war wie immer ordentlich links gescheitelt. Sein weißes Hemd gestärkt und die Ärmel hatten eine klare Bügelfalte. Der Timer am Ofen klingelte und Lucy sprang auf, um das Brot herauszunehmen. „Ich hoffe, du bist hungrig. Ich hab dein Lieblingsessen gemacht.“ „Hab ich gemerkt.“ 3
Lucy tat das Brot in einen Korb und stellte ihn auf den Tisch. Sie nahm Matts Teller und schaufelte die selbstgemachten Nudeln, ihre geheime Soße und Salat – mit einfachem Dressing, wie es ihm gefiel – darauf. Lucy konnte sich schon jetzt vorstellen, wie sie in dreißig Jahren hier sitzen würden, sich eine Mahlzeit teilten und über ihren Tag berichteten. „Vielleicht solltest du hingehen. Zu dem Klassentreffen meine ich.“ Matt legte gewissenhaft seine Serviette auf den Schoß. „Wenn du wirklich dieses Mädchenheim gründen willst, musst du dich bei den Schönen und Reichen bekannt machen.“ Lucy beobachtete ihn, während sie sich hinsetzte. „Ich werde die finanziellen Mittel schon irgendwie anders aufbringen. Wofür gibt es denn Bundeszuschüsse. Und außerdem ist es am gleichen Abend wie deine Ehrung.“ Matt sollte für seine Wohltätigkeitsarbeit mit älteren Mitbürgern ausgezeichnet werden. Als Buchhalter hatte er zahllose Stunden für die Senioren in Charleston geopfert und ihnen in Steuerfragen kostenlos mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Jeden Tag dankte Lucy Gott dafür, dass er ihr Matt über den Weg geschickt hatte. Er war … einfach perfekt. Zweimal die Woche telefonierte er mit seiner Mutter. Er leitete einen Bibelkreis und spielte Baseball im Team ihrer Kirchengemeinde. Er las Autobiografien und sah CNBC. Der Mann fuhr einen Volvo. Was konnte sie sich sonst noch wünschen? „Lucy?“ Matts Gesicht war ernst, als er ihre Hand ergriff. Das war es. Sie würde Mrs Matthew Campbell werden. Sie hoffte, dass ihr Lipgloss noch saß. Und wo hatte sie nur die Kamera hingelegt? Wenn es einen Moment gab, den man festhalten musste, dann doch einen Heiratsantrag. Er schluckte und umschloss ihre Hand mit seinen Fingern. „Es gibt etwas, über das ich gerne mit dir reden würde.“ Lucys Gedanken rasten. Sie würden einen Sohn und eine Tochter bekommen. Ihre Tochter würden sie Anna nennen, nach Lucys Mutter. Matt konnte den Jungennamen aussuchen. Ihr war egal, wie ihr Sohn heißen würde, solange es nicht Maynard war. Nach dem Onkel, den Matt so sehr liebte. „Lucy, wir sind jetzt schon seit einer Weile zusammen.“ „Ein Jahr“, sagte sie. „Heute vor einem Jahr war unser erstes Date.“ Was natürlich Teil seines ausgeklügelten Planes war. 4
Sein Griff um ihre Hand lockerte sich. „Und es war großartig. Ich habe unsere gemeinsame Zeit genossen. Und ich glaube, du bist eine ganz unglaubliche Frau.“ Matt griff in seine Tasche. Der Ring. Er suchte nach dem Ring. Diamant, Schliff, Karat – das alles war ihr vollkommen egal. „Matt“, schniefte Lucy, „ich will, dass du weißt, dass ich Gott mehr als dankbar dafür bin, dass er dich in mein Leben gebracht hat und –“ Er öffnete seine Hand. Und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. Lucys Lippen verspannten sich. Das waren mit Sicherheit keine Hochzeitsglocken, die sie gerade läuten hörte. „Was ist das?“ Sie nahm die Karte in die Hand. „Matthew Campbell, Chefbuchhalter, Digby, Wallace und Hinds?“ Sein Lächeln war zögerlich. „Ich habe ein Jobangebot.“ „Angebot?“ Sie fuhr mit dem Finger über den geprägten Namen. „Sieht so aus, als wärst du darüber längst hinaus. Wann wolltest du es mir sagen?“ „Ich habe es versucht.“ Er schob seinen Teller beiseite. „Du warst so beschäftigt mit dem Kinderhort.“ „Wohnheim“, korrigierte sie ihn. „Saving Grace ist ein Wohnheim.“ „Du warst so beschäftigt mit den ganzen Planungen, dass ich in letzter Zeit kaum noch deine Aufmerksamkeit hatte.“ „Jetzt hast du sie.“ Irgendetwas lief hier völlig falsch. „Was ist los? Ich habe noch nie etwas von diesen Leuten gehört. Digby? Wallace? Sind die neu?“ Seine grünen Augen fokussierten sich auf die Kerze in der Mitte des Tisches. „Nein. Eher alteingesessen, würde ich sagen. Sehr renommiert.“ „Und wo sind sie alteingesessen und renommiert?“ Sie konnte nicht umziehen. Das wusste er. Nicht jetzt, wo das Mädchenheim nur wenige Monate vor der Eröffnung stand. Würde er umziehen? Ohne sie? „In Dallas.“ Lucys Herz sank in die Nähe ihrer Schuhe. „Wann gehst du?“ Er schloss seine Augen. „Es tut mir leid, Lucy.“ „Da musst du dir schon ein bisschen mehr Mühe geben.“ „Ich glaube, wir beide hätten es einfach langsamer angehen lassen sollen.“ Lucy dachte an die Hochzeitsmagazine unter ihrem Bett. „Dann lass 5
uns langsamer machen. Das ist in Ordnung für mich. Ich glaube, wenn wir nur –“ „Ich gehe nächste Woche weg. Das ist eine Gelegenheit, die ich mir nicht entgehen lassen kann.“ Er sprach leise und geduldig, als rede er mit einem Kind. „Ich glaube, dass wir eine Pause machen müssen. Mein Umzug ist die perfekte Gelegenheit, um ein bisschen Abstand zueinander zu gewinnen. Dann sehen wir einfach, was passiert.“ Ihre Träume fielen in sich zusammen. War es zu viel verlangt, Gott? War es zu viel, sich nach einer Familie zu sehnen? Endlich ein Zuhause zu haben? Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich dazu verleiten lassen, zu glauben, dass alles möglich war. Ihr Lachen klang sogar in ihren eigenen Ohren jämmerlich und gezwungen. „Kannst du dir vorstellen“ – Tränen schnürten ihr fast den Hals zu – „dass ich dachte, du würdest mir heute einen Heiratsantrag machen?“ Matt stand auf, kam zu ihr herüber und küsste sie auf die Stirn. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“ Sie ergriff seine Hand, als er sie zurückziehen wollte. „Liegt es an mir?“ Denn lag es nicht immer an ihr? Sanft strich er eine Strähne hinter ihr Ohr. „Nein. Ich weiß, dass du bereit für die Bindung fürs Leben bist. Aber ich muss erst meine Karriere voranbringen – ob ich will oder nicht.“ „Ich kann warten. Wir könnten es mit einer Fernbeziehung versuchen.“ „Es tut mir leid.“ Er schnappte sich seine Jacke von der Stuhllehne. „Ich glaube, dass du die Richtige sein könntest. Aber es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.“ Zwei Minuten später stand Lucy im Wohnzimmer und beobachtete, wie Matt davonfuhr. Kein Ring. Keine Verlobung. Kein Glücklichsein bis ans Lebensende. Sie ging nach oben ins Schlafzimmer, zog den Reißverschluss des Audrey Hepburn-Kleides auf und ließ es auf den Boden fallen. Dann schüttelte sie den Kopf und warf es aus dem Fenster.
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Tamera Alexander Hoffnung am Horizont ISBN 978-3-86827-298-7 368 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2012
Nicht jeder bekommt im Leben eine zweite Chance. Annabelle Grayson jedoch gehört zu den Glücklichen, die noch einmal ganz von vorne beginnen dürfen. Sie weiß sich trotz der dunklen Kapitel in ihrer Geschichte geliebt – von ihrem Mann Jonathan und von Gott. Im fernen Idaho will sich das Ehepaar ein neues Leben aufbauen, aber der vermeintliche Treck ins Glück entwickelt sich zum Albtraum: Jonathan stirbt und Annabelle muss umkehren. Alles, was ihr bleibt, ist den letzten Willen ihres Mannes zu ehren und dennoch nach Idaho zu ziehen. Doch muss es ausgerechnet Matthew Taylor sein, der sie zur neuen Farm bringt? Jonathans Halbbruder hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er sie wegen ihrer Vergangenheit verachtet ... und eigentlich nichts mit ihr zu tun haben will. Als Annabelle ihm ihr Leben trotzdem anvertraut, ist Ärger vorprogrammiert. Denn der Weg durch die Prärie ist lang – vor allem für ein ungleiches Paar wie Matthew und Annabelle, das lange nicht begreift, wie verschwenderisch Gott mit Chancen umgeht. 7
Colorado-Territorium, 14. Mai 1870 Annabelle Grayson McCutchens schaute den todkranken Mann neben sich an und wünschte sich genau wie an dem Tag, an dem sie ihn geheiratet hatte, sie hätte ihren Mann mehr lieben können. Sie hätte die gleichen starken Gefühle für ihn gehabt, die er ihr entgegenbrachte. Nach all den Männern, mit denen sie in ihrer Vergangenheit zu tun gehabt hatte, war sie nun mit einem wirklich guten Mann verheiratet, der sie trotz allem, was sie getan hatte, liebte. Warum konnte sie diesem Mann ihr Herz nicht ganz öffnen, obwohl sie es wirklich wollte? Jonathan versuchte einzuatmen. Annabelle wand sich innerlich, als sie bemerkte, wie sich die Luft mühsam durch seinen Hals bewegte und kaum seinen Brustkorb hob. Es rasselte dumpf, als die Luft auf die Flüssigkeit in seiner Lunge traf. Großer Schmerz machte sich in ihr breit. Wie hatte dieser Berg von einem Mann so schnell umgeworfen werden können? Die Schmerzen in seinem Brustkorb begannen ohne Vorwarnung, und die Erschöpfung und die Hustenanfälle, die Jonathan seit einigen Wochen plagten, hatten in den letzten Tagen unheilvollere Ausmaße angenommen. Wie konnte das Herz eines Mannes einerseits so stark und gleichmäßig schlagen und andererseits so schnell schwächer werden? Ein Windstoß bewegte die Wagenplane und lenkte Annabelles Blick nach oben zur Frühlingssonne, die halb versteckt hinter den höchsten Gipfeln der Rocky Mountains hing. Ein orangerot leuchtender Schein überzog die weite Prärie des Ostens und bereitete die Landschaft auf die Abenddämmerung vor. Der Wagentreck, mit dem sie vor fast einer Woche in Denver aufgebrochen waren, hatte, wie es vor der Fahrt für solche Situationen vereinbart worden war, einen Tag gewartet, ob Jonathan wieder zu Kräften käme. Aber als seine Schmerzen schlimmer wurden und die Aussicht auf eine Genesung immer hoffnungsloser schien, hatte Jack Brennan widerstrebend entschieden, dass der Treck weiterziehen müsse. Sie mussten die Zeit aufholen, die sie wegen ihres verspäteten Aufbruchs aufgrund ungewöhnlich starker Frühlingsregenfälle verloren hatten, um das Idaho-Territorium noch vor dem ersten Schneefall zu erreichen. Nach mehreren Minuten wurde Jonathans Atmung gleichmäßiger. Seine Augen waren geschlossen. Annabelle fragte sich, ob er eingeschlafen sei. „Du bist die hübscheste Frau, die ich mir je hätte wünschen können, 8
Annie.“ Seine Stimme war sanft. Er hob eine Hand und strich mit den Fingern über ihre Stirn und dann an ihrer Wange hinab. Sie lachte traurig und schüttelte über seine albernen Worte den Kopf. „Ja, ich bin ein richtig guter Fang. Nur gut, dass du mich so schnell geheiratet hast, denn es standen noch eine ganze Reihe anderer Bewerber bei mir Schlange.“ Als sie sah, wie er einen Mundwinkel verzog, lächelte Annabelle. In jüngeren Jahren war sie hübsch gewesen, aber die Schönheit war etwas, das die Jahre – und die Entscheidungen, die sie getroffen hatte – aus ihrem Gesicht vertrieben hatten, und das wusste sie. Eine dünne, hervortretende Narbe lag über ihrem rechten Backenknochen und zog sich zackig bis zu ihrer Schläfe und zu ihrem Haaransatz hinauf. Mit dieser Narbe lebte sie seit fünfzehn Jahren. Sie war eine unauslöschliche Erinnerung daran, was manche Männer, die ein Bordell besuchten, als Vergnügen betrachteten. „Was machst du da, Annabelle?“ Erst jetzt wurde sich Annabelle bewusst, dass sie verlegen ihre Haare auf dieser Gesichtsseite nach unten zog. Schnell ließ sie die Hand sinken und lachte in der Hoffnung, ihre Befangenheit damit verbergen zu können. Ihr Lachen klang gezwungen und nicht überzeugend. „Ich überlege nur, dass du Narben attraktiv finden musst, Jonathan McCutchens.“ Mit liebevoller Zärtlichkeit streichelte er ihre Wange. „Ich finde dich attraktiv, Mrs McCutchens. Nur dich.“ Seine Zärtlichkeit ließ sie die schlagfertige Antwort, die ihr auf der Zunge lag, hinunterschlucken, und der Schmerz in ihrem Herzen pochte in einem immer lauteren Rhythmus. Sie empfand für diesen Mann mehr, als sie in ihrem Leben je für einen anderen Menschen empfunden hatte, warum konnte sie also ihre Gefühle nicht zwingen, genauso stark zu sein wie seine? Aber sie hatte, soweit sie zurückdenken konnte, immer wieder erlebt, dass man Gefühlen nicht trauen durfte. Gefühle lebten für kurze Zeit auf, dann verblassten sie und wurden mit der Zeit sogar trügerisch. Deshalb hatte sie gelernt, sie nicht zu beachten und ihnen keinen großen Raum zu geben. Sie hatte einfach damit gerechnet, dass es in der Ehe zwischen einem Mann und einer Frau anders wäre. Oft hatte sie Gott angefleht, ihr ein stärkeres Verlangen nach Jonathan zu geben. Aber offenbar erhörte Gott solche Gebete nicht. Oder vielleicht erhörte er nur ihre Gebete nicht. „Danke, dass du mich zum Mann genommen hast, Annie. Ich hatte 9
so große Pläne für uns … und für unser Kind.“ Er hob die Hand, und sie legte sie auf die Stelle, an der ihr Sohn oder ihre Tochter unter ihrem Herzen heranwuchs. Jonathan streichelte zärtlich ihren flachen Bauch, als versuche er, das winzige Baby zu trösten. Seine Hand bewegte sich in langsamen Kreisen über dem Kind, und sie schloss fest ihre Augen, als sich ungebetene Erinnerungen an die Oberfläche drängten. Sie saß wehrlos und stumm da, während tief sitzende Schuldgefühle und Scham sie erneut befielen. Schwangerschaften waren in Bordellen weit verbreitet, aber genauso weit verbreitet waren bestimmte Aloemittel und Pulver, mit denen ungebetene Schwangerschaften beendet wurden. Die Mittel, die die Frauen benutzten, hinterließen jedoch oft dauerhafte Schäden. Dass sie überhaupt mit Jonathans Kind schwanger geworden war, war ein großer Segen, ein einziges Wunder. „Es tut mir so leid, dass ich dich so zurücklasse, Annie. Es …“ Seine tiefe Stimme war vor Gefühlsregung ganz heiser. „Es läuft nicht so, wie ich es geplant hatte. Es tut mir leid …“ Sie schüttelte den Kopf und beugte sich näher über ihn. „Wag es ja nicht, das zu mir zu sagen, Jonathan McCutchens“, flüsterte sie und legte eine kühle Hand auf seine Stirn. Ein Seufzen kam bei ihrer Berührung über seine Lippen. „Wenn sich hier jemand entschuldigen muss, dann ich. Ich …“ Ihr Mund bewegte sich, aber die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Angesichts des Weges, den sie in ihrem Leben eingeschlagen hatte, würden die meisten Menschen das nicht verstehen, aber eine solche Intimität war für sie immer noch ungewohnt. „Es tut mir leid, dass ich nicht die Frau bin, die du verdient hast. Du bist der beste Mann, dem ich je begegnet bin, Jonathan. Und ich danke dir, dass … dass du mich zu deiner Frau genommen hast.“ Er seufzte wieder, und sein Blick wanderte langsam über ihr Gesicht, als sähe er sie zum ersten Mal. Oder vielleicht zum letzten Mal. Dann deutete er mit zittriger Hand hinter seinen Kopf zur Vorderseite des Wagens. „In meinem Beutel dort ist etwas, das ich heute Morgen geschrieben habe.“ Annabelles Blick folgte seinem Finger, dann schaute sie ihn wieder an. Ohne zu fragen, ahnte sie, was es war. Sie bedachte ihn mit einem wissenden Lächeln und wartete, ob er noch mehr dazu sagen würde. Jonathans Blick blieb ruhig. 10
