® FRND2011 Freunde fürs Leben e.V. www.frnd.de c/o Schröder+Schömbs PR GmbH Torstraße 107 10119 Berlin vorstand@frnd.de
Inhalt Vorwort ...................................................................................1 Ich möchte lärmend mit euch durch die Straßen rennen..........2 Kalter Wind .............................................................................6 Die Suche ................................................................................7 Tekken mit Phil .....................................................................11 Jenseits des Kanals war der weite blaue Himmel ..................15 Kriegspielen ..........................................................................19 Ein Geschmack vom Leben...................................................23 Mehr als Unkraut...................................................................26 Meine Fußnoten sind tot, aber meine Freundin lebt ..............27 Denn sie wissen nicht, was sie tun (können) .........................31 Angriff...................................................................................35 Freund aus dem Supermarkt ..................................................36 Eine weinende Statue aus Stein .............................................39 Sommerwiese im Winter .......................................................43 Vanilleeis und Fallschirmspringen ........................................47 Sagen die Anderen.................................................................50
Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“
Vorwort Im April 2011 rief der Berliner Verein „Freunde fürs Leben“ gemeinsam mit den Moderatoren Markus Kavka und Klaas Heufer-Umlauf Kurzgeschichten-Wettbewerb auf. Thema: „Freunde fürs Leben“.
zum
Acht Wochen lang hatten die Teilnehmer Zeit, ihre fröhlichen, traurigen, nachdenklichen oder Mut machenden Geschichten über Freundschaft und das Leben zu verfassen. Zum Einsendeschluss waren 85 Beiträge bei „Freunde fürs Leben“ eingegangen. Alle Autoren haben sich große Mühe gegeben und teils zauberhafte, teils bewegende Geschichten abgeliefert. Das Lesen aller 85 nahm nicht nur Zeit in Anspruch, sondern erfüllte die Jury mit viel Freude. Das Vergnügen soll nicht allein der Jury vorbehalten bleiben, weshalb auf vielfachen Wunsch hin in diesem Reader eine Auswahl der besten Geschichten veröffentlicht wird. Wir bedanken uns bei allen Teilnehmern und Freunden, die den Kurzgeschichten-Wettbewerb die ganze Zeit voller Interesse und Elan verfolgt haben. Gratulieren möchten wir ganz herzlich der Gewinnerin des 1. Platzes, Sabrina Vetter, die mit ihrer Geschichte „Ich möchte lärmend mit euch durch die Straßen rennen“ den Anfang macht. Viel Spaß beim Lesen wünscht Euch Euer Team von Freunde fürs Leben
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“
Ich möchte lärmend mit euch durch die Straßen rennen Sabrina Vetter
Seitdem sie sich umgebracht hat, ist alles anders. Wir lachen nicht mehr. Wir
albern nicht mehr rum. Wir erzählen uns keine Geschichten mehr aus dem wahren Leben, oder zumindest das was wir als das „wahre Leben“ bezeichnen. Eigentlich wird generell nur noch wenig geredet, aber was soll man auch sagen, wenn alles irgendwie leer ist; die Worte, der Kopf, der Sinn. Wir sind eigentlich nur noch traurig und reden darüber wie schön es damals war. „Damals“ hört sich so an als wären 50 Jahre vergangen, ist aber in meiner Realität nur 12 Tage her. Und eigentlich ist es auch egal wie lange es schon her ist. Das Einzige was wichtig ist, ist das es überhaupt passiert ist. Ich weiß nicht mehr was ich noch sagen soll. Irgendwie ist alles schon gesagt worden. Oft. Zu oft. Und irgendwann wiederholt sich die Scheiße doch nur noch. Worte, die mal als Trost gemeint waren, werden auf einmal verhasst und lassen Aggressionen hochkommen von denen man lieber gar nicht gewusst hätte, dass sie existieren. Dann fühlt man sich schlecht. Schlechter als sowieso schon. Deswegen schweige ich manchmal lieber und deswegen wäre es mir lieber alle anderen würden es manchmal auch so handhaben. Wenn dann geredet wird, dann artet es schnell aus. Es wird gestritten, manchmal geschrien und im Endeffekt noch mehr geweint als wir es sowieso schon tun. Andauernd hat man Angst das Falsche zu tun oder zu sagen und wenn man gar nichts tut oder sagt, dann ist es definitiv auch das Falsche. Ich will mich nicht beschweren, dazu habe ich gar kein Recht, aber ich versuche nur das zu tun was mir das Richtige zu sein scheint. Ich will trösten und beistehen und zum Lachen bringen und alles besser machen und am meisten will ich: Verstehen. Ich meine nicht, dass es darum geht zu verstehen was genau passiert ist, sondern eher warum und vor allem: Wie es überhaupt soweit kommen konnte. Wie kann es sein, dass sich eine umbringt und damit niemand gerechnet hat? Wie kann es sein, dass wir nun dasitzen, uns anschweigen und nicht wissen was wir tun sollen? Wie kann es sein, dass wir in unserem Selbstmitleid und in unserer Trauer versinken und uns gegenseitig runterziehen in dem wir die Schuld einer nach dem anderen weiterreichen, sogar an Leute, die nichts, aber auch gar nichts, mit den derzeitigen Umständen zu tun haben? Warum traut sich niemand aufzustehen und wagt zu sagen, dass er oder sie es doch hat kommen sehen? Warum muss überhaupt jemand Schuld haben und warum müssen es immer die anderen sein? Warum bringt sich überhaupt 2
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ jemand um? Ich weiß auf all diese Fragen keine genauen Antworten. Es gibt einfach zu viele und die meisten davon sind sowieso die Falschen. Im Endeffekt weiß ich also gar keine Antworten. Zumindest keine, die die Richtigen wären und schon gar keine, die irgendwas weniger schmerzlicher, weniger traurig und weniger schwer machen würden. Ich kenne nur meine Sicht der Dinge und die tut schließlich nichts zur Sache, da es nicht meine Familie ist. Es ist nicht mein Kind, nicht meine Schwester, nicht mal meine Freundin. Ich bin nur irgendein Mädchen das da mit reingezogen wurde, weil es zwar, wie gesagt, nicht meine Familie ist, aber die Familie der Person, die mir vielleicht am Nähesten steht im Leben und die die beste Freundin ist, die je haben werde. Und dann betrifft es mich eben doch. Und dann zählt meine Meinung trotzdem nicht. Und dann kann ich nicht einfach gehen, wenn es mir zu viel wird, wenn zu viel geweint, geschrien, geschwiegen wird. Dann halte ich eben durch, auch wenn ich denke, dass ich es nicht kann. Als Caro ihre Schwester vor 12 Tagen tot auf ihrem Bett liegend gefunden hat, war einfach so alles anders. So wie die Zeit funktioniert, wie man über die grundlegenden Dinge denkt und wie wir als Menschen so sind. Das Leben halt. Es war nichts mehr so wie ich es kannte. Auf einmal, einfach so, war alles wie unecht. Die Zeit vergeht nicht wie sonst, irgendwie langsamer, aber trotzdem so, dass man sich nicht an das erinnert was gerade war. Jegliche