Leseproben Frühjahr 2014

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Leseproben romane



Leseproben Romane Lynn Austin, Fremde Heimat ................................................... 2 Tamera Alexander, Geerbtes Glück ........................................ 10 Amanda Cabot, Der Sommer, der so viel versprach................ 14 Cathy Marie Hake, Mehr Charme als Etikette ....................... 23 Linda Nichols, Wie der Duft von Wasser ............................... 32 Marianne Grandia, Weißer als Schnee ................................... 40 Dee Henderson, Enthüllt ....................................................... 48 Irene Hannon, Wo die Schatten wohnen ............................... 57


Lynn Austin Fremde Heimat ISBN 978-3-86827-423-3 ca. 464 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2014

Babylon ist Sacharjas ganze Welt. Doch als König Kyros dem jüdischen Volk die Rückkehr ins Land seiner Väter erlaubt, beginnt für den jungen Sacharja das Abenteuer seines Lebens. Zusammen mit seinen Großeltern und seiner Jugendfreundin Yael macht er sich auf den Weg nach Jerusalem. Fern von Babylons Schönheit und Reichtum müssen die jüdischen Heimkehrer ganz neu beginnen – in einem unwirtlichen Land und unter Menschen, die sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Wird es ihnen gelingen, den Tempel wieder zu errichten und sich ein neues Leben aufzubauen? Lynn Austin webt einen farbenprächtigen, filigranen biblischen Hintergrund, auf dem die Hauptpersonen so zur Geltung kommen, dass wir uns mit ihren Hoffnungen und Träumen, mit ihren Siegen und Niederlagen identifizieren können. Eine epische, ergreifende Erzählung von Kämpfen, Leid und Glück eines Volkes, das Gott dienen will.

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Iddo erwachte keuchend aus seinem Traum. Der Albtraum hätte ihn beinahe verschlungen. Er hörte die besänftigende Stimme seiner Frau und fühlte, wie ihre Hand sich auf seine Brust legte, als wollte sie sein hämmerndes Herz beruhigen. „Schhh … Es war nur ein Traum, Iddo. Nur ein Traum …“ Aber es war kein Traum, oder jedenfalls nicht die Art Traum, wie andere Menschen sie hatten, wenn sie schliefen – verwirrende Visionen, die bei Tageslicht keinen Sinn ergaben. In Iddos Träumen durchlebte er wieder die alten Erinnerungen, kraftvolle Szenen, so lebendig wie an dem Tag, an dem er sie als Kind mit angesehen hatte. Die Bilder und Geräusche und Schrecken hatten sich in seine Seele eingegraben wie die Spitze eines Griffels, die in weichen Lehm gedrückt wird. Der Ofen des Leidens hatte sie verhärtet, sodass sie nie mehr ausradiert werden konnten. Er holte zitternd Luft und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um die Tränen aus seinen Augen zu wischen. „Es tut mir leid, Dina“, flüsterte er. „Es tut mir leid …“ „Geht es wieder?“, fragte sie. „Ich mache dir etwas Heißes zu trinken.“ Er legte eine Hand auf ihren Arm, um sie zurückzuhalten. „Nein, bleib liegen. Wir müssen doch nicht beide wach sein.“ Iddo erhob sich von ihrem gemeinsamen Lager und tastete im Dunkeln nach seinem Gewand. Er würde jetzt sowieso nicht mehr schlafen können. Während des Tages konnte er die Bilder, die wie lauernde Schakale am Rand seines Bewusstseins kreisten, in Schach halten, indem er zum Himmel mit seinen Wolken hinaufsah oder darüber staunte, wie vollkommen der winzige Finger seines Enkels war. Aber nachts, wenn das Dunkel die Schönheit des Schöpfers verbarg, stürzten die Bilder und Geräusche auf Iddo ein, ohne dass er sie zum Schweigen bringen konnte. Wenn sie angriffen, nahmen sie ihm alles, was er erreicht hatte, und zerrten an dem Mann, der er jetzt war. Er wurde wieder zu dem zehnjährigen Jungen, der mit ansehen musste, wie Jerusalem in die Hände der Feinde fiel – hilflos, starr vor Angst, nackt und zitternd. Siebenundvierzig Jahre waren verstrichen, seit er den echten Albtraum erlebt hatte, und diese Jahre hatte Iddo hier in Babylon verbracht. Er hatte eine Frau, Kinder, Enkel – alle hier geboren. Doch die Gräueltaten, die er in Jerusalem gesehen hatte, waren noch genauso lebendig wie die Welt, in der er jeden Morgen aufwachte. Der Albtraum verblasste nie und wurde niemals unscharf. 3


Er wartete, bis sein Herzschlag sich beruhigte und sein Atem regelmäßiger ging, dann schlurfte er zur Tür. Er öffnete und schloss sie lautlos, damit er nicht die Bewohner seines Haushaltes aufweckte. Draußen in seinem dunklen Hof ließ er den Blick über die vertraute Silhouette der Lehmziegelhäuser und die stacheligen Dattelpalmen gleiten, die am Ufer des Kanals wuchsen. Er hob das Kinn, um zu beobachten, wie die Sterne hinter den phantasievollen Formen der Nachtwolken verschwanden und dann wieder auftauchten. „‚Ich blicke zum Himmel und sehe, was deine Hände geschaffen haben‘“, flüsterte er, „‚den Mond und die Sterne – allen hast du ihre Bahnen vorgezeichnet. Was ist da schon der Mensch, dass du an ihn denkst?‘“ Die Psalmen König Davids waren für ihn wie eine Waffe, die er benutzte, um die Schakale der Angst zu vertreiben. Iddo schauderte in der kühlen Herbstluft, während er darauf wartete, dass der nächtliche Friede seine Seele erfüllte. Aber anstelle der tiefen Stille, nach der er sich sehnte, hörte er immer noch die Laute seines Albtraums: ein leises Grollen wie von Hunderten marschierender Füße, entfernte Schreie und Rufe … oder war das nur das Kreischen der Vögel? Iddo hatte viele Nächte wachend verbracht, aber noch nie waren die Geräusche aus seinen Träumen so nachgeklungen. Bildete er sich Dinge ein? Er stieg die Außentreppe zum Flachdach hinauf und blickte über die Stadt hinaus. Lichter tanzten in der Ferne wie Sommerblitze – doch es konnten keine Blitz sein. Der Sternenhimmel erstreckte sich über der Ebene von einem Horizont zum anderen und die nächtlichen Wolken waren federleicht. Eine plötzliche Bewegung auf der Straße unter ihm erregte seine Aufmerksamkeit und er blinzelte in das Dunkel hinunter. Sein Nachbar Mattania stand dort, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrte auf das Zentrum von Babylon. Neben ihm stand ein anderer Nachbar, Joel, der wie Iddo von den Tempelpriestern abstammte. Konnten sie die Geräusche auch hören? Iddo eilte hinunter und durch das Hoftor auf die Straße hinaus. Die beiden Männer wandten sich um, als sie seine Schritte hörten. „Hat der Lärm dich auch geweckt?“, fragte Mattania. „Was ist das? Was ist dort los?“ „Wir wissen es nicht“, sagte Joel. „Die Babylonier feiern heute irgendein 4


Fest zu Ehren ihrer heidnischen Götter, aber mein Sohn Reuben fand, dass es eher nach marschierenden Soldaten klingt.“ „Ja … das dachte ich auch“, sagte Iddo. „Wir fragen uns, ob die Armeen der Meder und Perser die Stadt angegriffen haben könnten“, sagte Mattania. Joel schüttelte den Kopf. „Damit werden sie niemals Erfolg haben. Die Tore Babylons sind schwer befestigt und die Stadtmauern sechs Meter dick. Da kommt keiner durch!“ Aber Iddo erinnerte sich an die eingestürzten Mauern Jerusalems und ihn fröstelte. „Mein Sohn ist losgegangen, um nachzusehen“, fuhr Joel fort. „Wir warten darauf, dass er zurückkommt.“ Iddo stand neben seinen Nachbarn und lauschte den entfernten Klängen, während sie sich leise unterhielten und auf Reubens Rückkehr warteten. Als der junge Mann endlich nach Hause gelaufen kam, mit gerötetem Gesicht und ganz außer Atem, erhellte ein Bogen aus rosafarbenem Licht den Horizont im Osten. „Du wirst es nicht glauben, Abba! Ich bin den ganzen Weg bis zum Platz am Ischtar-Tor gelaufen: Die Straßen rund um den südlichen Palast sind voll mit Soldaten. Es sind Tausende!“ „Babylonische Soldaten?“, fragte Iddo. „Nein. Solche babylonischen Soldaten habe ich jedenfalls noch nie gesehen.“ „Dann ist es eine Invasion!“, sagte Mattania. „Das kann nicht sein. Wie sollte der Feind unsere Mauern bezwingen?“, fragte Joel. „Ich glaube, ich weiß wie“, sagte Reuben. „Ich bin auf dem Heimweg dem Fluss gefolgt und das Wasser war nur so hoch …“ Er zeigte auf die Mitte seines Oberschenkels. „Die Soldaten könnten unter der Mauer hindurch in die Stadt gewatet sein, mit dem Fluss als Straße sozusagen – wie bei der Geschichte in der Thora, als das Wasser sich für das Volk teilte, wisst ihr noch?“ Eine Invasion. Iddo wandte sich wortlos ab und eilte zurück in seinen von Mauern umgebenen Hof. Er schloss das hölzerne Tor hinter sich und lehnte sich dagegen. Wenn das kein Traum war, dann hatten zum zweiten Mal in Iddos Leben Soldaten die Stadt überfallen, in der er lebte. Sein Albtraum war noch einmal Wirklichkeit geworden.

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Fünf Monate waren vergangen, seit die Meder und Perser Babylonien überfallen hatten, und bis jetzt war Iddos Leben genauso weitergegangen wie immer. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass wichtige Nachrichten in der Regel schlechte Nachrichten waren, und so bereitete die angekündigte geheimnisvolle Proklamation des Herrschers ihm mehr Sorgen als der Anblick der Götzen. Andere jüdische Anführer und Älteste waren bereits auf dem riesigen Platz vor dem Palast versammelt, und er und Mattania gesellten sich zu ihrem Nachbarn Joel. „Haben wir etwas verpasst?“, fragte Iddo ihn. „Noch nicht. Aber das dort ist Daniel, der Rechtschaffene, nicht wahr? Oben auf dem Treppenabsatz?“ Iddo schirmte die Augen gegen die Sonne ab. „Ja, und die Männer neben ihm sind Judas königliche Prinzen. Ich habe sie nur einige Male bei besonderen Anlässen gesehen, deshalb kann ich mich an ihre Gesichter nicht erinnern. Aber wer könnte diese prächtigen bestickten Gewänder vergessen?“ „Dann muss es eine wichtige Versammlung sein, wenn sie hier sind“, sagte Joel. „Ich wusste nicht, dass Juda immer noch eine königliche Familie hat“, sagte Mattania. „Ich dachte, die Babylonier hätten sie hingerichtet.“ „Nicht alle“, sagte Iddo. „Der Heilige hat König David versprochen, dass er immer einen Erben haben würde, und der Heilige lügt nicht. Rebbe Daniel stammt auch von der königlichen Familie ab.“ Schließlich trat Daniel vor und hob die Hände, um die Menge zur Ruhe zu bringen. „Dies ist ein Tag, der wunderbare Neuigkeiten für unser Volk bringt“, begann er, „der Tag, den der Heilige uns verheißen hat. Deswegen ist es angemessen, dass Prinz Scheschbazar uns die Bekanntmachung von unserem persischen Herrscher König Kyros vorliest.“ Iddo war vor Aufregung ganz angespannt, als Scheschbazar die Schriftrolle entrollte und zu lesen begann. „Hört die Worte von Kyros, dem König der Perser und der Meder und der ganzen Welt: ‚Der Herr, der Gott des Himmels, hat mir alle Reiche dieser Erde gegeben und mich beauftragt, einen Tempel für ihn in Jerusalem in Juda zu errichten …“ Iddo packte Mattanias Arm. „Was hat er gesagt?“ „‚Jeder unter euch, der aus seinem Volk stammt – möge sein Gott mit ihm sein, und möge er nach Jerusalem in Juda gehen und den Tempel des 6


Herrn wieder aufbauen, für den Gott Israels, den Gott, der in Jerusalem wohnt.‘“ Iddo stieß einen Freudenschrei aus, der sich mit den Rufen und Jubelschreien der Menge vereinte. Die Sterne begannen zu verblassen und der Himmel im Osten wurde heller, als der Karren sich schließlich ruckartig in Bewegung setzte. Die Karawane nahm die ganze Breite der Straße ein und Dina konnte vor und hinter sich weder Anfang noch Ende sehen. Es dauerte nicht lange, bis sie die riesigen Stadttore vor sich sah, bewacht von bewaffneten Soldaten, dem Feind, der Dinas Volk ein ganzes Leben lang eingesperrt und sie so daran erinnert hatte, dass sie Sklaven waren. Gleich würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben durch diese Tore fahren. Ihr Volk war freigelassen worden. In jeder anderen Situation wäre Dina überglücklich gewesen, aber sie trauerte um ihre Söhne und deren Familien, die Babylon nicht verlassen wollten. Sie klammerte sich an Yael, die sich in ihren Armen in den Schlaf geweint hatte. Die Karawane erstreckte sich vor und hinter ihnen auf der weiten Ebene, soweit Dina sehen konnte, eingehüllt in eine Staubwolke wie die Wolke, die Mose und ihre Vorfahren begleitet hatte. Während sie Meile um Meile zurücklegten, fragte sie sich, ob Iddo des Gehens müde werden würde. Aber nein, er ging aufrechter, als sie ihn jemals gesehen hatte, sein Rücken nicht mehr gebeugt, als trüge er eine schwere Last. Sein Gesicht leuchtete vor Schweiß und Freudentränen im Sonnenlicht. Sie schloss die Augen, und in diesem Augenblick war sie sich nicht sicher, ob sie ihn liebte oder hasste. Sacharja stand hinter dem beladenen Karren und schob, während sein Großvater das Maultier den Hügel hinaufzerrte. Die schwere Arbeit machte ihn müde, aber sie waren beinahe da, beinahe in Jerusalem! Gestern Abend hatte ihre Karawane vor dem Dorf Bethel ihre Zelte aufgeschlagen, ihrem Ziel schon quälend nahe. Sacharja hatte kaum geschlafen, so sehr sehnte er sich danach, den letzten Anstieg zur Stadt im Morgengrauen hinter sich zu bringen. „Ich wusste gar nicht, dass das Verheißene Land so bergig ist“, sagte er schnaufend, während er sein ganzes Gewicht gegen den Wagen stemmte. „Es ist ganz anders als Babylon.“ 7


„Es ist wunderschön, nicht wahr?“, fragte Saba. „Ich hatte vergessen, wie schön es ist, nachdem ich beinahe fünfzig Jahre lang in einer flachen, nichtssagenden Gegend gelebt habe. Wir sind beinahe zu Hause … endlich.“ Den größten Teil der Reise über hatte sich die Landschaft um sie herum kaum verändert: Wildnis. Blasser Sand und dunkler Fels. Leblos. Farblos. Dann aber hatten sie die schneebedeckten Gipfel des Hermon erreicht, und die Landschaft war grüner geworden. Sie waren durch Galiläa gewandert, an dem glänzenden See vorbei, der zwischen den Hügeln lag. Für Sacharja war es ein aufregendes Gefühl gewesen, in Abrahams Fußstapfen zu treten und den Weg zurückzulegen, den der Patriarch gegangen war, als er das Verheißene Land zum ersten Mal betreten hatte. Wie Abraham hatte er Gott gehorcht und seinen Vater und seine Mutter verlassen, um diese Reise anzutreten. Endlich kam der Karren oben auf dem Hügel an und Saba blieb am Straßenrand stehen, um einen ersten Blick auf Jerusalem zu werfen. Yael und Safta standen neben ihm. Aber anstelle einer Stadt sah Sacharja nur Ödland. Trostlose Haufen aus Felsbrocken und Geröll, überwuchert von Unkraut und Büschen. Kein Lebenszeichen irgendwo. „Bist du sicher, dass dies der richtige Ort ist, Saba? Vielleicht liegt Jerusalem auf der anderen Seite des Hügels da drüben.“ „Nein, mein Junge. Das ist Jerusalem dort unten – oder was davon übrig ist.“ „Es sieht nicht einmal wie eine Stadt aus“, sagte Yael. „Wo sind denn all die Paläste und Tempel und großen Gebäude, wie es sie in Babylon gab?“ Als Saki seine Augen gegen die Sonne abschirmte, um den vor ihm liegenden Anblick genauer zu betrachten, begann er Spuren eingestürzter Mauern unter der Vegetation zu sehen, Tore und Türme und verkohlte Gebäude, wo einst die Stadt gestanden hatte. Wie sollten sie all dieses Gestrüpp jemals entfernen und alle diese Steine wegräumen? Wo sollten sie anfangen? Die Aufgabe schien überwältigend. Sein Großvater wischte seine Tränen fort, und Sacharja fragte sich, ob es Tränen der Freude oder des Kummers waren. Vielleicht beides. Unter all den Trümmern lagen die Knochen von Sabas Familie und von Tausenden anderer Menschen, die abgeschlachtet worden waren. „Ach, Iddo“, stöhnte Safta. „Es wird ein Leben lang dauern, all das 8


wieder aufzubauen. Wie können wir das mit so wenig Leuten überhaupt schaffen?“ Saba räusperte sich. „Dieses Geröll zeigt uns die Folgen unseres Ungehorsams. Es sollte uns als Warnung dienen, nicht wieder zu scheitern.“ „Wo war denn der Tempel des Allmächtigen?“, fragte Saki. Iddo zeigte auf eine riesige Anhäufung aus behauenen Steinen auf einem entfernten Hügel oberhalb der anderen Ruinen. Einen Augenblick lang schien er zu bewegt, um zu sprechen. „Dort oben“, sagte er schließlich. „Er stand gleich dort auf dem Berg Moriah. Und dort werden wir ihn auch wieder errichten.“

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Tamera Alexander Geerbtes Glück ISBN 978-3-86827-424-0 368 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2014