Sein Wunsch, sie zu versorgen, war edel und großmütig, aber die Verachtung in den Augen seines jüngeren Bruders bei ihrer letzten Begegnung in Willow Springs stand ihr noch lebhaft vor Augen. Acht lange Jahre waren vergangen, seit die zwei Brüder sich vor jenem unerfreulichen Wiedersehen das letzte Mal gesehen hatten. Matthew Taylors Reaktion an jenem Oktoberabend vor sieben Monaten verriet ihr, dass das, was Jonathan in seinem Brief wahrscheinlich vorschlug, sich als unmöglich erweisen würde. Die Erinnerung, wie die Männer sich gestritten hatten, und das Wissen, dass sie der Grund für diesen Streit gewesen war, schmerzte sie immer noch zutiefst. Die beiden Brüder waren von derselben Mutter geboren worden, hatten aber verschiedene Väter und wiesen in ihrem Aussehen und Verhalten nur wenig Ähnlichkeit auf. Und schon gar nicht in ihrem Temperament. Matthew wusste nicht, dass sie mit dem Kind seines älteren Bruders schwanger war. Aber das würde ohnehin an seiner Einstellung der Frau gegenüber, die sie gewesen war und die sie in seinen Augen immer bleiben würde, nichts ändern. Mit einem leisen Seufzen beugte sie sich zu Jonathans Tasche und holte den Brief heraus. Sie öffnete den Brief nicht, sondern legte ihn auf ihren Schoß. Dann nahm sie Jonathans Hand, beugte sich nahe über ihn und flüsterte: „Du weißt, dass ich das nicht kann, Jonathan. Selbst wenn wir wüssten, wo er ist, könnte ich Matthew nicht bitten …“ Sein schwacher Griff wurde stärker. „Er ist nicht für Matthew. Der Brief ist … für den Pfarrer.“ Ein Hustenanfall erschütterte seinen ganzen Körper. Er rang nach Luft und drückte sich die Hand auf die Brust, bis der Husten vorbei war. „Ich habe alles aufgeschrieben. Alles. Der Pfarrer wird wissen, was zu tun ist … wie er dir helfen kann.“ Annabelle streichelte seine Hand und fragte sich, wie viel Zeit ihnen noch zusammen bliebe. Eine Frau in ihrem Wagentreck, die sich mit Herzkrankheiten auskannte, hatte ihr gesagt, dass er nur noch höchstens einen oder zwei Tage leben würde. Annabelle schaute ihrem Mann ins Gesicht und erhaschte wieder einen Blick von dem, was sie an jenem Nachmittag im letzten Sommer gesehen hatte, als sie sich im Wohnzimmer des Pfarrers das erste Mal begegnet waren. Jonathan McCutchens war der ehrlichste Mann, den sie je kennengelernt hatte. Andererseits war sie in ihrem Leben nicht vielen ehrlichen Männern begegnet. Jonathan war freundlich und besaß eine Sanftheit, die 11
man bei einem kräftigen Mann von ein Meter fünfundachtzig Größe nicht erwartet hätte. Und er war loyal, egal, welchen Preis ihn das kostete. Er hatte genug eigene Fehler in seinem Leben gemacht und kannte sich auch mit den Schattenseiten dieser Welt aus, auch mit dem Leben, das sie geführt hatte. Er behauptete, dass er sie vom ersten Augenblick an geliebt hatte, und obwohl sie nicht verstand, wie das sein konnte, gefiel ihr diese Vorstellung. Während sie ihn in den immer länger werdenden Schatten im Wagen betrachtete, wünschte sich Annabelle, sie könnte sich selbst wenigstens einmal mit den Augen sehen, mit denen Jonathan sie sah. Aber sie kannte sich zu gut, um im Spiegel je etwas anderes als eine beschmutzte und besudelte Frau zu entdecken. Etwas funkelte in Jonathans Augen, und sie zwang sich zu einem Tonfall, der mehr nach einer Feststellung klang als nach der Frage, die sie beschäftigte. „Der Brief ist also für Pfarrer Carlson.“ Er nickte langsam. „Ich habe alles aufgeschrieben. Die Ranch und das Land, das in Idaho auf dich wartet, die Bank, bei der unser Geld liegt.“ Annabelle lächelte. Sie hatte nichts in diese Ehe mitgebracht, das einen materiellen Wert hatte, aber Jonathan sprach immer von unserem Geld. „Es dürfte noch genug für deinen Lebensunterhalt übrig sein, nachdem der Pfarrer einen Scout bezahlt hat, der dich sicher auf die Ranch bringt. Die Ranch ist noch sehr jung, Annie, aber sie wird gute Gewinne abwerfen. Carlson kann …“ Er bekam keine Luft mehr und keuchte schwer. Annabelle konnte an seinem Husten hören, dass die Krankheit seine Lunge immer mehr in Mitleidenschaft zog. Sie rollte eine zweite Decke zusammen und stopfte sie unter seinen Kopf und seine Schultern und hoffte, dass er so leichter atmen könnte. „Pscht … ich komme schon zurecht, Jonathan. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich finde schon einen Weg“, versicherte sie ihm und wollte diese Worte selbst gern glauben. Jonathans Atem kam keuchend und mühsam. Sein Blick war entschlossen. „Carlson kann einen vertrauenswürdigen Mann einstellen, der dir hilft, dich einer anderen Gruppe anzuschließen, die in den Norden zieht. Der Pfarrer wird das für dich erledigen. Davon bin ich überzeugt.“ Seine Zunge bewegte sich über seine aufgesprungenen Lippen, und Annabelle benetzte sie wieder mit einem feuchten Tuch. Obwohl Jonathan keine negativen Gefühle gegenüber seinem Bruder hegte – anderen zu vergeben war für ihn so selbstverständlich wie zu atmen –, wusste sie, dass 12
die zerbrochene Beziehung eine tiefe Narbe bei ihm hinterlassen hatte. War Matthew eigentlich bewusst, wie sehr Jonathan ihn liebte und wie tief ihn ihr Zerwürfnis verletzt hatte? „Ich will, dass dir alles gehört, was mein ist, Annie. Alles, was ich gern mit dir teilen wollte. Gib Pfarrer Carlson einfach den Brief … bitte.“ Sie tupfte seine fiebrige Stirn ab und nickte schließlich. Sie konnte ihm ansehen, dass er nicht überzeugt war, ob sie seiner Bitte tatsächlich nachkäme. Sie hatte nie versucht, ihn zu täuschen. Bis auf jenes eine Mal. Aber als er ihr in jener Nacht in die Augen geschaut hatte, hatte er die Wahrheit gewusst. Mit großer Kraftanstrengung hob Jonathan den Kopf. „Annabelle, gib mir dein Wort, dass du nach Willow Springs zurückfährst und tust, worum ich dich gebeten habe.“ Nach allem, was du für mich getan hast, Jonathan. Nach allem, was du geopfert hast … Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Ich gebe dir mein Wort, Jonathan.“ Er legte sich auf die Matratze zurück, und die Anspannung in seinen Gesichtszügen ließ ein wenig nach. „Möchtest du mehr Suppe? Oder mehr Grog für deinen Husten? Ich habe ihn auf dem Feuer warm gehalten.“ Er nickte, ohne zu sagen, was von beidem er wollte. Sie wusste, was ihm mehr helfen würde, und stand auf, um es zu holen. Als sie wieder in den Wagen stieg, setzte sie sich neben ihn und schob ihm löffelweise die HonigWhiskey-Mischung zwischen die Lippen. Er hob, nachdem er mehrmals mühsam geschluckt hatte, die Hand, und sie stellte die Medizin beiseite. Kaum eine Minute später fielen ihm die Augen zu. Er war eingeschlafen. Für eine Weile. Sie ließ den Blick über seine Stirn und Schläfen wandern und dann über sein bärtiges Kinn. Nach äußeren Maßstäben war er ein unauffälliger, einfacher Mann, niemand, nach dem sich die Frauen umdrehten, wenn er durch die Straße ging. Aber wenn sie an die besser aussehenden Männer dachte, die ihr in ihrem Leben begegnet waren, wurde ihr bewusst, dass keiner von ihnen es mit diesem Mann aufnehmen konnte. Sie nahm seine große, von der Arbeit raue, schwielige Hand. „Ich muss dir ein paar Dinge sagen, Annie, und ich …“ Er brach mitten im Satz ab, legte einen Moment seinen rechten Arm auf seine Brust und 13
atmete schwach ein, bevor er sich schließlich wieder entspannte. „Und ich weiß, dass du auf dieses Gespräch nicht erpicht bist. Mein Bruder ist jung. Er hatte als Junge nicht die besten Chancen. Das habe ich dir ja schon erzählt. Die Verletzungen, die er in so jungem Alter erlitten hat, gingen tief und sind nie verheilt. Ich war älter, deshalb habe ich es wahrscheinlich besser verkraftet als er. Er muss immer noch viel lernen, aber er wird es schaffen. Du und ich, Annie, wir …“ Er lachte kurz in sich hinein und Annabelle erinnerte sich an ihre Reaktion, als sie sein Lachen das erste Mal gehört hatte. Wie ein plötzlicher Regenschauer an einem staubigen Sommertag erfrischte sie dieser Klang und machte ihr die Last, die in diesem Moment auf ihr lag, ein wenig leichter. „Du und ich, wir sind Matthew gegenüber im Vorteil. Wenigstens sehe ich es so.“ „Im Vorteil?“ Sie lachte kurz. „Oh ja, ich kann mir vorstellen, welchen Vorteil ein Mann wie du und eine Hu …“ Sein Arm umfasste sie kräftiger. Annabelle beherrschte sich und presste die Lippen zusammen. So oft konnte Jonathan ihre spitzzüngigen Worte mit einem sanften Blick oder einer leichten Berührung zum Schweigen bringen. Jonathan war kein Heiliger, und sie schon gar nicht. Matthew Taylor hingegen machte auf sie den Eindruck eines aufrichtigen Bürgers, allseits beliebt und geachtet, auch wenn er von ihr keine hohe Meinung hatte. Sie hatte ihn ein paar Mal gesehen, wenn er Kathryn Jennings geholfen hatte. Da war er ihr gegenüber äußerlich freundlich gewesen, aber in seinen Augen hatte sie die Wahrheit gesehen und sein Blick hatte sie daran erinnert, wie tief sie gefallen war. Welchen Vorteil sie und Jonathan gegenüber einem Mann wie Matthew haben sollten, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, strich Jonathan ihr zärtlich über das Haar. „Uns beiden wurde so viel vergeben! Wir haben erlebt, was wir ohne Jesus sind und wie es um uns bestellt ist, wenn unsere ganze Schuld an uns haftet. Solange ein Mensch das nicht erkennt, kann er nicht so dankbar sein, wie er es sein sollte. Er kann anderen Menschen nicht die nötige Barmherzigkeit entgegenbringen, weil er noch nicht erkannt hat, wie nötig er sie selbst braucht.“ „Wem viel vergeben ist, der liebt viel.“ Das hatte ihr die Frau des Pfarrers in Willow Springs einmal gesagt. Annabelle berührte die dichten, braunen Haare an seinen Schläfen und strich sie mit weichen Bewegungen zurück. 14
Er drehte ihr den Kopf zu und sah sie an, und sie staunte erneut über die Tiefe seiner Gefühle. „Du hast mich freigekauft, Jonathan“, flüsterte sie, obwohl sie nicht wusste, ob er sie überhaupt hören konnte. „Du hast nicht nur das gesehen, was ich war und wer ich war.“ Und wer du immer sein wirst, meldete sich das bekannte anklagende Flüstern in ihrem Kopf. Aber sie verbannte diese Stimme sofort wieder aus ihrem Denken. „Du hast mich erlöst, Jonathan. Ohne dich wäre ich in diesem Bordell gestorben.“ In der Stille des Planwagens erkannte sie plötzlich die Ironie dieser Worte. Sie waren verlassen und allein, mitten in der Prärie. Sie war endlich freigekauft und von ihrem alten Leben erlöst, aber Jonathan, der Mann, der den Preis für ihre Freiheit bezahlt hatte, blickte dem Tod ins Auge. Das Leben war einfach nicht fair. „Ich habe dich nicht erlöst, Annie. Das hatte Jesus schon längst getan.“ Er strich mit seinen rauen Fingern über ihre Wangen. „Ich habe nichts anderes getan als dich geliebt, und das war leicht.“ Während er ihr Kinn in seine Handfläche legte, kämpfte Annabelle gegen die Gefühle an, die wie eine große Flutwelle irgendwo tief in ihrem Inneren anstiegen. Tränen waren ihr fremd. Sie waren irgendwie verräterisch. So viele Jahre lang hatte sie ihre Gefühle verdrängen und verstecken müssen, um zu überleben. Aber jetzt erzwangen sich die Tränen einen Weg, als wäre in ihr nicht mehr genug Platz für ihren großen Schmerz. Vielleicht hatte sie aber auch keinen Grund mehr, ihre Gefühle zu verstecken. „Du warst genau die Frau, die ich wollte, Annie. Du warst von Anfang an ehrlich zu mir. Ich wusste, was du für mich empfunden hast. Aber man kann nicht geben, was man nicht hat.“ Seine Stimme wurde leise, aber sein Tonfall enthielt nicht die geringste Spur von Bitterkeit. „Ein Mensch kann einen anderen nur lieben, wenn er gelernt hat, sich selbst zu lieben. Diese Wahrheit hat mir Gott vor langer Zeit gezeigt. Du hast den Samen zu lieben in dir, Annie. Er braucht nur Zeit, um zu keimen und Wurzeln zu schlagen, das ist alles. Ich habe wahrscheinlich gedacht …“ Er zuckte leicht die Achseln. „… dass ich genug Liebe für uns beide habe, bis dieser Same aufgeht.“ Annabelle schloss für einen Moment die Augen und ließ die Worte ihres Mannes auf sich wirken. Sie war dankbar für die unendliche Güte, die in seinen Worten lag, aber sie spürte trotzdem, dass ihr Herz schneller schlug. So ganz konnte sie sich den Schmerz in ihrer Brust zwar nicht 15
erklären, aber sie wuste doch, dass das, was Jonathan gesagt hatte, der Wahrheit entsprach: Sie konnte nicht lieben … „Man kann nicht geben, was man nicht hat.“ Das hatte er gesagt. Sie wünschte sich so sehr, dass sie das ändern könnte, besonders da er so geduldig und großzügig war und nie etwas von ihr gefordert hatte. Ihre Beziehung zu ihm war ganz anders als ihre Erfahrungen mit anderen Männern. Als sie versuchte zu begreifen, was er mit seinen Worten meinte, begann sich etwas, das tief in ihr vergraben war, langsam zu entfalten. Sie wusste, dass sie vielleicht keine zweite Chance mehr bekäme, das auszusprechen, was in ihr Gestalt annahm. Sie sah ihm ins Gesicht und hoffte, sie könnte in Worte fassen, was in ihr vorging. „Ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas getan, womit ich mir deine Zuneigung verdient hätte, Jonathan.“ Zitternd legte sie eine Hand auf seine Brust und sah, wie seine Augen sich leicht zusammenzogen. „Aber du sollst wissen … wenn ich noch die Gelegenheit dazu hätte, würde ich gerne den Rest meines Lebens damit verbringen, dich immer mehr lieben zu lernen.“ Sie blinzelte, und eine Träne lief ihr über die Wange. Jonathans Blick verdunkelte sich. Er schaute sie schweigend an. Dann wurden die Linien auf seiner Stirn nach und nach glatter, und er lächelte. „Du hast die Liebe, Annie.“ Er wischte die Träne weg und lachte leise. „Ich sehe in deinen Augen, wie sie beginnt.“ Annabelle wünschte sich, es wäre wahr, beugte sich über ihn und küsste ihn auf den Mund. Seine Lippen schmeckten nach Honig und Whiskey. Trotz ihres früheren Berufs war ihr diese Art von Vertrautheit fremd. Noch einmal fanden ihre Lippen sanft die Seinen und sie bemerkte, wie viel ihm das bedeutete. Sie stimmte ihm im Stillen zu. Wahrscheinlich hatte er recht. Wenigstens in Bezug auf eines: Sie musste über Liebe wirklich noch viel lernen. Aber wie lernte man, sich selbst zu lieben? Besonders jemand wie sie! Musste ein Mensch nicht zuerst liebenswert sein, bevor er geliebt werden konnte? Eine Weile sprach keiner von ihnen ein Wort. Dann seufzte Jonathan langsam. Es schien ihn all seine Kraft zu kosten. Annabelle vergewisserte sich, dass er noch bei ihr war. Der Tod war wie ein vertrauter Fremder. Sie kannte das Wirken seiner Hände, und obwohl sie ihn noch nie aus der Nähe gesehen hatte, spürte sie ihn kommen. Die Dämmerung legte sich über das Land. Dicht auf ihren Fersen folgte 16
die Dunkelheit, und auch wenn sie es nicht sah, fühlte sie, dass Jonathan sie anschaute. „Ich liebe dich, Annabelle McCutchens, und auch dort, wohin ich gehe, werde ich dich weiter lieben.“ Sie beugte sich über ihn und drückte ihm mit zugeschnürter Kehle einen federleichten Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, Jonathan.“ Sie liebte ihn wirklich. Auf ihre Weise. „Ich bin dir dankbar, dass du mich zu deiner Frau gemacht hast und dass ich dein Kind bekommen darf. Glaube mir, ich werde dafür sorgen, dass unser Baby weiß, was für ein guter Mann sein Vater war.“ Sie lächelte, dann zögerte sie, da sie spürte, dass er sich auf eine Weise, die sie nicht erklären konnte, von ihr entfernte. Eine alte Angst stieg in ihr auf. „Hast du Angst vor dem Tod?“ Nach einer Minute schüttelte er den Kopf. „Nein. Aber ich wünschte, ich hätte meine Tage auf Erden bewusster gelebt.“ Er verzog das Gesicht, dann atmete er aus und entspannte sich wieder. „Wenn ich das getan hätte, hätte ich vielleicht auch etwas Besseres aus meinem Leben gemacht.“ Sie schwiegen beide. Später in der Nacht wachte Annabelle mit einem Gefühl auf, das sie nicht genau erklären konnte. Ein kühler Maiwind bewegte die Wagenplane in der Dunkelheit, und sie lag eine Weile still da und lauschte dem gleichmäßigen Prasseln der Regentropfen auf das Wagendach über ihr. Sie hob die Hand, um Jonathan zu berühren. Da wusste sie es. Genauso leise, wie er in ihr Leben getreten war, war Jonathan McCutchens wieder daraus entschwunden.