Worte hinterlassen einen komischen Nachgeschmack auf der Zunge, egal ob sie ehrlich, oberflächlich oder hilflos sind. Die Augen fühlen sich so an als könnte man jede Sekunde einschlafen, obwohl man gar nicht müde ist, und der Körper ist so ausgelaugt als wäre man der Ohnmacht nahe. Es gibt seit diesem Zeitpunkt keine klaren Gedanken mehr. Es gab besonders viele davon sowieso davor schon nicht. Denn seien wir mal ehrlich, ich bin auch nur irgendein dummes Mädchen das meint die Welt zu kennen und zu verstehen, dabei tut es einen Scheißdreck. Wie konnte es überhaupt soweit kommen? Dass ich an mir zweifele, dass wir jetzt hier sitzen und weinen und nie wieder lachen werden, dass die Welt sich auf einmal langsamer dreht, dass alle anderen nicht mehr dieselben sind und wir auch nicht? Wir definitiv sowieso nicht. Und schon wieder diese elenden, nie endenden, ausgelaugten, zerstörenden Fragen. Caros Schwester war wunderschön und herzensgut. Sie konnte jedes einzelne Lied von Jeff Buckley mitsingen. Sie war klug und charmant. Sie hatte 473 Freunde bei facebook. Sie mochte Veilchen und James Franco. Sie konnte Kurt Vonnegut zitieren und Tennessee Williams, besonders aus Die Katze auf dem heißen Blechdach. Sie war keine gute Autofahrerin, dafür hatte sie es bei GTA voll drauf. Jeder wollte von ihr gemocht werden. Nur die wenigsten hatten das dann auch verdient. Aber, sie war auch innerlich zerrissen. Das wissen wir jetzt. Sie war verloren. Sie war am Ende. Sie hatte Angst. So steht es in ihrem Abschiedsbrief. Und 3
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ genau deswegen hat sie sich auch die Pulsadern aufgeschnitten, und genau das haben sie und ich auch gemein: Die Angst. Ich kann Caro nicht sagen, dass ich Angst habe. Angst davor schwach zu sein. Angst davor, dass ihr dasselbe passiert. Ich möchte nicht diejenige sein, die sie eines Tages tot auf ihrem Bett findet. Sie sagen es liegt in der Familie. Was auch immer das bedeutet. Ich habe Angst, dass sie nie wieder die Alte sein wird. Manchmal möchte ich ihr ins Gesicht schlagen um sie wieder zurück zu holen. Das geht nicht. Sie ist weg. Wahrscheinlich für immer. Aber, eigentlich ist das auch egal, denn ich bin auch nicht mehr die Alte. Alles ist anders. Alles was vorher war, ist ausradiert seit diesem Tag vor fast zwei Wochen. Sache ist, dass nicht nur sie nie wieder die Alte sein wird sondern, dass auch ich nie wieder die Alte sein werde. Wie eigentlich fast jeden Tag seit 12 Tagen sitze ich mit Caro in ihrem Zimmer und schaue ihr beim Leiden zu und leide auch selbst. Fragen gehen mir durch den Kopf, wie immer. Ich bin müde, wie immer. Ich fühle, dass jedes Wort das mir über die Lippen geht ein Falsches ist, wie immer. Nur heute ist etwas anders. Heute wird mir klar, dass ich nicht mehr weiß was ich tun soll. Ich möchte den Schmerz lindern. Ich möchte wieder lachen. Ich möchte wieder über alles und jeden reden können ohne Angst zu haben etwas könnte unpassend sein oder, dass etwas in den falschen Hals bekommen werden könnte. Ich möchte, dass alles wieder gut wird. Ich möchte, dass die Welt sich wieder wie vorher dreht, dass die Zeit in dem Tempo vergeht in dem sie vorher vergangen ist, dass meine Augen wieder die großen blauen Mädchenaugen werden, die sie davor waren, anstatt den traurig verheulten, die sie heute sind. Ich möchte wieder Glück und Freude in unser Leben zurück. Ich möchte all das und doch weiß ich, dass all das nicht passieren wird. Ich glaube, nein, ich weiß, ich kann nicht mehr. Ich habe schon alles versucht. Ich habe schon alles gesagt was es zu sagen gibt. Ich habe schon so viel gesagt, dass mir nichts mehr einfällt. Ich habe schon so viele Minuten des Schmerzes ertragen, dass ich mich leer fühle. Ich möchte aufstehen und mich raus auf die Straße stellen und so laut schreien wie ich noch nie zuvor in meinem Leben geschrien habe: „Lasst mich mit eurem Scheiß in Ruhe!!!“ Ich bin einfach nur ein Mädchen. Ich hab die Weißheit nicht mit Löffeln gefressen. Ihr könnt mich nicht so vereinnahmen. Ich habe schon alles gesagt, alles getan, was ich tun konnte um zu trösten und Beistand zu leisten. Ich nehme eure Trauer an, auch wenn sie in Form von Herablassung oder vielleicht sogar Hass auf mich prallt, ich nehme euch tausend mal in den Arm und trockne eure Tränen, ich sehe euer Leid als mein Leid. Aber, ich bin an einem Punkt an dem ich mir wünsche ich könnte die Zeit zurückdrehen. Allerdings wünsche ich mir das aus völlig eigensinnigen Gründen. Es ist mir egal ob sich euer Schmerz lindert, es soll sich nur meiner lindern. Für ganz kurze, minimale Momente, die fast gar nicht existieren, seid ihr mir egal. 4
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Ich möchte stark für sie sein. Ich möchte wirklich, aber ich habe Angst, dass ich es nicht kann. Nicht auf die Art wie ich stark sein muss. Nicht so wie sie es von mir erwartet. Ich schaue Caro an; sie bemerkt es nicht. Ich bin ganz kurz davor aufzustehen. Ich bin kurz davor zu gehen, für immer, und sie mit ihrem Schmerz und ihrer Ungewissheit alleine zu lassen. Ich bin kurz davor Freiheit für mich zurück zu erlangen, eine Freiheit in der Glück und Lachen und lustige Gedanken nichts Unangebrachtes sind. Ich bin so kurz davor ihr zu sagen, dass ich nicht mehr kann, dass ich an meine Grenzen gestoßen bin und, dass ich keine gute Freundin und auch kein guter Mensch bin und ich mir dessen auch definitiv bewusst bin, dass ich das aber auf mich nehme um diesen Druck, diesen Schmerz, diese Furcht von mir zu nehmen. Da läuft ihr eine Träne über die Wange und sie zerknüllt mit ihrer rechten Hand ein Taschentuch so dolle, dass ich denke ihre Finger platzen gleich auf. Die Hand zittert. Nicht so sehr wie sonst, aber immer noch ganz schön heftig. Und, auf einmal weiß ich was zu tun ist: Ich muss stark sein. Ich muss durchhalten. Ich darf keine Schwäche zeigen. Ich muss das alles tun und ich werde das alles auch tun. Wenn sie weint, dann darf ich nicht auch weinen. Wenn sie wieder und wieder die Geschichte erzählt, dann werde ich ihr nicht sagen, dass ich es nicht mehr hören mag. Und wenn sie wieder und wieder den Abschiedsbrief vorliest, dann darf ich mir nicht die Ohren zu halten und schreiend davon laufen. Ich halte durch. Weil ich es muss. Weil ich es kann. Sie braucht mich. Sie braucht meine Hand zum Festhalten. Sie braucht meinen Taschentuch-Vorrat. Sie braucht meine ehrlichen, tröstenden Worte von denen ich glaube, dass sie nichts ausrichten. Ich halte durch. Für sie. Für mich. Für uns. Der Fernseher ist schon die ganze Zeit an, obwohl eigentlich keine von uns beiden hinschaut. Es läuft irgendwas mit Kurt Krömer. Sie hat gerade wieder geweint. Ich gebe ihr ein Taschentuch. Ich sage: „Du kannst dich auf mich verlassen“. Ich halte Ihre Hand. Da erzählt er mal wieder von der Pummelfee. Sie lacht. Ich lache. Wir lachen. Und auf einmal ist wieder alles anders. Dieses Mal bin ich vorbereitet. Hoffe ich.