Kenny Ashford sucht die Abgeschiedenheit bei ihrer Cousine, um für sich und ihren Bruder ein neues Leben aufzubauen – fern vom wachsamen Auge des Gesetzes, mit dem Robert schon öfter in Konflikt geraten ist. Doch Kenny kommt vom Regen in die Traufe: Ihre Cousine stirbt und hinterlässt ihr nicht nur eine verschuldete Ranch, sondern auch ihre fünfjährige Tochter Emma. Und Robert gerät wieder in Schwierigkeiten. Als der attraktive Marshal Wyatt Caradon auf der Bildfläche erscheint und helfen will, stößt Kenny ihn zurück. Einziger Lichtblick ist ihre Freundschaft zu einer jungen chinesischen Frau. Doch was soll aus Robert werden? Wird Kenny die Farm behalten und Emma versorgen können? Und wird Wyatt Caradon für Kenny eines Tages mehr als nur ein Feindbild sein? 10


McKenna Ashford kletterte in der festen Überzeugung, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, in den Westen zu kommen, von der Kutsche. Das Verhalten ihres Bruders zu Hause in Missouri hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Sie betrachtete die nicht gerade idyllische Bergstadt Copper Creek und stellte fest, dass sie rauer war, als sie sich die Stadt nach den Beschreibungen in den Briefen ihrer Cousine vorgestellt hatte. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ ihren Blick über die zerklüfteten Berge wandern, die über Copper Creek Wache standen. Ihr Blick blieb an den schneebedeckten Gipfeln hängen, die sie gleichzeitig mit Ehrfurcht erfüllten und demütig machten. Janie hatte recht: Ein Mensch, der diese Berge sah, wurde unwillkürlich verändert. „Das ist es also? Dafür haben wir unser Zuhause aufgegeben?“ McKenna schaute zu Robert hinauf, der immer noch auf dem Kutschbock saß, und sah die Verachtung in der finsteren Miene ihres Bruders. Robert war erst vierzehn, neun Jahre jünger als sie, aber er war einen ganzen Kopf größer und besaß Muskeln, auf die die meisten Männer stolz gewesen wären. „Robert, ich bitte dich doch nur, dass du mit dem Wagen zu Vince und Janie weiterfährst, damit sie wissen, dass wir angekommen sind.“ Sie war erschöpft und hatte Hunger, aber sie bemühte sich trotzdem, ihre Frustration nicht zu zeigen. Es gelang ihr nicht. Wieder einmal. „Ihr Haus befindet sich nur einen knappen Kilometer außerhalb der Stadt.“ Sie deutete auf den Umschlag, der neben ihm auf dem Kutschbock lag. Sie kannte den Inhalt des Briefes inzwischen auswendig. „Die Wegbeschreibung steht in dem Brief. Ich leihe mir im Mietstall ein Pferd und komme bald nach.“ Robert rührte sich nicht von der Stelle. „Ich sehe nicht ein, warum ich nicht mit dir zum Mietstall kommen kann.“ Er warf einen flüchtigen Blick auf den Brief. „Ich habe diese Leute doch noch nie gesehen.“ Die Frau in dem Bett war nur noch ein Schatten der Frau, die Janie früher gewesen war. Sie sah aus, als näherte sie sich dem Winter ihres Lebens, und nicht dem Sommer. McKenna stand neben dem Fußende des Bettes und war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Sie fühlte sich wie in einem schlimmen Alptraum. Das konnte doch nicht wahr sein! Aber das ausgemergelte Gesicht ihrer Cousine sagte ihr, dass es wahr war. Sie trat näher ans Bett und setzte sich auf die Matratze. Schweißperlen standen auf Janies Stirn. Ihre Hand fühlte sich heiß an. 11


Dr. Foster tauchte ein Tuch in eine Wasserschüssel auf dem Tisch neben dem Bett und legte es Janie auf die Stirn. „Das Fieber setzte vor vier Tagen ein.“ Seine Stimme war gedämpft. „Kurz nachdem sie das Baby entbunden hatte.“ Erst jetzt bemerkte McKenna, dass Janies Bauch, anders als sie erwartet hatte, flach war. Sie schaute sich im Schlafzimmer um und suchte die Wiege. „Es tut mir leid, Miss Ashford, aber … das Baby starb kurz nach seiner Geburt. Es hatte Atemprobleme. Ich habe seine Atemwege gereinigt und getan, was ich konnte. Aber sein kleiner Körper war einfach noch nicht kräftig genug.“ Schmerzerfüllt und verwirrt schaute McKenna wieder ihre Cousine an und wünschte, sie würde endlich aus diesem Alptraum aufwachen. Die Tränen, die sie bis jetzt mühsam zurückgehalten hatte, brachen sich Bahn. „Hatte sie eine Gelegenheit, das Baby in den Armen zu halten?“ „Oh ja, in dieser Zeit nahm sie noch sehr deutlich wahr, was um sie herum geschah. Sie und die kleine Emma umarmten den kleinen Jungen und hielten ihn fest, bevor er starb.“ Er deutete zum Zimmer nebenan. „Emma schläft schon in ihrem Zimmer.“ Obwohl sie immer noch auf dem Bett saß, hatte McKenna das Gefühl, in die Tiefe gerissen zu werden. Als hätte sich der Holzboden unter ihr aufgetan und verschlinge sie mit Haut und Haaren. Dieses Gefühl, unaufhaltsam in die Tiefe zu stürzen, war ungewohnt, aber sie erinnerte sich, etwas Ähnliches schon einmal erlebt zu haben. Diese Erinnerung ging weit zurück. Vierzehn Jahre, um genau zu sein. Als sie sich das letzte Mal so gefühlt hatte, war der kleine Junge, ihr Bruder Robert, nicht gestorben. Aber seine Mutter – ihre Mutter – hatte damals ihr Leben gelassen. Sie legte den Kopf in die Hände und nahm deutlich jeden mühsamen Atemzug ihrer Cousine und das ungleichmäßige Heben und Senken der Bettdecke über ihrer Brust wahr. Die erdrückende Last dieser Nachricht und die Anstrengungen der letzten Wochen raubten ihr fast den Atem. Sie hielt die Luft an und zählte im Stillen bis zehn. Dann atmete sie aus. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, dass es unvermeidlich war, sich der Realität zu stellen. Sie konnte zwar versuchen, die Augen davor zu verschließen oder so zu tun, als gäbe es sie nicht. Aber am Ende holte die Realität sie jedes Mal ein und versetzte ihr einen schwereren Schlag, als wenn sie sich der Situation von Anfang an gestellt hätte. 12


Aus der Küche kam ein Geräusch. Sie hob den Kopf, um zu sehen, ob Robert zurückgekommen war. Doch es war nur Marshall Wyatt Caradon. Er sah in ihre Richtung, aber der abwesende Blick in seinen Augen verriet, dass er sie gar nicht wahrnahm. McKenna tauchte das Tuch wieder ins Wasser und tupfte damit Janies Wangen und Stirn ab. Janie war immer die zartere von ihnen gewesen und diejenige mit dem sanfteren Gemüt. Schon in ihrer Kindheit hatte ihre sanfte Art einen deutlichen Gegensatz zu McKennas eher eigensinnigem Wesen gebildet. Sie beugte sich weiter vor. „Wach auf, Janie“, flüsterte sie und drückte wieder ihre Hand. „Kenny ist hier. Bitte wach auf!“ Sie beugte sich nahe über sie und strich die feuchten blonden Haare aus dem Gesicht ihrer Cousine. „Janie, kannst du mich hören?“ Ihre Cousine brauchte einen Moment, bis sie wusste, wer sie war. „Kenny?“, flüsterte sie schließlich. „Ja.“ McKenna stieß ein erleichtertes Geräusch aus. Es war halb Lachen und halb Weinen. „Ich bin es. Ich bin hier.“ „Du bist gekommen …“ Janies Hand bewegte sich über die Decke und suchte ihre Hand. McKenna ergriff sie und drückte sie an ihre Wange. „Ja, ich bin gekommen. Ich bin da. Alles wird wieder gut werden, Janie. Ich kümmere mich um dich.“ Ihr Atem stockte, und McKenna konnte fast sehen, wie die Fäden, die ihre Cousine noch an diese Erde banden, nach und nach gelöst wurden. „Nimm Emma … und mache sie zu deinem Kind.“ Das war keine Frage. McKenna konnte ihr diese Bitte unmöglich ausschlagen, selbst wenn sie es gewollt hätte. Aber Janie vergaß bestimmt, was sie ihr in ihren Briefen von Robert erzählt hatte. McKenna beugte sich näher vor und wünschte, sie wären allein, wusste aber genau, dass Marshal Caradon neben ihr stand und ihr zuhörte. „Janie, ich … ich weiß nicht, ob ich die beste Wahl bin. Die Sache mit Robert lief nicht gut …“ „Bitte, Kenny.“ McKenna nickte unwillkürlich und zwang die Worte an dem Kloß in ihrer Kehle und der Angst in ihrem Herzen vorbei. „Ja. Ich kümmere mich um sie.“ „Die Ranch …“ Janies Stimme brach ab. „Alles … gehört dir.“

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Amanda Cabot Der Sommer, der so viel versprach ISBN 978-3-86827-429-5 ca. 400 Seiten, Paperback erscheint im Februar 2014

In der Wildnis von Wyoming, 1885 Eigentlich hat Abigail Harding ihr Leben gut im Griff. Sie unterrichtet an einer renommierten Mädchenschule und ist so gut wie verlobt. Doch eine spontane Reise zu ihrer Schwester, die als Offiziersgattin in einem Fort in Wyoming lebt und zutiefst unglücklich zu sein scheint, verändert alles. Abigail gerät in einen Strudel von Ereignissen, der nicht nur ihr gesamtes Lebenskonzept und ihre Zukunftspläne in Frage stellt, sondern sie auch in Lebensgefahr bringt …

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Wyoming, Juni 1885 Es gab Zeiten, in denen sich Abigail Harding nichts mehr wünschte, als ein Einzelkind zu sein. Zeiten wie diese. Wenn Charlotte nicht gewesen wäre, säße sie jetzt nicht eingepfercht in dieser Postkutsche und würde ein Land durchqueren, das so karg war, dass nicht einmal Kojoten hier leben wollten. Zu allem Überfluss wurde sie dabei auch noch von einer Frau begleitet, die noch niemals gehört hatte, dass Schweigen Gold war. „Is ’n ziemlich schöner Tag, stimmt’s?“ Abigail zuckte zusammen, als die Kutsche schwankte und sie zum gefühlt hundertsten Mal gegen die Seitenwand schleuderte. Obwohl ConcordKutschen den Ruf genossen, die komfortabelsten zu sein, die jemals gebaut worden waren, konnte nichts eine holprige Straße ausgleichen. Fahrspuren, so war sie von ihrer gesprächigen Begleiterin informiert worden, waren allerdings immer noch besser als Matsch. Dieser könnte nämlich dazu führen, dass die Räder stecken blieben. Und dann wären die Passagiere gezwungen, auszusteigen und Bekanntschaft mit dem Dreck zu machen. Abigail war dankbar für die kleinen Dinge des Lebens und nickte. „Der Himmel ist herrlich“, gab sie zu. Das war das einzig Positive, was sie über diese trostlose Landschaft sagen konnte. Sie würde sicher nicht behaupten, dass sie das Gebiet von Wyoming schön fände, weil das absolut nicht der Fall war. Aber sie wollte Mrs Dunn auch nur ungern beleidigen, auch wenn sie wünschte, die Frau würde endlich aufhören zu reden. Abigail war an Einsamkeit gewöhnt, und wenn sie nach den Geschichten urteilte, die die Witwe erzählt hatte, war diese ebenfalls damit vertraut. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Mrs Dunn Abigail unter ihre Fittiche genommen hatte, als sie sie in Cheyenne auf die Postkutsche hatte warten sehen. Abigails Einwand, sie komme allein klar, schließlich habe sie ja auch schon ohne Begleitung den ganzen Weg aus Wesley, Vermont, bis Cheyenne geschafft, hatte sie schlicht ignoriert. Es sei sehr unangebracht, so hatte Mrs Dunn behauptet, wenn Abigail ihre Reise ohne Begleitung fortsetze. Das gelte umso mehr, als einer der anderen Passagiere in der Postkutsche nach Deadwood ein alleinstehender Mann sei. „Er is Soldat“, hatte ihre selbsternannte Beschützerin gezischt, als ob Abigail nicht in der Lage sei, eine Uniform zu erkennen. „Das sollte eigentlich bedeuten, dass er ’n anständiger Kerl is, aber man kann nich vorsichtig genug sein.“ 15


Nicht einmal der Anblick eines Ehepaares, welches Fahrscheine kaufte, reichte aus, um Mrs Dunn von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie hielt Abigails Arm fest umklammert. „Das sind reiche Leute“, erklärte sie und zeigte auf den Berg eleganter Koffer, der die beiden begleitete. „Die wollen ganz bestimmt nichts mit uns zu tun haben.“ Und so fand sich Abigail auf der Rückbank neben einer Frau wieder, die Stunden damit zubrachte, die Kordeln ihres Pompadours, eines unförmigen Beutels, der ihr als Handtasche diente, auf- und wieder zuzuknoten. Währenddessen hatte es sich der Leutnant auf dem Vordersitz neben dem wohlhabenden Pärchen bequem gemacht. Mit einem Fuß stützte er sich an der leeren Bank ab, die die mittlere Sitzreihe des Innenraumes bildete. Seine Mütze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Der Anstand wurde zweifelsohne gewahrt, denn er und Abigail waren durch die ganze Länge der Kutsche voneinander getrennt. Sie sprachen nur miteinander, wenn die Postkutsche anhielt und er Abigail und Mrs Dunn dabei half, die hohen Stufen hinabzusteigen. Wie von Mrs Dunn vorhergesagt, war das Paar, das sich als Mr und Mrs Fitzgerald aus New York City vorgestellt hatte, eher schweigsam geblieben. Die beiden hatten sich lediglich darüber beklagt, rückwärts fahren zu müssen. Als Abigail ihnen ihren Platz und den noch freien Sitz zwischen ihr und Mrs Dunn angeboten hatte, hatte die Witwe protestiert. „Sie können nich bei dem Herrn sitzen. Das macht man nich.“ Sie umklammerte Abigails Arm hartnäckig und hinderte sie dadurch, sich von ihrem Platz zu erheben. Die offensichtlich verärgerten Fitzgeralds beschränkten sich darauf, leise miteinander zu sprechen, und ignorierten Mrs Dunn völlig. Obwohl ihnen das nicht vorzuwerfen war, hatte es letztendlich dazu geführt, dass Abigail als einzige Gesprächspartnerin der übermäßig korrekten Witwe übriggeblieben war. „Sie mögen also unser ’n Himmel.“ Obwohl sie sich nichts mehr wünschte, als die Unterhaltung zu beenden, zwangen ihre guten Manieren Abigail, artig zu erwidern: „Ich habe noch nie einen so klaren Himmel in einem so tiefen Blau gesehen.“ „Ich geh mal davon aus, dass das Gebiet von Wyoming nich gerade heimatliche Gefühle bei Ihnen weckt.“ Hatte Mrs Dunn ihre Gedanken gelesen? Dieser Ort, der nun schon 16


seit einem Jahr Charlottes Zuhause war, erschien ihr ausgesprochen ungastlich. Vielleicht war das der Grund, weshalb Charlottes Briefe so gezwungen gewirkt hatten. Vielleicht war das der Grund, warum es Abigail unmöglich gewesen war, ihre Bedenken zu zerstreuen. Vielleicht war das der Grund, warum sie einen Zug bestiegen und ihr sorgfältig durchgeplantes Leben hinter sich gelassen hatte. Als sie aus Vermont abgereist war, war sie sich sicher gewesen, dass Gottes Wille sie hierhergeführt hatte. Jetzt gab es überhaupt nichts mehr, dessen sie sich sicher war. Mrs Dunn beugte sich zu ihr herüber und tätschelte Abigails Hand. „Würd mich nich überraschen, wenn Sie sich im Fort selbst einen Ehemann angeln. Soldaten sind ganz schön einsam und immer auf ’ne Frau aus. Sie müssen sich in Acht nehmen, denn das sind nich alle ehrenwerte Männer.“ „Ich suche nicht nach einem Ehemann.“ Selbst wenn sie mit Woodrow nicht so gut wie verlobt wäre, würde Abigail ganz bestimmt nicht in einem Fort der Armee nach einem Ehepartner suchen. Sie war nicht für das Leben einer Soldatenfrau gemacht. Ganz bestimmt nicht. Gott hatte sie vielleicht hierher geschickt, aber es war nicht sein Plan, dass sie hierblieb. Davon war Abigail genauso felsenfest überzeugt wie von ihrer Annahme, dass im Leben ihrer Schwester irgendetwas ernsthaft schieflief. Während sie erneut an den Bändern ihres Pompadours herumnestelte, schüttelte Mrs Dunn den Kopf. „Blödsinn. Jede Frau sucht nach einem eigenen Mann. Gucken Sie sich doch mal den Leutnant an.“ Abigail hatte genau das getan, als sie in die Postkutsche gestiegen war. Der Mann, der sich selbst als Leutnant Bowles vorgestellt hatte, war mindestens 15 cm größer als sie selbst mit ihren 1,68 m. Er hatte blonde Haare und Augen, deren Blau beinahe genauso tief war wie der Himmel von Wyoming. Seine Uniform glich der Kleidung, die Jeffrey bei seiner Hochzeit mit Charlotte getragen hatte: eine dunkelblaue, langgeschnittene Jacke mit sieben Messingknöpfen auf jeder Seite sowie eine leichte blaue Wollhose mit einem weißen Streifen, der die Zugehörigkeit zur Infanterie kennzeichnete. Während sich Jeffrey jedoch ein bisschen unwohl darin gefühlt hatte, trug dieser Mann seine Uniform wie eine zweite Haut. Abigail hatte durchaus bemerkt, dass Leutnant Bowles’ Uniform seinen breiten Schultern und langen Beinen schmeichelten, aber was ihre Aufmerksamkeit immer wieder anzog, waren seine Lippen. Obwohl nicht 17