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Karen Witemeyer Eine Lady nach Maß ISBN 978-3-86827-300-7 272 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2012
Texas, 1881. Für die junge Hannah Richards ist es mehr als ein glücklicher Zufall, der sie in die Kleinstadt Coventry verschlägt. Sie erkennt darin die liebende Hand Gottes, der ihr die Möglichkeit eröffnet, ihren Traum vom eigenen Modegeschäft zu verwirklichen. Ihr missmutiger neuer Nachbar Jericho „J.T.“ Tucker sieht das ganz anders. Er befürchtet, dass mit der hübschen Schneiderin Eitelkeit, Missgunst und Sünde Einzug halten. Das kann doch nicht Gottes Weg für Coventry sein, oder? Seltsam nur, dass Miss Richards einen ebenso tiefen Glauben zu haben scheint wie er. Dass sie sich anschickt, seine Schwester Cordelia von einem grauen Mäuschen in eine hinreißende junge Dame zu verwandeln, verstärkt J.T.s Widerstand – doch unerklärlicherweise auch die Zuneigung, die er unwillkürlich für seine starrköpfige Nachbarin empfindet. Was wird am Ende stärker sein: seine starren Überzeugungen oder die Liebe? 18
Coventry, Texas, 1881 „J.T.! J.T.! Ich habe eine Kundin für dich!“ Tom Packard trampelte in seinem unverkennbar ungleichmäßigen Gang die Straße hinunter und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft. Jericho „J.T.“ Tucker trat mit einem Seufzer vor die Tür des Büros in seinem Mietstall und beobachtete seinen Gehilfen dabei, wie er an der Schmiede und dem Laden des Schuhmachers vorbeistolperte. Irgendwann hatte er aufgehört zu zählen, wie oft er Tom schon daran erinnert hatte, dass er es nicht lauthals herausposaunen sollte, wenn sie einen Kunden hatten. Aber wenn der Junge aufgeregt war, gab es für ihn kein Halten mehr. Es war auch nicht seine Schuld. Mit achtzehn Jahren hatte Tom zwar den Körper eines Mannes, doch sein Verstand hatte sich nicht so weit entwickelt. Er konnte kaum lesen und schaffte es nur mit großer Anstrengung, seinen eigenen Namen zu schreiben. Doch er hatte ein Händchen für Pferde, deshalb ließ J.T. ihn bei sich im Stall arbeiten und bezahlte ihn für die anfallenden Arbeiten. Als Gegenleistung gab sich der Junge alle Mühe zu beweisen, dass er J.T.s Vertrauen verdiente. Er versuchte oft, unter den Bahnreisenden, die eine Meile südlich der Stadt aussteigen mussten, Kunden zu werben. Nach Wochen kleinerer Aufträge schien ihm nun endlich ein guter Fang ins Netz gegangen zu sein. J.T. lehnte sich gegen den Türrahmen und zog einen Zahnstocher aus seiner Hemdtasche. Er steckte sich den hölzernen Stab zwischen die Zähne und versuchte, einen möglichst unbewegten Gesichtsausdruck zu zeigen, als Tom taumelnd vor ihm zum Stehen kam. Nur die rechte Augenbraue zog J.T. fragend in die Höhe. Der Junge stützte sich schnaufend auf seine Knie und rang mehrere Augenblicke lang nach Atem. Dann richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, mit der er fast schon an seinen Arbeitgeber heranreichte, und seine roten Wangen wurden noch dunkler, als er J.T.s Gesichtsausdruck sah. „Ich hab’s schon wieder vergessen mit dem Schreien, stimmt’s? Es tut mir leid.“ Tom ließ den Kopf hängen. J.T. ergriff den Jungen bei der Schulter und richtete ihn auf. „Dann denkst du eben nächstes Mal dran. Also, was für eine Kundin ist das?“ Toms Gesichtsausdruck erhellte sich von einer Sekunde auf die andere. „Diesmal hab ich eine gute gefunden. Sie ist wunderhübsch und hat mehr 19
Koffer und Taschen dabei, als ich je gesehen habe. Ich glaube, es ist genug, um den General vollzukriegen.“ „Den General, was?“ J.T. rieb sich das Kinn, um ein Lächeln zu verbergen. Tom hatte jedem Mietwagen einen Namen gegeben. Liebchen hieß der Wagen mit dem verzierten Dach, den sich meistens verliebte junge Männer ausliehen, um ihre Angebetete auszufahren. Den Einspänner hatte er Doc getauft, nach dem Mann, der ihn meistens auslieh. Die einfache offene Kutsche hieß einfach Kutsche und der Frachtwagen war der General. Die Männer in der Stadt mochten sich zwar über den einfältigen Tom lustig machen, aber die Namen, die er sich für die Wagen ausgedacht hatte, waren mittlerweile etabliert. Erst letzte Woche hatte Alistair Smythe einen Silberdollar auf J.T.s Schreibtisch gelegt und nach Liebchen verlangt. J.T. verdrängte die Gedanken, verschränkte die Arme über der Brust und schob den Zahnstocher mit der Zunge von einem Mundwinkel in den anderen. „Die offene Kutsche wird es doch sicher auch tun.“ „Ich weiß nicht.“ Tom ahmte J.T.s Haltung nach, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Stallwand. „Sie hat gesagt, ihr Zeug wäre ganz schön schwer und sie würde uns etwas extra bezahlen, wenn wir sie direkt zu ihrem Geschäft fahren würden.“ „Geschäft?“ J.T.s gute Laune war von einem Moment auf den anderen wie weggeblasen. Er ließ die Arme sinken, als sein Blick an Tom vorbei auf das einzige leer stehende Gebäude in Coventry fiel. Gegenüber der Wäscherei stand das Haus, das er versucht hatte zu erwerben – vergeblich. J.T. presste seine Zähne so fest aufeinander, dass der Zahnstocher zerbrach. Um sich abzulenken, ging er einige Schritte an der Stallwand entlang. „Ich glaube, sie ist Schneiderin“, plapperte Tom weiter. „Es gab ein paar Puppen ohne Köpfe und Arme auf dem Bahnsteig. Sah wirklich komisch aus, wie sie da mitten drin stand, als wollte sie gleich ein Kaffeekränzchen mit ihren kopflosen Freunden abhalten.“ Der Junge gluckste vor sich hin, aber J.T. fand seine Bemerkungen überhaupt nicht lustig. Eine Schneiderin? Eine Frau, die ihren Lebensunterhalt damit verdiente, die Eitelkeit ihrer Kunden auszunutzen? So jemand sollte seinen Laden bekommen? Übelkeit machte sich in seinem Magen breit, als alte Erinnerungen 20
hochkamen, die er so gut hinter einer hohen Mauer in seinem Innern verborgen hatte. „Also nehmen wir jetzt den General, J.T.?“ Toms Frage brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück und half ihm dabei, die unangenehmen Gedanken an ihren Platz zurückzuschieben. Er löste seine Finger, die er unbemerkt zur Faust geballt hatte, und schob seinen Hut so ins Gesicht, dass er seine Augen bedeckte. Tom sollte die Wut darin nicht sehen. Am Ende würde er noch glauben, er selbst hätte etwas falsch gemacht. Oder schlimmer, er könnte J.T. unangenehme Fragen stellen. Er räusperte sich und klopfte dem Jungen auf die Schulter. „Wenn du meinst, dass wir den Frachtwagen brauchen, dann nehmen wir ihn auch. Warum spannst du nicht schon mal die Grauen an?“ „Jawohl, Sir!“, und schon rannte Tom mit stolzgeschwellter Brust los. J.T. hatte mittlerweile akzeptiert, dass die Besitzerin des Grundstückes nicht an ihn hatte verkaufen wollen. Er glaubte daran, dass Gott seine Schritte leiten würde. Zwar war er immer noch der Meinung, dass er das Grundstück hätte gebrauchen können, aber so kam er mit dieser Situation klar. Jedenfalls bis vor ein paar Minuten. Der Gedanke, dass das Grundstück nun einer Schneiderin gegeben wurde, passte ihm überhaupt nicht. Er wollte das Geschäft ja nicht aus Eigennutz. Er hatte es als Möglichkeit gesehen, einer Witwe und ihren Kindern zu helfen. Das war es doch, was die Bibel als Nächstenliebe bezeichnete? Welcher besseren Verwendung hätte man das Geschäft denn zuführen sollen? Louisa James musste ihre drei kleinen Kinder versorgen und kam kaum über die Runden. Das Gebäude, in dem sie arbeitete, konnte ihr jeden Tag über dem Kopf zusammenbrechen, obwohl sie einen Großteil ihres Einkommens für die Miete ausgeben musste. Er hatte vorgehabt, den gegenüberliegenden Laden zu kaufen und ihn ihr für die Hälfte dessen zu vermieten, was sie momentan bezahlte. Er hätte den Kauf damit begründet, dass er die hinteren Lagerräume selbst nutzen wollte. J.T. blinzelte in die Nachmittagssonne, die jetzt in den Stall strömte, und ging an die andere Torseite. Mit jedem Schritt wuchs seine Empörung. Wie konnten Modetand und Rüschen der Stadt mehr nutzen als ein neues Heim für eine bedürftige Familie? Die meisten Frauen in und um 21
Coventry nähten ihre Kleider selbst und die, die das nicht taten, bestellten sie fertig aus dem Katalog. Praktische, einfache Kleider, keine Gewänder für Modepuppen, die in den Frauen hier den Wunsch nach Dingen weckten, die sie sich eigentlich nicht leisten konnten. Für eine Schneiderin gab es in Coventry keinen Platz. Das kann nicht Gottes Wille sein. Die Eitelkeit der Welt hatte diese Frau hierher gebracht, nicht Gott. Pferdhufe erklangen dumpf, als Tom die beiden Grauen vor den Stall führte. J.T. fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Egal was sie hierher gebracht hatte, diese Schneiderin war immerhin eine Frau und sein Vater hatte ihm beigebracht, dass man alle Frauen mit Höflichkeit und Respekt behandelte. Also würde er lächeln und seinen Hut abnehmen und sich freundlich mit ihr unterhalten. Er würde sogar ihre schweren Koffer tragen. Aber sobald sie seinen Wagen verlassen hatte, würde er ihr sorgsam aus dem Weg gehen. *** Hannah saß auf ihren fünf Koffern und wartete darauf, dass Tom zurückkam. Die meisten Reisenden hatten den Bahnsteig mittlerweile verlassen. Viele waren zu Fuß gegangen oder von ihren Familien und Bekannten abgeholt worden. Doch Hannah würde ihre Sachen nicht aus den Augen lassen – oder sie jemandem anvertrauen, den sie nicht kannte. Also wartete sie. Da sie nicht gewusst hatte, was es in dem kleinen Coventry zu kaufen gab, hatte sie alles mitgebracht, was sie vielleicht brauchen könnte. Auch ihren wertvollsten Besitz – eine Singer-Nähmaschine. Das Monster wog fast genauso viel wie die Lokomotive, die sie hierher gebracht hatte, aber es war wunderschön. Sie würde höchstpersönlich dafür sorgen, dass es ihr Geschäft wohlbehalten erreichen würde. Nur noch eine staubige Straße lag zwischen ihr und der Erfüllung ihrer Träume. Aber die letzten Minuten des Wartens fühlten sich nach Stunden an. Konnte sie wirklich ihr eigenes Geschäft führen? Zweifel befielen sie. Was, wenn die Frauen in Coventry keine Schneiderin brauchten? Was, wenn sie ihre Entwürfe nicht mochten? Was, wenn … Hannah sprang auf und schritt ungeduldig hin und her. Mut und 22
Selbstsicherheit und Vertrauen zu Gott waren vonnöten. Hannah hielt inne. Ihr Blick wanderte über die Hügel, die sich wie die Wellen des Ozeans um sie erhoben. „Ich blicke hinauf zu den Bergen: Woher wird mir Hilfe kommen? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat!“ Der Psalm sickerte in ihre Seele und brachte ihr Ruhe und Sicherheit. Gott hatte sie hierher geführt. Er würde für sie sorgen. Sie nahm ihre Wanderung wieder auf und spürte, wie die Angst allmählich von ihr abfiel. Als sie gerade ihr Gepäck zum sechsten Mal umrundete, hörte sie endlich das Knarren von Wagenrädern, die über den trockenen Boden rollten. Vor ihr tauchte ein Fuhrwerk auf. Hannahs Herzschlag verdoppelte sich. Es schien nicht dieser Tom zu sein, der fuhr. Ein Fremder mit abgewetztem braunem Hut über den Augen saß auf der Bank. Das musste dieser J.T.-Mensch sein, von dem Tom berichtet hatte. Nun, solange er stark genug war, um ihre Nähmaschine wohlbehalten in ihren Laden zu bringen, war es Hannah egal, wer den Wagen lenkte. Eine Hand winkte freundlich aus dem Wagen heraus. Hannah war erleichtert, dass Tom wieder mitgekommen war. Erfreut winkte sie zurück. Zwei Männer würden ihr Gepäck sicher leichter schleppen können. Der Fahrer brachte die Pferde zum Stehen und zog die Bremse an. Er sprang vom Wagen und kam auf sie zu. Seine langen, zielsicheren Schritte zeugten von Selbstvertrauen und standen in krassem Gegensatz zu Toms torkelnden Schritten neben ihm. Wenn man die Breite seiner Schultern betrachtete und wie sich das Hemd über seiner Brust und den Armen spannte, konnte sie davon ausgehen, dass er ihre Nähmaschine ohne Probleme transportieren würde. Tom rannte vor dem Neuankömmling her und zog seinen grauen Schlapphut vom Kopf. Seine dunkelblonden Locken standen in alle Richtungen ab, aber in seinen Augen war ein freundliches Funkeln zu sehen. „Ich hab den General geholt, Ma’am. In Nullkommanix haben wir alles aufgeladen.“ Er zog den Hut wieder auf und ging zielstrebig an ihr vorbei. Hannahs Blick wanderte zu dem Mann, der ein paar Meter vor ihr stand. Er sah nicht wie ein General aus. Keine Militäruniform. Stattdessen trug er Cowboystiefel und Jeans, die an den Knien langsam fadenscheinig wurden. Ein Zahnstocher steckte zwischen seinen Lippen und bewegte sich hin und her, als er darauf herumkaute. Vielleicht war Gene23
ral ein Spitzname. Er hatte noch kein Wort gesagt, aber etwas an seiner Haltung verlieh ihm eine gewisse Autorität. Sie straffte ihre Schultern und trat auf ihn zu. Immer noch aufgeregt, weil heute ihr neues Leben beginnen würde, konnte sie dem Drang nicht widerstehen, den stoischen Mann zu necken. „Danke, dass Sie mir heute behilflich sind, General.“ Sie lächelte ihn an, während sie auf ihn zuging, und konnte endlich mehr von seinem Gesicht erkennen als nur sein Kinn. Er hatte schöne, bernsteinfarbene Augen, obwohl sie ein wenig kalt wirkten. „Soll ich salutieren oder so etwas?“ Er hob seine rechte Augenbraue. Dann verzog sich sein Mund tatsächlich zu einem winzigen Lächeln. Hannah wusste, dass ihre Bemerkung das Eis ein wenig gebrochen hatte. „Ich befürchte, ich bin nur Zivilist, Ma’am.“ Der Mann wandte seinen Kopf in Richtung des Wagens. „Das ist der General. Tom mag es, Dingen Namen zu geben.“ Hannah lachte. „Ich verstehe. Also, ich bin froh, dass Sie beide mir helfen. Ich bin Hannah Richards.“ Der Mann lupfte kurz seinen Hut. „J.T. Tucker.“ „Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Tucker.“ Er nickte knapp. Kein sehr gesprächiger Kerl. „Leg das wieder hin, Tom“, rief er, als er an Hannah vorbeiging. „Wir wollen doch nicht, dass die Koffer über den Rand fallen, wenn wir über eine Wurzel fahren.“ „Oh! Warten Sie einen Moment, bitte.“ Hannah wusste nicht, was vorher in dem Wagen transportiert worden war. Ihren Koffern und der Nähmaschine würde ein bisschen Dreck nichts ausmachen, aber das Leinen, das ihre Puppen bedeckte, konnte leicht ruiniert werden. „Ich habe eine alte Decke, die wir auf die Ladefläche legen können. Lassen Sie mich die schnell holen.“ Hannah spürte Mr Tuckers Seufzen mehr als dass sie es hörte, während sie die Decke aus dem Koffer zog, auf dem sie eben noch gesessen hatte. Er konnte so viel seufzen, wie er wollte. Ihre Ausstellungspuppen mussten geschützt werden. Sie hatte nur eine einzige Chance, einen ersten guten Eindruck bei den Damen Coventrys zu hinterlassen, und die würde sie sich nicht entgehen lassen. Als sie mit der Decke zurück zum Wagen ging, schaute sie bewusst 24
nicht in Mr Tuckers Richtung. Hannah warf die Decke über den Rand der Ladefläche und kletterte dann hinauf, wie sie es als Kind getan hatte. Schnell breitete sie die Decke aus und legte die sechs Puppen vorsichtig darauf. Am Schluss schlug sie die Decke über die Puppen und wickelte sie sorgfältig ein. Als sie fertig war, erschütterte ein lautes Krachen den Wagen. Hannah taumelte zur Seite. Als sie einen Blick über die Schulter warf, sah sie Mr Tucker, der gerade ihren ersten Koffer auf die Ladefläche gewuchtet hatte, die metallenen Füße kratzten auf dem hölzernen Boden. Der Mann hätte sie ruhig warnen können, anstatt sie halb zu Tode zu erschrecken. Aber wenn sie ihn darauf hingewiesen hätte, hätte sie sich nur zum Narren gemacht, deshalb ignorierte sie ihn. Als Tom mit dem zweiten Koffer kam, hatte sie die Puppen sicher verstaut. Als er ihn abgestellt hatte, ging sie zum Ende der Ladefläche. „Würden Sie mir bitte runterhelfen?“ Tom grinste sie an. „Na klar.“ Hannah legte ihre Hand auf seine Schulter, als er sie um die Hüfte fasste und hinunter hob. Eine kleine Stimme des Bedauerns schalt sie dafür, dass sie nicht Mr Tucker um diesen Gefallen gebeten hatte, aber Hannah überhörte sie. Tom war die bessere Wahl gewesen. Außerdem fühlte sie sich in der Gegenwart des Jungen wohl – im Gegensatz zu seinem Begleiter, der von einer Minute zur anderen entweder ihr Interesse weckte oder ihren Zorn entfachte. Sie schluckte ihren Ärger hinunter, während die Männer ihre Nähmaschine auf die Ladefläche hoben. Dann dauerte es nicht mehr lange, bis auch der Rest ihrer Habseligkeiten verstaut war. Als sie fertig waren, reichte Tom ihr seine Hand, um ihr auf den Kutschbock zu helfen, kletterte dann selbst auf die Ladefläche und ließ sie mit Mr Tucker allein. Ein sanfter Herbstwind kühlte ihre Wangen und zupfte leicht an ihrer Haube, als sich der Wagen in Bewegung setzte. Hannah strich ihren Rock glatt und wusste nicht genau, was sie zu dem abweisenden Mann neben sich sagen sollte. Zu ihrer Überraschung fing er jedoch mit der Unterhaltung an. „Warum haben Sie sich ausgerechnet für Coventry entschieden, Miss Richards?“ Sie wandte sich ihm zu, aber seine Augen blieben auf die Straße geheftet. „Ich denke, Coventry hat sich eher für mich entschieden.“ 25