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“
Kalter Wind Silas Matthes
Tim
war schweigsam in letzter Zeit. Wahrscheinlich, weil sein Hund gestorben war. Oder, weil seine Eltern sich scheiden ließen. Oder aber, weil Lisa ihn mit Kenneth betrogen hatte. „Tim ist so anders in letzter Zeit. Ich habe das Gefühl, ich komme überhaupt nicht mehr an ihn ran, verstehst du? Vielleicht redest du ja mal mit ihm.“, hatte Tims Mutter Steffen gesagt. „Du sag mal Steffen, ist mit dem Tim alles in Ordnung? Vielleicht kannst du ja ein bisschen auf ihn Acht geben.“, hatte ihr Klassenlehrer Herr Peters ihm aufgetragen. „Und wie geht es Tim? Ist echt blöd gelaufen. Du passt doch auf ihn auf, oder?“, hatte Lisa gefragt. Aber nicht die hilflose Bitte von Tims Mutter, die schon viel länger nicht an Tim rankam und es erst mit der Scheidung gemerkt hatte, veranlasste Steffen dazu, Tim zu suchen. Auch nicht die Pseudo-Besorgnis von Herrn Peters, den es eigentlich einen Scheißdreck interessierte, wie es Tim ging. Und am allerwenigsten das schlechte Gewissen von Lisa, die für Steffen gestorben war. Nein, der seltsame Ausdruck, den Tim heute in den Augen gehabt hatte, der ließ Steffen nach seinem Kumpel suchen. Er fand ihn unter der Eisenbahnbrücke. Da, wo die Züge an einem vorbeidonnern. Er saß mit dem Rücken an einen Brückenpfeiler gelehnt und warf Kiesel auf die Schienen. Steffen setzte sich neben ihn. Er starrte mit Tim auf die Schienen und beobachtete, wie die Kieselsteine zwischen den Schwellen verschwanden. Ein Zug donnerte vorbei. Der Fahrtwind ließ Steffen frösteln. „Glaubst du es tut weh? Zu sterben mein‘ ich.“ Tim starrte weiterhin auf die Gleise. Steffen überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. „Ne, glaub nicht.“ Für einen Moment herrschte Stille. „Und glaubst du es geht danach weiter?“, fragte Tim. „Glaub schon.“ Steffen zuckte mit den Schultern. „Muss ja irgendwie.“ „Und glaubst du es ist schön, wie es weitergeht?“ „Bestimmt. Sonst hätt das ja keinen Sinn.“ Tim kratzte sich hinterm Ohr. „Hast du’s auch manchmal satt?“ Steffen nickte. „Ja, klar. Jeder hat’s mal satt.“ Tims Stimme bebte. „Ich hab’s grad so richtig satt.“ „Kann ich verstehen.“ Steffen legte eine Hand auf Tims Schulter. Wieder herrscht Stille. Ein Zug donnerte vorbei. Der Fahrtwind ließ Tim frösteln. Steffen stand auf. „Ich hab das neue Fifa. Hast du Bock?“ Tim lächelte. „Aber nur, wenn ich Brasilien krieg“. 6
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Die Suche Philipp M. Schäfer
Eigentlich war das Leben bisher so schlecht nicht verlaufen, aber als sich die Situation in dem kleinen Dorf änderte, in dem Kai bisher mit seiner Familie gelebt hatte, machten sie sich auf den Weg in die Ferne, das Glück suchend, das ihnen in der Heimat verwehrt zu bleiben schien. Mit dem Glück an sich war es eine komische Sache, das hatte Kai bereits früh festgestellt. Was sollte das überhaupt sein? „Glück“?