voller als bei anderen Männern, waren sie erstaunlich ausdrucksvoll. Auch zuckten oder verzogen sie sich bei jedem der haarsträubenden Kommentare, die Mrs Dunn äußerte. Dabei blieb der Rest seines Gesichtes so unbeweglich, als würde Leutnant Bowles tatsächlich schlafen. „Er wäre ein guter Ehemann für Sie“, beschloss Mrs Dunn. Abigail warf einen Blick in Richtung ihres Mitreisenden. Obwohl es so aussah, als würde er gegen ein Lächeln ankämpfen, fand sie es nicht lustig, dass Mrs Dunn ständig Dinge verkündete, die jeder Grundlage entbehrten. Da war zum Beispiel die Art und Weise, wie sie versuchte, ihr ausgesprochen altmodisches Verständnis von Anstand durchzusetzen. Es wäre kein Problem gewesen, wenn Abigail auf dem gegenüberliegenden Platz gesessen hätte. „Is ziemlich wahrscheinlich, dass er nich verheiratet ist. Man kann natürlich nie sicher sein. Er könnte irgendwo ein Mädel haben. Ich denke, ich werd ihn mal fragen, wenn er aufwacht.“ Abigail seufzte. Der Leutnant hatte es richtig gemacht. Sie hätte ebenfalls vortäuschen sollen zu schlafen. Abigail starrte aus dem Fenster und versuchte, beim Anblick der Landschaft, die über endlose Meilen hinweg dieselbe blieb, nicht allzu finster dreinzublicken. Schon vor einer ganzen Weile hatten sie die Ranch wieder verlassen, in der sie Mittagsrast gemacht hatten. Das Essen dort war überraschend schmackhaft gewesen. Unglücklicherweise hatten Abigails Röcke dort die Bekanntschaft mit den Blättern einer Yuccapflanze gemacht. Seitdem hatte sie außer endlosen Hügelketten unter dem weitesten Himmel, der ihr jemals untergekommen war, nichts anderes mehr zu Gesicht bekommen. Wie sie schon zu Mrs Dunn gesagt hatte: Der Himmel war wunderschön, aber Abigail brauchte mehr. Sogar eine Wolke hätte geholfen, die Monotonie zu vertreiben. Doch leider war nicht eine einzige am Himmel zu sehen. Es gab nur Sonne und Wind und langweilige, armselige Hügel. Wie konnte Charlotte das aushalten? Vielleicht konnte sie es nicht. Vielleicht war das der Grund, weshalb ihre Briefe so melancholisch klangen. Obwohl ihre Schwester es leugnete, wusste Abigail, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn sie nur ein Buch zur Hand hätte! Es würde noch einige Stunden dauern, bis sie Fort Laramie erreichten. Jetzt, wo Mrs Dunn gnädigerwei18


se eingeschlafen war, hätte Abigail ungestört lesen können. Zu dumm, dass all ihre Bücher sicher in ihrem Koffer verstaut waren, was ihr keine andere Möglichkeit ließ, als aus dem Fenster zu starren. Hügel und Gestrüpp. Gestrüpp und Hügel. Mehr nicht. Langweilig. Abigail war sich nicht sicher, wie lange sie ihre Augen schon in die Ferne gerichtet hatte, als sie die Staubwolke sah. Einen Moment lang fragte sie sich, ob es sich um eine Fata Morgana handelte. Sie hatte gehört, dass Reisende in der Wüste Bilder von Oasen mit lebenspendendem Wasser heraufbeschworen, nur um dann festzustellen, dass die schillernden Wasserstellen nicht mehr als eine optische Täuschung waren. Abigail war nicht auf der Suche nach Wasser, sondern sehnte sich nur nach menschlichen Behausungen. Aber der Staub musste eine Fata Morgana sein, denn Mrs Dunn hatte gesagt, dass es nur wenige Siedler in dieser Gegend gab. Abigail bildete sich einfach nur ein, dass die braune Wolke durch Pferde aufgewirbelt wurde. Dennoch kam der Staub näher. Schließlich erkannte sie, dass die Wolke von zwei Reitern verursacht wurde. Einer von ihnen ritt auf einem dunklen Pferd, der andere auf einem hellen Palomino. Abigail schluckte schwer. Sie war sich nicht sicher, ob der Schauer, der ihren Rücken hinunterrieselte, von freudiger Erwartung oder von Angst herrührte. „Da kommt jemand.“ Obwohl sie es nicht beabsichtigt hatte, sprach sie die Worte laut aus. Die Antwort kam sofort. „Wo?“ Leutnant Bowles reagierte schnell. In der einen Sekunde hatte er noch mit geschlossenen Augen auf dem Sitz gelehnt, in der anderen starrte er schon aus dem Fenster und beobachtete konzentriert die sich nähernden Reiter. Zuerst wurden seine ausdrucksvollen Lippen schmaler, dann verfinsterte sich auch sein Blick. „Da ist Ärger im Anmarsch“, sagte er knapp. „Wahrscheinlich Wegelagerer.“ Abigails Herz begann zu galoppieren. Obwohl sie einige von Schülern konfiszierte Groschenromane gelesen hatte, war sie davon ausgegangen, dass die Geschichten von Banditen, welche Postkutschen überfielen, Hirngespinste seien. Jetzt würde sie allem Anschein nach einen Überfall erleben und – wenn die Geschichten doch ein Körnchen Wahrheit enthielten – dann bedeutete das … Ohne die Augen von den Reitern zu nehmen, zeigte der Leutnant auf die gegenüberliegende Seite der Kutsche. 19


„Bleiben Sie zurück!“, befahl er, „und sorgen Sie dafür, dass die anderen ruhig bleiben.“ Abigail atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen, dann warf sie einen weiteren Blick auf die herannahenden Männer. Sie würde auf keinen – auf gar keinen – Fall auf den Revolver des Leutnants schauen. „Es sind Soldaten.“ Sie flüsterte, weil sie die anderen nicht wecken wollte. Die Uniformen der herannahenden Reiter hatten die gleiche Farbe wie die von Leutnant Bowles. Der einzige Unterschied im Äußeren bestand darin, dass diese Männer Halstücher über ihr Gesicht gezogen hatten. „Wahrscheinlich Deserteure, die nichts Gutes im Schilde führen.“ Leutnant Bowles lehnte sich aus dem Fenster und rief in Richtung des Kutschers: „Halten Sie nicht an. Auf gar keinen Fall! Was auch passiert, Sie halten erst an, wenn ich es Ihnen sage.“ „Aber Sir …“ Angst begleitete die Worte des Kutschers. „Vertrauen Sie mir. Fahren Sie weiter.“ Der Kutscher knallte mit der Peitsche, sodass die Pferde zu galoppieren begannen, wodurch die Kutsche ins Schwanken geriet. Als ihr der Pompadour vom Schoß fiel, riss Mrs Dunn die Augen auf. „Was geht hier vor?“, kreischte sie, als ihr Blick auf die Waffe fiel, die der Leutnant gezogen hatte. Der Schrei weckte die Fitzgeralds. Mit schreckgeweiteten Augen klammerte sich Mrs Fitzgerald an ihren Ehemann. „Seien Sie alle still!“ Abigail schlug den scharfen Ton an, dessen sie sich bei besonders aufsässigen Schülerinnen bediente. „Das sind Banditen.“ Sie schlang ihren Arm um Mrs Dunns Schultern und drückte sie in ihren Sitz. Wenn Leutnant Bowles das Gold retten wollte oder das, was die Gauner ansonsten im Sinn hatten, zu verhindern versuchte, konnte er keine Störungen gebrauchen. „Nein!“ Mrs Dunn kämpfte gegen Abigail an. Dabei glitten ihre Augen von dem Leutnant zu ihrem Schoß. „Mein Pompadour! Ich brauche meinen Pompadour!“ Die schwere Tasche war auf die andere Seite der Kutsche gerutscht, wo sie neben den Füßen des Leutnants lag. Mr Fitzgerald beugte sich hinunter, um den Pompadour aufzuheben, doch Abigail schüttelte energisch den Kopf. „Nicht jetzt!“ Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie die Banditen immer näher 20


kamen. In einigen Sekunden würden sie die Kutsche erreichen. Und dann … Lieber Gott, beschütze uns. Draußen rief der Reiter auf dem Palomino seinem Gefährten etwas zu, woraufhin dieser sein Gewehr hob und auf den Kutscher zielte. Abigail schauderte, während panische Angst durch ihre Adern strömte. Bitte nicht. „Gib mir Geld!“, rief der Bandit. Sein starker Akzent in seinem gebrochenen Englisch verriet, dass seine Muttersprache Deutsch war. Der Leutnant murmelte etwas vor sich hin. Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass es etwas sehr Unschmeichelhaftes war. „Gib mir Geld. Sofort!“, wiederholte der Mann. Nun antwortete Leutnant Bowles laut und deutlich, wobei er seinen Blick nicht von den Angreifern abwandte: „Es gibt kein Geld oder sonst irgendetwas.“ „Hör nich auf ihn“, sagte der Mann auf dem Palomino zu seinem Gefährten. „Er is nur einer und wir sind zwei.“ Obwohl auch sein Englisch nicht das Beste war, sprach er ohne Akzent. „Halt, sage ich!“, befahl der Deutsche. „Halt oder ich schieße.“ Er untermauerte seine Drohung mit einem Schuss in die Luft. „Das war kleine Warnung“, fuhr er in gebrochenem Englisch fort. „Gleich wird keine Warnung mehr sein.“ „Hilfe!“ Die Stimme des Kutschers war panisch. „Helfen Sie mir!“ Es gab nur einen möglichen Ausweg. Abigail wusste das, auch wenn sich alles in ihr gegen diesen Gedanken sträubte. Wenn Leutnant Bowles jetzt nicht handelte, würde der Kutscher sterben. Es gab nur zwei Möglichkeiten: zu töten oder dabei zuzusehen, wie ein Unschuldiger – vielleicht mehr als einer – umgebracht wurde. Als der Leutnant auf den Abzug drückte, füllte das ohrenbetäubende Geräusch des Revolvers die Kutsche. „Oh nein!“ Mrs Fitzgerald sank ohnmächtig zusammen. „Halt!“, kreischte Mrs Dunn, während sie versuchte, Abigails Griff zu entkommen. „Der Herr sagt: ‚Du sollst nicht töten‘!“ Aber der Leutnant hatte niemanden getötet, erkannte Abigail fast ein wenig ungläubig. Irgendwie, auch wenn es ihr fast unmöglich erschien, hatte er den Banditen nur so sehr verwundet, dass dieser sein Gewehr fallen gelassen hatte und jetzt seine Hand umklammerte. „Lass uns abhauen.“ Der andere Bandit zügelte sein Pferd, drehte um 21


und jagte davon. Dabei blickte er nicht einmal zurück, um festzustellen, ob sein verwundeter Gefährte hinter ihm war. Der Deutsche, der sich vor Schmerzen krümmte, folgte ihm langsamer. Die Gefahr war vorbei. Der Herr hatte ihre Gebete beantwortet. Niemand war getötet worden. Nicht heute. Abigail spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel. Sie fühlte sich plötzlich so kraftlos wie ein welker Stängel Sellerie. Abigail wandte sich dem Leutnant zu. Dieser musterte gerade prüfend die anderen Passagiere. „Danke“, sagte sie sanft. „Ich weiß nicht, was wir ohne Sie getan hätten.“ „Ich tue nur meine Arbeit, Miss.“ Seine Stimme war so ruhig, als vereitele er jeden Tag Raubüberfälle. Vielleicht tat er das auch. Der Leutnant lehnte sich erneut aus dem Fenster und wandte sich an den Kutscher. „Sie können jetzt anhalten. Ich bezweifle, dass die Banditen zurückkommen werden, aber ich werde neben Ihnen sitzen, nur für den Fall der Fälle.“ Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, konnte Abigail nicht mehr verhindern, dass sie am ganzen Körper zitterte. Dieses Land war schlimmer, viel schlimmer, als sie geglaubt hatte. Staub und Wind und unbarmherzige Hitze waren nichts im Vergleich zu mordenden Gesetzlosen. Wer wusste schon, was passiert wäre, wenn es den Leutnant nicht gegeben hätte? Sie blickte aus dem Fenster auf die trostlose Landschaft. Jetzt suchte sie nicht mehr nach Anzeichen für menschliches Leben. Eine karge Umgebung, sogar Yuccas, waren die bessere Alternative. Als ihr Blick den von Leutnant Bowles kreuzte, sagte Abigail mit fester Stimme: „Wyoming ist kein Ort, an dem man leben kann.“ Was sie bereits geahnt hatte, wusste sie nun mit Sicherheit: Leutnant Bowles versuchte, sein Schmunzeln zu unterdrücken. „Damit könnten Sie recht haben.“ Er lächelte, als er hinzufügte: „Aber Sie müssen zugeben, dass es nicht langweilig ist.“

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Cathy Marie Hake Mehr Charme als Etikette ISBN 978-3-86827-428-8 ca. 352 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2014

Kalifornien 1859 Wenn sie nicht über ihre eigenen Füße stolpert, bringt sie garantiert ihr schnelles Mundwerk in Schwierigkeiten. Dabei hat Ruth Caldwell die besten Absichten. Seit Jahren versucht sie, eine echte Lady zu werden. Doch es will ihr einfach nicht gelingen. Als Josh McCain Ruth das erste Mal sieht, verschlägt es ihm die Sprache. Nicht nur, weil sie so aussieht, als hätte sie wochenlang in ihrer Kleidung geschlafen, sondern auch, weil ihre wilden Locken und die hinreißenden grünen Augen ihn auf Anhieb faszinieren. Doch dann erhebt Ruth Anspruch auf Joshs Erbe – und schon bald fliegen zwischen ihnen eher die Fetzen als die Funken. Noch nie in seinem Leben hat Josh eine so halsstarrige, unbeholfene und ungeschickte Person wie Ruth kennengelernt. Als ihre „Unfälle“ gefährliche Ausmaße annehmen, muss er eine Entscheidung treffen ...

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Als die Kutsche an ihm vorbeifuhr, schenkte Joshua ihr keinerlei Beachtung. Er war auf dem Weg zum Büro seines Anwalts. Vor ein paar Jahren hatte ein Feuer in der Stadt gewütet, aber sie war wieder aufgebaut worden. Innerhalb kürzester Zeit war sie in neuem Glanz erstrahlt. Josh ging an dem neuen Barbier vorbei, ließ die Wäscherei links liegen und passierte gerade das Büro des Sheriffs, als der Fahrer der Postkutsche ihm von der anderen Straßenseite aus zurief: „Hey, McCain! Ich hab eine Lieferung für Sie!“ Joshua nickte und überquerte die zerfurchte Straße. Er erwartete den neuen Sattel, mit dem er eigentlich erst in ein paar Tagen gerechnet hatte. Aber der Fahrer half jemandem aus der Kutsche. Meterweise grüner Stoff ergoss sich auf die Straße und die Seide zeigte, dass es sich um eine wahre Lady handeln musste. Josh lächelte – eine hübsche junge Frau bekam man hier in der Gegend nicht oft zu Gesicht. Er hätte nichts dagegen, sie kennenzulernen. Dann bekam Joshua plötzlich ein seltsames Gefühl. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte, der Fahrer hatte der Frau seinen Namen zugeflüstert. „Hier ist sie. Auf dem Weg zur Broken P Ranch, sagt sie. Zum Glück sind Sie heute hier in der Stadt. Miss, das ist Joshua McCain, Junior. Er bringt Sie raus zur Ranch.“ „Haben Sie vielen Dank“, murmelte sie. Joshua starrte sie ungläubig an. Schlank, blond und … oh nein. Grüne Augen. In dem Moment, in dem sie sich ihm zuwandte, wusste er, wer sie war. Diese Frau war das Ebenbild ihres Vaters. Natürlich war sie viel zarter und wirkte tausendmal eleganter, aber es gab keinen Zweifel an ihrer Verwandtschaft mit Caldwell. Ein Gewirr von sonnigen Locken umspielte ihr Gesicht und ihre Augen funkelten vor Intelligenz, als sie ihn ansah. Dann ließ sie ihren Blick schweifen, als wollte sie jedes kleine Detail in ihrer Umgebung in sich aufnehmen. Ihre Lippen zitterten – kämpfte sie gegen ein Lachen oder gegen Tränen an? Nach den verzierten Knöpfen an ihrem Kleid und den Rüschen zu urteilen, hatte jemand viel zu viel für ihr Reisekleid ausgegeben – vor allem, weil es aussah, als würde sie es seit einem halben Jahr tragen. Sie war ohne Zweifel die hilfloseste Frau, die er je zu Gesicht bekommen hatte, … und die schönste. 24