„Wie das?“ „Es war wirklich eine außergewöhnliche Reihe von Ereignissen. Ich zweifle nicht daran, dass es Gottes Vorsehung ist, dass ich hier bin.“ Endlich reagierte er. Er wandte ihr sein Gesicht zu und unter seinem Hut starrten seine durchdringenden Augen sie an, bevor er blinzelte und sich wieder abwandte. Sie schluckte schwer, als er seinen Blick wieder von ihr abgewandt hatte, und fuhr fort. „Vor zwei Jahren erhielt ich in San Antonio eine Anstellung als Schneiderin. Eine der Kundinnen war eine alte unverheiratete Dame, die den Ruf hatte, dass man unmöglich mit ihr arbeiten könne. Nun, ich brauchte die Arbeit unbedingt und war zu dickköpfig, um mich von ihr abschrecken zu lassen. Wir haben einen Weg gefunden, wie wir miteinander auskommen und uns sogar gegenseitig respektieren konnten. Bevor sie starb, rief sie mich zu sich. Wir sprachen über ihr Erbe und dass sie früher einige Grundstücke erworben hatte, die mittlerweile sehr wertvoll waren. Eines davon hatte sie noch nicht verkauft. In einem Akt der Großzügigkeit, den ich immer noch nicht begreifen kann, hat sie mir dieses Grundstück als Bezahlung für ein Kleid gegeben. Sie wusste, dass ich davon träumte, mein eigenes Geschäft zu eröffnen.“ „Was hat die alte Dame davon abgehalten, das Grundstück schon früher zu verkaufen?“ In Mr Tuckers tiefer Stimme schwang noch etwas anderes als Neugierde mit. Ein leichtes Unbehagen stieg in Hannah auf, aber sie wusste nicht, woran es lag. „Sie hat mir erzählt, dass sie es bevorzuge, ihre Geschäftspartner persönlich kennenzulernen. Leider ging es ihr gesundheitlich immer schlechter und sie konnte keine Reisen mehr unternehmen. Es gab wohl einen Gentleman mit sehr gutem Ruf, der der Dame mehrere Angebote gemacht hat. Ein Mr Tuck –“ Ein Kloß bildete sich in Hannahs Hals. „Oh nein. Bitte sagen Sie nicht, dass Sie dieser Mr Tucker sind!“
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Lynn Austin Bibliothek der Träume ISBN 978-3-86827-302-1 432 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2012
Illinois 1936. Alice Ripley lebt in einer Traumwelt. Sie liebt es, in Büchern zu schwelgen und dem Happy End entgegenzufiebern. Doch ihr persönliches Glück rückt vollkommen unvermittelt in weite Ferne. Ihr Freund Gordon trennt sich von ihr, weil ihr angeblich jeder Realitätssinn fehle, und dann verliert sie auch noch ihre Anstellung in der örtlichen Bibliothek. Alice flüchtet sich in die Berge Kentuckys. Eigentlich wollte sie in der Bücherei des winzigen Bergarbeiterdorfs Acorn eine Weile aushelfen, doch der Bibliotheksleiter ist ganz anders, als sie erwartet hat. Und auch die vier ‚Bücherbotinnen‘, zu deren Stellenbeschreibung es gehört, allein in die entlegensten Gegenden zu reisen, entsprechen so gar nicht ihren Vorstellungen. Doch Alice sitzt in Acorn fest, hat keine Chance, diesem Albtraum zu entkommen. Und bald muss sie feststellen, dass die Abenteuer, die das wahre Leben schreibt, tausendmal besser sind als die, die sie sich in ihren kühnsten Träumen ausgemalt hatte. 27
Blue Island, Illinois, 1936 Wenn mein Leben ein Buch wäre, würde niemand es lesen. Die Leute würden sagen, es sei zu langweilig, zu vorhersehbar. Eine Geschichte, wie sie schon tausendmal erzählt wurde. Aber ich war mit meinem Leben ganz und gar zufrieden – bis die hinteren Seiten aus meiner Geschichte gerissen wurden, bevor ich die Gelegenheit hatte, glücklich bis an mein Lebensende zu leben. Das Ende kam, äußerst passend, bei einer Beerdigung. Nicht meiner eigenen Beerdigung – ich bin erst zweiundzwanzig Jahre alt –, sondern Elmer Watsons Beerdigung. Er war ein freundlicher alter Herr, der immer in die öffentliche Bücherei hier in Blue Island, Illinois, kam, in der ich seit anderthalb Jahren als Bibliothekarin arbeitete. Als ich hörte, dass er an diesem Tag beerdigt werden sollte, ging ich nach der Arbeit zum Beerdigungsinstitut und setzte mich ganz allein in die hinterste Reihe. Mein Vater, Pastor Horace Ripley, leitete die Trauerfeier. Allerdings beschlossen gleich zu Anfang eine ganze Reihe von Mr. Watsons langweiligen Verwandten, aufzustehen und langatmige Geschichten zu erzählen: wie Elmer einmal mit ihnen in irgendein Geschäft gegangen war oder ein Pferd von ihnen gekauft hatte, oder sonst irgendeine nichtssagende Begebenheit. Keiner dieser Leute hätte eine gescheite Geschichte erzählen können, selbst wenn ihr Leben davon abgehangen hätte. Ich war nicht die Einzige, die gähnte. Als ich merkte, dass die öden Lobreden sich noch endlos hinziehen würden, nahm ich ein Buch aus meiner Tasche und fing an zu lesen. Ich fand, dass ich es sehr unauffällig tat, indem ich hin und wieder aufblickte und zustimmend nickte, wenn einer von Mr. Watsons feinen Charakterzügen gepriesen wurde. Ich hätte meinerseits hinzufügen können, dass er seine Bücher immer pünktlich zurückgegeben hatte, aber warum hätte ich den Gottesdienst unnötig verlängern sollen? In diesem Augenblick schlich sich mein Freund, Gordon T. Walters, auf Zehenspitzen von hinten an und setzte sich auf den Stuhl neben mir. Ich las schnell den Absatz zu Ende und legte das Lesezeichen zwischen die Seiten, bevor ich das Buch zuklappte. Ich erwartete, dass Gordon meine Hand nehmen würde, aber das tat er nicht. Er saß in seinem schwarzen Anzug so steif neben mir, dass er genauso gut eine Leiche hätte sein können wie der arme Mr. Watson. Mit einem Lächeln auf den Lippen blickte ich zu Gordon auf, aber er sah mich 28
mit einem Beerdigungsblick an und schüttelte den Kopf. Mir war nicht bewusst gewesen, dass er Mr. Watson gekannt hatte, aber warum hätte er sonst so ernst dreinblicken sollen? Als der Gottesdienst endlich zu Ende war und wir durch eine Seitentür hinausgingen, erfuhr ich den Grund. „Du hast während einer Beerdigung ein Buch gelesen?“, fragte er mit entsetzter Miene. „Alice, wie kannst du nur?“ „Nun … es war ein sehr gutes Buch“, sagte ich mit einem kleinen Schulterzucken. „Ich konnte nicht anders. Ich musste herausfinden, was mit der Heldin geschieht.“ „Wen interessiert schon, was in einem dämlichen Buch passiert? Das ist doch nicht echt. Es ist eine erfundene Geschichte. Aber eine Beerdigung, Alice – eine Beerdigung ist das richtige Leben!“ Gordon gestikulierte wild, als könnte er seiner Empörung allein mit Worten nicht genügend Ausdruck verleihen. Ich wollte seine Hand nehmen, aber das ließ er nicht zu. Wir müssen ein merkwürdiges Bild abgegeben haben, als wir so vor dem Bestattungsinstitut standen, in dem Gordon lebte und arbeitete. Dabei waren wir schon unter normalen Umständen ein merkwürdiges Paar – Gordon groß und dunkelhaarig, ich selbst klein und blond. Als ich mich umsah, bemerkte ich, dass einzelne Schneereste das Gras sprenkelten und in schmutzigen Haufen um den Parkplatz herumlagen. Gerade stiegen die schwarz gekleideten Trauergäste in ihre Autos, um zum Friedhof zu fahren. Manchmal wurde Gordon gebraucht, um den Leichenwagen zu fahren, aber heute offensichtlich nicht. Eigentlich arbeitete er meistens im Büro, bestellte Särge, heftete Belege ab und bezahlte Rechnungen. „Es tut mir leid“, sagte ich zu ihm, „aber wenn ein Buch so gut geschrieben ist wie dieses, dann kommt es mir so vor, als wäre es das richtige Leben, und ich –“ „Aber bei einer Beerdigung lesen? Das ist ein einmaliges Ereignis im Leben. Elmer Watson wird nie wieder beerdigt werden.“ „Das hoffe ich doch“, murmelte ich so leise, dass er es nicht hören konnte. „Jedenfalls bin ich mir sicher, dass es ihm nichts ausgemacht hätte. Er kam immer in die Bücherei, um Bücher auszuleihen. Er war ein sehr netter Mann.“ „Du hättest seiner Familie mehr Respekt entgegenbringen können.“ „Sie konnten mich doch nicht einmal sehen. Ich habe ganz hinten gesessen.“ Ich verstand Gordons Entrüstung nicht und wusste nicht, war29
um er eine so große Sache daraus machte. „Komm schon“, sagte ich und nahm seinen Arm. „Bring mich nach Hause.“ „Nein.“ Er schob meine Hand weg. „Warum bist du überhaupt zu der Beerdigung gekommen, wenn du ihm nicht die letzte Ehre erweisen wolltest? Und du warst eindeutig nicht ehrerbietig, Alice. Wenn du dein dämliches Buch lesen wolltest, hättest du zu Hause bleiben sollen.“ Ich hatte bis jetzt versucht, die Angelegenheit auf die leichte Schulter zu nehmen, weil ich wirklich nicht verstand, warum er so entsetzt war. Inzwischen fühlte ich mich durch seine unvernünftige Reaktion jedoch angegriffen. „Ich hatte ja nicht vor zu lesen. Aber ich hatte das Kapitel heute in der Mittagspause angefangen und musste mittendrin aufhören, weil die Pause vorbei war. Den ganzen Nachmittag wäre ich vor Neugier fast gestorben, weil ich wissen wollte, wie es weitergeht. Und als die Lobhudeleien kein Ende nehmen wollten und ich immerzu an die Charaktere in dem Buch denken musste, habe ich beschlossen, nur ganz kurz nachzusehen und … und woher sollte ich denn wissen, dass ich der Geschichte nicht würde widerstehen können? Es ist ein großartiges Buch, Gordon.“ Er schien keines der Worte, die aus meinem Mund gekommen waren, gehört zu haben. Noch immer sah er mich mit dem finsteren Blick an, der von seinen Vorvätern vervollkommnet und in den Porträts, die von ihnen im Foyer des Bestattungsunternehmens hingen, verewigt worden war. „Ich war schon bei Hunderten von Beerdigungen“, sagte er, und das war keine Übertreibung, weil er in der Wohnung über dem Beerdigungsinstitut geboren worden war. „Aber ich habe noch nie gesehen, dass jemand während der Trauerfeier ein Buch gelesen hat.“ Er war wirklich aufgebracht. Ich musste die Sache ernster nehmen. „Es tut mir leid, Gordon. Von jetzt an werde ich dem Lesen von Romanen bei Beerdigungen entsagen.“ „Du wirst … was? Was willst du sagen?“ „Ich sagte, ich werde dem Lesen entsagen. Das bedeutet, dass ich es nicht mehr tun werde.“ Ich hatte auf eine Gelegenheit gewartet, das Wort entsagen zu verwenden, seitdem ich es in einer Literaturzeitschrift entdeckt hatte. Es klang so gebildet, so melancholisch – nach wehmütigem Blick und gerunzelter Stirn. Und ich fand, dies war die perfekte Gelegenheit, es auszuprobieren. Woher hätte ich wissen sollen, dass das Wort Gordon nur noch mehr auf die Palme bringen würde? 30
„Zum Donner noch mal, Alice! Manchmal benimmst du dich, als würdest du dich für besser halten als alle anderen Menschen.“ „Moment – willst du damit sagen, dass ich dünkelhaft bin?“ „Vielleicht … wenn ich wüsste, was das bedeutet. Bedeutet es hochnäsig?“ „Also, es ist doch nicht meine Schuld, dass ich einen großen Wortschatz habe. Der kommt vom Lesen.“ „Hast du eigentlich schon mal darüber nachgedacht, dass du zu viel lesen könntest?“ „Das ist doch albern“, sagte ich lachend. „Niemand kann zu viel lesen. Genauso gut könntest du sagen, jemand atmet zu viel.“ Gordon seufzte und ließ die Schultern hängen. Dann schüttelte er den Kopf. Ich rechnete damit, dass er sagen würde: Du hast recht, reden wir nicht mehr darüber. Aber das tat er nicht. „Ich kann das nicht mehr, Alice.“ „Was kannst du nicht mehr?“ „Über blöde Dinge wie Bücher und hochgestochene Wörter streiten. Du lebst in einer anderen Welt als ich. Alles, worüber du redest, stammt aus Büchern und nicht aus dem richtigen Leben. Ich möchte ein Mädchen, das mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Und das vor allem nicht den ganzen Tag die Nase in irgendeinem Buch vergräbt.“ „Ich arbeite in einer Bücherei“, erklärte ich ihm. „Bücher sind mein Lebensinhalt, so wie Beerdigungen deiner sind. Beklage ich mich, weil du den ganzen Tag von Särgen und Leichen umgeben bist?“ Gordon grüßte mit einem Nicken einige Trauergäste, die an uns vorbei zu ihren Autos gingen. Als sie fort waren, wandte er sich wieder zu mir um und sagte: „Ich finde, wir sollten Schluss machen.“ „Was?“ Ich verspürte einen Anflug von Panik. Wir hatten uns schon häufiger gestritten, aber an diesen Punkt waren wir noch nie gekommen. „Bist du böse, weil ich Wörter benutze, die du nicht verstehst, oder weil ich mich nicht beherrschen konnte und während der langweiligen Teile der Trauerfeier ein winziges bisschen gelesen habe?“ „Beides. Wir haben nichts gemeinsam.“ „Aber … aber wir sind seit fast einem Jahr zusammen und –“ Ich biss mir auf die Lippe, bevor ich damit herausplatzen konnte, dass unsere Eltern davon ausgingen, dass wir heiraten würden. „Du willst immer nur über die Handlung in dem Buch reden, das du 31
gerade liest. Ich weiß mehr über deine Lieblingsfiguren als über dich. Und jetzt stellt sich heraus, dass du lieber etwas über eine erfundene Person liest als den letzten Ehrerweisungen an einen echten Menschen zuzuhören. Du lebst in einer Traumwelt, Alice, und nicht in dieser.“ „Das tue ich nicht!“ „Erinnerst du dich noch daran, wie du in einem Buch gelesen hast, anstatt auf den Weg zu sehen, und gegen einen Laternenpfahl gelaufen bist? Du hattest eine riesige Beule auf der Stirn. Beinahe wärst du bewusstlos geworden.“ „Das war aber nicht meine Schuld. Ich wollte das Buch nur deshalb unterwegs lesen, weil ich es an dem Tag wieder zurückgeben musste. Es gab eine lange Warteliste in der Bücherei – ich bin nämlich nicht die Einzige, die gerne liest, musst du wissen.“ „Du kannst von Glück sagen, dass du nicht vor eine Straßenbahn gelaufen bist.“ Er unterbrach sich, um einer älteren Dame den Arm zu reichen und zu ihrem Wagen zu helfen. Dann kam er wieder zu mir zurück. „Und weißt du noch, wie du die Küche deiner Mutter in Brand gesteckt hast, weil du versucht hast, gleichzeitig zu lesen und ein Hühnchen zu braten?“ „Ein Geschirrtuch. Ich habe ein Geschirrtuch angesengt.“ Ich lachte und wollte den Zwischenfall damit abtun, aber Gordon hielt meinen Blick fest und zwang mich, die Wahrheit zuzugeben. „Na gut … das Feuer hat auf die Küchengardine übergegriffen – aber das hätte jedem passieren können.“ „Ich gebe auf.“ Gordon hob resigniert die Hände und ließ sie dann fallen. „Du vergibst mir also, dass ich bei der Beerdigung gelesen habe?“, fragte ich, während ich ganz nah vor ihm stand und zu ihm aufblickte. „Ich habe nur ein Kapitel gelesen – oder vielleicht anderthalb.“ „Ich finde, wir sollten Schluss machen.“ „Gordon!“ „Es tut mir leid.“ Er wandte sich ab. Ich konnte es nicht glauben. Krampfhaft suchte ich nach etwas, das ich sagen könnte. „Also gut! Wenn das deine Meinung ist, na schön – ich bin genau derselben Meinung!“, sagte ich schließlich mit einem triumphierenden Tonfall, aber er war nur gespielt. Durch meine helle Haut verrieten meine Wangen jedes Gefühl sofort, und jetzt glühten sie vor Demütigung. Wie konnte er es wagen, mit mir Schluss zu machen? Voller Wut stapfte ich die drei Häuserblocks nach Hause, wo ich meine 32