Die Reise an sich war es jedenfalls nicht. Kai litt unter Heimweh, der Sehnsucht nach einer neuen Heimat und vermisste das Gefühl, irgendwo „angekommen“ zu sein. Eines Tages, die kleine Gruppe von Menschen auf der Suche nach einem Platz zum Leben durchquerte gerade ein kleines Dorf am Fuße eines Berges, reichte es Kai und er beschloss, dieses seltsame Ding, von dem er immer nur gehört hatte, nicht weiter zu suchen, sondern die Reiserei aufzugeben und genau hier zu warten, ob es nicht vielleicht auch nach ihm suchte. Das Dorf, in dem er nun allein zurückblieb, hatte scheinbar nicht wirklich auf ihn gewartet und die anfängliche Gastfreundschaft machte schon bald dem Gefühl Platz, dass er es nun war, von dem erwartet wurde, dass er sich anpasste. Von Anfang an erschienen die Dinge nicht nur nicht einfach, sondern verflixt und verwurmt. Das einzige freie Grundstück bot zwar einen schönen Ausblick, aber leider auch einen fast die Hälfte der Grundfläche einnehmenden steinharten Felsblock, der keinerlei Anzeichen machte, sich bearbeiten zu lassen. So rackerte Kai nun Nächte und Tage hindurch und verschliss so manchen Hammer und Meißel, ohne dem harten Fels auch nur eine Kante zu versetzen. Hatte sein Onkel immer gesagt, das Leben sei eine Achterbahn, die in beständigem Auf und Ab ihre Bahnen zog, so hatte Kai nun nur noch das Gefühl in einem beständig abwärts rasenden Wagen zu sitzen. Er vermied es, wenn es nur möglich war, mit den Dorfbewohnern in Kontakt zu treten, er schämte sich, er, der doch eigentlich hier ein neues Heim bauen wollte, hatte nur diesen Fels. Diesen unverrückbaren, tonnenschweren Klumpen aus Stein. Er bereute es, nicht weiter mit den anderen gezogen zu sein. Er verfluchte seine Situation und allem voran verfluchte er diesen harten und unverrückbaren Fels. Unzählige Kisten voller Werkzeug hatte er an diesem Stein kaputt geschlagen, wochenlang hatte er unter Rücken- und Armschmerzen gelitten und doch jeden Tag wieder neu angesetzt, um diesen verfluchten Fels endlich beiseite zu schaffen, um endlich ein Häuschen zu 7
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ bauen, endlich anzukommen und endlich die „Eintrittskarte“ zu lösen, ein respektabler Bürger in dieser Dorfgemeinschaft zu werden. Nichts, als nur noch dieser Fels kreiste in seinen Gedanken. Als der Winter aufzog raffte Kai sich ein letztes Mal resignierend auf und begann sein Haus einfach zu bauen. Da er den Fels scheinbar nicht dazu bewegen konnte, sich bearbeiten, geschweige denn hinfortschaffen zu lassen, nutzte er ihn einfach als Teil der Außenwand. Er konnte die Blicke der Dorfbewohner schier spüren, die ihn verachteten, weil er es nicht geschafft hatte, sein Haus so wunderschön symmetrisch und glattwandig zu bauen, wie sie. Eines Abends, Kai hatte sich nach einem langen Tag, voller Versuche, seine Wände zumindest ein bisschen zu glätten, mit schmerzenden Händen auf der rauen Oberfläche des Felsens niedergelassen, schien alles in ihm gegen diese Situation aufzubegehren. Gedanken rasten in seinem Kopf und ließen nur einen Schluss zu. Es war ein grober Fehler gewesen, sich hier niederzulassen, es war ein Fehler gewesen, die anderen ziehen zu lassen, es war ein Fehler gewesen, den verdammten Fels nicht einfach in Ruhe zu lassen und es war ein Fehler gewesen, immer noch einen und noch einen Tag Arbeit zu investieren. Er saß nun hier. Allein. Die Achterbahn rauschte weiter hinab während scheinbar die Bahnen aller anderen hinaufstrebten und vollkommene Loopings zogen. Während die anderen Bewohner ihre Häuser für ein Dorffest herausputzten, hatte Kai noch immer mit dieser verdammten Außenwand zu kämpfen. Er konnte nicht mehr. Morgen würde er dieses schreckliche Dorf, das Haus und den furchtbaren Felsen verlassen und versuchen, zurück in sein Heimatdorf zu kehren. Das Leben schien keinen Platz für ihn bereit zu halten. Noch lange lag Kai in dieser Nacht wach und versuchte, im fahlen Licht seiner einzigen Lampe seine Gedanken zu ordnen. Draußen war ein Sturm aufgezogen und Wind und Regen peitschten gegen die Fenster und Wände seines Hauses. Spät in der Nacht, die Sonne kündigte sich bereits zaghaft zwischen den Bergen an, klopfte es an Kais Tür. Das halberfrorene und in Lumpen gehüllte Mädchen kannte Kai bereits aus seinem Heimatort. Sie war ebenfalls mit Ihrer Familie aufgebrochen und hatte sich noch einige Monate weiter mit den anderen durchgeschlagen, bevor sie beschlossen hatte, dass sie zu schwach und zu frustriert war, um weiterzulaufen. In einem Moment großer Verzweiflung hatte sie befunden, dass es klüger war, die Suche zu beenden und einfach zurückzugehen. Sie hatte beschlossen, lieber der schlechten Situation in ihrem Heimatort entgegenzusehen, als weiter ins Ungewisse zu gehen. Zu Beginn der Nacht war sie in ein furchtbares Unwetter geraten und hatte sich Schutz suchend zu dem kleinen Dorf am Fuße der Berge retten können. Die zahlreichen einförmigen Häuser, die dort dunkel schlummernd aneinander lagen, hatten die Sorge in ihr geweckt, nicht willkommen zu sein, da sie anders war und mit ihrem ausgemergelten Körper und den Lumpen nicht in die Idylle dieses Ortes passte. 8