Sie strich schnell ihren Rock glatt und machte einen kleinen Knicks. „Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Mr McCain.“ „Miss Caldwell“, sagte er grimmig und lüftete seinen Hut, „Sie hätten nicht hierher kommen sollen.“ Schockiert sah sie ihn an und schnappte nach Luft. Ihre Hand flog an ihren Hals und sie blinzelte ihn an. „Ich stelle ihre Koffer auf den Bürgersteig“, sagte der Fahrer zu Josh, nachdem er eine kleine Tasche neben ihren Füßen abgestellt hatte. „Ich hoffe, Sie haben Ihren Wagen dabei. Die Lady reist nicht gerade mit leichtem Gepäck.“ „Koffer? Sie hat Koffer mitgebracht?“ Miss Caldwell reckte sich zu ihrer vollen Größe auf und versuchte, respekteinflößend zu wirken. Da sie ihm gerade einmal bis zum Kinn reichte, schlug ihr Versuch fehl. Ihre ohnehin schon zurückgenommenen Schultern strafften sich noch mehr. „Ich konnte wohl kaum unvorbereitet hierher reisen.“ Joshua warf einen verzweifelten Blick auf die Koffer, die sich auf dem Dach der Kutsche stapelten, dann sah er zurück zu ihr. Sie sah aus wie ein Mustang, dem man zum ersten Mal einen Sattel übergeworfen hatte. Seltsam, wie jemand völlig stillstehen und trotzdem den Eindruck vermitteln konnte, er könnte jede Sekunde losspringen. Jede Faser in ihrem Körper schien angespannt zu sein. Er schuldete ihr die Wahrheit, aber sie ihr zu sagen würde alles andere als leicht werden. Sie hickste, zuckte erschrocken zusammen und ihr Gesicht wurde knallrot. Schnell kramte sie in dem Täschchen, das an ihrem Handgelenk baumelte, und zog einen Fächer hervor. Sie klappte ihn auf und versteckte sich halb hinter dem elfenbeinfarbenen Stoff, konnte aber nicht verbergen, dass sie schon wieder gehickst hatte. „Entschuldigen Sie bitte“, murmelte sie. Ein erschreckender Gedanke durchzuckte Joshua und er beugte sich zu ihr, um zu schnüffeln. Obwohl er keinen verdächtigen Geruch an ihr wahrnehmen konnte, war es doch möglich, dass ihr Parfüm den Alkohol überlagerte. Immerhin wusste jeder, dass die Schwäche für Alkohol vererbt wurde. „Brauchen Sie noch etwas zu trinken?“, fragte der Fahrer. Noch etwas zu trinken? Joshua stöhnte. Er hatte ihren Vater dazu ge25


bracht, trocken zu werden, und das war schrecklich gewesen. Er würde sich diese Last nicht noch einmal auferlegen. „Vielleicht eine Limonade oder – hicks – Wasser“, sagte sie flüsternd. Jeder Schwung ihres Fächers ließ ihre Locken tanzen. Josh nickte und sah den Fahrer an. „Laden Sie die Koffer noch nicht ab.“ „Tut mir leid. Aber ich bin schon in Verzug. Muss weiter.“ Einen Moment lang hoffte Josh, er könnte sie wieder in die Kutsche setzen und zurück nach Hause schicken, aber das Schild an dem Fahrzeug zeigte ihm, dass es in die falsche Richtung weiterfuhr. Er grummelte leise vor sich hin, dann entscheid er sich endlich. „Miss Caldwell, ich bringe Sie in Rick Maltbys Büro. Er hat etwas zu trinken für Sie.“ Es war der nächstgelegene Ort, an dem sie sich ohne Zuhörer unterhalten könnten. Er nahm ihren Ellbogen und steuerte sie in die richtige Richtung. Immerhin ging sie mit festen Schritten. Allmählich fingen die Menschen an, sich um sie zu versammeln – die Neugier einer Kleinstadt – und Josh wollte nicht riskieren, dass die arme Frau von einem unbedachten Cowboy vom Tod ihres Vaters erfuhr. Sie überquerten die Straße und traten ins Büro des Anwalts, doch es war leer. Wahrscheinlich war Rick gerade im Copper Kettle, um dort etwas zu essen. Joshua hängte seinen Hut an einen Haken und zeigte auf einen Stuhl. „Nehmen Sie Platz. Ich hole Ihnen Wasser.“ Er ging zu einem kleinen Tisch an der Wand und wischte den allgegenwärtigen Staub vom Rand der Kanne. Das Wasser war wahrscheinlich gar nicht nötig – der Schock, den seine Nachricht auslösen würde, würde ihren Schluckauf mit Sicherheit stoppen. Er drehte sich noch einmal um und wiederholte: „Nehmen Sie Platz.“ „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber stehen bleiben, Sir. Ich habe die letzten drei Wochen in dieser winzigen Kutsche verbracht und es ist eine willkommene Abwechslung, auf den Füßen zu sein.“ Nach jedem dritten Wort musste sie hicksen. Hoffentlich würde Rick bald hier auftauchen. Die Nachricht, dass eine junge Frau in seinem Büro auf ihn wartete, würde sich bestimmt wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreiten und ihn innerhalb weniger Minuten erreichen. Doch Maltby ließ sich nicht blicken, und so ergab sich Josh in sein 26


Schicksal, dass er ihr die traurige Nachricht eröffnen musste. Er musste es einfach durchziehen. „Vielen –“ Miss Caldwell erstarrte mitten im Satz und runzelte die Stirn. „Ich erkenne dieses Wachssiegel, Mr McCain.“ Sie fesselte seinen Blick mit ihren Augen. „Es ist das Siegel meiner Mutter und es ist erbrochen. Was denken Sie sich dabei, den Brief meines Vaters zu öffnen?“ Joshua sah auf den Umschlag, den er in seiner Westentasche verstaut hatte. So hatte er das Gespräch eigentlich nicht anfangen wollen. Joshua drückte ihr das Glas in die Hand. „Miss Caldwell, ich würde niemals absichtlich einen Brief an jemand anderen lesen.“ „Oh.“ Sie lächelte ihn an. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich vorschnelle Schlüsse gezogen habe. Mein Vater muss Sie geschickt haben, um mich hier abzuholen.“ „Miss, Ihr Vater hat mich nicht geschickt.“ Josh verzog das Gesicht, dann nahm er den Briefumschlag und drehte ihn so, dass sie beide Seiten sehen konnte. „Tatsache ist, dass meiner Familie die Broken P Ranch gehört. Und das war als Adresse angegeben, also habe ich den Brief bekommen. Alan Caldwell ist vor zwei Jahren sehr krank geworden.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause, um sie vor dem nun Folgenden zu warnen. „Er hat es nicht geschafft.“ Als sie nicht reagierte, merkte er, dass er vielleicht doch ein bisschen direkter werden musste. „Es tut mir leid, Miss. Ihr Vater weilt nicht mehr unter uns.“ Er erwartete, dass ihr Schluckauf verschwinden und sie in Tränen ausbrechen würde. Doch stattdessen wurde der Schluckauf stärker. Sie lehnte sich gegen die Wand und mit jedem Zucken ihrer Schultern klapperte der Fensterladen. Schnell wandte sie ihren schmerzverzerrten Blick von ihm ab. „Ihr Verlust tut mir sehr leid.“ „Er hat Mama weggeschickt.“ Sie reckte sich und fing an, sich mit ihrem Fächer Luft zuzufächeln. Ärger ließ ihre Augen dunkel werden und ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. „Und jetzt versucht er das Gleiche mit mir. Sie haben es selbst gesagt – ich hätte nicht herkommen sollen.“ Joshua nahm ihr den Fächer weg, bevor sie sich damit verletzen konnte – oder ihn. „Trinken Sie einen Schluck Wasser.“ Sie sah nach unten und legte den Kopf schief. Ein neuerliches Hicksen 27


zerschnitt ihren Seufzer. In ihrem Schock hatte die Frau es geschafft, Wasser auf ihr Kleid zu schütten. „Ist schon gut“, sagte Josh beruhigend. Er nahm ihr das Glas ab und stellte es neben den Fächer auf Maltbys Schreibtisch. Dann legte er seine Hände auf ihre Schultern. So sehr, wie die zarte Frau unter seinen Fingern zitterte, war ihm klar, dass seine Worte langsam in ihr Bewusstsein drangen. Eine seltsame Welle der Zuneigung überschwemmte ihn. „Hier. Nehmen Sie doch lieber kurz Platz.“ Sie leistete keinen Widerstand, als er sie vorsichtig auf einen Stuhl drückte. Immer wieder strich sie über den nassen Fleck auf ihrem Kleid. „Ich muss mich unbedingt umziehen, bevor ich zur Ranch fahre. So kann ich ihm unmöglich unter die Augen treten.“ Joshua legte seine große Hand unter ihr weißes Kinn und hob ihr Gesicht zu ihm auf. Er hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Aber außer ihm war niemand hier, und es war seine Aufgabe, ihr beizustehen und sie zurück zu ihrer Mutter zu schicken. Ihrer sterbenden Mutter. Das machte alles nur noch dringlicher. Mit Sicherheit wusste die junge Frau nicht genau über den Zustand ihrer Mutter Bescheid, sonst hätte sie diese Reise bestimmt nicht unternommen. Im Andenken an Alan würde er dafür sorgen, dass sie schnellstmöglich nach Hause zurückkehrte. „Miss Caldwell, dieser kleine Wasserspritzer macht rein gar nichts. Bei dieser Hitze ist er in ein paar Minuten getrocknet. Aber Alan ist tot … Glauben Sie mir: Er ist gestorben. Kein Vater würde seine eigene Tochter verleugnen.“ „Doch, das würde er“, sagte sie leise. Plötzlich zuckte sie vor seiner Berührung zurück, deshalb ließ er sie los und ging auf die andere Seite des kleinen Büros. Eine lange Stille entstand, nur unterbrochen von ihrem regelmäßigen Schluckauf. „Er hat meine Mutter weggeschickt, obwohl sie hübsch war und gute Manieren hatte. Jetzt will er mich nicht einmal sehen, und ich weiß, dass das mein Fehler ist. Bitte, fühlen Sie sich nicht dazu gezwungen, Ausreden zu erfinden.“ Joshua starrte sie an. Ihr ganzer Wunsch schien es gewesen zu sein, ihren Vater zu treffen. Anstatt die Wahrheit zu akzeptieren, suchte sie nun nach Ausreden, weil sie hoffte, ihn später doch noch zu sehen … aber es würde kein Später geben. Mitleid wogte in ihm auf. Sie hatte nur wenig gesagt, und doch meinte er ihr Problem zu erkennen. Sie dachte, wenn 28


sie hübsch war und perfekt und sich gut benahm, würde sie sich damit das Recht erkaufen, eine geliebte Tochter zu sein. Kein Mädchen sollte so etwas denken müssen. Außerdem war sie schön und sehr anziehend, auf ihre eigene Art und Weise. Seine Sporen klirrten leise, als er die Distanz zwischen ihnen überbrückte. Er hob ihre Hände, die in verschmutzten weißen Handschuhen steckten, und drückte sie. „Miss Caldwell, glauben Sie, dass Gott Sie liebt?“ „Ja.“ „Müssen Sie perfekt sein, damit er sich um Sie kümmert?“ „Er ist überall. Also könnte er mir wohl kaum entkommen, selbst wenn er es wollte.“ Sobald sie diese Worte ausgesprochen hatte, schlug sie sich eine Hand vor den Mund. „Oh, es tut mir so schrecklich leid. Das war ganz furchtbar von mir. Ich sage immer die falschen Sachen.“ Bevor er etwas antworten konnte, öffnete sich die Tür und Maltby kam herein. Joshua räusperte sich. „Rick Maltby, lassen Sie mich Ihnen Miss Ruth Caldwell vorstellen. Miss Caldwell, das ist Rick Maltby, der Anwalt in unserer kleinen Stadt.“ Rick reagierte nicht im Mindesten überrascht. Er nickte ihr weltmännisch zu. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Ruth erhob sich, machte einen Knicks, schnappte sich ihren Fächer und ließ sich wieder gegen die Wand sinken. „Es tut mir leid, dass ich Ihren Stuhl in Beschlag genommen habe, Sir.“ Sie schaffte es, sich selbst mit ihrem Fächer zu schlagen, als sie ein Taschentuch aus dem Ärmel zog. Dann hielt sie beide Utensilien vor sich, als hätte sie sich für den Kampf gewappnet. Rick zog zwei Stühle vor seinen Schreibtisch. „Warum setzen Sie sich nicht beide hierher?“ Sie starrte ihn an und schüttelte den Kopf. „Sie glaubt mir nicht, dass Alan tot ist“, informierte Joshua ihn. Zehn Minuten später saß Ruth neben Joshua vor Ricks Schreibtisch. Sie hatten sie zwischen sich genommen und waren zu dem kleinen Friedhof gegangen, um ihr den Grabstein zu zeigen. Als sie ihn gesehen hatte, war seltsamerweise der Schluckauf verschwunden. Sie hatte den Kopf sinken lassen und die Schultern waren eingefallen. Für einen Moment hatte Josh gedacht, sie würde ohnmächtig werden, doch dann hatte sie ihre Hände gefaltet, einen sehr undamenhaften Seufzer ausgestoßen und einen Mo29


ment in stillem Gebet am Grab des Vaters verbracht, den sie nie kennengelernt hatte. Jetzt presste Miss Caldwell ihre Handschuhe in ihren Schoß und starrte auf die Kante von Ricks Schreibtisch. Sie hatte die Handschuhe beim Ausziehen auf links gedreht, sodass sie jetzt aussahen wie kleine weiße Hasenohren. Das berührte Josh – sie versuchte so sehr, sich angemessen zu benehmen, eine vollendete Dame zu sein, aber tief in ihrem Inneren rebellierte sie gleichzeitig dagegen. „Ich wünschte, ich wäre niemals hergekommen“, flüsterte sie. „Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte Josh sie. „Ich sorge dafür, dass Sie zu Ihrer Mutter zurückkehren können.“ Miss Caldwell schüttelte den Kopf. Die plötzliche Bewegung ließ ihre Locken hüpfen. Wieder fragte er sich, ob sie überhaupt über den Gesundheitszustand ihrer Mutter informiert war, deshalb war er sehr vorsichtig. „Der Brief besagt, dass sie nicht bei guter Gesundheit ist.“ „Dann wollen Sie bestimmt so bald wie möglich wieder abreisen“, vermutete Rick. „Das kann ich nicht.“ Ihr Griff um die Hasenohren wurde fester. „Sie … sie ist gestorben.“ „Ich verstehe.“ Rick machte deutlich, dass sie nicht weiterreden musste, wenn sie nicht wollte. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich an Josh. „Ich wusste nicht, was in dem Brief steht. Ich habe nur ihre Anweisungen befolgt und ihn abgeschickt. Es war ihr letzter Wille …“ „Schhh“, sagte er rau und tupfte die Tränen mit ihrem Taschentuch weg. „Was geschehen ist, ist geschehen.“ „Das hat meine Mutter auch gesagt.“ Endlich ließ sie die komischen Handschuhe los und nahm das Taschentuch. Als sie sich durchs Gesicht wischte, verteilte sie eine kleine Schmutzspur auf ihrer Wange. Josh hatte keine Ahnung, was er mit der Frau anfangen sollte. Mit ihren siebzehn Jahren war seine Schwester Laney sicher nicht erwachsen, aber sie war lebenstüchtiger als dieses Nervenbündel vor ihm. „Vielleicht konzentrieren wir uns darauf, was Miss Caldwell nun zu tun gedenkt“, sagte Rick. Die junge Frau reckte tapfer ihre Schultern, aber das konnte Josh nicht 30


von ihrem traurigen Gesichtsausdruck ablenken. „Ich bin sehr gut in haushaltlichen Tätigkeiten. Kennen Sie eine Familie, die Unterstützung braucht?“ „Nein.“ Sie antworteten gleichzeitig – Rick, weil er wahrscheinlich wirklich niemanden kannte, Josh, weil er sich vorstellen konnte, dass keine Familie diese sogenannte Hilfe überleben würde. „Ich besitze dreiundachtzig Dollar und siebzehn Cent. Könnte ich eine Schneiderei eröffnen? Ich kann ganz gut nähen.“ Das arme Mädchen suchte verzweifelt nach einem Weg, sich selbst zu ernähren. Josh runzelte die Stirn. „Das ist nicht nötig.“ „Lassen Sie mich das Testament anschauen.“ Rick öffnete seinen Eichenschreibtisch und zog ein Dokument hervor. Das gleichmäßige Ticken der Standuhr war für einige Minuten das einzige Geräusch im Raum. Endlich verzog er das Gesicht, blickte auf und sah Joshua entschuldigend an. „Miss Caldwell, es gab einen Vertrag per Handschlag. Einige von uns waren Zeugen, aber zu Ehrerhaltung Ihres Vaters wurde er nie niedergeschrieben. Nur in seinem Testament hat er diesen Willen festgehalten.“ Er senkte den Blick wieder auf das Papier und las laut vor. „Da ich für meine Ehefrau, Leticia Porter-Caldwell, andere finanzielle Absprachen getroffen habe, soll sie von meinem Besitz nichts erben. Da aus unserer Ehe keine Nachkommen entstanden sind, vermache ich hiermit mein ganzes Vermögen sowie meinen Anteil an der Broken P Ranch Joshua McCain Senior und Junior.“ Ruth Caldwell reagierte nicht. Joshuas Blut rauschte laut in seinen Ohren, während Rick das Dokument wieder sinken ließ. „Das ist jetzt natürlich alles hinfällig, da wir wissen, dass Sie sehr wohl existieren, Miss Caldwell.“ Joshua erhob sich und knirschte mit den Zähnen. Er ging so weit weg von ihr, wie er konnte, und starrte wortlos aus dem Fenster. Er war kein Mann, der fluchte oder trank, aber wenn er es getan hätte, wäre jetzt für beides genau der richtige Zeitpunkt gewesen. Stattdessen biss er sich auf die Zunge und versuchte, diesen Tiefschlag zu verarbeiten. Später würde er mit Gott eine ausgedehnte Unterhaltung über diese Sache führen müssen. „Ich fürchte, ich verstehe nicht …“, sagte Miss Caldwell sanft. Joshua fuhr herum. „Was er sagen will, Miss Caldwell, ist, dass Sie gerade in den Besitz der Hälfte meines Landes gekommen sind.“ 31


Linda Nichols Wie der Duft von Wasser ISBN 978-3-86827-427-1 ca. 432 Seiten, Paperback erscheint im März 2014

Zwei unfassbare Tragödien haben das Leben von Sam und Annie Truelove zerstört. Nichts ist mehr geblieben von ihrer Liebe, ihrer Ehe, ihrer Familie. Jetzt, fünf Jahre danach, ist es Zeit, einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen und sich ein neues Leben aufzubauen. Nur aus diesem Grund kehrt Annie nach Hause zurück, fest entschlossen, danach alles, was einmal war, für immer hinter sich zu lassen. Doch die Menschen, denen sie begegnet, und die Ereignisse, die sie unweigerlich in den Bann ziehen, stellen plötzlich alles in Frage. Kann es nach so vielen Jahren des Schmerzes tatsächlich Vergebung und Hoffnung geben?