Mutter in der Küche rumoren hören konnte. Es roch nach angedünsteten Zwiebeln, aber ich stieg dennoch die Treppe zu meinem Zimmer hinauf und schloss die Tür. Mutter bat mich seit jenem Zwischenfall, den Gordon erwähnt hatte, nicht mehr um Hilfe beim Kochen. Nur um Gordon zu ärgern setzte ich mich auf mein Bett, schlug das Buch auf und las an der Stelle weiter, an der ich bei der Trauerfeier aufgehört hatte. Während ich mich in der nächsten Stunde in dem Schicksal einer anderen Person verlor, hatte meine Wut die Gelegenheit sich abzukühlen. Am Ende rettete der Held die Heldin und die Geschichte schloss mit einem Happy End. Ich schlug das Buch mit einem zufriedenen Seufzer zu. Kurz darauf kam mein Vater nach Hause und Mutter rief uns zum Essen. Den Streit erwähnte ich meinen Eltern gegenüber nicht. Ich war mir sicher, dass Gordon in ein, zwei Tagen wieder Vernunft annehmen würde. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass meine Mutter Gordons Partei ergreifen würde. Sie war immer noch sauer auf mich wegen des Feuers in der Küche. Beinahe hätte sie einen Anfall bekommen, während sie in den ersten kritischen Augenblicken versucht hatte, die Flammen zu löschen und eine Ausbreitung des Feuers zu verhindern. Und als die Nachbarn Rauch aus unserem Fenster quellen gesehen und die Feuerwehr gerufen hatten, war Mutter das unendlich peinlich gewesen. Ihr Ruf als Köchin war beschmutzt worden. Das war meine Formulierung gewesen, nicht ihre – aber ich fand, es war ein guter Ausdruck. Besudelt hätte es auch gut beschrieben. „Du bist heute aber still“, sagte Mutter, während wir zusammen den Abwasch machten. Ich verwendete zum Abtrocknen eines der neuen Geschirrtücher, die sie hatte kaufen müssen. Bei unserem Versuch, die Flammen auszuschlagen, hatten wir gleich mehrere ruiniert. Auch deshalb war Mutter wütend gewesen: „Weißt du nicht, dass das Land in einer Wirtschaftskrise steckt, Alice? Niemand hat Geld für neues Haushaltszubehör übrig, und wir auch nicht. Dein Vater gibt jeden Cent, den wir erübrigen können, den armen Mitgliedern in seiner Gemeinde, und du verschwendest gutes Geld.“ „Gordon und ich haben uns gestritten“, erzählte ich ihr jetzt. „Deshalb bin ich so still. Er hat meine Gefühle verletzt. Er sagte, ich läse zu viel, und er hat mir vorgeworfen, ich lebte in einer Traumwelt.“ „Ach was!“ Ich sah, wie meine Mutter die Augen verdrehte, dabei sollte sie mich doch trösten, anstatt auf Gordons Seite zu sein. Was ich jetzt brauchte, war ein Verband, der liebevoll auf mein wehes Herz gelegt wurde, 33
keinen Sarkasmus. Obwohl mein Herz eigentlich noch gar nicht wehtat. Ich glaubte nicht, dass Gordon das, was er gesagt hatte, wirklich so meinte. Nachdem Mutter und ich mit dem Geschirr fertig waren, beschloss ich, nach nebenan zu gehen und meine beste Freundin Freddy Fiore zu besuchen. Eigentlich heißt sie Frederica, wie eine Prinzessin aus einer italienischen Liebesgeschichte, aber alle nennen sie Freddy. Wir kennen uns seit der ersten Klasse, und nachdem wir die Highschool hinter uns gebracht hatten, waren wir gemeinsam auf der Cook County Fachschule, um Lehrerin zu werden. Keine von uns hatte damals einen festen Freund oder Heiratsaussichten, also beschlossen wir, uns weiterzubilden. Wie sich herausstellte, war Freddy eine großartige Lehrerin. Meine Lehramtskarriere hingegen erwies sich als Katastrophe. Mir wurde schnell klar, dass ich mich mit meiner „verträumten“ Persönlichkeit und leisen Stimme überhaupt nicht für diesen Beruf eignete. Die Schüler ignorierten mich völlig. Außerdem war mir meine Größe von nur eins siebenundfünfzig ein Hindernis. Viele Jungen in der Ein-Raum-Schule, in der ich das Unterrichten übte, überragten mich um Haupteslänge und lachten nur über meine Versuche, sie zur Räson zu bringen. Meine Freundin Freddy, die beinahe so groß ist wie Gordon, war in einer Familie mit vier Brüdern aufgewachsen und hatte keine Mühe, sich Achtung zu verschaffen. Sie erhielt begeisterte Beurteilungen und eine Anstellung als Lehrerin an unserer alten Grundschule. Mir riet die Leitung der Fachschule vorsichtig, dem Lehrerdasein zu entsagen, und schlug mich für eine Stelle in unserer Stadtbücherei vor. Es war genau das Richtige für mich. Ich klopfte an Freddys Terrassentür und trat dann wie gewohnt ein. Sie war im Wohnzimmer und las ihrer Mutter, die an einer mysteriösen Muskelschwäche litt, ein Buch vor. Ihr Vater war vor einigen Jahren gestorben. Ungeduldig wartete ich, bis Freddy das Kapitel beendet hatte. Mittlerweile platzte mein Herz fast, so dringend wollte ich meinen Kummer loswerden. „Kann ich dich eine Minute sprechen?“, fragte ich, sobald Freddy das Buch zuschlug. „Klar.“ Sie stellte für ihre Mutter das Radio an und dann gingen wir in die Küche. Bisher hatte ich über die Trennung von Gordon nicht geweint, aber jetzt, wo Freddy, meine warmherzige, mitfühlende Freundin mir am Esstisch gegenübersaß, fingen die Tränen endlich an zu fließen. „Was ist denn, Allie? Was ist los?“ 34
„Gordon hat mit mir Schluss gemacht!“ „Warum? Was ist passiert?“ „Wir haben uns gestritten, und dann hat er gesagt, dass wir uns trennen sollten.“ „Das war doch nicht sein Ernst, oder? Ihr hattet doch schon öfter Meinungsverschiedenheiten und er hat es überwunden. Erinnerst du dich noch an damals, als du ihn mit dem falschen Namen angeredet hast? Du hast den des Helden aus deinem aktuellen Buch verwendet, nicht wahr?“ „Das war ein echtes Versehen. Es hätte jedem passieren können.“ Freddy zog eine Augenbraue hoch. „Ich fand, dass Gordon außergewöhnlich nachsichtig war.“ „Das stimmt schon … Aber heute war er nicht sehr nachsichtig. Er hat die Sache mit dem Feuer erwähnt. Und die Gelegenheit, bei der ich gegen die Laterne gelaufen bin und mir beinahe eine Gehirnerschütterung zugezogen hätte.“ Ich zog das Taschentuch aus meinem Ärmel und tupfte mir die Augen. „Er sollte mir all diese Sachen nicht vorwerfen. Sollen wir nicht vergeben und vergessen?“ „Soll ich zum Bestattungsinstitut rübergehen und mit ihm reden?“, fragte Freddy. „Würdest du das tun?“ „Natürlich. Wann wäre ein guter Zeitpunkt?“ „Heute Abend. Ich bleibe bei deiner Mutter, wenn du willst. Gordon hat keine Totenwache und eigentlich wollten wir einen Film sehen, aber dann … dann hat er mit mir Schluss gemacht!“ Ich endete mit einem Schluchzer. Freddy drückte meine Hand, stand auf und zog ihren Mantel an. „Ich tue, was ich kann.“ Freddy war beinahe drei Stunden fort. Als sie schließlich nach Hause kam, war ihre Mutter im Schaukelstuhl eingeschlafen, aber ich war mir unsicher gewesen, ob ich ihr ins Bett helfen sollte oder nicht. Ich wusste nie, wie man kranken Menschen half. „Warum hat das so lange gedauert?“, fragte ich, als Freddy zur Tür hereinkam. „Was hat Gordon gesagt?“ „Zuerst wollte Gordon überhaupt nicht darüber reden. Ich glaube, er ist ziemlich wütend. Als ich beim Beerdigungsinstitut ankam, wollte er gerade allein ins Kino gehen, also habe ich ihn gefragt, ob ich mitkommen 35
dürfe. Ich dachte, wenn ich ein bisschen Zeit mit ihm verbringe, dann redet er vielleicht anschließend über dich.“ „Gute Idee. Du bist also mit ihm ins Kino gegangen?“ „Zuerst musste ich ihm versprechen, dass ich dort keinen Aufstand machen würde, so wie du es letzte Woche getan hast.“ „Siehst du? Er macht aus jeder Mücke einen Elefanten. Ich habe keinen Aufstand gemacht und ich weiß bis heute nicht, warum die Platzanweiser gesagt haben, wir müssten gehen.“ „Gordon sagte, ihr hättet gehen müssen, weil du mitten im Film angefangen habest, dich lautstark darüber zu beschweren, dass der Film ganz anders sei als das Buch, und als alle – auch Gordon – versuchten, dich zum Schweigen zu bringen, seien die Platzanweiser eingeschritten. Gordon ist immer noch sauer, weil er das Ende des Films nicht sehen konnte.“ „Er brauchte das Ende nicht zu sehen. Ich habe ihm schließlich erzählt, wie das Buch ausgeht, und das war viel besser als der Film. In dem Film haben sie alles geändert, sogar die Beweggründe des Helden. Kannst du dir das vorstellen? Dieser Film war so absurd, dass ich mich einfach aufregen musste.“ „Wie auch immer – Gordon regt sich auch noch darüber auf. Aber er sagte, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht habe, sei die Tatsache, dass du bei der Trauerfeier für Elmer Watson ein Buch gelesen hast.“ „Der arme Mr. Watson. Er hat die Zeitschrift National Geographic geliebt. Ich weiß, er hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, dass ich während seiner Beerdigung lese. Die Trauerreden wollten überhaupt kein Ende nehmen.“ Freddy streckte die Hände über den Tisch hinweg und ergriff meine beiden. „Du musst wissen, dass ich auf deiner Seite bin, Allie. Wir sind schon seit einer Ewigkeit beste Freundinnen, das weißt du. Aber so wie Gordon es mir auf dem Heimweg erklärt hat … er ist sich einfach nicht sicher, ob das mit euch funktionieren kann. Er und seine Eltern sind Bestattungsunternehmer. Und das bedeutet, dass du auch in dieses Unternehmen einsteigen würdest, wenn er dir einen Heiratsantrag macht.“ „Wir sind ja noch nicht mal verlobt.“ „Ich weiß. Aber er kennt all die ungeschriebenen Gesetze in der Bestattungsbranche und er sagt, du hättest eine Grenze überschritten. Würdest 36
du dich nicht auch aufregen, wenn jemand in die Bücherei käme und etwas Respektloses täte?“ „Du meinst, wenn jemand ein Eselsohr in die Seite macht, anstatt ein Lesezeichen zu benutzen?“ „Ich glaube, es wäre nicht ganz dasselbe … jedenfalls nicht in Gordons Augen.“ „Also gut. Du kannst ihm sagen, dass ich von jetzt an verspreche, nie mehr ein Buch bei einer Beerdigung zu lesen, solange ich lebe. Meinst du, er ist dann zufrieden?“ „Ich weiß nicht … Er sagte, dass du nicht besonders viel Mitgefühl für Menschen in Trauer zeigtest.“ „Nur weil ich bei einer Beerdigung ein armseliges Kapitelchen gelesen habe?“ Freddy ließ meine Hände los und rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. „Es war nicht nur das. Er hat mir von deinem Buchplan erzählt. Dass du, wenn die Angehörigen der Verstorbenen kommen, um die Beerdigung zu besprechen, fragen wolltest, ob sie die Bücher ihrer Lieben deinem Kentucky-Projekt spenden könnten.“ „Ist das denn so unvernünftig? Ich bin mir sicher, dass die meisten Leute das gern tun würden.“ Ich hatte im Life-Magazin einen Artikel gelesen, in dem stand, dass die Menschen im Hinterland von Kentucky Bücher und Zeitschriften brauchten. Nachdem ich den Artikel der Leiterin der Bücherei gezeigt hatte, war sie damit einverstanden gewesen, dass ich eine Sammelkiste an der Ausleihe aufstellte, damit Besucher ihre gebrauchten Bücher spenden konnten. „Im Ernst, Freddy. Warum kann man nicht auch in einem Bestattungsinstitut Bücher sammeln? Findest du die Idee so schlecht?“ „Ich muss dir die Wahrheit sagen, Allie – es ist eine schreckliche Idee.“ „Warum?“ „Als mein Vater starb, ist es mir schwer genug gefallen, mit meiner Trauer so weit fertig zu werden, dass ich eine schöne Beerdigung organisieren konnte. Es wäre viel zu früh gewesen, wenn mich jemand dazu gezwungen hätte, darüber nachzudenken, was aus seinen Büchern werden soll.“ „Aber die armen Leute in Kentucky haben nichts zu lesen. Kannst du dir ein so furchtbares Leben vorstellen? Wer braucht schon Bücher, wenn er gestorben ist? Warum sie nicht weggeben, damit sie lebendigen Menschen helfen können?“ 37
„Ich weiß, ich weiß. Aber es ist einfach etwas … unsensibel … jemanden danach zu fragen, wenn er gerade eine Trauerfeier plant.“ „Mr. Watson hat Landkarten geliebt“, überlegte ich laut. „Er hatte einen wunderschönen Atlas. Wenn ich gewusst hätte, dass er bald sterben würde, hätte ich ihn vorher bitten können, in seinem Testament zu verfügen, dass seine Bücher gespendet werden.“ Freddy räusperte sich. „Aber zurück zu Gordon. Es tut mir wirklich leid, aber ich glaube nicht, dass ich ihn umstimmen konnte. Mir kam es so vor, als hätte er all diese Dinge lange in sich hineingefressen.“ „Warte mal. Weiß er denn nicht, dass es falsch ist, nachtragend zu sein? Hast du ihm das gesagt?“ „Er ist nicht nachtragend, Allie. Er sagte, als er anfing, das alles zusammen zu betrachten, sei ihm klar geworden, dass ihr beide vielleicht nicht sehr gut zueinander passt.“ Wieder kamen mir die Tränen. „Und das meint er ernst? Er macht wirklich Schluss mit mir? Für immer?“ Freddy nickte. „Kannst du nicht irgendetwas tun, um es wieder hinzubiegen?“, flehte ich. „Ich kann es noch einmal versuchen – wenn du dir sicher bist, dass du das wirklich willst.“ „Was meinst du damit? Warum sollte ich es nicht wollen? Gordon und ich sind seit beinahe einem Jahr zusammen.“ „Gordon hat ein paar berechtigte Zweifel, über die du nachdenken solltest. Bist du bereit, weniger zu lesen, damit ihr zusammen bleiben könnt? Und ich weiß, dass du dich auch über seine Fehler beschwert hast, zum Beispiel darüber, dass er nie etwas liest, nicht einmal die Zeitung. All diese Dinge müsstet ihr klären. Du würdest Kompromisse eingehen müssen.“ „Warum?“ „Ich habe gehört, dass das in der Ehe nun einmal so ist – dass man sich für den Menschen, den man liebt, verändert. Stell dir vor, du müsstest wählen, nie mehr zu lesen oder Gordon zu verlieren. Wofür würdest du dich entscheiden?“ „Ich könnte nie das Lesen aufgeben!“ Allein der Gedanke entsetzte mich. „Ich liebe Bücher, Freddy! Vielleicht könnte ich mich darauf einlassen, keine Bücher mit ins Beerdigungsinstitut zu bringen. Aber wir sprechen hier von zwei völlig verschiedenen Formen der Liebe – meiner Liebe zu Büchern und meiner Liebe zu Gordon. Liebst du deine Arbeit 38
nicht auch? Könntest du zwischen dem Unterrichten und der Ehe wählen?“ „Wenn ich einem Mann begegnen würde, den ich liebe, dann würde ich das Unterrichten sofort für ihn aufgeben“, sagte Freddy und stand auf. „Hör zu, Allie. Geh nach Hause und schlaf über die Sache. Es ist schon spät. Vielleicht sieht Gordon das alles ja morgen auch schon ganz anders.“ „Gehst du noch mal zu ihm und sprichst mit ihm? Ich bleibe morgen Abend auch wieder bei deiner Mutter.“ „Natürlich.“ Ich ging nach Hause und machte mich zum Schlafen fertig. Noch immer konnte ich mir nicht vorstellen, dass es zwischen Gordon und mir aus sein sollte. Alle sagten, er sei eine gute Partie. Er war nicht besonders attraktiv, aber er hatte eine sehr gute Arbeit, die nicht unter der Wirtschaftskrise litt. Die Menschen starben weiter, egal, ob die Börse einbrach oder zu Höhenflügen ansetzte. Und Gordon und ich waren schon so lange zusammen, dass die Leute in Blue Island uns als Paar betrachteten. Es wäre mir furchtbar peinlich, wenn die Leute mich anstarren oder mich fragen würden: Wo ist Gordon? Warum ist Gordon nicht bei dir? Was sollte ich dann sagen? Und in der Kirche erst! Alle in der Gemeinde meines Vaters wussten, dass ich mit Gordon ausging. Er saß jeden Sonntag neben mir. Wie sollte ich jemals wieder erhobenen Hauptes in den Gottesdienst gehen? An diesem Abend hatte ich Mühe einzuschlafen. Und zu allem Übel war ich am Ende meines Buches angelangt, sodass ich nichts zu lesen hatte. (…) *** Am Sonntag saß ich zum ersten Mal seit fast einem Jahr in der Kirche neben meiner Mutter und nicht neben Gordon. Inzwischen wussten sicherlich alle in der Stadt von unserer Trennung. Um mich herum konnte ich sehen, wie die Gerüchteküche anfing zu brodeln, wie die Leute die Köpfe zusammensteckten und mit dem Kinn in meine Richtung zeigten. Es war unerträglich. In dem Augenblick, in dem mein Vater den Segen gesprochen hatte, floh ich in die Sakristei, weil meine Wangen verrieten, wie sehr ich mich schämte, und lief zur Hintertür hinaus. Meine Eltern gaben mir eine Woche, um mir selbst leidzutun. Dann hatten sie genug. Am Montagmorgen kam Mutter um sieben Uhr in mein 39
Zimmer gerauscht und zog die Jalousien hoch, sodass der Raum von Licht durchflutet wurde. „Es ist Zeit, dass du aufhörst zu jammern, Alice. Es gibt jede Menge zu tun. Dein Vater und ich haben eine Liste erstellt.“ Das war kein gutes Zeichen. Meine Eltern waren erfahrene Listenschreiber, die meinten, jedes Problem im Leben könne mit der richtigen Liste gelöst werden. Egal, wie gewaltig die Herausforderung war, sie glaubten, dass das Unmögliche zu schaffen sei, indem man es in einzelne Punkte zerlegte und diese dann einen nach dem anderen abhakte. Wenn meine Eltern Präsident Roosevelt eine ihrer Listen erstellt hätten, wäre die Wirtschaftskrise längst beendet gewesen. „Zieh deinen Morgenmantel an, Alice, und komm zum Frühstück.“ Ich gehorchte. Was blieb mir anderes übrig? „Deine Mutter hat mir erzählt, dass du nicht mehr mit Gordon zusammen bist“, sagte mein Vater, als ich mich auf meinen Stuhl am Küchentisch fallen ließ. „Das tut mir leid. Soll ich mit –“ „Nein!“ Mein Vater und Gordons Vater waren befreundet, weil sie in der Branche Tod und Trauer eng zusammenarbeiteten. Ich hatte den Verdacht, dass es von Anfang an ihre Idee gewesen war, Gordon und mich zusammenzubringen. „Sprich mit niemandem über uns! Bitte!“ Er seufzte und warf mir seinen milden, seelsorgerlichen Blick zu. „Wenn du das wirklich willst, Alice. Aber –“ „Bitte, Papa. Ich werde schon allein damit fertig.“ Er kaute eine Weile an seinem Toast und schüttelte traurig den Kopf, bevor er sagte: „Deine Mutter und ich haben eine Liste gemacht.“ Das kam einer Kriegserklärung gleich. Er würde versuchen, mich für eine seiner guten Taten zu rekrutieren – die hatten auf seinen Listen immer oberste Priorität. Ich musste diesen Angriff unbedingt abwehren. „Ich kann meine eigene Liste machen. Bis heute Mittag hast du sie auf dem Schreibtisch. Versprochen.“ Er schien mich gar nicht gehört zu haben. „Ich kenne viele benachteiligte Menschen in unserer Stadt, denen du helfen könntest.“ „Ich arbeite nicht gerne mit benachteiligten Menschen. Sie sind mir unangenehm.“ „Alice Grace!“, sagte Mutter entsetzt. „Wie kannst du nur so etwas sagen!“ „Es tut mir leid, aber wenn sie mich mit ihren großen, traurigen Augen 40