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Sie hatte das gesamte Dorf umrundet und sich ihrer schäbigen Lumpen und ihres schlechten Zustandes so geschämt, dass ihr der Mut gefehlt hatte, hilfesuchend an eine der Türen zu klopfen, bis sie das seltsame Haus am Rand des Dorfes sah, in welchem noch Licht brannte. Beim Näherkommen erkannte sie, dass dieses Haus anders war. Sie beschloss, dass jemand, der sich mit einem Fels arrangieren konnte, der bereit war, in einem Haus zu Leben, das sich so stark von den anderen abhob, eine besondere Person sein musste. Zudem vermutete sie, dass außerordentlicher Weitblick und die Sorge vor Unwettern wie dem heutigen den Besitzer dazu gebracht haben mussten, einen Fels als zusätzliche Sicherung in sein Haus zu integrieren. So hatte Sie all ihren Mut zusammengerafft und sich diesem Haus genähert. Der Fels, der sich im Dunkel der Nacht immer mehr aus dem Schatten der Hauswand abhob, hatte ein seltsames Gefühl in ihr ausgelöst. Wie sehr wünschte sie sich einen Fels, eine Basis, etwas, von wo sie sicher stehend in die Zukunft starten konnte. Kai öffnete ihr die Tür, bot ihr Tee und warme Kleidung an und schon bald saßen Sie schweigend nebeneinander, während es draußen stürmte und toste. Kai bewunderte ihren Mut, weiter gegangen zu sein, er verachtete sich dafür, die Chance nicht genutzt zu haben, etwas Besseres zu finden und schämte sich für seine Schwäche, den gottverdammten Fels nicht wieder und wieder angegangen zu sein. Seine Achterbahn raste nun nicht mehr hinab, schlimmer noch. Sie war einfach stehen geblieben. Lina verfluchte sich still dafür, nicht hier in diesem schönen Bergdorf geblieben zu sein, wie Kai es getan hatte, als sie gemeinsam mit Ihren Familien hindurchgezogen waren. Sie bewunderte Kai für den Mut, sich niedergelassen zu haben, und dabei doch seine eigene Identität behalten und ein Haus gebaut zu haben, welches sich deutlich von den anderen Unterschied. Sie blieb einige Tage bei Kai und im Stillen genoss er es, nicht mehr allein zu sein, jemanden zu haben, für den er sorgen konnte. Die Leute im Dorf schienen plötzlich aufgeschlossener, sie luden die beiden ein, an Festen und Feiern teilzunehmen und irgendwann sagte mal jemand „seid Du nicht mehr ständig auf diesem Fels rumkloppst, und auch mal zu uns kommst, bist Du ein ganz anderer Mensch geworden“. Kai fühlte sich schrecklich dämlich, als er bemerkte, dass er sich so sehr an diesem Felsen abgearbeitet hatte, dass er gar keine Augen mehr für die Welt um sich herum gehabt hatte. Als zu Beginn des Frühlings die Liebe zu den beiden ins Felswandhaus zog, und sie es kaum noch aushalten konnten, den anderen nicht in der Nähe zu haben, begann Kai sich wieder um seine Achterbahn zu sorgen. „Ich muss Dich warnen: Wenn das Leben eine Achterbahn ist, dann läuft meine irgendwie völlig anders als die anderen. Ständig geht es bergab, wo es für andere bergauf geht. Mit mir zu Leben ist vermutlich nicht nur nicht leicht, sondern wirklich mies“. „Aha“ sagte Lina darauf nur. „Wenn Deine Achterbahn genauso wäre, wie alle anderen, warum sollte ich dann einsteigen wollen?“ 9
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Und langsam merkten beide, dass sowohl an einem Ort zu verbleiben, als auch auf einem Weg umzukehren, bedeuten kann, in Richtung Glück zu gehen. Manchmal braucht man nur den richtigen Menschen an seiner Seite, um zu erkennen, dass auch das unsinnigst Scheinende einen Sinn haben kann und falsch oder richtig nur Auslegungssache ist. Wie furchtbar es ist, wenn es nur bergauf geht – dann siehst Du jedes Mal beim hochschauen nur einen Berg vor Dir und wie wichtig es ist, auch mal anzuhalten, um jemanden einsteigen zu lassen. Wichtig ist nur dieses: Lass ein Licht an, verschließ Deine Tür nicht und klopfe, auch wenn Du Angst hast.