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Genau zu dem Zeitpunkt, als sie durch die Tür des Restaurants The Inn in Smoky Hollow hätte treten sollen, hatte Annie Ruth Dalton Truelove eine Herde Romney-Schafe geschoren. Sie hatte sich die ganze Woche von ihrer Arbeit bei der Times Urlaub genommen – etwas, das bisher noch nie vorgekommen war – und hatte deshalb ihre Schere einpacken und vor Sonnenaufgang aufbrechen können, als Jossie Delorme angerufen und sie um Hilfe gebeten hatte. Sie hatte den ganzen Tag gearbeitet, und genau zu der Uhrzeit, die Sam genannt hatte, neunzehn Uhr dreißig Ostküstenzeit, sechzehn Uhr dreißig Westküstenzeit, die sie auf der etwas trüben Digitalanzeige ihrer schwarzen Plastikarmbanduhr ablas, beendete sie ihre Arbeit und kämpfte mit einem besonders eigensinnigen Bock. Beim Gedanken an ihn regte sich eine starke Sehnsucht, bei der ihr Herz schneller schlug. Genauso wie jedes Jahr an diesem Tag und auch an einigen Tagen zwischendurch, wenn sie ehrlich war. Aber es war schwer, sich vor Sehnsucht zu verzehren, während man mit einem zweihundert Pfund schweren Bock kämpfte. Deshalb konzentrierte sie sich lieber auf ihre Arbeit, und die Sehnsucht verging. Sie verging immer irgendwann. Jetzt, am Morgen danach, wurde ihr bewusst, wie dumm sie gewesen war. Sie war in ihrem echten Leben zurück, gewaschen und ordentlich gekleidet und wieder bei klarem Verstand. Die Schafe waren geschoren und die Wolle war unterwegs, um zu Garn gesponnen zu werden. Sie hörte sich seine Nachricht noch einmal an, und ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass die Gelegenheit wieder da gewesen war. Und wieder hatte sie sie ungenutzt verstreichen lassen. Sie hatte die Absicht gehabt, hinzufahren. Wieder einmal. Sie hatte Vorbereitungen getroffen. Wie immer. Sie hatte sich Urlaub genommen, sogar ein Kleid gekauft, ein hübsches grünblaues Kleid, und ein Paar Opalohrringe und eine dazu passende Halskette. Sie hatte ihre Tasche gepackt und einen Flug gebucht. Wie immer. Aber auch wie immer hatte sie vor dem letzten Schritt gezögert, und genau in dem Moment hatte Jossie Delorme angerufen und sie um Hilfe gebeten. Deshalb war sie gestern, als sie dort bei ihm hätte sein sollen, in Marysville gewesen und hatte Schafe geschoren. Etwas wie Panik erfasste sie jetzt, und für einen kurzen Moment dachte sie an überstürzte, leidenschaftliche Maßnahmen. Sie könnte ihn anrufen. Sie könnte sogar jetzt hinfliegen, statt in das Flugzeug nach Los Angeles zu steigen. Aber heute hätte er keine Zeit. 33


Heute wäre er wütend, weil sie nicht gekommen war. Heute wäre er Dr. Truelove und sie würde nur stören. Ihre Chance war gestern gewesen. Die panische Verzweiflung regte sich erneut. Es war nicht zu spät. Sie könnte … Sie brach ab. Was hatte es schon für einen Sinn? Jede neue Idee und jeder Plan endeten immer in derselben Sackgasse. Sie könnten beide im selben Raum sitzen, aber was nützte das, solange sich in ihren Herzen nichts veränderte? Besonders in seinem Herzen. Ihres war unverändert, redete sie sich ein. Sie war dieselbe Frau, die er geheiratet hatte, einschließlich ihrer Sommersprossen. Aber er hatte sich in einen anderen Menschen verwandelt. In einen wütenden und besessenen Mann. Jemand, den sie nicht kannte. Jemand, den sie auch nicht kennen wollte. Sie erinnerte sich an das, was ihn verändert hatte, und ihr Selbstvertrauen geriet ins Wanken. Etwas wollte sie einholen, aber sie erhöhte ihre Geschwindigkeit und ließ es nicht an sich herankommen. Sie verdrängte die ganze Angelegenheit. Das musst du machen, sagte sie sich. Konzentriere dich auf deine Arbeit und denk an etwas anderes. Denk an heute. Sie zog ihr beigefarbenes Kostüm an, ein Zugeständnis an die Geschäftswelt, wickelte aber ein Tuch unter die Aufschläge, ein goldfarbenes Tuch, korall- und rostfarben durchzogen. Ein weiterer kniffliger Moment war es, als sie ihre Bernsteinkette umlegte und die Ohrringe ansteckte. Sam hatte ihr diesen Schmuck am Morgen nach der Hochzeit geschenkt. Als sie aufgewacht war, hatte sie das kleine Päckchen neben sich auf dem Kissen gefunden. Es war eine alte Tradition, hatte er gesagt, das Morgengeschenk, das Geschenk des frisch vermählten Mannes an seine Frau zum Beginn ihres ersten Tages als Ehepaar. Sie legte den Schmuck jetzt an und weigerte sich, daran zu denken, wofür er stand und wer ihn ihr geschenkt hatte. Es war ein schöner Schmuck, nichts weiter. Er passte gut zu ihren Haaren. Schnell packte sie fertig. Sie hatte so oft gepackt, dass sie es im Schlaf konnte, und manchmal sah es auch so aus, als hätte sie im Schlaf gepackt. Das Nachthemd rollte sie eng zusammen und stopfte es zu ihren Schuhen. Einen Moment war sie still und lauschte, wie ihr Apartmentgebäude zum Leben erwachte. Sie bezeichnete es als Apartmentgebäude, aber in Wirklichkeit war es ein altes, heruntergekommenes Haus, in dem sie in der Mitte des ersten Stockwerks eine Wohnung hatte. Über sich konnte sie Mrs Larsens Fernseher hören, aus dem der Wetterbericht in voller 34


Lautstärke dröhnte. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Eigentlich sollte sie noch einmal nach ihr sehen und sie erinnern, wohin sie fuhr und wann sie zurück wäre, damit sie sich keine Sorgen machte. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in ihren Koffer. Es war Zeit, sagte sie sich, verdrängte aber den Gedanken, dass das, was sie vorhatte, der Schritt, den zu gehen sie beabsichtigte, ihr Leben für immer verändern würde. Er würde sie noch weiter von zu Hause wegbringen, wurde ihr schmerzhaft bewusst. Bei dem Wort Zuhause stockte ihr Herz, und sie war nicht sicher, ob dieses Wort für die drei möblierten Zimmer in dieser Wohnung in Seattle galt oder für das Haus, das sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, das Haus, in das sie in Gedanken von einer Sekunde auf die andere zurückkehren konnte, indem sie einfach die Augen schloss. Sie spürte die starke Sehnsucht und einen stechenden, durchbohrenden Schmerz, sie hörte das Rascheln des Windes in den Bäumen, fühlte die Hitze auf ihren Armen und im Gesicht, sah die dichten Wälder, die Wolken aus blauem Dunst, roch den herrlichen Duft der Apfelgärten, schmeckte den süßen Geschmack von Eistee. Aber das Leben bestand daraus, ständig neue Entscheidungen zu treffen, nicht wahr? Das redete sie sich vehement ein. Es war Zeit, sesshaft zu werden und ein neues Leben zu beginnen und das alte ein für alle Mal zu vergessen. Sie war dazu bereit. Sie schaltete das Licht aus, warf einen letzten geübten Blick durch die Wohnung, um sicherzugehen, dass alles an seinem Platz war, dann zog sie die Tür zu und schloss ab. Sie trat auf den Flur, ließ aber den Koffer neben ihrer Tür stehen und ging die Treppe hinauf. Sie klopfte. Nach einer langen Minute schaute Mrs Larsens runzeliges Gesicht zu ihr heraus. Annie erfüllte eine starke Zuneigung zu der Frau. Sie liebte die alten Leute. Sie hatten etwas so Friedliches an sich, und sie vermutete, dass es damit zu tun hatte, dass sie ihr Leben zum größten Teil gelebt hatten. Die ganze Aufregung und der Kummer und die Not lagen hinter ihnen. Darum beneidete sie die alte Dame. „Oh, hallo, meine Liebe.“ Mrs Larsen löste die Kette an der Tür und öffnete sie ganz. „Wie geht es Ihnen heute?“, rief Annie. Mrs Larsen war ein wenig schwerhörig. „Mir geht es gut. Kommen Sie doch herein und trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir.“ 35


„Das würde ich gern“, antwortete sie. „Aber ich muss zum Flughafen. Erinnern Sie sich?“ „Oh ja.“ Ein freundliches Lächeln, ein verständnisloser Blick. „Haben Sie daran gedacht, Ihre Medikamente zu nehmen?“ Die Augen verdunkelten sich verwirrt. „Schauen wir einfach nach.“ Annie lächelte ermutigend, und Mrs Larsen trat zurück und freute sich, noch ein paar Minuten ihre Gesellschaft genießen zu können. Annie ging in die Küche und fand die Tablettenschachtel, die sie am Tag zuvor bestückt hatte. Die Morgendosis fehlte. „Ich habe sie genommen. Jetzt fällt es mir ein.“ „Ja, es sieht ganz so aus. Die Tabletten sind weg.“ „Ja. Ja, ich habe sie genommen. Ich habe sie zu meinem Tee und Toast genommen.“ „Sind Sie sicher?“ „Ja. Ich bin sicher.“ „Gut. Vergessen Sie auch nicht, die Tabletten zum Mittagessen zu nehmen.“ „Nein, das vergesse ich nicht.“ Der freundliche, süße Blick kehrte zurück, und Annie wurde es schwer ums Herz. Mrs Larsen sollte bei jemandem sein, der sich um sie kümmern konnte, und nicht ganz allein hier wohnen. Sie hatte eine Tochter in der Nähe. Aber sie kam nur selten und Annie ärgerte sich einen Moment, doch dann fiel ihr ein: „Du sollst nicht urteilen.“ Außerdem würden ihr wahrscheinlich die Ohren klingen, wenn sie hören könnte, was man zu Hause über sie sagte. Sie verabschiedete sich und ging die Treppe hinunter. Die arme Mrs Larsen. In fünf Minuten hätte sie vergessen, dass Annie überhaupt hier gewesen war. Sie fragte sich, wie es wäre, eine Weile in Mrs Larsens Haut zu stecken. Als sie fünf gewesen war, waren ihre Eltern aus Norwegen nach Ballard gekommen. „Waren Sie jemals in Norwegen?“, hatte sie sie einmal gefragt. „Nein“, hatte Mrs Larsen geantwortet und sie ziellos angesehen, während sie versucht hatte, sich an ihre Heimat zu erinnern. Annie war betroffen gewesen. Es musste traurig sein, sich an die eigene Heimat nicht mehr erinnern zu können. Sie fuhr zum Flughafen und stieg in den Flieger nach Kalifornien. Sie nippte an ihrem Kaffee, aß den Schokoriegel als Frühstück, obwohl sie 36


Mühe hatte, ihn auszupacken, da die Verpackung mit dem Karamell und der Schokolade eine feste Verbindung eingegangen war. Dann holte sie ihren Laptop heraus und schrieb ein paar Fragen für das nächste Interview auf, das sie mit der Mutter von zwei autistischen Söhnen führen wollte. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie es sein musste, in ihre verschlossenen Gesichter zu blicken und zu wissen, dass sie einen nie in ihr Leben hineinlassen würden. Das Gefühl, ausgesperrt zu sein, war ihr selbst nicht fremd; ebensowenig die Hoffnungslosigkeit, weil man nichts daran ändern konnte. Sie dachte über ihre Arbeit nach und fragte sich, warum sie das machte. Die Storys, die sie recherchierte, die Geschichten, die sie aufschrieb, waren vielleicht nicht schön, aber sie waren wahr, und sie webte sie genauso, wie sie früher Teppiche gewebt hatte, und zog den Faden der Wahrheit fest an, damit das Muster darauf sichtbar werden konnte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es solche Geschichten gab, als sie ihre Träume gesponnen hatte, geschweige denn, dass sie darin leben würde, in einer dämmrigen Halbwelt, die ihr Zuhause werden würde. Aber in dieser Welt lebten Menschen, und ihre Geschichten verdienten es, erzählt zu werden, ihr Schmerz verdiente es, respektiert zu werden. Sie verdienten einen Zeugen, aber sie hatte nie gedacht, dass sie selbst die Stimme dieser Menschen sein würde. Sie hatte sich ausgemalt, dass sie im Reich des Lichts leben würde, nicht im Schatten. Meine Güte, war sie naiv und idealistisch gewesen! Sie lächelte darüber, was das Leben aus Idealen machte, wie die Realität sich auf Träume auswirkte. Sie schüttelte den Kopf und ignorierte den Knoten in ihrem Magen, den sie seit dem Vortag nicht mehr vertreiben konnte. Seit fünf Jahren, um genau zu sein. Sie versuchte, nicht an den Schmerz zu denken, der ihr signalisierte, dass sie mit sich nicht im Einklang war. Fehl am Platz. Dass sie etwas Wichtiges versäumte. Dass sie trotzdem nicht zu Hause war, auch wenn ihr diese Umgebung so natürlich vorkommen mochte. Es war warm, auch jetzt noch am späten Nachmittag hatte es um die achtundzwanzig Grad. Die Sonne schien, aber der Himmel war dunstig, und das erinnerte sie an zu Hause. Sie machte einen Schaufensterbummel, ging über die Promenade und schaute sich in den Boutiquen und Souvenirläden um. Vor der nächsten Tür blieb sie stehen. O‘ Haras Antiquitäten und Samm37


lerstücke war in goldenen Buchstaben in die Tür graviert. Annie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte noch genug Zeit, und an einem Antiquitätengeschäft hatte sie noch nie vorbeigehen können. Antiquitätenläden strahlten etwas aus, das sie faszinierte, und dieses Geschäft bildete davon keine Ausnahme. Sie schob die Tür auf und trat ein, dann schloss sie die Augen und schnupperte, denn der typische Geruch war immer das Erste, das ihr auffiel. Er hob sie hoch und versetzte sie in die Vergangenheit, der Duft von etwas Vertrautem und Liebgewonnenem an diesem fremden, unbekannten Ort. Es war eine Mischung aus altem Papier und Staub und Holzrauch, der vielleicht in einem Tuch, einer Tischdecke oder einer Wolldecke steckte. Ein bittersüßes Gefühl legte sich um ihr Herz. Sie schlenderte durch den ersten Gang. Die Klimaanlage erzeugte eine Gänsehaut auf ihren Armen, oder kam das Frösteln von etwas anderem? Als sie zur Kasse trat, die natürlich antik war, begrüßte eine kleine, rundliche Frau sie. „Guten Tag“, sagte die Frau. Sie lächelte. Annie war von ihren schönen Augen verblüfft. Sie hatten ein hübsches, klares Wasserblau und wiesen in den Winkeln freundliche Falten auf. Annie verließ solche Geschäfte nie, ohne ein Souvenir zu kaufen. Ein Taschentuch, Spitzen, ein Buch, einen Papierfächer. Aber sie würde gewiss keinen Toaster aus den fünfziger Jahren kaufen, auch wenn sie wirklich gern ein Souvenir mitnehmen würde. „Ich wollte gerade eine neue Kanne Kaffee aufsetzen“, sagte die Frau. „Möchten Sie eine Tasse, wenn er fertig ist?“ „Sehr gern“, antwortete Annie. Wie großzügig. Wie unerwartet, dachte sie und war ungewöhnlich dankbar. Sie schlenderte durch die Räume und schaute sich um. Ganz hinten fand sie das Besondere, nach dem sie suchte. Es waren mehrere Räume mit Fenstern, wie ein Haus mitten in dem Geschäft. Es war wahrscheinlich früher ein Büro gewesen, aber der Besitzer hatte darin ein viktorianisches Wohnhaus nachgeahmt. Er hatte sogar die Außenseiten der Wände im Zuckerbäckerstil verziert. Annie trat über die Schwelle in den angeblichen Salon und schaute sich verwundert um. Sie kam sich vor, als wäre sie aus diesem Jahrhundert in ein anderes getreten. Zwei dunkelrote Sessel standen vor einem Ofen. Orientteppiche lagen auf dem Boden. Warmes Licht ergoss sich aus viktorianischen Lampen38


schirmen auf polierte Mahagonitische. Drucke von Maxwell Parrish zierten die Wände. Sie blinzelte, blieb stehen und schaute sie einen Moment an, bevor sie ins Schlafzimmer trat. Eine Wiege war neben ein Himmelbett geschoben. Sie war leer. Sie ging schnell in die Küche weiter. Dieses Mal wurde ihr Blick auf etwas gelenkt, das ihr vorher nicht aufgefallen war: ein kleines, rotes Quadrat an der Wand. Darauf war ein Bild von Jesus eingraviert. Sein Gesicht war sanft. Er hielt auf dem rechten Arm ein Lamm und in der linken Hand einen Hirtenstab. Die Ränder waren abgestoßen, aber die geschwungenen Buchstaben, die eingraviert waren, waren unbeschädigt. Sie las die Worte, und ihr Herz hämmerte, als hätten sie eine wichtige Bedeutung. Meine Schafe hören meine Stimme. Sie ging darauf zu, hob die Hand, um es zu berühren, und sobald sie das tat, wusste sie, dass sie dieses Bild kaufen wollte. Sie nahm es von der Wand, hielt es vorsichtig in den Händen, dann drehte sie es um und warf einen Blick auf die Rückseite. Jemand hatte in einer hübschen alten Handschrift etwas daraufgeschrieben. Auf der Erde gibt es keinen Schmerz, den der Himmel nicht heilen könnte. Die Worte bohrten sich in ihr Herz. Sie erzeugten eher eine Wunde, als dass sie sie getröstet hätten. Sie nahm das Bild und setzte sich in den Schaukelstuhl. Was hatte diese Botschaft zu bedeuten? Sie berührte den weichen Samt und las die Worte wieder. Meine Schafe hören meine Stimme. Gottes Stimme hatte sie schon so lange nicht mehr gehört, dass sie sich nicht erinnern konnte, wie sie klang. Sie schaute auf das Lamm hinab. Auf das freundliche Gesicht des Hirten. Sie atmete tief ein und aus. Wo war er? Dieser Jesus von Golgatha, der Herzen heilte und Menschenleben veränderte? Sie sah ihn nicht mehr. Annie lehnte sich auf dem Schaukelstuhl zurück und war nicht mehr in Los Angeles, sondern wieder dort: In der Küche mit der hohen Decke, sie saß am Eichentisch und fühlte das glatte Öltuch unter ihrer Hand, nippte an ihrem süßen Tee, hörte das Klappern des Geschirrs, das Murmeln der vertrauten Stimmen. Sie schloss die Augen, und der Friede, nach dem sie sich sehnte, machte sich schwach bemerkbar wie der leichte Duft von etwas Schönem, der im Wind vorüberzog.

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Marianne Grandia Weißer als Schnee ISBN 978-3-86827-426-4 368 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2014

Eigentlich hat Kathy mit ihrer Vergangenheit längst abgeschlossen, zu groß ist der Schmerz über den Verrat, den sie erlebt hat. Doch als sie im Nachlass ihres Vaters eine Kassette und ungeöffnete Briefe findet, brechen alte Wunden wieder auf. Kann es sein, dass alles doch ganz anders war, als sie es sich als Kind zusammengereimt hat? Wer war ihr Vater wirklich? Eine aufwühlende Spurensuche beginnt. Wird Kathy am Ende die Kraft finden, der Wahrheit ins Auge zu blicken?