ansehen, fühlt sich das an, als wäre es meine Schuld, dass ich alles habe und sie nichts. Ich weiß dann nicht, was ich tun oder sagen soll.“ Daran, wie mein Vater mit den Fingern auf die Tischplatte trommelte, konnte ich sehen, dass er allmählich die Geduld verlor. „Wie lange willst du denn noch im Selbstmitleid schwelgen, Alice?“ Ich leerte mein Glas Orangensaft in einem Zug und stand auf. „Ich bin mit dem Schwelgen fertig. Mir geht es wieder gut. Ehrlich.“ Das Trommeln hörte auf und mir wurde klar, dass er gleich eine Predigt darüber halten würde, dass Selbstmitleid eine der sieben Todsünden sei. Wenn ich all die Sünden zusammengezählt hätte, die mein Vater schon als eine der sieben Todsünden bezeichnet hatte, wäre ich vermutlich eher auf siebenhundert gekommen. Ich war mir ziemlich sicher, dass Selbstmitleid nicht auf der ursprünglichen Liste stand, aber wenn ich ihn zur Rede gestellt hätte, wäre er mit irgendetwas gekommen wie: Selbstmitleid ist die jüngere Schwester der Trägheit, die von denselben bitteren Speisen ist und in demselben schmutzigen Bett schläft … oder irgendetwas Ähnlichem. „Hier ist unsere Liste“, sagte Vater und reichte sie mir, bevor ich fliehen konnte. „Vielleicht willst du sie ja als Grundlage für deine eigene Liste nehmen. Und da deine Mutter und ich heute beide Erledigungen machen müssen, sind wir darin übereingekommen, dass du einen von uns begleiten solltest. Jetzt ist Schluss damit, den ganzen Tag faul herumzuliegen.“ Ich nahm die Liste entgegen, ohne sie mir anzusehen. „Wohin gehst du?“, fragte ich ihn. Mir graute jetzt schon vor seiner Antwort. „Ich bringe Lebensmittel- und Kleiderspenden in die Nähe der Chicagoer West Side. In der Gegend, die ‚Floptown‘ genannt wird, sind viele Leute gezwungen, auf der Straße zu leben.“ Ich wandte mich schnell an meine Mutter. „Und wohin gehst du?“ „Ich habe deiner Tante Lydia versprochen, dass ich sie besuche, bevor sie abreist.“ „Wohin fährt sie denn diesmal? Patagonien? Bora Bora?“ Mutters jüngere Schwester war so seltsam wie eine Katze mit Federn. Ein Besuch bei Tante Lydia war wie eine Stunde in einem Wirbelsturm, und normalerweise vermied ich diese Begegnungen um jeden Preis. Aber heute schien das gegenüber einem Ort namens Floptown die bessere Wahl zu sein. Wenigstens könnte ich dorthin ein Buch mitnehmen. „Ich gehe mit dir, Mama.“ 41
Cathy Marie Hake Ein Schuss Liebe kann nicht schaden ISBN 978-3-86827-304-5 ca. 304 Seiten, Paperback erscheint im März 2012
Hope Ladley ist immer auf dem Sprung. Wie eine Pusteblume lässt sie sich von Farm zu Farm treiben und hilft bei der Versorgung der Erntekräfte, wo immer ihre Kochkünste gefragt sind. Der Witwer Jakob Stauffer kann mit Hopes unkonventioneller, unbedarfter Art wenig anfangen, doch seine kleine Tochter und seine Schwester sind völlig vernarrt in die neue Aushilfe. Und irgendwann kann auch Jakob nicht mehr bestreiten, dass Hopes sonniges Gemüt und ihre Angewohnheit, allem, was sie tut, einen Schuss Liebe hinzuzufügen, auf seiner Farm wirklich einen Unterschied machen. Doch lässt sich eine Frau wie Hope auf Dauer festhalten? 42
Texas 1891 Die Felder waren reif für die Ernte, doch das Haus sah aus, als würde es gleich zusammenbrechen. Im Garten kämpfte das Unkraut gegen das Gemüse und der Rosenstock vor dem Haus würde die nächste Woche nicht überleben, wenn er nicht bald gegossen würde. Hope Ladley dachte, dass dies genau der richtige Ort für sie sei. Gott hatte sie immer dahin geführt, wo man ihre Hilfe am nötigsten brauchte, und dieser Hof schrie förmlich nach ihr. „Brrr.“ Sie machte sich erst gar nicht die Mühe, die Zügel anzuziehen, denn ihr Maultier war immer froh, wenn es anhalten durfte. Hope hüpfte von ihrem zweirädrigen Karren, klopfte Hattie liebevoll auf den Hals und rief dann laut: „Ist jemand zu Hause?“ Sie griff nach einem ansehnlichen Stapel Briefe und ging damit auf das Haus zu. Eine hochschwangere Frau trat auf die Veranda. Mit der einen Hand schloss sie vorsichtig die Fliegengittertür hinter sich, mit der anderen rieb sie sich den Rücken. „Sei ein braves Mädchen“, sagte sie zu dem Kind im Haus. „Ich muss kurz mit jemandem spechen.“ Hope schob die Briefe in ihre Schürzentasche und murmelte: „Herr, ich tue ja alles, was du sagst, aber bitte denk daran, dass ich bisher nur bei der Geburt eines Vierbeiners geholfen habe.“ Die Frau schlurfte über die Veranda und legte sich eine Hand schützend über die Augen. Die Sonne schien ihr direkt ins Gesicht. „Hallo.“ „Hallo. Ich bin Hope Ladley.“ Hope ging auf sie zu und erinnerte sich zu spät daran, dass sie ihre Schuhe vor ein paar Stunden ausgezogen hatte. Nun ja. Daran konnte sie jetzt nichts mehr ändern. „Ma’am, bleiben Sie ruhig im Schatten. Ich komme zu Ihnen rüber. Hier draußen ist es fast so heiß wie in der Hölle.“ „Es ist wirklich sehr warm.“ Die Frau schaute an Hope vorbei. „Sind Sie ganz allein gekommen?“ „Das könnte man so sagen, aber Gott ist immer bei mir. Und Hattie da drüben – mein Maulesel – nun, mit ihr fahre ich durch die Gegend.“ Die Frau nickte langsam. Bisher hatte sie ihren Namen noch nicht gesagt, war aber ängstlich vor Hope zurückgewichen. Mit der Zunge strich sie sich immer wieder nervös über die Lippen, als wären sie vollkommen ausgetrocknet. Dann warf sie einen Blick auf die große, schwarze Pumpe im Garten. „Sind Sie gekommen, um Wasser zu holen?“ 43
„Nein, aber vielen Dank für das Angebot.“ „Annie?“ Ein großer, breitschultriger Mann in blauen Jeans bog um die Ecke. Er riss sich den Strohhut vom Kopf und warf seiner Frau einen fragenden Blick zu. Die tiefen Furchen um seine zusammengepressten Lippen und seine gerunzelte Stirn zeigten Hope, dass dieser Mann mehr Sorgen und Nöte auf dem Herzen hatte als viele andere. Die Frau auf der Veranda sagte: „Wir haben Besuch. Ihr Name ist –“ „Hope Ladley“, ergänzte Hope, als sie auf den Farmer zuging und ihm die Hand schüttelte. Die Hand war groß, sonnengebräunt und voller Schwielen – die Hand eines Menschen, der für alles arbeiten musste, was er besaß. Für seine Farm hatte er geschwitzt und geschuftet. Unter seinen Fingernägeln war Erde – ein sicheres Zeichen dafür, dass er hart arbeitete. „Jakob Stauffer.“ Seine Stimme war so eisig wie sein Blick. Herr, ich vertraue dir. Wenn du mich hier nicht haben willst, dann wirst du mich auch wieder wegschicken. Jetzt watschelte die Frau die Treppe herunter und stellte sich neben ihren Mann. „Ich bin Annie Erickson.“ Sie ist nicht seine Frau. Hope war mittlerweile ziemlich verwirrt. Herr, ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Vielleicht ist das doch nicht der Ort, wo du mich haben willst. „Das heißt, Sie haben schon eine Haushälterin.“ Die Frau versuchte zu lächeln, scheiterte aber kläglich. „Jakob ist mein Bruder.“ „Aber Sie haben vorhin mit einem Kind im Haus gesprochen. Wie viele Kinder haben Sie denn?“ „Das hier –“ Mrs. Erickson schluckte. „Das hier ist mein erstes.“ „Dann werden wir beten, dass alles ganz leicht und glatt geht und dass das Baby gesund und kräftig ist.“ Hope nickte und wandte sich dann an den Farmer. Jetzt ist er dran, mir von seiner Familie zu erzählen. Eisregen wäre warm gewesen im Vergleich zu seinem frostigen Blick. „Was wollen Sie, Mrs. Ladley?“ „Miss Ladley! Ich gehe überall hin, wo Gott mich hinschickt.“ Sie schwenkte ihren Arm über die reifen Felder. „Bald fängt die Ernte an. Ich will ja nicht angeben, aber ich bin eine ziemlich gute Köchin. Mir scheint, dass Sie meine Hilfe gut gebrauchen können, wenn erst mal die ganzen Erntehelfer da sind, die Sie demnächst benötigen.“ „Wir hatten gerade beschlossen, zwei der Töchter von Richardson anzustellen.“ Mrs. Erickson klang nicht wirklich überzeugend. 44
Mr. Stauffer murmelte etwas von dem geringeren Übel. „Wissen Sie was? Sie kennen mich ja noch gar nicht. Sie sollten mich also auch nicht einfach so anstellen, ohne sicher zu sein, dass ich auch wirklich kochen kann. Sagen Sie mir doch nur, wie viele Personen Sie zum Abendessen sind, worauf Sie Appetit haben und wann das Essen fertig sein soll.“ Der Farmer fuhr sich mit der Hand durch seine erdbraunen Haare, doch man konnte immer noch den Abdruck sehen, den sein Hut hinterlassen hatte. Sein grimmiger Gesichtsausdruck veränderte sich nicht im geringsten, als er mit dem Kinn auf seine Schwester deutete. Er überlässt ihr die Entscheidung, also ist er wohl Witwer. Hope zog den Stapel Briefe aus ihrer Schürzentasche und gab sie Mrs. Erickson. „Empfehlungsschreiben von anderen Farmern. Manche Leute mögen so was, bevor sie entscheiden, ob sie mich behalten wollen.“ Unsicher schaute Mrs. Erickson auf den Stapel Briefe in ihrer Hand. „Ich denke, wir könnten es ja versuchen, Jakob.“ „Schön. Ich schaffe meinen Esel und Karren nur schnell aus dem Weg. Mr. Stauffer, haben Sie auf was Bestimmtes Hunger oder gibt es etwas, das ganz dringend erledigt werden muss?“ Er schüttelte den Kopf und ging auf die Veranda. An der Tür blieb er stehen und schaute auf seine dreckigen Stiefel. „Emmy-Lou“, rief er, bevor er die Tür öffnete und sich hinhockte. Ein kleines Mädchen warf sich in seine Arme. „Papa! Darf ich wieder mit dir zu den kleinen Ferkeln?“ „Nein, jetzt nicht.“ Mit seinen starken Armen zog er die Kleine an sich. Hopes Herz machte kleinen Sprung. Ein Mann, der seine eigenen Sorgen für kurze Zeit vergessen konnte, um sich mit seinem Kind zu beschäftigen – so einen Mann musste man bewundern. Er gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. „Milky hat sich heute versteckt und ihre Kleinen bekommen.“ „Wirklich?“ Emmy-Lou entzog sich seinen Armen. „Ich will sie sehen! Wie viele sind es?“ „Du bist jetzt ein braves Mädchen, dann zeige ich dir die Kleinen nach dem Abendessen.“ „Wie viele sind es, Papa?“ Mr. Stauffer stellte sich wieder hin. „Das ist noch ein Geheimnis. Aber später kommst du mit und kannst sie selbst zählen.“ 45
„Es ist immer gut, wenn man sich auf etwas freuen kann.“ Hope lächelte die Kleine an. Sie hatte die blauen Augen ihres Vaters, aber statt eisig schimmerten ihre fröhlich und unschuldig. Hope blinzelte ihr zu. „Ist Milky ein Hund oder eine Katze?“ „Eine Katze.“ Emmy-Lou zupfte ihren Vater am Hosenbein. „Papa, kann diese Frau da Kekse backen?“ „Aber sicher. Gibt es welche, die du besonders gern magst?“ Das Mädchen nickte, und dabei hüpften ihre Locken hoch und runter. „Ganz große!“ Ein Lächeln huschte über Mr. Stauffers Gesicht, verschwand aber sofort wieder. „Miss Ladley, binden Sie Ihren Maulesel an den Baum dort drüben. Bei uns gibt es leider nicht viele Schattenplätze.“ Hope stapfte zu Hattie zurück. Mr. Stauffer war vielleicht etwas ruppig, aber er mochte Kinder und Tiere. Und auch seine Schwester. Wenn so viele Dinge für ihn sprachen, dann war er wohl ein guter Mensch. Dann würde er sich sicher darüber freuen, wenn sie dabei helfen würde, dass im Haus alles glatt lief. Als Hope mit ihrem Maultier an der Veranda vorbeischlenderte, hörte sie Emmy-Lou kichern. „Papa, warum hat der Esel einen Hut auf?“ „Sie heißt Hattie und mit dem Hut hat sie ihren Schatten immer dabei, egal, wo sie hingeht“, rief Hope ihr zu. Nachdem sie ihren Maulesel ausgespannt und angebunden hatte, ging Hope mit ihren Strümpfen, Schuhen und einem Handtuch zur Wasserpumpe. Erst wusch sie sich die Hände und das Gesicht, dann machte sie das halbe Handtuch nass und kam zur Veranda zurück. Mr. Stauffer war wieder in den Stall gegangen, deshalb setzte sich Hope einfach auf die oberste Treppenstufe, wischte sich die Füße sauber und zog sich dann ihre Strümpfe und Schuhe an. „Backst du jetzt Kekse für uns?“, fragte Emmy-Lou, die ihr hüpfend zuschaute. „Kann ich noch nicht sagen. Aber keine Angst. Ich verspreche dir, dass ich dir auf jeden Fall welche backe.“ Mrs. Erickson hatte die ganze Zeit abwartend in der Tür gestanden. „Emmy-Lou, es ist Zeit für deinen Mittagsschlaf. Geh zu Bett.“ Die letzten Worte sagte sie auf Deutsch. Hope übersetzte sie in Gedanken. Als Emmy-Lou einen Schmollmund 46
zog, stupste Hope das Mädchen vorsichtig an. „Los, Emmy-Lou.“ Sie suchte nach den passenden deutschen Wörtern. „Schlaf gut.“ „Können Sie Deutsch?“ Mrs. Erickson schaute sie überrascht an. „Nur ein bisschen.“ Hope hielt die Fliegengittertür auf. „Gerade so viel, dass es für die Küche reicht. Außerdem hört sich ein knurrender Magen in jeder Sprache gleich an.“ Im Haus fasste Mrs. Erickson Emmy-Lous Hand und sah Hope etwas unsicher an. Hope atmete tief ein. „Mmm-mm. Sie backen Brot. Wenn Sie mir sagen, wie lang es noch im Ofen sein muss, dann können Sie sich auch ein bisschen hinlegen.“ Mrs. Erickson schüttelte den Kopf. „Ich muss mich nicht hinlegen. Nehmen Sie sich eine Tasse Kaffee.“ Sie drehte sich um und fügte dann hinzu: „Ich bin gleich wieder da.“ Während Mrs. Erickson ihre Nichte ins Bett brachte, machte Hope sich auf den Weg in die Küche. Viele Frauen reagierten empfindlich, wenn es um ihren Haushalt ging, und Hope hatte gelernt, diese Tatsache zu respektieren. Wenn man die Anweisungen am ersten Tag genau befolgte, führte das normalerweise zu einem guten Verhältnis für den Rest der Zeit. Doch hier war alles anders als sonst. Mr. Stauffer verhielt sich richtig unfreundlich und Mrs. Erickson war eher abweisend. Wenn Gott mich hier wirklich haben will, reicht es, wenn ich ein gutes Essen koche und ihnen etwas Zeit gebe. Dann wird schon alles gut. (...) *** Hope stellte gerade den letzten Teller in den Küchenschrank, als sie die drei aus der Scheune zurückkommen hörte. Sie war froh, dass sie den Abwasch vor Mrs. Ericksons Rückkehr geschafft hatte. Die Frau sah aus wie ein ausgewrungener Lappen. Während des Tages war Hope aufgefallen, wie schnell sie erschöpft war. Mr. Stauffers Gesicht zeigte Entschlossenheit, als wüsste er jetzt, was er tun wollte – nur Hope wusste nicht, ob er sie bitten würde zu bleiben oder zu gehen. Doch selbst wenn er sie wieder wegschicken sollte, dann hätte sie der armen Frau wenigstens einen Tag lang geholfen. Die Tür ging auf und Mrs. Erickson schaute sie erstaunt an. „Sie haben ja schon alles abgewaschen!“ 47
„Es war ja nicht viel. Schließlich haben wir vorhin beim Kochen schon die Schüsseln abgewaschen. So, wie geht es denn nun den Kätzchen?“ „Es sind fünf!“ Emmy-Lou klatschte begeistert in die Hände. „Milky hat sich mit ihnen versteckt.“ „Und du musst sie auch in Ruhe lassen.“ Mr. Stauffer legte seine Hand unter ihr Kinn und schaute ihr in die leuchtenden Augen. „Frischgebackene Mütter mögen es nicht, wenn ständig jemand an ihre Babys will.“ „Und wenn die Kätzchen größer sind, kann ich sie dann behalten?“ Mr. Stauffer räusperte sich. „Wir können sie nicht alle behalten. Eins. Du darfst eins behalten.“ „Darf ich mir aussuchen, welches?“ Hope schaute aus dem Fenster. Sie hatte die paar Wäschestücke auf der Leine ganz vergessen. „Ich hole die Wäsche jetzt besser rein. Sie müsste längst trocken sein.“ Emmy-Lou sagte sofort: „Ich komme mit.“ Doch Mr. Stauffer legte ihr die Hand auf die Schulter. „Nein, du bleibst hier.“ Ich denke, das ist meine Antwort. Wenn er wollte, dass ich bleibe, hätte er sicher nichts dagegen gehabt, wenn die Kleine mitgekommen wäre. Nun, Herr, dann zeig mir, wo ich stattdessen hingehen soll. Hope hing das Geschirrhandtuch zum Trocknen an einen Haken und ging zur Hintertür. Sie hatte ihren eigenen Quilt zum Lüften mit aufgehängt. Den würde sie zuerst falten und in ihren Karren legen. Danach würde sie die anderen Sachen abhängen, den Wäschekorb hineintragen und allen auf Wiedersehen sagen. Sie nahm die eine Seite des Quilts und faltete ihn auf der Leine aufeinander. Danach wiederholte sie den Vorgang und zog schließlich das gesamte warme, dicke Stück von der Leine. Noch einen Ruck, und – „Miss Ladley.“ „Ja?“ Sie zog den Quilt herunter. „Ihre Briefe ...“ „Oh, einen Moment.“ Sie ging zu ihrem Karren und verstaute den Quilt. Mr. Stauffer folgte ihr mit gerunzelter Stirn. Sie nahm ihm die Briefe aus der Hand und steckte sie unter die Decke. „Mr. Stauffer, Sie müssen gar nichts sagen. Ich hab Sie schon verstanden.“ Ihm direkt in die Augen zu schauen wäre unhöflich gewesen, so als würde sie seine Entscheidung hinterfragen. Deshalb richtete sie ihren Blick auf sei48