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Tekken mit Phil Hendrik Thiel
Die Krawatte sitzt nicht.
Frustriert löse ich den Knoten, überlege kurz, ob ich sie weglassen soll, und binde sie dann zum dritten Mal. Ich sehe meine Hände im Spiegel zittern. Ich bin Bankangestellter, ich kann Krawatten binden, ich mache das jeden Tag. Aber ich gehe nicht jeden Tag auf eine Beerdigung. Ich erinnere mich nicht genau, wie ich Phil kennenlernte. Er ging auf die gleiche Schule, einen Jahrgang über mir, und seine Eltern wohnten bei uns um die Ecke. Zwischen Schulweg, Schulhof und diversen Spielplätzen ist uns aufgefallen, dass der jeweils andere auch ständig da war. Es gab keine Suche nach gemeinsamen Interessen, keine Abtastphase: Wir wurden Freunde, weil wir beide einen Freund brauchten. Nach dem vierten Versuch bin ich mit dem Knoten zufrieden und gehe auf die Veranda. Mein Vater pflanzt oder jätet im Garten, das Radio spielt dazu die Superhits der Achtziger, Neunziger und von heute. Meine Mutter sitzt in einem weißen Gartenklappmöbel und mustert mich mit wegen der Sonne zusammengekniffenen Augen: "Siehst gut aus, mein Schatz." Ich hebe kurz den Mundwinkel und weiß nicht, was ich tun soll. Es ist viel zu früh, um loszugehen, das Wetter ist zu gut für eine Beerdigung. "Willst du dich nicht 'n bißchen zu mir setzen? Ist so schön heute" sagt meine Mutter, und nur ihr Blick spricht weiter: "und wir sehen uns doch so selten!" Ich will nicht. "Ich geh nochmal nach oben." Wir verabredeten uns zum Spielen, einmal, öfter, nur noch. Wenn er vor mir Schulschluss hatte, wartete er auf dem Schulhof auf mich, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Er gab mir nie das Gefühl, ihm irgendetwas schuldig zu sein; andersrum entschuldigte er sich auch nie, wenn wir uns mal gestritten hatten. Einmal schlug er mir beim Rangeln einen Milchzahn aus, und während ich heulte, streckte er seine dünnen Kinderarme gen Himmel und ließ sich von einer imaginären Zuschauermenge feiern wie ein Boxer, der gerade den Weltmeistertitel errungen hatte. Dann half er mir, den Zahn zu suchen, und am nächsten Tag gab er mir Zweifünfzig, weil seine Eltern diese Zahnfeegeschichte mit dem Milchzahn unterm Kissen betrieben. Ich stehe in meinem Kinderzimmer und schaue mich um, aber die erwartete Welle an Emotionen kommt nicht. Keine Erinnerungen an Phil. Wir waren selten hier - manchmal draußen, aber meistens bei ihm. In einer halboffenen 11
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Schreibtischschublade sehe ich ein verknicktes Oktavheft, auf dass ich vor 15 Jahren den Grund dafür geschrieben habe, in großen, schwarzen Buchstaben: TEKKEN. Eigentlich gehörte die Playstation Phils Vater. Ich mochte ihn von Beginn an, weil er so viel jünger war als meiner und richtig gute doofe Scherze machte. Ich beneidete Phil manchmal um seine Beziehung zu seinem Vater, aber natürlich sagte ich das nie jemandem. Phil war ein Schlüsselkind, und da seine Eltern nicht vor 18.00 Uhr heimkamen, hatten wir jeden Tag drei geheime Stunden mit ebendem Gerät, vor dem uns seine Mutter am liebsten beschützt hätte. Sein Vater merkte anhand der Spielstände schnell, wie der Hase lief, und obwohl er uns abends dann gerne zu Lügengeschichten animierte, indem er uns vor seiner Frau fragte, was wir denn den Nachmittag über so Schönes gemacht hatten, hielt er augenzwinkernd dicht. Und so ging das jahrelang: Schule, Tornister zu Hause abliefern, schnell was essen und dann meiner Mutter auf die Frage, wo ich denn nun schon wieder hinwolle "Tekken mit Phil" antworten. Ich glaube nicht, dass sie je wusste, was ihr Sohn da sagte. Aber ich nahm es ihr nie übel, dass sie nicht nachfragte. Ich durchblättere 16 Seiten mühevoll abgemalter Tastenkombinationen. Es ist merkwürdig, an was man sich erinnert, was man assoziiert. Ich ging 10 Jahre zur Schule, und erinnere mich kaum an meine Lehrer. So viel ich auch mit Phil erlebt habe, nichts ist so präsent wie das Bild von uns beiden, wie wir vor dem Fernseher seines Wohnzimmers hocken und ein Prügelspiel spielen. Aus Tekken wurde Tekken 2 und 3. Wir bekamen nicht genug davon. Ich spielte sonst keine Videospiele, aber dies war meine erste eigene Tradition, lange bevor ich genau wusste, was das war - es verband uns. Natürlich machten wir das nicht jeden Tag, so sehr meine Erinnerung mir das auch vorgaukeln möchte. Aber an jedem anderen Tag wünschte ich, es wäre so. Ich verlasse unser Haus durch die Vordertür, gehe aber noch einmal ums Haus, um meinen Eltern auf Wiedersehen zu winken. Mein Vater nickt mir zu und wischt sich die kahle Stirn mit einem Wischlappen ab; meine Mutter ruft mir etwas, was ich nicht verstehe. Ich gehe zu Fuß und lass mein Auto stehen; ich rede mir ein, dass mir die Bewegung gut tut; in Wirklichkeit will ich wohl einfach nicht so schnell ankommen. Ich habe Angst. Es gab kein einschneidendes Erlebnis, das unsere Wege trennte, keinen Streit; rückblickend erscheint es unerklärlich, wie ein Mensch, der einem für eine solch lange Zeit derart wichtig war, plötzlich aus dem eigenen Leben verschwindet, ohne dass man es bemerkt oder Abschied nimmt. Ich fing nach der Schule eine Ausbildung an, er ging auf die Oberstufe. Wir hatten keinen gemeinsamen Schulweg mehr, ich musste nachmittags arbeiten. Manchmal trafen wir uns am Wochenende zum Spielen - inzwischen hatte auch seine 12
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Mutter nichts mehr dagegen -, aber immer öfter kam etwas dazwischen. Ich hatte auf der Berufsschule viele neue Leute kennengelernt, und bald fand ich Mädchen interessanter als Videospiele. Es stehen mehr Menschen vor der Kapelle, als ich erwartet hatte. Ich habe das Gefühl, keine Luft zu kriegen; ich weiß nicht, ob das an der Hitze, der Krawatte oder der Angst liegt. Ich gehe eine Runde um den Friedhof, um nicht so früh da zu sein und meine Atmung zu beruhigen. Als ich zum zweiten Mal zum Tor komme, ist die Menge sichtlich geschrumpft; lediglich die Raucher stehen noch vor dem Eingang. Ich atme tief durch und gehe zur Kapelle. Meine Mutter hatte die Todesanzeige in der Zeitung gelesen und rief mich an. Ich sagte lange nichts, dachte nichts; ich spürte nur diesen Knoten in meinem Bauch, pulsierend, wachsend. "Die Trauerfeier ist am Samstag. Gehst du hin?" Soviele Gründe fielen mir ein, es nicht zu tun: Die lange Zeit, der abgebrochene Kontakt, meine eigentlichen Pläne fürs Wochenende. "Ja", sagte ich. "Natürlich." Ich betrete die Kapelle; die Bänke sind alle besetzt oder werden für die Raucher besetzt gehalten, daher nehme ich die Treppe, die zu dem kleinen Balkon hochführt, auf dem auch die Orgel steht, und setze mich. Die Orgel spielt, der Pastor fängt an zu sprechen und ich an zu weinen. Ich wurde nach der Ausbildung nicht übernommen, aber Banken gibt es überall, und ich hatte eh genug von Kleinstadt. Phil machte gerade seinen Zivildienst, und obwohl wir nicht mehr viel miteinander zu tun hatten, bot er an, mir beim Umzug zu helfen. Als wir schließlich den letzten Karton aus dem gemieteten Transporter gewuchtet hatten und mit meinen Eltern, meinem Onkel und noch ein paar Freunden in meiner neuen Wohnung saßen, versprachen wir uns, trotz der Entfernung wieder mehr Kontakt zu haben. Er würde mal am Wochenende vorbeikommen, und dann würden wir Tekken spielen, wie früher. Ich war begeistert von der Idee. Wir trafen uns danach noch ein paar Mal, zufällig, auf Parties von gemeinsamen Freunden, und nahmen uns das jedesmal wieder vor. Das letzte Mal vor etwa acht Jahren. Seitdem hab ich ihn nicht mehr gesehen. Ich habe es nicht einmal bemerkt. "...Phillip Wehland, der leider viel zu früh von uns gegangen ist...", der Pastor nähert sich dem Ende seiner Rede, und ich bin heilfroh über die Taschentücher, die mir meine Mutter eingesteckt hat. Trauerfeiern haben diese bestimmte Atmosphäre, dieses geballte Leid, gegen das ich nicht ankomme. Ich beiße die Zähne zusammen und versuche nicht zu schluchzen, während mir die Tränen herunterlaufen. Die Orgel fängt wieder an zu spielen, alle stehen auf, die Sargträger kommen und tragen den Sarg fort, und ich warte, bis fast alle Gäste ihnen gefolgt sind, 13
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ weil mir meine Tränen peinlich sind. Außerhalb der Kapelle spielen ein paar Kinder Fangen, und ich beneide sie für ihr Unbekümmertheit. Und dann sehe ich Phil. Er hat Gewicht verloren, und er trägt einen Bart, aber ich erkenne seine Augen. Ich versuche, irgendwas zu sagen, aber ich kann nicht. Er nimmt meine Hand, drückt sie mit all seiner Kraft und sagt "Danke, dass du da bist, Mann." Ich fange wieder an zu weinen. "Ist doch klar." Er lächelt, und ich versuche zu lächeln, und wir stehen da, auf der Beerdigung seines Vaters, und lassen unsere Hände nicht los.