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Dienstag, 3. Mai Ellen legte das Kärtchen, auf dem ihr Termin eingetragen war, auf den Tresen in der Rezeption der Poliklinik und sah auf die Uhr. Zehn vor elf. Sie war eine Viertelstunde zu früh. In der Regel stürmte sie erst im allerletzten Augenblick herein, aber heute Morgen hatte sie so einen seltsamen Drang empfunden, etwas früher zu kommen. Sie wusste selbst nicht, warum. Vielleicht war es nur, weil sie die Untersuchung beim Internisten gern so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. In diesem Wartezimmer hatte sie schon viel zu viel Zeit verbracht, mehr, als ihr lieb war. Unzählige Male hatte sie mit ihrem Mann oder ihrer Schwester schon hier gesessen. Zum Glück erwartete sie heute nur eine Routineuntersuchung, die konnte sie auch gut allein durchstehen. Weil sie zu früh gekommen war, musste sie noch warten. Doch allzu lange würde es wohl nicht dauern. Außer ihr saßen schließlich nur noch zwei andere Patienten im Wartezimmer. Sie setzte sich auf einen der roten Stühle, die nebeneinander an der Wand standen, und suchte in ihrer Tasche vergeblich nach einem Kamm, um ihre kurzen blonden Haare wieder in Ordnung zu bringen, die beim Fahrradfahren durcheinandergeraten waren. Plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie ihn ihrer Tochter Marilou mitgegeben hatte, weil sie ja heute in der Schule Schwimmen hatte und ihre Bürste verlorengegangen war. So musste sie wohl oder übel ungekämmt zur Kontrolluntersuchung. Um die Zeit totzuschlagen, nahm sie sich eine der Zeitschriften, die auf dem Tischchen neben ihr auslagen. Gerade hatte sie sich in einen Artikel über den Sinn und Unsinn von Vitaminpräparaten vertieft, als die Tür zum Sprechzimmer aufging. Unwillkürlich sah sie auf, obwohl sie noch nicht an der Reihe sein konnte. Aus dem Sprechzimmer trat eine Frau Mitte vierzig, die einen Rollstuhl vor sich herschob, in dem ein alter Mann saß. Eine Tochter mit ihrem Vater, vermutete Ellen. Hinter den beiden ging der Arzt, der der Arzthelferin an der Rezeption die Patientenakte überreichte. Er verabschiedete sich mit ein paar Worten von dem Mann und rief den nächsten Patienten auf. Zu Ellens Überraschung hatte der Arzt mit dem Mann im Rollstuhl Englisch gesprochen. Das machte sie neugierig. Aufmerksam betrachtete sie den Mann. Auf den ersten Blick schien er die Achtzig überschritten 41


zu haben, vielleicht wirkte er aber auch nur so alt, weil er insgesamt eine sehr bedauernswerte Erscheinung war. Sein Haar war ihm fast vollständig ausgefallen, und die dunkle Weste, die seine schmalen Schultern umspielte, war ihm mindestens zwei Nummern zu groß. Die von blauen Adern überzogenen Hände lagen kraftlos auf seinen dünnen Beinen, die in einer Schlafanzughose steckten. Er hatte keine Strümpfe an, und irgendwie rührten sie seine blanken Füße in den Pantoffeln an. Der Mann schien völlig benommen zu sein. Er erinnerte sie an eine schwerverletzte Maus, die sie einmal aus den Krallen ihrer Katze gerettet hatte. Später war ihr klar geworden, dass sie der Natur besser nicht ins Handwerk gepfuscht hätte, denn nach einer halben Stunde Benommenheit und Schlaf hatte das Tier in der kleinen Schachtel, in die sie es gelegt hatte, seinen Mund zu einem stillen Schrei aufgerissen und seinen letzten Atemzug getan. Den Gesichtsausdruck des Mannes konnte sie nicht erkennen, weil er den Kopf nach vorn gebeugt hatte, so, als ob es ihm schwerfiele, sich aufzurichten. Offensichtlich war er schwerkrank. Es überraschte sie denn auch nicht, als sie hörte, wie die Arzthelferin auf einer Station anrief und die Aufnahme für ihn regelte. Danach wandte sich noch eine recht junge Mitarbeiterin an die Frau, die hinter dem Rollstuhl stand, um mit ihr ein paar praktische Dinge zu besprechen. Das Gespräch schien an dem Mann völlig vorbeizugehen. Ellen fragte sich, warum sie nicht mit dem Mann selbst sprach. Konnte sie nicht gut genug Englisch oder wollte sie ihn nicht weiter belasten? Vielleicht ist es für sie aber auch ganz normal, so über Patienten zu reden, als seien sie gar nicht anwesend, dachte sie ein wenig spöttisch. So jedenfalls war es ihr während ihrer Termine immer wieder ergangen. „Muss ich wirklich mit auf Station? Kann ihn nicht einfach ein Krankenpfleger mitnehmen?“, hörte Ellen die Frau fragen. Die Antwort der Krankenschwester konnte sie nicht verstehen, aber es war offensichtlich, dass die Frau mitgehen sollte, denn sie schob den Rollstuhl ein Stückchen vor, stellte ihn Ellen fast direkt vor die Füße und nahm ohne ein Wort zu sagen auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Wartezimmers Platz. Wahrscheinlich doch nicht Vater und Tochter, überlegte Ellen. Vielleicht sind sie noch nicht einmal miteinander verwandt, wahrscheinlich ist sie nur eine Nachbarin oder irgendjemand, der sich angeboten hat, ihn ins Krankenhaus zu bringen. 42


Aber wie sie es auch drehte und wendete, die Frau passte irgendwie nicht in das Klischee von besorgter Nachbarin oder Ähnlichem. Die Frau strahlte so gar keine Herzlichkeit aus, schlimmer noch, sie schien so wenig wie nur irgend möglich mit dem Mann zu tun haben zu wollen. Zumindest war es sehr auffällig, dass sie sich so weit wie möglich von ihm weggesetzt hatte. Ellen warf einen Blick auf den anderen Patienten im Wartezimmer, um zu sehen, ob er die Geschichte ebenfalls mitbekommen hatte, aber er schien ganz in seine Zeitung vertieft zu sein. Ellen betrachtete wieder den Mann im Rollstuhl, der ihr irgendwie leid tat. Seit er dort abgestellt worden war, hatte er nicht ein einziges Mal aufgesehen und schien vollkommen unterzugehen. War er so teilnahmslos, weil er krank war, oder war er an so eine Behandlung gewöhnt? Fürchtete er, dass sie einander zum letzten Mal sehen könnten? War die Frau, die ihn begleitete, vielleicht doch seine Tochter, und er hatte ihre Liebe verspielt? Hatte er vielleicht schon seit einer ganzen Weile kein liebevolles Wort mehr gehört? Bei diesem Gedanken brach ihr beinahe das Herz. Sag ihm, dass ich ihn liebhabe. Ellen richtete sich kerzengerade auf. Aber nicht, weil sie eine Stimme gehört hatte, die ihr fremd gewesen wäre. Es war der unerwartete, aber deutliche Auftrag, der sie aufgeschreckt hatte. Das kann nicht dein Ernst sein, Herr! Ich kenne ihn doch überhaupt nicht. Was soll er denn von mir denken? Sag es ihm. Ja, aber … auf Englisch?! So gut kann ich das nun auch wieder nicht … Ich lege dir die Worte in den Mund. Ellen begann fürchterlich zu schwitzen. Wieder sah sie den Mann an, warf der Frau einen Seitenblick zu – sie starrte einfach nur geradeaus – und betrachtete dann wieder den Mann. Der Gedanke, ihn ansprechen zu müssen, ließ ihre Handflächen feucht werden. In diesem Augenblick hob er den Kopf und blickte sie geradewegs an. Die unendliche Traurigkeit, die sie in diesem winzig kurzen Moment in seinen Augen sah, brachte sie völlig aus der Fassung. Trotzdem fehlte ihr noch immer der Mut, ihn einfach anzusprechen. Stattdessen lächelte sie ihn freundlich an. Gerade als sie so etwas wie eine Reaktion bei ihm wahrzunehmen schien, ließ er den Kopf wieder sinken. 43


Und wieder hörte sie die Stimme. Sag ihm, dass ich ihn liebhabe … und ihn behüte. Der Auftrag war eindeutig, aber es war, als wäre ihr Mund wie verschlossen. Jedes Mal, wenn sie tief Atem holte und die Worte aussprechen wollte, krabbelten sie im letzten Augenblick wieder zurück. Ihr Herzschlag und ihr Atem wurden schneller und das Blut rauschte in ihren Ohren. Oder war es die Stille, die so rauschte? Wenn sie jetzt an die Reihe kam oder der Mann abgeholt wurde, wäre sie aus ihrem Dilemma erlöst. Aber es geschah nichts dergleichen. Nach ein paar Minuten, die quälend langsam verstrichen waren, betrat ein Krankenpfleger das Wartezimmer. „Herr Smit?“ Der Mann sah auf und nickte schwach. Der Pfleger ging auf ihn zu und legte die Hand auf seine zerbrechliche Schulter. „Ich habe Ihnen im zweiten Stock ein schönes Bett hergerichtet. Da bringe ich Sie jetzt hin.“ Er reagierte kaum, vielleicht verstand er auch nichts. Die Frau stand auf und ging auf den Mann zu. „Gehören Sie zu diesem Patienten?“, fragte sie der Krankenpfleger. Die Frau nickte, aber es schien nicht von Herzen zu kommen. Mit bekümmertem Blick sah Ellen dabei zu, wie der Krankenpfleger den Rollstuhl des Mannes, der nun auf einmal einen Namen hatte, nahm und ihn wegschob. Die Frau folgte ihnen in einem gewissen Abstand. Zu spät, hämmerte es in Ellens Kopf. Jetzt ist es zu spät. Wer weiß, wie wichtig diese Botschaft für den Mann gewesen wäre. Und ich habe sie ihm nicht gesagt. Weil ich Angst hatte, mich lächerlich zu machen. Entmutigt sank sie auf ihrem Stuhl zusammen. Freitag, 6. Mai „Hier, sehen Sie einmal, heute haben Sie auch Post bekommen.“ Mit einer schwungvollen Handbewegung legte die brünette Krankenschwester einen Briefumschlag auf das Nachtschränkchen am Bett von Steven Smit. Obwohl er sehr gut verstanden hatte, was sie gesagt hatte, stellte er sich taub. Er hatte schlichtweg keine Lust zu reden, sondern wollte nur einfach so daliegen. An nichts mehr denken. Nichts mehr fühlen. Lass sie ruhig glauben, dass er ihre Sprache nicht verstand. So eine Sprachbarriere war manchmal ganz praktisch, weil man sich dahinter verstecken konnte, und 44


deshalb ließ er die Menschen gern in dem Glauben, dass man sich mit ihm nur auf Englisch unterhalten konnte. Als die Schwester das Krankenzimmer wieder verlassen hatte, drehte er den Kopf nach rechts. Sein Blick fiel auf den elfenbeinfarbenen Briefumschlag auf dem Nachtschränkchen neben seinem Bett. Etwas in ihm hielt ihn davor zurück, den Umschlag einfach zu nehmen und zu öffnen. Er hatte keine Ahnung, wer ihm einen Brief geschrieben haben könnte. Außer seiner Nachbarin Sanne und seiner Tochter Kathy gab es niemanden, der gewusst hätte, dass er im Krankenhaus lag. Doch die Nachbarin hatte ihn schon besucht, und seine Tochter wäre mit Sicherheit die Letzte, die ihm eine Karte schreiben würde. Der Gedanke an Kathy ließ ihn für einen Augenblick den Umschlag vergessen. Schmerzlich scharf hatte er noch immer ihre abweisende Haltung vor Augen. Alle Hoffnung, die er sich gemacht hatte, war in dem Moment verflogen, als sie ihn wieder mit jenem Blick angesehen hatte, der sich schon seit Jahren auf seiner Netzhaut eingebrannte hatte und ihn überall hin verfolgte. Ein Blick, in dem ein ganzes Spektrum von Gefühlen zu erkennen war – Vorwurf, Wut und Schmerz. Aber vor allen Dingen sagte ihm dieser Blick, dass sie ihm niemals vergeben würde. Wie sehr hatte er gehofft, dass dieser Blick nach siebenundzwanzig Jahren etwas sanfter sein würde. Aber alle Hoffnung war vergeblich gewesen. Vergeblich. Dieses Wort traf ihn mit seiner ganzen Härte. Vergeblich. Vergeben. Geben. Aber es konnte nicht vergeben werden. Es war zu viel, um vergeben zu werden. Es gab nichts mehr, worauf er hoffen konnte. Plötzlich schreckte er auf, weil er ein Piepen vernahm, doch dann ließ er sich wieder ins Kissen sinken, als ihm klar wurde, dass es nur von der Infusionspumpe kam. Anscheinend musste dort etwas ausgetauscht werden. Komisch, dass ich nach drei Tagen immer noch bei dem Geräusch aufschrecke. Anscheinend ertrage ich nichts mehr. Schweigend wartete er, bis eine Krankenschwester auf das Geräusch aufmerksam wurde und den beinahe leeren Infusionsbeutel gegen einen vollen auswechselte. Er hielt die Augen geschlossen und stellte sich schlafend. Aber als er sich sicher war, dass sie das Krankenzimmer wieder verlassen hatte, öffnete er die Augen wieder. Sein Blick fiel erneut auf den Umschlag auf seinem Nachtschränkchen Zögernd streckte er die Hand danach aus. Er war sich immer noch nicht 45


sicher, ob er wirklich wissen wollte, wer ihm geschrieben hatte. Doch schließlich siegte seine Neugier über seinen Widerwillen und er nahm den Brief in die Hand. Die Schrift auf dem Umschlag war die einer Frau. Aber die Adresse überraschte ihn. Unter der Anschrift des Krankenhauses standen da nur sein Name und das Stockwerk, auf dem sein Zimmer war. Keine Zimmernummer. Anscheinend wusste die Absenderin, dass er auf dieser Station lag, aber nicht, in welchem Zimmer. Am meisten überraschte ihn allerdings, wie sein Name geschrieben war. Mr Smith. Kein Herr Smit, sondern Mr Smith. Die Absenderin redete ihn auf Englisch an und hatte seinen Nachnamen mit h geschrieben. Die Briefmarke mit Königin Beatrix darauf war jedoch ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Brief in den Niederlanden eingeworfen worden war. Seine Neugier wuchs. Er drehte den Umschlag um, sah aber keinen Hinweis auf die Absenderin. Er würde ihn also öffnen müssen. Ordentlich, wie er immer gewesen war und es wohl auch bis an sein Lebensende bleiben würde, wenn er die Kraft dazu hatte, suchte er nach einem scharfen Gegenstand, mit dem er den Umschlag aufschneiden konnte. Aufgerissene Briefe ärgerten ihn furchtbar. Er richtete sich etwas auf, um nachzuschauen, ob Sanne sein Taschenmesser in sein Nachtschränkchen gelegt hatte. Egal, wohin er ging, sein Taschenmesser hatte er stets dabei. Nicht nur aus praktischen Gründen, sondern auch, weil er es einst, vor langer, langer Zeit von Kathy zum Vatertag geschenkt bekommen hatte. „Katje“, wie er sie immer neckend genannt hatte, wenn sie einen Heulkrampf bekommen oder versucht hatte, bei ihren Freundinnen ihren Willen durchzusetzen. Ja, sie konnte ab und zu schon ein richtiger Dickkopf sein. Er zwang sich, für einen Moment nicht mehr an Kathy zu denken, und konzentrierte sich auf den Inhalt seines Nachtschränkchens. Ja, da lag das Messer. Es kostete ihn einige Anstrengung, danach zu greifen. Als er es in der Hand hielt, ließ er sich erschöpft in die Kissen fallen. Die kleinste Anstrengung kostete ihn anscheinend seine ganze Kraft. Als seine Atmung sich beruhigt hatte, hob er mit einer Hand den Briefumschlag hoch und schnitt ihn mit dem Messer vorsichtig auf. Im Umschlag befand sich eine Karte zum Aufklappen. Er holte sie heraus, faltete sie auseinander und las die Worte, die in etwas gebrochenem Englisch darin standen. 46


Dear Mr Smith, lautete die Anrede. Während er las, übersetzte er die Sätze automatisch ins Niederländische, wie er es – oft unbewusst und im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten – sonst immer getan hatte. Lieber Herr Smith, Sie kennen mich nicht, und ich kenne Sie nicht, aber ich saß am Dienstag beim Internisten Baaij im Wartezimmer. Während Sie darauf warteten, dass ein Krankenpfleger Sie holen kam, musste ich Sie immer wieder anschauen. In diesem Augenblick hat Gott zu mir gesprochen. Ich weiß nicht, ob Sie Gott kennen, aber er kennt Sie sehr gut. Und er möchte, dass ich Ihnen sage, dass er Sie liebt und behütet. Weil ich Angst hatte, Sie könnten mich für verrückt halten, war ich an jenem Vormittag nicht mutig genug, Sie anzusprechen. Aber unsere Begegnung hat mich nicht mehr losgelassen, also habe ich mich entschieden, Ihnen diese Karte zu schreiben. Ich habe gehört, wie der Krankenpfleger Ihren Namen sagte und das Stockwerk nannte, auf dem Ihre Station ist, und ich hoffe, dass diese Informationen ausreichen und die Karte bei Ihnen ankommt. Wenn Sie das hier jetzt lesen, ist mein Vorhaben gelungen, und ich kann Ihnen nur noch einmal sagen: Gott liebt Sie! Und behütet Sie … Egal, was in Ihrem Leben geschehen ist, seine Liebe ist immer noch größer! Ich bete für Sie. Eine Frau aus dem Wartezimmer Steven las den Text mehrere Male nacheinander, aber der Inhalt schien nicht zu ihm durchzudringen. Es war, als würden die Worte wie Tennisbälle gegen eine Wand geschlagen und sofort wieder zurückspringen. Völlig fassungslos starrte er minutenlang die beschriebene Innenseite der Karte an und klappte sie dann wie benommen wieder zu. In diesem Augenblick fiel sein Blick auf die Worte und das Bild auf der Vorderseite. Es war ein Gemälde von Rembrandt, das Bild, auf dem der Verlorene Sohn zu seinem Vater nach Hause kommt und von diesem liebevoll in die Arme genommen wird. Unter der Abbildung standen nur drei einfache Worte. Willkommen zu Hause. Und bei diesen Worten stürzte mit einem donnernden Krachen die Mauer ein, an der alle anderen Worte so viele Jahre lang abgeprallt waren. 47


Dee Henderson Enthüllt ISBN 978-3-86827-425-7 496 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2014

Als FBI-Agent Paul Falcon die Polizistin Ann Silver kennenlernt, ist er augenblicklich fasziniert. Ihre Ermittlungen könnten ihm zum Durchbruch in einem wichtigen Fall verhelfen – und sie ist ohne mit der Wimper zu zucken bereit, ihm das Feld zu überlassen. Außerdem scheint jeder sie zu kennen. FBI-Kollegen, Spione, US-Marshals und selbst der frühere Vizepräsident vertrauen ihr zutiefst. Wer ist Ann? Je mehr Paul über sie erfährt, desto neugieriger wird er. Bald hält ihn nicht nur die Jagd nach der gewieftesten Auftragskillerin aller Zeiten in Atem, sondern auch das mysteriöse Geheimnis, das sich Ann nennt.