nen obersten Hemdknopf. „Hören Sie, Ihre Schwester ist wirklich schrecklich müde und erschöpft. Die Nachbarn, von denen Sie vorhin gesprochen haben, nun, ich denke, Sie sollten sie bald holen.“ Ein komisches Geräusch entwich seinen Lippen und zwang sie dazu, ihn anzusehen. Die Falten auf seiner Stirn waren tiefer geworden. „Mrs. Erickson – nun, sie hängt nur noch an einem seidenen Faden.“ „Faden ...“ Er schaute sie verständnislos an. „Das habe ich mir schon gedacht. Sie sind ja auch den ganzen Tag draußen und machen dort Ihre Arbeit, wahrscheinlich sehen Sie gar nicht, wie schwer es Mrs. Erickson fällt, die Hausarbeit zu schaffen. Schon nach der kleinsten Anstrengung wird sie weiß wie ein Leinentuch.“ „Meinen Sie nicht eher weiß wie ein Leichentuch?“ „Nein. Frisch gewaschene Leinentücher sind blütenweiß. Sie waschen wahrscheinlich einfach zu selten, deshalb sehen Sie die Tücher nicht allzu oft. Ich kann es ja auch anders sagen. Sie wird blass wie der Mond.“ „Ich habe die Tücher schon oft auf der Leine gesehen“, murmelte er. „Und es heißt ‚bleich wie der Tod‘.“ „Warum sollte ich in einem Satz von Ihrer Schwester und vom Tod reden? Außerdem weiß ich gar nicht, ob der Tod blass ist. Ich habe ihn noch nie gesehen. Den Mond dagegen habe ich schon oft ziemlich blass am Himmel gesehen.“ „Es ist doch nur ein Sprichwort!“ „Nun, wenn es nur ein Sprichwort ist, warum regen Sie sich dann so darüber auf?“ Hope atmete tief durch. „Es tut mir leid. Sie haben sicher andere Sorgen und bestimmt Besseres zu tun, als mit mir um den heißen Brei herumzureden. Ich gehe nur noch schnell in die Küche, hole meinen Hut und verabschiede mich von Ihrer Schwester und der Kleinen.“ Seine Kiefermuskeln verkrampften sich und er starrte sie an. „Sie bleiben doch nicht?“ „Hat man sich erst mal entschieden, bleibt man auch dabei. Der Mann im Haus fällt die Entscheidungen. Wenn Sie glauben, ich würde hinter Ihrem Rücken versuchen, Mrs. Erickson zu beeinflussen, dann liegen Sie falsch. Aber ich kann gerne die letzten Wäschestücke von der Leine nehmen und Sie holen meinen Hut. Ist Ihnen das lieber?“ Mr. Stauffer verschränkte die Arme vor der Brust. „Wollen Sie jetzt bleiben oder nicht?“ 49
Hope lehnte sich gegen ihren Karren und schüttelte den Kopf. „Ich will nur dahin gehen, wo Gott mich hinschickt und die Leute mich brauchen.“ „Sie haben gerade gesagt, dass Annie es nicht allein schafft. Glauben Sie, dass jemand anders Sie mehr braucht? Oder geht es um Geld? Ich kann Ihnen nicht –“ Hopes rechte Hand schoss in die Luft. „Einen Moment mal. Sie und ich – ich habe das komische Gefühl, dass wir völlig aneinander vorbeireden. Soweit ich das sehe, könnten Sie hier alle meine Hilfe brauchen –“ „Ganz genau!“ „Warum haben Sie das dann nicht gesagt? Ich habe gedacht, Sie wollten mich loswerden.“ Er schaute abrupt zur Seite und ballte die Fäuste. Dann atmete er tief ein und sagte: „Wie viel verlangen Sie?“ „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Für all seine harte Arbeit bekommt der Farmer nicht viel Geld. Was er verdient, braucht er für seine Familie; ihr und Gott ist er verpflichtet. Meine Bedingungen sind geradeheraus und deutlich: Wenn der Tag kommt, an dem Gott mich weiterschickt, dann geben Sie mir einfach, was Sie für richtig halten.“ „Jemand könnte Sie dabei übers Ohr hauen.“ „Ist noch nicht passiert.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Gott kümmert sich um mich. Ich verlass mich ganz auf ihn.“ Mr Stauffer versuchte in ihrem Gesicht zu lesen, dann schaute er zu ihrem Karren. Mit einem Schritt stand er daneben und schaute hinein. „Wo haben Sie denn den Rest Ihrer Habseligkeiten untergebracht?“ „Nirgends.“ Er kniff die Augen zusammen, schob den Quilt beiseite und fand weder etwas daneben noch darunter. „Zwei Dosen? Alles, was Sie haben, sind zwei Dosen mit Essen?“ Hope lächelte ihn an. „Das sind zwei Dosen mehr als viele Leute besitzen.“ „Sie bleiben hier – jedenfalls für eine Weile. So lange Annie es will. Sie ist die Frau in meinem Haus und es ist allein ihre Entscheidung.“ „Ich werde ihr helfen, so gut ich kann.“ „Zwei Dosen“, murmelte er vor sich hin. Er fuhr sich mit einer schnellen Handbewegung durch seine verschwitzten Haare. „Ich weiß nicht, wer hier wen rettet.“ 50
Sarah Sundin Der Klang Deiner Gedanken ISBN 978-3-86827-305-2 ca. 352 Seiten, Paperback erscheint im März 2012
Kann eine zufällige Begegnung zwei Leben für immer verändern? Weil ihr die Anerkennung ihrer bildschönen Mutter versagt bleibt, ist Allie bereit, alles zu tun – sogar einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebt. Lieutenant Walter Novak – im Cockpit ein Held, bei Frauen ein hoffnungsloser Fall – freut sich auf einen letzten geruhsamen Heimaturlaub bei seiner Familie, bevor er nach Übersee verschifft wird. Doch dann trifft er auf Allie. Sie rührt sein Herz an wie keine Frau zuvor, und anders als sonst erstarrt er in ihrer Gegenwart nicht zur Salzsäule. Walt und Allie merken schnell, dass sie mehr miteinander verbindet als eine besondere Liebe zur Musik. Sie beginnen eine Brieffreundschaft, die ihre Leben für immer verändert. Mit jedem Brief, der zwischen Walts schlammigem Militärstützpunkt in England und Allies herrschaftlichem Wohnsitz in einem Zitrushain in den Staaten hin- und herfliegt, wächst das Gefühl der Verbundenheit. Aber kann es Allie und Walt gelingen, sich von den Geheimnissen, Verpflichtungen und Erwartungen zu befreien, die sie voneinander trennen? Können Briefe die Basis für eine gemeinsame Zukunft sein? 51
Los Angeles, 1942 Eine ganze Woche weg von zu Hause. Allie Miller klammerte sich an das Versprechen ihrer besten Freundin mindestens ebenso sehr wie an die Fahrkarte, mit der sie es einzulösen gedachte. Die junge Frau folgte den Mustern im Marmorfußboden durch die Union Station und sog den Zauber des Reisens und das Abenteuer ihrer ersten Fahrt in den Norden in sich auf. Innerlich sang sie vor Vorfreude, aber es war eine verwaiste Melodie, der die Begleitung fehlte. Ihr Blick wanderte zu ihrem Freund hinüber, der neben ihr herging. „Wie schade, dass du nicht mitkommen kannst.“ Baxter zuckte mit den Achseln, beobachtete beim Vorübergehen eine Gruppe von Soldaten und nahm die Zigarette aus dem Mund. „Der Krieg macht keine Pause, nur weil Betty Jamison unter die Haube will.“ Die Misstöne riefen bei Allie eine Gänsehaut hervor. Ihre Aufgabe als Brautjungfer mochte ihm vielleicht unbedeutend erscheinen, aber sie nahm sie genauso ernst wie J. Baxter Hicks seine Pflichten als kaufmännischer Direktor. Sie gelangten in die Wartehalle, wo sich spanischer Kolonialismus mit modernem Funktionalismus vermischte. Von der Balkendecke über ihnen beleuchteten eiserne Lüster Hunderte von Männern, die in die weißblauen Farben der Navy oder das khaki-olivbraun der Army gekleidet waren. Keiner der Soldaten schaute Allie hinterher. Doch auf die blonde Erscheinung ihrer Mutter richteten sich Dutzende Blicke, als diese sich halb von ihrem Sitz erhob und Allie mit feinen Handschuhen zu sich herüberwinkte. Ihr Vater bot Allie seinen Platz an. „Das Ticket? Du weißt, wo du es hast?“ „In meiner Handtasche.“ Seine Fürsorge lockte ein Lächeln auf ihre Lippen, während sie es sich in einem der Ledersessel bequem machte. „Und ja, Mutter, ich habe dem Schaffner gesagt, er soll vorsichtig mit meinem Gepäck umgehen.“ „Gut. Allein schon der Gedanke, dem Kleid könnte etwas zustoßen ...“ Sie schnalzte empört mit der Zunge. „Diese Seidenknappheit ist doch wirklich eine Schande. Aber du hast gute Arbeit mit meinem alten Ballkleid geleistet. Ach, was sage ich: Sehr gute Arbeit! Du siehst sogar fast hübsch darin aus.“ 52
Allie verkrampfte innerlich, sagte aber höflich „Danke.“ Ihre Mutter meinte es gut und Allie konnte von ihr kaum ein Kompliment erwarten. Trotzdem überrollte sie eine Welle der Traurigkeit. Aber dann weigerte sie sich, Trübsal zu blasen. Selbstmitleid war nichts anderes als versteckter Stolz. „Und, Stan? Gibt’s was Neues von der Lieferung?“ Baxter und Allies Vater schlenderten davon und lehnten sich gegen die Wand. Die beiden hätten als Vater und Sohn durchgehen können, mit ihrem dunklen Haar, den blauen Augen, den gut sitzenden Anzügen und ihrer Liebe zur Firma Miller’s Kugellager. Mutter betrachtete Allies hellbraunes Leinenkostüm und las einen Fussel von ihrem Ärmel. „Jetzt bist du gerade einmal einen Monat seit deinem Abschluss Zuhause. Und schon machst du dich auf und davon und streunst durchs ganze Land.“ Allie umklammerte ihre Handtasche. Die Fahrkarte darin hatte sie einige Überredungskunst gekostet. „Es ist doch nur eine Woche. Und dann bleibe ich Zuhause.“ „Aber nicht für lange.“ Mutter ließ ihre großen, grünen Augen – das einzig Gute, was Allie geerbt hatte – zu Baxter wandern. „Ihr seid fast fünf Jahre zusammen. Er wird dir sicher bald einen Antrag machen.“ Baxters Silhouette stand zwischen den gewaltigen Fenstern der Bahnhofshalle. Das schräg einfallende Licht und der Zigarettenqualm rahmten ihn ein. Allies Mund, Kehle und Magen zogen sich zusammen. Wurde allen Frauen beim Gedanken an die Frage aller Fragen schlecht? „Und wieder eine arrangierte Ehe.“ „Wie bitte?“ Allie richtete ihre Aufmerksamkeit schnell wieder auf Mutter. „Das war nicht so gemeint. Ich ... ich meinte nur ...“ „Gütiger Himmel. Du glaubst doch nicht, dass die Sache arrangiert ist, oder?“, fragte Mutter mit gedämpfter Stimme. „Mag sein, dass Baxter der einzige Mann ist, dem dein Vater seine Firma überlassen würde, aber es geht uns natürlich zuallererst um dein Wohl, und ...“ „Ich weiß. Ich weiß.“ Vor Anspannung klang ihre Stimme eine halbe Oktave höher. Sie versuchte mit einem Lächeln, die Bedenken ihrer Mutter zu vertreiben. „Baxter ist ein Geschenk.“ 53
Mutters Gesicht offenbarte genau die Zustimmung, nach der sich Allie immer sehnte. „Nicht wahr? Er ist ein feiner junger Mann. Und er wird dich sehr glücklich machen.“ Glücklich? Baxter Hicks konnte ihren Traum von der Liebe niemals erfüllen. Aber er konnte ihr eine Familie schenken, so Gott wollte, und das sollte sie zufriedenstellen. Außerdem war diese Heirat das Beste für ihre Eltern, für Baxter und für sie selbst. Opfer mussten gebracht werden, auch wenn es Träume waren. Warum sehnte sich ihr Herz dann so nach der fehlenden Melodie? *** „Alles einsteigen!“ Allie drehte sich zu ihren Eltern um. „Danke, dass ihr mich fahren lasst. Ihr wisst gar nicht, wie viel mir das ...“ „Doch, wissen wir“, unterbrach sie ihr Vater lächelnd. „Und nun beeil dich, sonst kriegst du keinen Sitzplatz. Bist du sicher, dass die Jamisons dich in Tracy erwarten, um dir beim Umsteigen zu helfen?“ „Ja, und für alle Fälle habe ich Bettys Nummer dabei.“ Vater umarmte sie. „Ich werde dich vermissen, mein Sonnenschein. Genieß es!“ In den Armen ihres lebenslangen Beschützers ging Allie das Herz auf. Sie wandte sich an Baxter. Mit Sicherheit war auch er inzwischen von der Romantik des Bahnhofs, der Abreise und der sich umarmenden Paare ergriffen. Baxter verpasste ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Na dann. Viel Spaß.“ Allies Herz zog sich an seinen gewohnten Ort zurück. Wenn sie ein Mann doch nur ein einziges Mal so ansehen könnte, als wäre sie reizvoll und etwas Besonderes. Nur ein einziges Mal. Sie reihte sich in die Zusteigenden ein. Oben auf der Treppe wollte sie noch einmal winken, wurde aber von einem Marinesoldat verdeckt. Also ging sie in den Waggon. Wegen des dichten Zigarettenqualms musste sie husten und arbeitete sich den Gang vor; freien Plätzen neben Soldaten ging sie aus dem Weg. Der Zug füllte sich schnell. „Verzeihung, Miss. Möchten Sie sich vielleicht zu uns setzen?“ Eine 54
dunkelhaarige Frau deutete auf die Sitzbank ihr gegenüber, wo bereits zwei kleine Kinder saßen. Die Frau hatte ein Baby auf dem Arm und saß neben einem älteren Jungen. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht. Es wird ein bisschen eng, und ...“ „Das wäre wunderbar. Vielen Dank.“ Allie ließ sich auf dem Stoffsitz in gedeckten Farben nieder. „Ich bin schon trei.“ Die Kleine rechts neben ihr hielt vier Finger hoch. „Dann bist du ja schon ein richtig großes Mädchen.“ „Pah.“ Der Junge auf der anderen Seite klopfte mit dem Fuß gegen die Zugwand. „Sie kann noch nicht mal lesen. Aber ich.“ „Ja. Wie ein Anfänger“, sagte der ältere Junge, der Allie gegenüber saß. „Das reicht jetzt, Kinder“, ermahnte sie die Mutter. „Ihr sollt die junge Frau nicht belästigen.“ „Aber sie belästigen mich doch nicht.“ Allie fiel auf, dass die Frau ein schlecht sitzendes rotes Kostüm trug. Ihr eigenes elegantes Outfit machte sie verlegen. „Und ... ich könnte Ihnen mit den Kindern doch ein bisschen helfen.“ „Das wäre großartig.“ Sie schob dem Baby ein Fläschchen in den Mund. „Und, wohin geht die Reise?“ „Ich besuche meine beste Freundin in Antioch, oben am Sacramento River Delta. Ach, ich kann es kaum erwarten. Betty war meine Zimmergenossin auf dem Scripps College in Claremont. Sie heiratet nämlich, und ich bin Brautjungfer.“ Allie zuckte zusammen. Wieso musste sie immer so viel reden, wenn sie aufgeregt war? „Wie schön. Das wird Ihnen sicher gefallen.“ Sie stupste den Jungen zu ihrer Rechten an. „Donnie, heb doch mal die Puppe von deiner Schwester auf, ja? Lonnie, lass das Klopfen.“ Allie schmunzelte. Diese Mutter brauchte keine Hilfe. Dann erstarb ihr Lächeln. Mitten im Gang des vollgestopften Zuges stand eine Frau, und kein Soldat bot ihr seinen Sitz an. Wenn sie jung und hübsch gewesen wäre, oder eine gebrechliche alte Dame, wäre die Sache sicher anders. Aber sie war kräftig, mittleren Alters und schwarz. „Ma’am?“ Ein Mann stand auf und deutete auf seinen Sitz. Er trug eine olivbraune Uniform und hatte seine Offiziersmütze über das schwarze Haar gezogen. Die Frau lächelte ihn dankbar an, setzte sich und griff nach seinem 55
Arm. „Gott segne Sie. Ich bete oft für unsere Soldaten, damit der Allmächtige sie beschützt. Wie ist denn Ihr Name?“ „Walter, Ma’am, und danke. Mir ist ein Gebet allemal lieber als ein Sitzplatz.“ Er lächelte über das ganze Gesicht, hob die Hand zu seinem Käppi und machte einen Schritt in Richtung Allie. *** Hatte sie ihn gerade angelächelt? Die junge Frau mit den braunen Locken? Jawohl, sie hatte. Walts Kehle wurde trocken. Die Frau richtete ihre sagenhaften grünen Augen auf ein kleines Mädchen und einen Jungen neben sich. Sie war also Mutter. Vergeben. Seine Atmung setzte wieder ein. Der Zug ruckte, ächzte und begann, vorwärts zu kriechen – Walts Lieblingsmoment. Einen Augenblick lang hatte er immer das Gefühl, die Lok würde es nicht schaffen. Doch dann griff die Kraft der Dampfkessel, die Geschwindigkeit nahm zu und der Zug rollte über die Schienen. Eine Frau im roten Kostüm sagte etwas zu der jungen Mutter mit den grünen Augen, deren Lächeln immer breiter wurde, je schneller der Zug fuhr. Bei dem Lächeln lohnte es sich für ihren Mann, öfter mal einen Witz zu erzählen. Der Junge neben der Rotgekleideten grinste Walt an. Die Zähne waren viel zu groß für sein Gesicht. „Sind Sie Pilot, Mister?“ „Donnie, benimm dich.“ „Ist schon okay.“ Walt lächelte zurück. „Na klar bin ich Pilot.“ „Wow! Und? Schon ein paar Jagdflieger abgeschossen?“ Walt lachte in sich hinein. „Hatte noch keine Gelegenheit dazu. Ich habe mein Pilotenabzeichen erst im April bekommen. Und seit letzter Woche ist die Ausbildung auf viermotorigen Bombern in Albuquerque vorbei.“ „Toll!“ Donnie hüpfte auf seinem Sitz herum. „Viermotorig! B-17 oder B-24?“ Der Kleine hatte Ahnung. „B-17, Fliegende Festung.“ Walt hockte sich neben den Sitz und die Jungs bombardierten ihn mit Fragen. Wenn Frauen sich doch nur für Flugzeuge interessieren würden. Diese zwei Damen zeigten Interesse, aber mit Söhnen hatten sie ja auch keine Wahl. 56