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Jenseits des Kanals war der weite blaue Himmel Sebastian Maile
Sehe
ich aus der Fensterluke des fahrenden Zuges, fliehen Menschen und Natur in rasender Geschwindigkeit an mir vorüber, und mit ihnen mein gesamtes Leben. Die bloße Erkenntnis banaler, schemenhafter Skizzen, lässt sie gesichts- und ausdruckslos erscheinen, verborgen hinter weißen Schleiern, wie dünne Wolken an künstlich türkis gefärbten Sommerhimmeln, gänzlich ungewillt, auch nur einen Hauch von Formation für Suchende zu bilden, und daher völlig ungeeignet zu einem Versuch der mystischen Deutung ihrer Form. Alles nur Schauspiel, das nicht nach Zuschauern verlangt. Zunehmend erscheint es mir beinahe so, als erfahre doch letztlich Nichts an wirklichem Sinn und wahrer Bedeutung – da ist nur die Schönheit als Gegenpol der Hässlichkeit, undefinierbar projiziert auf all die Dinge, die wir sehen, nur dargeboten in Erscheinungs-Variation und Frequenz. Und die Wolken ziehen in Windeseile über unsere Köpfe hinweg – ich vermute, um dem grellen Licht der Sommertage zu entkommen, in die Nacht und die Geborgenheit der Dunkelheit. Ich hasse diese aufgezwungene Pflicht zur andauernden Geschwindigkeit, die die Gegenwart mir abverlangt und noch mehr die Konsequenzen, die sich daraus ergeben: Eine Menschheit, die sich selbst zu Brei rührt, um sich leichter verdauen zu können, erzeugt nur Individualität in Zahlen, um die letzten Überreste von Kontrasten in der Masse anzudeuten. Niemand verlangt nach den Gesichtern, die zu diesen Zahlen gehören – niemand nach den Ausdrücken, die sich weiterhin auf diesen bilden werden, und den Ursachen der Emotionen, die zugrunde liegen. Sehe ich aus dem Fenster, sehe ich Kinder, die über weite Rasenflächen mit ihren dunklen Schatten um die Wette laufen, bis sie am Horizont in ihre Leben verschwinden - nur aufgeregtes Kinderlachen beweist weiterhin die Existenz. Es erinnert mich an die Leichtigkeit der eigenen Kindheitstage: Meinen Vater, der mir am Abend nach erfolgreichen Kriegspielen mit anderen Jungen um die Herrschaft in der Nachbarschaft, einen mit warmen Wasser getränkten Waschlappen auf dem Gesicht ausdrückte, bis der Sand und Schmutz des Tages beseitigt war. Eiscreme die nie mehr besser schmeckte als in den Familien-Urlauben an großen Seen, und die kleinen Füße meiner Schwestern, die vom Steg herab ins Wasser hingen. Ich könnte heulen, wenn ich mich daran erinnere, und ich reiße mich zusammen, weil mir auch die Heulerei nichts nützen würde, sondern vielmehr Ausdruck von Peinlichkeit, Gebrochenheit und Schwäche wäre. Dann: Am Ende der Retrospektive - eine Haltestelle. Umstieg vom Münchner ICE bis Hauptbahnhof Naumburg(Saale) in die Bummelbahn nach Weimar auf Gleis Zwei – Immer weiter auf den Spuren Goethes: Meine Studienkollegen erheben sich müde aus ihren Sitzen, verstauen die iPods in den Hosentaschen, spreizen 15
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ die Arme im Genick, um sich zu dehnen, gähnen mit offenen Mündern – sehen dabei aus wie Tiere, greifen nach dem Gepäck in den Ablagen, ziehen Teleskopstile aus den Taschen, die auf Gummi-Rollen lagern. Sie bewegen sich im engen Gang im Stau zum Ausgang; und ich verstopfe ihn mit ihnen, bis wir endlich auf dem Bahnsteig stehen, und frische Luft die trockene Lunge füllt. Emilie, die bisher schweigend neben mir gesessen hatte, fragt mich, ob ich eine mit ihr rauchen möchte – wir hätten schließlich Zeit, meint sie, der Anschlusszug werde laut Fahrplan erst in zwölf Minuten abfahren. Ich sage ihr: »Ok«, ziehe eine Packung Camel blue aus der linken Brusttasche meines Hemdes und biete ihr eine an. Sie sagt, sie raucht nur rote Gaulloises, kramt in ihrer Handtasche nach ihrer eigenen Packung…»… und Luckies, manchmal Luckies« – Camel rauche sie nicht so gerne, das seien Alte-Männer-Zigaretten. Ich gebe ihr Feuer. Sie bedankt sich, nimmt einen ersten tiefen Zug aus ihrer Kippe, ascht in das Gleisbett, sieht mich nachdenklich an, und fragt dann, was denn eigentlich los sei mit mir – ob denn irgendetwas nicht stimme, vielleicht in der Familie oder so, da ich bisher die gesamte Fahrt über nur völlig stur aus dem Fenster gestarrt habe – sie hätte gerne mit mir über diesen saublöden Kontrolleur gelästert, der sich nicht merken wollte, wer schon länger mitfuhr; den dicken Kerl, der uns drei mal kontrollierte, und dann unhöflich wurde, als sie ihn belächelnd auf die Blödheit hinwies. Ich sage ihr: »Na ja, fand ich nicht so dramatisch, stell dir vor, du stanzt den lieben langen Tag nur kleine Löcher in Karton – am Abend kommst du dann nachhause, schaltest den Fernseher an und fragst dich, was du für die Menschheit leistest: Dann musst du dir nüchtern eingestehen: ‚Ich kontrolliere Menschen, und die Menschen hassen mich dafür’. Mit welchem Enthusiasmus machst du dann den Job«? Sie gibt mir Recht, das stimme schon. »Und jetzt zurück zu dir – was ist denn los? Du bist auch so verdammt dünn geworden über die vergangenen Monate. Iss mal wieder richtig, nicht nur solches Gummizeug.« »Weiß nicht… ich habe zurzeit nicht so viel Hunger, aber das macht ja nichts…schadet ja nicht, ich hatte eh zu viel auf den Rippen, ist ja egal - Aber hast du dich mal’ gefragt, wofür du all das machst, was du machst? – Dein Leben stupide vorwärts leben, bis du in die Grube fällst. All die Hürden nehmen, und dumme Menschen von dir überzeugen, die dir Steine in die Wege legen? Wofür der Aufwand?« »Mhm, du gefällst mir gar nicht – ich kenne diesen toten Blick in deinen Augen. So hast du mich schon vor ein paar Jahren angesehen, weißt du noch? kurz vor deinem ersten Zusammenbruch im Mai. Ist es wieder so schlimm wie damals?« »Nein, nein, passt schon, sonst wäre ich erst gar nicht mitgefahren. Ich brauche nur ein bisschen Zeit für mich, um mir über ein paar Dinge klar zu werden, die mich seit einigen Wochen nicht mehr loslassen. Ich verspreche dir, wenn wir endlich in Weimar ankommen sind, wird sicher alles anders sein – besser. Dann gehen wir was’ trinken, und reden mal wieder so richtig miteinander, ok?« »Na, in Ordnung. Dann lass’ ich dich mal noch für eine Weile in Ruhe. Ich 16