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„Ich bin gerade vor Ort eingetroffen. Es gibt vier Tote, aber Jackie wurde nicht verletzt. Sobald ich mehr weiß, melde ich mich wieder, Dad.“ FBI Special Agent Paul Falcon parkte hinter einem Streifenwagen der Chicagoer Polizei. Während er sein Handy zurück in seine Tasche schob, richtete sich sein Blick bereits auf die blauweiße Restaurantmarkise, über deren Stoff sich der Name Falcons zog. Es war kurz nach dreiundzwanzig Uhr und die sonst dunkle Straße wurde von den flackernden Blinklichtern auf den Einsatzwagen beinah taghell erleuchtet. FBI Agent Sam Truebone kam Paul entgegen, als er zwischen dem Notarztwagen und dem Wagen der Spurensicherung hindurchging. „Ich habe Jackie gesehen und mit ihr gesprochen“, sagte Sam sofort. „Deine Schwester ist wütend, aber wohlauf.“ Paul spürte, wie sich seine Anspannung legte. Als die Schießerei stattgefunden hatte, war er am anderen Ende der Stadt gewesen und die Fahrt hierher hatte sich angefühlt wie ein Albtraum. „Wer leitet die Ermittlungen?“ „Lieutenant Sinclair.“ Die Polizei von Chicago hatte einen der führenden Beamten ihrer Mordkommission geschickt. Die Frau war nicht schwer auszumachen, da sie die Führung am Tatort übernommen hatte und permanent Leute auf sie zugingen und sich wieder von ihr entfernten. Paul lief zielstrebig auf sie zu. „Hallo, Kate.“ „Deiner Schwester geht es gut.“ „Das habe ich schon gehört.“ „Einer der Läden deines Vaters“, fügte sie hinzu. „Wie immer.“ Das Imperium seines Vaters war so groß, dass die Familiengeschäfte überall auftauchten, wo er hinsah. „Brauchst du Hilfe?“ Sie warf ihm ein Lächeln zu. Nicht so eins, wie er es sonst von ihr gewohnt war – herzlich, einladend, oft belustigt –, sondern ein Polizistinnenlächeln, kühl und abschätzend, jedoch nicht auf Konfrontation aus. „Es macht mir nichts aus, mit dem FBI zusammenzuarbeiten, wenn es mir passt, und in diesem Fall passt es mir. Dieser Schütze ist einer von eurer Liste.“ „Das passt dazu, wie dieser Abend sich entwickelt. Wer ist es?“ „Andrew Waters. Wir haben ihn auf Band. Rick Ulaw, verdeckter Er49


mittler der Drogeneinheit im sechzehnten Bezirk, hat mit seiner Frau hier zu Abend gegessen. Waters ging an seinen Tisch und schoss ihm zweimal in den Rücken und einmal in den Kopf. Dann hat er drei Zivilisten getötet, die ihm im Weg waren. Er hat den Tatort in einer dunkelblauen Limousine verlassen. Sein Foto wurde an jeden Polizisten im Bundesstaat geschickt und in den Nachrichten ist es auch gerade veröffentlicht worden. Wenn er in Chicago ist, gehört er uns. Wenn er entwischt ist, kannst du mir helfen, indem du ihn zurückholst, damit ich ihn einbuchten kann.“ „Du bekommst alles, was wir über ihn haben, innerhalb der nächsten Stunde. Und ich übernehme persönlich jeden Job, den du mir geben willst. Wenn du möchtest, dass Plakate an die Telefonmasten in Mexiko geklebt werden, dann bin ich dein Mann.“ „Ich habe schon Marcus angerufen und ihm gesagt, dass Quinn heute Nacht die Verfolgung koordinieren soll. Überlass mir Sam und gib mir Christopher Zun dazu. Ich mag ihn.“ „Du bekommst sie.“ Kate war mit einem FBI-Agenten verheiratet, gut mit dem Leiter der US Marshals befreundet und in der Chicagoer Polizei zu Hause. Sie würde bekommen, was immer sie brauchte, um den Fall aufzuklären. Und er war klug genug, ihr freie Hand zu lassen. Wenn die Möglichkeit bestand, Waters noch in dieser Nacht dingfest zu machen, würde Kate dafür sorgen, dass es geschah. Die Arbeit konnte Paul delegieren, die Familienangelegenheiten jedoch nicht. Und im Moment musste er sich um seine Familie kümmern. Kate hatte offenbar den gleichen Gedanken wie er. Sie deutete mit dem Kinn in Richtung Restaurant. „Geh und rede mit deiner Schwester. Sie sollte nach Hause gehen. Wir haben die Sache hier unter Kontrolle. So hässlich dieser Fall auch ist, er ist wenigstens klar. Ich werde den Spuren nachgehen, um herauszufinden, wer Waters angeheuert hat, um einen Polizisten umzulegen, und dann jage ich ihn irgendwo in ein Rattenloch.“ „Waters hat keine Familie oder Freunde in Chicago, soweit wir wissen, aber er hat Beziehungen zum Lacomb-Verbrechersyndikat, und die arbeiten so weit im Norden.“ „Danke.“ Paul nickte und ging ins Restaurant. Er wusste, wem er trauen konnte, 50


und Sam und Kate konnte er trauen. Der Fall und die Verfolgung des Täters waren in guten Händen. Waters. Der Name war ihm tatsächlich gleich in den Sinn gekommen, als er die Nachricht von der Schießerei erhalten hatte. Paul wusste, wie der Mann arbeitete, und der ursprüngliche Bericht hatte nach seiner Vorgehensweise geklungen. Waters war für neun Morde angeheuert worden und die Anzahl der zusätzlich von ihm zu verantwortenden Leichen lag inzwischen bei sechzehn. Jetzt waren es zehn bzw. neunzehn. In Virginia hatte die Polizei Waters’ Wagen gerammt, in Boston hatte man ihn in die Ecke getrieben und in Philadelphia war er einmal angeschossen worden, aber noch nie war jemand nah genug an ihn herangekommen, um ihm Handschellen anzulegen. Vor drei Jahren war er in Mexiko untergetaucht und sie hatten seitdem erfolglos versucht, ihn ausfindig zu machen. Diesmal hatte er nicht einmal eine Stunde Vorsprung. Vielleicht erwischten sie ihn heute Nacht. Der Essbereich des Restaurants zeugte von dem Chaos der Ereignisse – umgefallene Stühle, zurückgebliebene Mahlzeiten, die Gewalt an Tisch zweiundzwanzig. Die Leiche von Officer Ulaw war bereits abtransportiert worden, ebenso wie die von zwei der Zivilisten. Leiche Nummer vier wurde gerade noch vom Gerichtsmediziner untersucht. Es handelte sich um die der Bedienung, die ebenfalls erschossen worden war. In der Luft hing der Geruch von Blut und Schießpulver, überlagert allerdings von dem Gestank angebrannten Essens. Dieses Ausmaß an Gewalt war völlig unnötig gewesen. Waters hätte den Detective auf dem Parkplatz erschießen können oder auf einer menschenleeren Straße oder in seinem Auto an einer Ampel. Stattdessen hatte er sich jedoch dafür entschieden, sein Opfer in einem vollen Restaurant zu töten. Er genoss es, wenn andere seine Gewalttaten sahen; es machte ihm Spaß, unbeteiligte Personen zu erschießen, die ihm im Weg waren. Sie würden ihn fangen müssen, um das Ganze zu beenden. Waters liebte das Töten zu sehr, um jemals damit aufzuhören. Wenn Kate ihn heute nicht schnappte, würde Paul es irgendwann in der Zukunft tun. Ein Falcon hörte nicht auf zu jagen – das war eine Art Familienmotto. Während Paul den Tatort betrachtete, ertappte er sich dabei, wie er sich wünschte, seine Ladykillerin wäre hierfür angeheuert worden anstatt Waters – wenigstens wäre dann niemand umgekommen, nur weil er zufällig in der Nähe gewesen war. Sie hatte nie auf jemand anderen 51


geschossen als auf ihr Ziel und hatte ihr Opfer nie dort getötet, wo seine Familie den Tod mit ansehen konnte oder ein Kind zugegen gewesen war. Sie hatte dreißig Leute in den Kopf geschossen, aber für sie war es eine Arbeit, die sorgfältig und präzise zu erledigen war. Und sie hatte seit neun Jahren nichts mehr von sich hören lassen. Er war nie nah dran gewesen, sie zu fangen, aber sie war ihm im Gedächtnis geblieben. Und insgeheim jagte er sie noch immer. Er war der beste FBI-Beamte, was die Aufklärung von Morden betraf, und Auftragskiller standen auf seiner Prioritätenliste weiterhin ganz oben. Heute Abend bedauerte er mehr denn je, dass er Waters nicht rechtzeitig geschnappt hatte. Vorsichtig durchquerte Paul den Raum und folgte dem Klang der Stimmen, die aus der Küche zu ihm herüberdrangen. Sein Vater würde bei Tagesanbruch hier sein und tun, was er konnte, um den Familien der Opfer zu helfen und denen, die Zeuge der Gewalt geworden waren. Das Falcons würde seine Türen erst wieder öffnen, nachdem es entkernt und die Bilder der Tragödie ausgelöscht worden waren. Und wenn es wieder öffnete, würde sein Vater an der Tür stehen und die ersten Gäste persönlich begrüßen. Paul kannte seinen Dad. Und er kannte seine Schwester. „Nicht werfen, Jackie.“ Er duckte sich, als eine weiße Rührschüssel auf ihn zugeflogen kam. Sie traf die Tür und schlug dann auf dem Boden auf, wo sie in Stücke zerbarst. „Du jagst den Kerl seit Jahren und hast ihn immer noch nicht geschnappt? Du lässt zu, dass er da draußen herumläuft und meinen Gästen, meinem Restaurant so etwas antut?“ Paul wich einer zweiten Schüssel aus. Er hatte ihr das Werfen beigebracht, als sie noch klein gewesen war, und offensichtlich hatte er ganze Arbeit geleistet. Rasch hob er eine Hand und zeigte mit dem Finger auf seine Schwester. Sie zögerte, die dritte Schüssel in der Hand, und stellte sie dann auf die Arbeitspatte. „Der Abend war nicht gut. Tut mir leid.“ Er war jetzt nah genug, sodass er einfach den Arm um ihre Schultern legen und sie umarmen konnte. „Vier Menschen sind tot, Paul. Vier.“ Ihre Stimme klang gedämpft durch sein Hemd. Er fuhr mit der Hand über ihr Haar und atmete aus. „Ich bin froh, dass du nicht einer von den Vieren bist.“ 52


„Trish hat seit einem Jahr für mich gearbeitet. Sie war so ein liebes Mädchen.“ „Niemand wird ruhen, bis dieser Kerl geschnappt ist. Das ist alles, was wir tun können, und wir werden es tun.“ „Er hat einen Polizisten ermordet.“ Ihre Stimme zitterte. „Das ist dein Tisch, wenn du hier isst. Er hätte genauso gut dich abknallen können.“ „Hat er aber nicht.“ Er konnte die Kraft und Leidenschaft fühlen, die Jackie ausströmte. Ein Absperrband markierte den Tatort und damit den Bereich, den seine Schwester nicht betreten durfte, aber was sie hatte erreichen können, war geschrubbt und aufgeräumt worden. Die Grills und Herde blitzten, die Lebensmittel waren verpackt und verstaut. Wenigstens lief sie nicht davon, sondern machte ihren Anspruch auf diesen Ort deutlich. Die Familie würde ihr helfen. „Komm, lass uns gehen, Jackie. Ich bringe dich nach Hause und morgen kümmern wir uns um den Rest hier.“ Sie griff nach einem Beutel, in dem sich ihre Rezepte und ihre persönlichen Kochmesser befanden sowie die Kladde, die sie als ihren Geschäftsplan betrachtete. „Kannst du mit Sirene fahren, damit wir nicht eine Stunde brauchen?“ „Blaulicht ja, Sirene nein. Du wolltest doch in einem Vorort wohnen.“ „Du lebst im vierten Stock eines Gebäudes ohne jegliches Grün. Ich wollte etwas Besseres aus meinem Leben machen.“ Paul lächelte erleichtert, als er die übliche Spitze hörte. Sie gingen durch den Hintereingang hinaus, durch die Gasse und hinten herum zu seinem Wagen, um den Medien aus dem Weg zu gehen, die auf der Jagd nach einem Foto und einer Story waren. Dann brachte er seine Schwester nach Hause. Paul betrat das Hauptquartier der Chicagoer Polizei um 4 Uhr 17 in der Früh, passierte den Sicherheitscheck und ging zielstrebig zu Lieutenant Kate Sinclair in die Kommandozentrale im dritten Stock. In dem verdunkelten Raum drängte sich ein ganzer Haufen Leute, die eine LiveÜbertragung an der Wand verfolgten, die von einem Polizeihubschrauber eingespielt wurde. Sam kam auf ihn zu und reichte ihm einen Kaffee. „Er ist auf der In53


terstate 74 in Richtung Westen unterwegs. Zwei Polizisten haben Waters und das Fahrzeug an einer Ampel am Stadtrand von Peoria identifiziert und verfolgt. Er hat ein paar Schüsse abgefeuert, dann hat er versucht, eine Böschung hinunterzufahren, um dem Streifenwagen zu entkommen, und dabei seinen Wagen demoliert. Er fährt jetzt vor ihnen und verliert Öl. Weitere Wagen sind angefordert, um ihn einzukesseln. Die Staatspolizei wird ihn bei Sanders Point aufhalten.“ Ein grelles Licht flammte auf und machte den Raum auf einen Schlag taghell. Die Kamera des Helikopters stellte scharf und ein brennendes Wrack erschien auf der Leinwand – unbeweglich, zerschmettert, Flammen werfend. Die Streifenwagen, die das fliehende Fahrzeug verfolgt hatten, kamen ins Blickfeld der Kamera und hielten in gebührendem Abstand. Der Pilot des Hubschraubers hatte bei der Explosion das Steuer herumgerissen und schwenkte jetzt über eine merkwürdig dunkle Stelle, um dann ein Stück von der Unfallstelle entfernt in der Luft stehen zu bleiben. „Was ist passiert? Macht eine Kopie und spielt sie auf dem zweiten Monitor ab“, befahl Kate. Der Unfall wurde noch einmal gezeigt. „Sieht nicht so aus, als hätte er die Kontrolle verloren. Er ist mit hundertfünfzig Sachen in einen Strommast gerast“, sagte ein Polizist neben ihr. Die Aufnahme wurde zurückgespult und noch einmal gezeigt. Der Beamte nickte und benutzte seinen Zeigestock, um über einen Teil des Bildes vor und nach dem Crash zu fahren. „Der Transformator ist in die Luft geflogen und hat einen Stromausfall in den umliegenden Häusern verursacht. Seht mal, dort, wo die Lichter nicht mehr an sind.“ Sam trat einen Schritt zur Seite, damit er das Video besser sehen konnte. „Dieses Ende hätte ich nicht erwartet.“ „Mir ist diese Lösung eindeutig lieber als eine Schießerei mit der Polizei“, sagte Paul. Es war vorbei. Waters war gestorben, ohne noch mehr Polizisten mit in den Tod zu reißen, und das war eine Erleichterung. Kate, die vor der Leinwand stand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, beobachtete, wie die Polizisten vor Ort jetzt mit Feuerlöschern versuchten, den Brand einzudämmen. Paul trat vor und gesellte sich zu 54


ihr. „Tut mir leid, Kate. Du wirst ihn nicht mehr fragen können, wer ihn angeheuert hat.“ „Ich kriege es trotzdem heraus.“ Sie drehte sich um und sah ihn an. „Dieser Teil des Falls ist abgeschlossen, abgesehen vom Papierkram. Hast du was dagegen, wenn ich deine Jungs noch ein paar Stunden damit beschäftige, nach dem Warum zu fragen?“ „Kein Problem. Danke, dass du meine Arbeit gemacht hast.“ Sie lächelte kurz. „Du hättest zu Recht darauf bestehen können, den Fall zu übernehmen. Aber das hast du nicht, also würde ich sagen, dass wir quitt sind. Tut mir leid, dass es in einem Lokal deiner Familie passiert ist.“ „Komm vorbei, wenn nächsten Monat die Neueröffnung ist, und sei mein Gast. Und falls du Hilfe brauchen kannst, um herauszufinden, wer einen Auftragskiller angeheuert hat, um deinen Polizisten umzulegen, lass es mich wissen.“ „Mach ich.“ Er nickte und ging in Richtung Tür. „Paul?“ Er drehte sich um. „Wenn sie dir den Topjob anbieten, nimm ihn.“ Er lächelte. „Warum bedrängst du mich so, schöne Kate?“ „Solange ich zurückdenken kann, ist dies das erste Mal, dass die örtliche Polizei und das FBI nicht versucht haben, sich gegenseitig in den Chicago River zu schubsen. Ich gewöhne mich allmählich an dich.“ „Ich muss gestehen, dass es mir ähnlich geht.“ Sie hatte einen guten Freund von ihm geheiratet und mit jedem Jahr, das verging, mochte er diese Chicagoer Polizistin ein wenig mehr. „Ach, und Kate?“ Er hob seinen Becher hoch. „Das FBI hat immer noch den besseren Kaffee.“ Ihr Lachen folgte ihm, als er ging. Den Tag, der vor ihm lag, würde Paul mit nur zwei Stunden Schlaf überstehen müssen, denn er hatte um sieben Uhr die erste Besprechung, aber es würde trotzdem ein guter Tag werden. Das FBI-Büro in Chicago verfügte über Explosionssperren am Straßenrand und mehrere andere Sicherheitsvorkehrungen, die es zu bewältigen galt, bis man zu den Aufzügen kam. Da sie diesen Prozess in der Vergangenheit schon einige Male durchlaufen hatte, ließ Ann ihren wissenden Blick durch den Eingangsbereich schweifen und ging zielstrebig auf einen 55


der erfahreneren Beamten an der Rezeption zu. Sie zeigte ihm ihre Marke. „Officer Ann Silver. Ich möchte gerne mit Special Agent Paul Falcon sprechen.“ „Haben Sie einen Termin, Ma’am?“ „Nein.“ Er erkannte den Polizeibezirk auf ihrem Ausweis nicht, war aber so höflich, das nicht zu sagen. „Ich müsste nur Ihre Daten überprüfen, Ma’am. Haben Sie eine Visitenkarte mit der Telefonnummer Ihrer Abteilung?“ Sie zog eine aus ihrer Tasche. „Fragen Sie nach dem kommissarischen Sheriff.“ Er nahm den Hörer vom Telefon und tätigte den Anruf. Ihr Büro stellte den Anruf durch. Das Telefon in ihrer Tasche klingelte. „Hallo.“ Sie klappte das Handy mit einem Lächeln zu. „Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen.“ Er lehnte sich gegen den Tresen und erwiderte ihr Lächeln. „Kleine Abteilung?“ „Sie haben gerade mit dem gesamten Personal gesprochen.“ „Jetzt stecken wir in einer Zwickmühle.“ „Wie wäre es hiermit: Ich bin nach Chicago gekommen, um heute Abend das Spiel der Cubs gegen die Cardinals zu sehen – und ich habe Karten in der dritten Reihe hinter der ersten Base ergattert. Rufen Sie Agent Falcon an und bitten Sie ihn, in die Lobby zu kommen. Ich will ihm zwei Fotos zeigen. Wenn sich herausstellt, dass ich seine Zeit verschwendet habe, können Sie die Karten für das Spiel behalten.“ „So sicher sind Sie sich Ihrer Sache?“ „Das bin ich.“ „Um welchen Fall geht es denn?“ „Ich habe keine Ahnung, welche Aktennummer es ist. Sagen Sie ihm, es geht um die Killerin, die er seit mehreren Jahren jagt.“

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Irene Hannon Wo die Schatten wohnen ISBN 978-3-86827-430-1 368 Seiten, Paperback erscheint im Januar 2014

Kelly Warren, eine begabte Illustratorin, hat Zweifel am vermeintlichen Selbstmord ihres Vaters. Sie bittet Detective Cole Taylor, den Todesfall unter die Lupe zu nehmen. Tatsächlich entdeckt Cole bei seinen Nachforschungen eine Ungereimtheit nach der anderen. Unterdessen erleidet Kelly einen mysteriösen, beinahe tödlichen Allergieschock. Und das ist erst der Anfang. Irgendjemand scheint es auf sie abgesehen zu haben. Wird es Cole und seinem Team gelingen, die Puzzlestücke zusammenzusetzen, bevor es für Kelly zu spät ist?