Der Zug fuhr durch die mit Steppenläufern und Josuabäumen getüpfelte Einöde und passierte Palmdale und Lancaster. Als sie an Mojave ganz in der Nähe der Muroc Army Air Base vorbeifuhren, stand Walt auf, um sich die eingeschlafenen Beine zu vertreten. Dabei überprüfte er sein Kleingeld in der Hosentasche. „Wer hat Lust auf eine Coke?“ „Ich! Kann ich ...“ Donnie warf einen Blick auf seine Mutter. „Darf ich mitgehen, bitte?“ „Ja, mein Schatz. Und nimm Lonnie mit.“ Der Junge auf der anderen Seite hüpfte von seinem Sitz, und Walt führte die beiden den Gang hinunter. Sie waren Brüder? Dann gehörte also nur das kleine Mädchen zu den sagenhaften grünen Augen. Walt bezahlte die Getränke mit seinen letzten Münzen. Dann wankten sie gemeinsam zurück durch das Meer der Uniformen und fanden die junge Mutter mit den grünen Augen allein vor – mit dem Baby der Rotgekleideten im Arm. „Jetzt musst du mit Connie teilen“, sagte Donnie zu seinem Bruder. „Nö. Sie ist ja gar nicht da.“ Durch den Zug ging ein Ruck. Walt griff nach der Sitzlehne und sah die junge Dame verwirrt an. Wer war Connie? Das kleine Mädchen? Aber ... „Sie ist mit ihrer Mama auf Toilette. Und ich soll die kleine Bonnie halten. Ist sie nicht süß?“ Sie war überhaupt keine Mutter. Und einen Ring trug sie auch nicht. Schnell, er musste etwas sagen, bevor die Starre wieder einsetzte. „Augenblick. Donnie, Lonnie, Connie ...“ „Und Bonnie“, ergänzte sie. „Wir reimen uns“, sagte Lonnie. Die Lady mit den grünen Augen sah ihn erstaunt an. „Tatsächlich?“ Walt lachte auf und die junge Frau warf ihm einen amüsierten Blick zu. Sie war zu gut erzogen, um laut mitzulachen, aber Humor schien sie zu haben. Sie gefiel ihm. Kein Mustern, kein Beurteilen. Eben ganz normal. Irgendwann kehrte die Mutter im roten Kostüm mit Connie auf der Hüfte zurück. Nach der Abfahrt ins Central Valley und einem Zwischenhalt in Bakersfield wickelte Walt sein Sandwich aus. Seine Mom hätte ihm ordentlich den Kopf gewaschen, wenn sie sehen könnte, dass er nicht im Speisewagen aß. Aber weil diese Waggons kriegsbedingt reduziert worden waren, 57
hatte er keine andere Wahl. Er biss genüsslich ab und schloss die Augen. Das Essen im Stützpunkt war entweder matschig oder hart, aber dieses Hühnchen war kühl, fest und abgeschmeckt mit Zwiebel, Sellerie, und ... Apfel? Ja, Apfel. „Mama, ich hab Hunger“, quengelte Lonnie. „Wann gibt es Mittag?“ „Bei Oma. In etwa einer Stunde.“ Mit all den Kinderaugen auf ihm schmeckte Walt sein Sandwich nicht mehr so gut. „Können wir nicht was kaufen?“, fragte Donnie. „Nein. Und jetzt sei ruhig. Wir essen in Fresno.“ Das Gesicht der Frau passte inzwischen zu ihrem Kostüm, und Walt nahm an, dass ihre Börse genauso leer war wie seine Brieftasche. Alles, was er noch hatte, war die Apfelsine. Die perfekte Apfelsine. Er zog sie aus der Tüte. Sie hatte genau dieselbe Größe wie das Loch in seinem Bauch, aber war vermutlich nicht so groß wie die Löcher in den Kindermägen. „Eine Apfelsine?“ Walt zwang sich zu einem Lächeln. „Vielleicht möchten Ihre Kinder eine Apfelsine?“ „Oh nein, vielen Dank.“ „Ganz im Ernst. Ich habe bei einem Freund übernachtet, und seine Frau hat mir etwas zu Essen eingepackt. Ich kann Apfelsinen nicht ausstehen.“ Sie willigte ein. Walt drückte den Daumen in die Schale und setzte einen Duftnebel frei, der nach Zitrus, Sommer und Sonne roch. Er verteilte die Stückchen und die Kinder gaben Ruhe. Mehr als alles andere wollte Walt sich die Finger ablecken, um wenigstens den Geschmack im Mund zu haben, aber er nutzte stattdessen sein Taschentuch. Als sie Fresno erreichten, erwiderte Walt den militärischen Gruß der kleinen Jungs und nahm ihren Dank für Cokes, Orangenstückchen und Geschichten entgegen. „Ach, Miss“, rief die rotgekleidete Mutter über ihre Schulter der Lady mit den grünen Augen zu. „Geben Sie ja Acht, dass der nette junge Mann einen Platz bekommt.“ „Oh. Ja. Natürlich.“ Walt sah sich suchend um, aber im Gang standen nur Soldaten – keine Frauen, keine älteren Herren und niemand höheren Ranges. Zwei Matrosen setzten sich auf den Platz der Rotgekleideten und machten sich für ein 58
Schläfchen bereit. Damit war die Chance, sich in ein Gespräch zu retten, auch verbaut. Walt hatte keine Wahl. Er musste sich neben sie setzen. „Danke.“ Er schaffte es gerade so, seine Zunge nicht zu verschlucken. „Gern geschehen. Sie haben schließlich lange genug gestanden.“ Ein leichtes Flackern in ihrem Lächeln löste einen Anflug von Mut in ihm aus. „Ja. Das stimmt.“ Die Lokomotive stieß gewaltige Dampfwolken aus und der Zug rollte aus dem Bahnhof und an einigen Lagerhäusern vorbei. Worüber sollte er reden? „Und, gefällt Ihnen die Reise?“ „Oh, ja. So ein Tapetenwechsel tut doch sehr gut.“ „Wem sagen Sie das. Ich bin schon viel zu lange in der Wüste. Kann es kaum erwarten, Gras zu sehen. Selbst, wenn es braun ist. Am liebsten mag ich den Winter – da ist es ganz grün.“ Wie ihre Augen, die von nahem noch mehr strahlten. So sehr, dass er Mühe hatte, den Mund nicht offen stehen zu lassen. „Habe ich gehört. Aber so weit im Norden war ich noch nie.“ „Ach? Woher kommen Sie denn?“ „Riverside.“ Walt nickte. „Hab ein paar Trainingsflüge nach March Field gemacht. Riverside ist ein netter Ort.“ „Danke. Ich finde ja, es ist die schönste Stadt in ganz Kalifornien.“ Ob sie sich necken ließ? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden. „Aber im Norden waren Sie doch noch gar nicht.“ Die langen Augenbrauen senkten sich, aber ihr Lächeln wuchs. „Stimmt. Ich sollte vorsichtiger mit meinem Urteil sein. Aber selbst wenn ich eine noch schönere Stadt finde, wird Riverside immer meine erste Wahl bleiben.“ Riverside – der Name rief eine Erinnerung an March Field wach. Als Techniker lag er stets den Flugzeugmechanikern in den Ohren, damit er die Maschinen in- und auswendig kennenlernen konnte. Eines Tages hatten sie ihn auf eine Kiste verbannt, von der aus er zuschauen sollte. Die Kiste war doch ganz aus der Nähe gewesen ... „Kugellager“, sagte er grinsend. „Miller’s Kugellager aus Riverside, Kalifornien.“ Ihre Lippen spannten sich so sehr, dass sie nur noch ein Strich waren. Sie sah schnell auf ihr Buch herunter. 59
Er sah sie ungläubig an. Was war los? Was hatte er gesagt? Sie schlug mit langen Fingern die Seite um. Ende der Durchsage. Walt seufzte und zog eine zusammengerollte Zeitschrift aus der Jackentasche. Wenn er schon nicht mit dem Mädchen reden konnte, dann konnte er wenigstens die Nachrichten lesen, und davon gab es endlich ein paar gute. Der Sieg gegen Japan in der Seeschlacht um Midway hatte eine sechsmonatige Niederlagensträhne der Amerikaner endlich beendet. Nachdem sie durch Merced gefahren waren, fiel Walt eine Anzeige ins Auge: Eine Frau in einer Rüschenschürze servierte ihrem Mann auf Heimaturlaub einen Kuchen. Vielleicht würde Mom für heute Abend Kuchen backen. Oder einen Pie. Sein Magen knurrte, und er wechselte die Sitzposition, um es abzustellen. Walt blätterte weiter und las das Neuste über den Vormarsch der Deutschen auf Sewastopol. Der Zug ruckelte und er stieß gegen die Schulter der Lady mit den sagenhaften grünen Augen. Er murmelte eine Entschuldigung. Vor seinen Avancen brauchte bestimmt keine Frau Angst haben. Er konnte ja noch nicht einmal Smalltalk betreiben. Draußen flog Modesto vorbei. Jetzt war es nicht mehr lang, bevor er mit Mom und Dad bei einem ausgiebigen Abendessen sitzen würde, vielleicht mit Roastbeef. Obwohl, Rindfleisch war rar geworden. Sein Magen rumorte, laut und deutlich. „Verzeihung.“ Die junge Dame stand auf, und Walt erhob sich, um sie durchzulassen. Großartig. Er hatte sie mit Kugellagern und Magengrummeln in die Flucht geschlagen. Knurrend las er die Bekanntmachung von Präsident Roosevelt, eine Sammelaktion für Gummi durchzuführen, weil Japans Eroberungen die USA von zweiundneunzig Prozent ihrer Kautschukversorgung abgeschnitten hatten. Der nächste Artikel brachte ihn innerlich zum Kochen: Die Deutschen gaben das Massaker in der tschechischen Stadt Lidice bekannt. Nachrichten wie diese machten seinen Wunsch, in den Kampf zu ziehen, nur noch stärker. Und das möglichst bald. „Entschuldigung.“ Zwei grüne Augen sahen ihn an. Walt schaffte es gerade so, seine Überraschung abzuschütteln, sich an seine Manieren zu erinnern und Platz zu machen. 60
„Was möchten Sie lieber?“ Sie hielt in der einen Hand einen Apfel, in der anderen eine Orange. Sein Blick wanderte zwischen rot und orange hin und her und dann hoch zu grün. „Äh ...“ Sie schob den Kiefer zur Seite und schaute konzentriert auf die Früchte. „Ich wollte etwas Kleines essen und dachte, Sie vielleicht auch. Es war so nett von Ihnen, Ihr Lunchpaket mit den Kindern zu teilen. Die hier sieht längst nicht so reif aus wie Ihre von vorhin; eigentlich ist sie ziemlich blass. Aber ich habe auch noch einen Apfel, und mir ist beides recht.“ Walt lächelte über ihren kleinen Wortschwall. „Danke. Die Apfelsine wäre toll.“ Sie reichte ihm die Frucht. „Dachte ich mir doch. Vorhin haben Sie zwar gesagt, Sie könnten Apfelsinen nicht ausstehen, aber Ihre Augen haben genau das Gegenteil gesagt.“ Er zuckte mit den Achseln. „Hätte die Dame gewusst, dass ich sie selbst haben wollte, hätte sie niemals eingewilligt.“ „Vielleicht. Aber ich bin der Meinung, für jedes Problem gibt es eine ehrliche Lösung.“ „Nicht immer.“ Walt schälte die Orange. Dieses Mal versprühte sie keinen Duftnebel. „Oh. Ich dachte, Sie sind ein ... Ach, schon gut.“ Sie spielte verlegen auf ihrem Schoß mit dem Apfel. Er sah sie an. Sie dachte, er wäre ein Mann von Integrität. Und ein Mann von Integrität flunkerte wohl nie, wenn es um eine gute Sache ging? Unsinn. „Ich halte mein Wort. Aber ... eine kleine Notlüge finde ich nicht schlimm, solange die Motive stimmen. So bleiben die Dinge schön am Rollen – eben wie Kugellager in der Maschinerie der Gesellschaft.“ Sie wandte sich ruckartig ab in Richtung Fenster. Walt grinste über seinen kleinen Sieg. Was hatte sie für ein Problem mit Kugellagern? Hatte Daddy mit Kugellagern ein Vermögen beim Börsencrash verloren? Oder arbeitete ihre Familie bei der Konkurrenz und für sie waren Kugellager so ein rotes Tuch wie Stanford für einen Kalifornier wie ihn? Oder hatte sie ihre wahre Liebe bei einem Unfall mit defekten Kugellagern verloren? 61
Er zog ein Stück von der Apfelsine ab und warf es sich in den Mund. Bitter. Fast so bitter wie sein Sieg. Herr, was ist mit mir los? Sie kauft mir eine Apfelsine, und ich mache wieder alles kaputt. Die junge Frau biss von ihrem Apfel ab und betrachtete gedankenverloren die runden Hügel, die die Bucht von San Francisco umgaben. Rund um ihre Hutkrempe sah man das lockige Haar. Walt räusperte sich. „Ich schätze, Schweigen ist dann wohl die ehrliche Lösung für ein Problem.“ Ihr Blick wanderte zurück zu ihm und er tauchte ein in das erfrischende Grün. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ja, das ist sie. Ehrlich und effektiv.“ „Sollte ich bei Gelegenheit auch mal ausprobieren.“ „Sollten Sie. Wie ist die Apfelsine?“ Walt verkniff sich eine Lüge, zuckte lieber demonstrativ mit den Achseln und schaute weg. Sie lachte. „Also nicht besonders gut?“ „Etwas bitter. Und der Apfel?“ „Trocken. Aber ich bin verwöhnt. Wir haben einen ganzen Garten voller Apfelbäume und Zitrusgewächse.“ Walt wusste, dass er etwas an ihr mochte. Neben ihrem Interesse für Fliegergeschichten. „Meine Eltern haben auch Obstbäume. Mein Freund Frank sagt, die Früchte fehlen mir mehr als die Familie.“ „Und? Hat er recht?“ „Ach was.“ Er schluckte das letzte Apfelsinenstück herunter. „Es ist eben männlicher, sich über das Kantinenessen zu beschweren. Wer seine Familie vermisst, gilt als heimwehkrankes Muttersöhnchen.“ „Ich verstehe.“ Der Zug bremste ab und stieß einen langen, tiefen Pfiff aus. Walt seufzte. Zum ersten Mal führte er ein richtiges Gespräch mit einer ledigen Frau, und nun würde er sie nie wieder sehen. Er knüllte seine Tüte mit den Apfelsinenschalen zusammen und stand auf. „Tja, in Tracy muss ich raus. Danke für die Apfelsine.“ Die grünen Augen setzten sich aufrecht hin und spähten aus dem Fenster. „Tracy? Da muss ich auch aussteigen.“ „Wirklich?“ Sie sah viel zu elegant aus für die Kuhdörfer in dieser Gegend. Er trat beiseite und folgte ihrer schlanken Silhouette den Gang hi62
nunter. Nachdem sie ausgestiegen waren, sah sie sich auf dem Bahnsteig um und betrat eine Telefonzelle. Walt atmete die Luft im Central Valley tief ein, um den Zigarettenqualm aus den Lungen und die grünen Augen aus dem Kopf zu bekommen. Dann machte er sich in Richtung Schalter auf. Ihm fehlte noch das Ticket für Zug 53. Der Daylight fuhr zwar direkt durch seinen Heimatort, hielt dort aber nicht. Zu schade, dass er nicht einfach abspringen konnte. „Walter! Walter!“ Erstaunt drehte er sich um, entdeckte seine Eltern und machte sich innerlich auf die Umarmung seiner Mutter gefasst. Auch wenn sie klein war, konnte sie ganz schön zupacken. „Hi, Mom. Was macht ihr denn hier?“ Sie lachte. „Na, das ist ja eine Begrüßung nach über einem Jahr. Wir dachten, wir überraschen dich!“ „Danke. Lieb von euch.“ Er schüttelte seinem Vater die Hand. „Na los, zeig mal dein Abzeichen“, sagte Dad. „Sehr gut. Genau wie Ray und Jack. Jack hat es natürlich auch noch bis zum Captain gebracht.“ Natürlich. Immer um eine Nasenlänge voraus. „Du meine Güte.“ Mom legte die Hände um seine Schultern. „Kaum zu glauben, dass du mein kleiner Junge bist. Jedes Mal, wenn ich dich sehe, bist du wieder größer geworden. Und deine Schultern werden immer breiter.“ Walt brummte und war froh, dass seine Reisebegleitung außer Hörweite war. „Ich hole schnell meine Tasche, und dann kann’s los gehen. Was gibt’s zu essen?“ „Nicht so schnell, junger Mann.“ Mom hielt Walt am Arm fest. „Bettys Freundin aus dem College war auch in deinem Zug. Und die Jamisons haben uns gebeten, sie in Empfang zu nehmen.“ Die grünen Augen? Konnte das sein? Er sah zur Telefonzelle. Sie steckte den Kopf heraus und hatte den Hörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt. „Verzeihung, Lieutenant. Heißen Sie Walter Novak?“ Er nickte. Plötzlich war seine Zunge trocken. Sie würde bei der Hochzeit dabei sein. Er würde sie die ganze Woche sehen. Sie sagte noch etwas in den Hörer, hängte ein und kam auf ihn zu. Er musste jetzt etwas sagen. Irgendwas. Er zwang sich zu einem Lächeln. „Sie suchen wohl Ihren Abholdienst?“ „Ähm, ja. Ich, also, Betty ...“ Sie zeigte auf die Telefonzelle. 63
Walt hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, ihre Nervosität zu lindern, und seine erstarrten Muskeln schmolzen. „Lassen Sie mich raten. Betty hat es sich anders überlegt, aber vergessen, Ihnen Bescheid zu sagen.“ „Ja, genau.“ Ein Windstoß warf ihr eine braune Locke ins Gesicht, und sie steckte sie zurück. „So schlau, wie Betty ist ...“ „Ist sie manchmal ein echter Schussel.“ Sie lachten gemeinsam, und ein eigenartiges, warmes Gefühl kroch in Walt hoch. Er hoffte, dass das nicht das letzte Mal sein würde. „Sie müssen Allie Miller sein.“ Dad gab ihr die Hand. „Ich heiße John Novak und das ist meine Frau Edith. Walter haben Sie schon kennengelernt?“ „Ja.“ Walt traf ein Seitenblick. „Wir saßen sogar im Zug nebeneinander.“ „Aber wir wussten noch nicht, wer der andere ist ... war ... also ich wusste nicht, wer sie ist, und andersherum.“ „Na dann, los.“ Mom hakte sich bei Allie ein. „Pastor Novak kümmert sich um Ihr Gepäck. Du meine Güte, Betty hat so viel von Ihnen erzählt, dass ich das Gefühl habe, wir sind schon alte Bekannte.“ Walt folgte seinem Vater und holte den Seesack. Allie Miller. Stimmt, Betty erzählte öfter von ihr, aber Betty erzählte den ganzen Tag von irgendwelchen Leuten. Jetzt wünschte er sich, er hätte besser aufgepasst. Zum Beispiel, ob Allie Miller einen Freund hatte? Wieso konnte er sich an so ein wichtiges Detail am wenigsten erinnern? Na ja. Wenn sie einen Freund hatte, würde er das schon bald herausfinden. Die beiden Männer kehrten mit dem Gepäck zurück und Walt lächelte die junge Dame neben sich an. Er hatte sich auf diesen Heimaturlaub seit Monaten gefreut: Familie, Freunde, und so viel Obst, wie er verdrücken konnte. Und jetzt konnte das die beste Woche seines Lebens werden.
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