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Vincentio Rossi hob sein Glas mit einem zehn Jahre alten Lombardi Brunello di Montalcino, schloss die Augen und atmete das komplexe Bouquet des rubinroten Weines ein. Vollkommen. Andererseits konnte man das auch erwarten, wenn die Flasche hundert Dollar kostete. Aber die Kosten spielten keine Rolle. Nach achtundzwanzig Jahren unfreiwilliger Abstinenz geizte er nicht bei seinen Vergnügungen. Als Vierundsiebzigjähriger mit zu hohem Blutdruck und einem Cholesterinwert jenseits von Gut und Böse war es seine Absicht, jede Minute zu genießen. Wer wusste schon, wie viele Jahre – oder Monate – ihm noch blieben? Vincentio trank einen kleinen Schluck und ließ den pfeffrigen Geschmack mit einer Note von wilden Champignons und Trüffel auf seiner Zunge nachklingen, während er im Romano’s saß und aus dem Fenster auf die vertraute Kulisse der Buffalo Street hinausblickte. Der Privattisch, an dem er in den letzten drei Jahren an jedem Werktag gesessen hatte, gefiel ihm, weil er von dort aus beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Als sein Telefon plötzlich zu vibrieren begann, zuckte seine Hand. Die dunkelrote Flüssigkeit schwappte bis zum Rand des Glases und er stellte den Weinkelch vorsichtig auf den Tisch, um das Handy von seinem Gürtel zu ziehen. Früher hatte er Nerven aus Stahl gehabt. Noch etwas, das sich geändert hatte. Er kniff die Augen zusammen, um die Nummer auf dem Display zu erkennen. Seine Augen waren auch nicht mehr besonders gut. Aber es spielte keine Rolle, die Anruferkennung war unterdrückt. Die Stimme, die ihn grüßte, war jedoch vertraut. Ein Adrenalinstoß ließ seine Nervenenden kribbeln und er wandte sich von den anderen Besuchern des Restaurants ab. „Gibt es Neuigkeiten?“ Vincentio verschwendete keine Zeit damit, den Gruß des Mannes am anderen Ende der Leitung zu erwidern. „Sie hatten mit Ihrer Vermutung recht. Er ist in der Stadt.“ Vincentios Finger schlossen sich fester um den Stiel seines Weinglases. „Sind Sie sicher?“ 58


„Ich habe ihn selbst gesehen. Er ist älter geworden – aber es besteht kein Zweifel.“ Ein Gefühl der Erregung durchströmte Vincentio, sodass ihm einen Moment lang beinahe ein wenig schwindelig war. Er hatte sehr, sehr lange auf diesen Augenblick gewartet. „Sie wissen, was ich brauche.“ „Ja. Ich werde Ihnen die Information zukommen lassen, sobald ich sie habe.“ „Hervorragend. Sie werden gut entlohnt werden, wie immer.“ Mit zitternder Hand schob Vincentio das Handy in seine Halterung zurück und kramte in der Innentasche seiner Anzugjacke nach einem kleinen zusammengefalteten Stück Papier. Im Laufe der Jahre war das Papier brüchig geworden und er entfaltete den vergilbten Zettel vorsichtig. Alle Namen, die er vor mehr als zwei Jahrzehnten notiert hatte, waren mit einem Häkchen versehen und durchgestrichen. Bis auf einen. Er strich das Papier auf der Tischdecke glatt, holte einen Stift aus seiner Jacke und hakte den letzten Namen ab. Schritt Nummer eins. Dann faltete er den Zettel wieder zusammen, steckte ihn ein und umfasste erneut den Stiel seines Weinglases. Draußen eilten die Menschen an diesem kühlen Apriltag an ihm vorbei. Am Ufer des Eriesees würde der Frühling noch nicht so bald kommen, aber ihm war plötzlich frühlingshaft zumute. Er hatte die Hoffnung beinahe aufgegeben, den Verräter, der seine Großzügigkeit mit Untreue erwidert hatte, jemals zu finden. Den Mann, der seinen Sohn gegen ihn aufgestachelt hatte. Der sich bemüht hatte, alles zu untergraben … Der dünne Stiel des Glases zerbrach unter dem Druck seiner Finger und Vincentio sah zu, wie die dunkelrote Flüssigkeit sich über das schneeweiße Leinen ergoss und es rot färbte. Rot wie Blut. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen. Er glaubte an Zeichen. Und das hier war ein gutes Zeichen. Kelly hockte auf der Kante des schlichten Stuhls im Wartebereich. Sie hatte ihre Finger um den Riemen ihrer Handtasche gelegt, die Beine überschlagen und wippte mit dem Fuß. Sie wollte nicht hier sein. Diese ganze 59


Polizei-Atmosphäre erinnerte sie an die traumatischen Ereignisse, die mit dem Tod ihres Vaters verbunden waren. Aber es hätte nicht die gleiche Wirkung gehabt, die neuen Informationen telefonisch durchzugeben. Die Beamten sollten wissen, dass sie diese Sache sehr ernst nahm – und dass sie vorhatte, sich davon zu überzeugen, dass sie es auch taten. Die Tür zum Bürotrakt öffnete sich und ein dunkelhaariger Mann Mitte dreißig in einer sandfarbenen Stoffhose, einem Sakko mit dezentem Fischgrätmuster und einem weißen Hemd betrat das Foyer. „Ms Warren?“ „Ja.“ Sie erhob sich, ging auf ihn zu und ergriff die Hand, die er ausstreckte. Mit ihren eins fünfundsiebzig hielt sie sich für eher groß gewachsen, aber sie musste einige Zentimeter nach oben blicken, um in die auffallend kobaltblauen Augen des Mannes zu sehen – eine Farbe, die genau zu der seiner Krawatte passte. Sie hatte das Gefühl, in diesem Blau zu ertrinken. „Detective Cole Taylor. Bitte kommen Sie mit.“ Er öffnete ihr die Tür. „Der erste Raum auf der rechten Seite.“ Kelly schob sich an ihm vorbei und konzentrierte sich auf den beruhigend beigefarbenen Teppich. Das war besser. Er folgte ihr wortlos. An der Tür, auf die er gezeigt hatte, sah sie sich schnell in dem Besprechungsraum um. Ein großer Tisch, der von bequemen Stühlen umringt war, nahm den größten Teil des Raumes ein. Sie ging zum nächstgelegenen Stuhl. Der Beamte schloss die Tür und setzte sich in einem rechten Winkel zu ihr. „Wenn ich das richtig verstehe, haben Sie neue Beweise, den Tod Ihres Vaters betreffend?“ „Ja.“ Sie fingerte an dem Verschluss ihrer Handtasche herum. „Ich würde sie ja lieber Detective Carlson geben, da er in dem Fall ermittelt hat, aber ich wollte nicht zwei Wochen warten.“ „Ich bespreche die Angelegenheit gerne mit Ihnen.“ Der Mann schlug sein Notizbuch auf und holte einen Stift heraus. „Ich bin mit den Einzelheiten des Falles nicht vertraut, aber erzählen Sie mir doch einfach, was Sie haben, und dann sehen wir weiter.“ Sein Tonfall war höflich, seine Worte dienstlich korrekt. Aber etwas an seiner Art wirkte reserviert. So, als wäre es ihm nicht recht, dass sie die Schlussfolgerungen seines Kollegen hinterfragte. Oder vielleicht hatte er 60


einfach viel zu tun und verschwendete nicht gerne seine Zeit mit Beweisen, die er in einem gründlich untersuchten Fall für unerheblich hielt. Schade. Ihre Finger schlossen sich um die Handtasche und sie reckte energisch das Kinn vor. „Bevor ich Ihnen zeige, was ich habe, müssen Sie wissen, dass ich nie an einen Selbstmord meines Vaters geglaubt habe.“ Er betrachtete sie. „Mein Vorgesetzter hat das erwähnt.“ „Sie sollten außerdem wissen, dass ich nicht aufgeben werde. Ein Selbstmord widersprach allem, an was mein Vater glaubte. Jemand hat ihn umgebracht.“ Die Worte hinterließen einen bitteren Nachgeschmack auf ihrer Zunge, und plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals. Bestürzt über ihren Mangel an Selbstbeherrschung, senkte sie den Kopf und berührte wieder den Verschluss ihrer Tasche. „Entschuldigen Sie … könnte ich vielleicht ein Glas Wasser haben?“ Der Detective schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Gleich darauf verschwand er aus ihrem Blick. Sie hörte, wie die Tür sich hinter ihr schloss. Kelly kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und schnäuzte sich die Nase. Dann trocknete sie ihre Augen. Früher hatte sie nie geweint, aber seit fünf Monaten kamen ihr immer die Tränen, wenn sie an die schmerzliche Leere dachte, die der Tod ihres Vaters in ihrem Leben hinterlassen hatte. Aber Tränen würden die Polizei nicht davon überzeugen, dass die Nachricht, die sie erhalten hatte, mehr als eine merkwürdige Laune des Schicksals war. Sie musste stark und selbstbewusst sein und sich beherrschen, wenn sie wollte, dass man sie ernst nahm, anstatt sie wie eine trauernde Tochter zu behandeln, die sich an jeden Strohhalm klammerte. Nachdem sie sich noch einmal über die Wangen gewischt hatte, steckte Kelly das Taschentuch in ihre Handtasche und setzte sich aufrecht hin. Dann betete sie im Stillen um Kraft. Und wappnete sich für den Kampf. Cole lehnte an der Wand neben der Tür zum Besprechungsraum und sah auf seine Armbanduhr. Er hatte keine Minute gebraucht, um die Flasche eiskalten Wassers zu holen, die jetzt in seiner Hand langsam warm wurde. 61


Doch angesichts Kelly Warrens niedergeschlagener Miene hatte er sich entschlossen, ihr ein paar zusätzliche Minuten zu geben, damit sie ihre Fassung wieder gewinnen konnte. Er nahm sich Zeit damit, die Tür aufzumachen, damit sie vorbereitet war, und betrat den Raum. Er hatte halbwegs erwartet, sie in Tränen aufgelöst vorzufinden, ihr Gesicht aufgedunsen und verheult. Weinende Frauen, das hatte er in den vergangenen vierzehn Jahren Polizeiarbeit festgestellt, sahen nur in Filmen gut aus. Aber sie überraschte ihn. Ein einziger, winziger Tropfen Feuchtigkeit, der noch an der Spitze einer ihrer vollen Wimpern hing, und eine gewisse Anspannung ihrer feinen Gesichtszüge waren die einzigen Anzeichen für vergangene Tränen. Er stellte die Wasserflasche vor ihr auf den Tisch und setzte sich wieder. „Danke.“ Sie schraubte den Verschluss auf und nahm einen kräftigen Schluck. Einen Moment lang war er ganz gebannt von ihrem schlanken Hals und ihren umwerfenden, sanft gewellten rotbraunen Haaren. Sie hatte sie in der Mitte gescheitelt und das Volumen rechts und links mit einer Jadespange gebändigt. Am liebsten hätte er in diesem Moment ihre Haare berührt. Sie hob das Kinn, und ihm stockte der Atem, als ihre smaragdgrünen Augen ihn ansahen. Sie runzelte die Stirn und bewegte sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. „Ist irgendetwas?“ Cole räusperte sich, senkte den Blick und nahm den Stift in die Hand. Reiß dich zusammen, Taylor. Das hier ist eine trauernde Tochter und keine Partygängerin, die erobert werden will. „Nein. Ich dachte nur, dass ... Sie mir bekannt vorkommen.“ Was für ein dämlicher Spruch. Er versuchte, keine Grimasse zu ziehen. „Haben Sie denn an dem Fall meines Vaters mitgearbeitet?“ „Nein.“ „Dann bezweifle ich, dass wir uns schon einmal begegnet sind.“ Sie zog ein bedrucktes Blatt Papier aus ihrer Tasche und schob es ihm über den Tisch zu. „Das hier kam heute Morgen zusammen mit einer Lieferung Blumenzwiebeln.“ Froh darüber, dass er einen Grund hatte, sich auf etwas anderes zu kon62


zentrieren, nahm Cole den Zettel. Er entpuppte sich als Lieferschein für eine Bestellung über zwei Dutzend Tulpenzwiebeln der Sorte „Fliegender Teppich“, die Ende Oktober geliefert werden sollten. „Oben links in dem Kästchen steht eine Nachricht.“ Er entdeckte das Kästchen und überflog den Text. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Kelly! „Fliegender Teppich“ – klingt das nicht exotisch? Wir werden die Blumenzwiebeln an deinem großen Tag gemeinsam pflanzen. Ich bringe Kuchen mit! Alles Liebe, Dad. Cole versuchte, die Bedeutung dieser Nachricht zu verstehen, aber es gelang ihm nicht. „Sehen Sie sich das hier an.“ Sie tippte auf ein Datum unten auf dem Lieferschein, um seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken. „Er hat die Bestellung einen Tag vor seinem Tod aufgegeben, von dem die Polizei behauptet, dass es Selbstmord war. Mit anderen Worten, keine vierundzwanzig Stunden, bevor er gestorben ist, hatte mein Vater noch vor, fünf Monate später mit mir Tulpen zu pflanzen.“ Na gut. Das war merkwürdig. „Wissen Sie was? Geben Sie mir ein, zwei Tage, um mich in die Akte einzulesen. Dann melde ich mich bei Ihnen und wir können über diese Sache sprechen.“ Ihre gerunzelte Stirn verriet ihm, dass ihr die Verzögerung nicht passte. „Hören Sie, Detective, mir ist klar, dass dieser Fall für Sie keine hohe Priorität hat, anders als für mich. Aber ich kannte meinen Vater dreiunddreißig Jahre lang. Ich habe jeden Tag mit ihm gesprochen. Ich habe ihn erlebt, als er schlimme Zeiten durchgemacht hat, darunter auch den Tod meiner Mutter, und er war hart im Nehmen. Ein Mann voller Stärke und Glauben, der bei Gott Hilfe gesucht hat, wenn es schwierig wurde, und nicht bei Tabletten oder Kohlenmonoxid. Die Fakten Ihrer Ermittlungen kann ich nicht abstreiten, aber die Schlussfolgerung, die Sie daraus gezogen haben, kann ich nicht teilen. Ich bin überzeugt, dieses Dokument“ – sie ließ den Finger auf den Lieferschein niedersausen, der auf dem Tisch lag – „beweist, dass Sie etwas übersehen haben.“ Er betrachtete sie eine ganze Zeit lang. Wenn John Warren ein starker Mann gewesen war, hatte seine Tochter diese Eigenschaft in hohem Maße geerbt. Ihre Stimme klang selbstbewusst, und die Entschlossenheit in ihren Augen war Respekt einflößend. 63


„Ich habe das Gefühl, dass Ihr Vater stolz auf Sie wäre.“ Cole war sich nicht sicher, woher das plötzlich gekommen war. Oder warum er es gesagt hatte. Aber die Bemerkung schien sie zu entwaffnen. Die Anspannung ihrer Schultern ließ ein wenig nach, und ihre strenge Miene wurde weicher. „Er war ein guter Mann.“ Die sanften, von Trauer geprägten Worte berührten sein Herz. „Er hat es verdient, in Frieden zu ruhen. Deshalb will ich die Wahrheit wissen. Ich will sicher sein, dass der Gerechtigkeit genüge getan wird.“ „Das wollen wir auch.“ Cole nahm den Lieferschein. „Wenn wir etwas übersehen haben, kann ich Ihnen versprechen, dass wir unser Möglichstes tun werden, um den Fehler zu berichtigen. Kommen Sie, ich bringe Sie zur Tür.“

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In den Leseproben enthalten:

ISBN 978-3-86827-423-3

ISBN 978-3-86827-424-0

ISBN 978-3-86827-429-5

ISBN 978-3-86827-428-8

ISBN 978-3-86827-427-1

ISBN 978-3-86827-426-4

ISBN 978-3-86827-425-7

ISBN 978-3-86827-430-1


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