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ denke aber, du solltest nicht so viel nachdenken, das tut gerade dir nicht gut. Du tust dir doch damit selbst keinen Gefallen. Du weißt ja: Damals fing es genauso an – du hast dich immer weiter reinziehen lassen, weil du dich irgendwann daran gewöhnt hast. Du und deine Depression, ihr wart beinahe Freunde.« »Mhm, du hast schon recht. Aber nicht zu denken, würde mich am Ende wirklich umbringen. Ich kann auch gar nicht anders.« Wir steigen in den Anschlusszug nach Weimar; ich bitte Emilie, nicht an den Griff der Tür zu fassen, da dieser wirklich eklig aussieht – rote Flecke daran, die von Blut stammen könnten - und ich möchte doch nicht, dass sie krank wird. Dann: Zirka vierzig Minuten Anschlussfahrt, und weiter mit dem Bus zur Jugendherberge am Poseckschen Garten, nicht weit entfernt von Goethes Gartenhaus, und der Anna Amalia Bibliothek gelegen, die trotz des Großbrandes wirklich schön aussieht am frühen Abend. Schon im Vorbeifahren, fällt es nicht schwer, sich vorzustellen, was die großen deutschen Literaten hier, an diese Kleinstadt band. Kurz vor unserer Ankunft, scheint es dort geregnet zu haben – die Straßen sind noch feucht davon; es riecht nach warmem Sommerregen – nach einem Duftgemisch aus offenen Blüten, morscher Rinde und erhitztem Straßen-Teer. Meine Allergie macht sich bemerkbar; ich bekomme nur wenig Luft. An der Rezeption begrüßt man unsere Gruppe freundlich, teilt drei Studienkollegen und mir ein Erkerzimmer im dritten Stock des Hauses zu, provisorisch eingerichtet: Matratzen auf selbst gebauten Holzpaletten, inmitten eines Vortragsraumes. Ein kleiner Fernseher an der Wand, der sofort angeschaltet wird; eine Folge der Simpsons flimmert über seinen Bildschirm. Ich könnte die Folge inzwischen rezitieren, so oft habe ich sie gesehen. Immer Wiederholung als Prinzip. Nur einige Minuten später, nachdem ich mich wie die anderen zum Fernsehen auf mein Bett niedergelassen hatte, beginne ich plötzlich am ganzen Leib zu zittern. Ich spüre kalten Schweiß, der aus sämtlichen Poren meines Körpers strömt; die Atemluft wird immer dünner, und eine unsichtbare Macht versucht mich zu erwürgen. Ich erhebe mich von meinem Bett, um mich gegen sie zu wehren, sage den anderen, dass wir uns direkt beim Abendessen treffen werden, dass ich zuvor noch unter die Dusche springen werde, da ich mich irgendwie klebrig fühle, aufgrund der langen Fahrt. Ich krame in meiner Tasche nach einem Handtuch, Duschgel, Shampoo, frischer Unterwäsche, den Badelatschen, damit ich keinen Fußpilz kriege – nach einem alten Fläschchen Diazepam, von dem ich feststellen muss, dass ich es vergessen habe. Scheiße. Ich verlasse einen Raum, betrete einen anderen – gleich unter die Dusche; dort drehe ich das Wasser auf, warmes Wasser, das von oben herab meinen gesamten Körper umfließt, als stecke er in einer Blase, die von außen nicht durchbrochen werden kann. Ich schließe meine Augen, spüre nur Wärme und Geborgenheit, fühle sonst nichts, sehe nichts, höre nichts. Und ich ahne, was es heißt, im Paradies zu sein. Irgendwann beende ich das Ganze, drehe das Wasser ab, trockne meinen Körper, ziehe mich an, und gehe zurück ins Zimmer – die anderen sind inzwischen nicht mehr dort. Durch die Fenster fällt die Abendsonne, warm, 17
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ nicht heiß, angenehm, nicht blendend wie am Nachmittag – ein roter Feuerball, der den Westen unter sich begräbt. Ich öffne eines der vielen Fenster, greife nach meinem mp-3 Spieler, setzte mich aufs Fensterbrett, sehe hinunter auf die Straße, auf der gerade niemand fährt, auf die Gehwege, auf denen niemand geht. Lou Reed ist inzwischen bei der dritten Strophe von ‘Heroin’ angelangt: I wish that I was born a thousand years ago I wish that I'd sail the darkened seas … Heroin, be the death of me … Und ich frage mich gerade, ob man einen Sturz, hier aus dem dritten Stock des Hauses, kopfüber auf die Straße überleben würde, als Emilie den Raum betritt, und mir andeutet, die Köpfhörer abzulegen, damit ich sie verstehen kann. Sie sagt: »Du hast mir was’ versprochen, weißt du noch? Jetzt hör’ endlich auf damit.«
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Kriegspielen Saskia Trebing
Natürlich
hatten sie auch diesmal wieder zwei Gedecke zu viel aufgetragen. Eins direkt vor Kopf, wo die Lücke besonders schmerzte. Das andere wie zufällig neben ihm. Mit seinen sieben Jahren hatte Noah sofort verstanden, dass er auch heute nicht bei Onkel Matt aus New York sitzen würde. Nur kurz hatte ihn der Junge angeschaut und wie entschuldigend mit den Schultern gezuckt. Du kennst die Regeln, Onkel Matt. Dann hatte er sich neben seinen Bruder gesetzt und ihm eine Himbeere im Nacken zerrieben. Während des Tischgebetes versuchte Matt die Limonenbäume zu riechen und starrte schuldbewusst auf Porzellan, das unbenutzt bleiben würde. Als ihn der Anruf vor zwei Tagen erreicht hatte, hatte er eine Freude gefühlt, die ihm fremd war. „Du kommst am Montag“, hatte Zetta gesagt. „Du brauchst ein Auto.“ Die Schwester seines Vaters kannte keine Fragezeichen, aber ihre Stimme war warm gewesen. Matt wusste genau wie sie beim Telefonieren ihre Brille aufsetzte, um den Ernst ihrer Anliegen zu betonen. Einen Moment lang hätte er am liebsten geschluchzt. „Mein Auto wird dir gefallen“, hatte er dann gesagt. „Bis Montag“. Matt hatte flüchtig nachgerechnet, wann er die letzten Tabletten geschluckt hatte und sich dann für fahrtüchtig befunden. Er hatte sich den Schlüssel für den Personal-Notfallwagen seines College besorgt und war nach Süden gefahren. Insgeheim hatte er seit Wochen einen Grund gesucht, um der Stadt zu entkommen. Als ihn die Glas- und Betonarme Manhattans endlich auf den Highway geschleudert hatten, hatte auch er sich weniger versteinert gefühlt. In einem schäbigen Motel auf halber Strecke war ihm eine Kellnerin aufs Zimmer gefolgt. Sie war entschlossen gewesen zu bleiben, und er hatte es ihr nicht übel genommen. Sie roch nach Rotwein und salzigen Mandeln und er träumte Belangloses. „Du bist traurig“, hatte sie beim Aufstehen gesagt. Am Esstisch im Garten unter den Limonenbäumen war sich Matt nicht mehr ganz sicher. Es war schwer, dem schwebenden Gefühl in seinem Kopf einen Namen zu geben. Außerdem hatte er Wein getrunken. Zetta hatte sein Auto nicht gemocht, es war ihr zu groß und zu laut. Trotzdem glaubte er, dass sie sich gefreut hatte. Sie hatte Parfüm aufgelegt und kurz seine Schulter getätschelt. Die Umarmung überließ sie ihren Töchtern und Enkeln. Alles in ihrem ungezähmten Garten erzählte von Kindheitssommern, in denen er ganz sicher nicht traurig gewesen war. Er sah seine Cousinen Tam und Florence in ihren Badeanzügen, er sah sie im Pool ihre Formationen üben und sich selbst, wie er dabei zuschaute. Wenn sie fertig waren, hatten sie ihn zu 19
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ sich ins Becken gerufen, wenn er sich sträubte, hatten sie ihn geholt. Sie waren immer schon stark gewesen. Damals hatten sie manchmal Krieg gespielt, nach Zettas Erzählungen, oft noch mit nassen Haaren. Tam und Florence hatten Soldaten geheiratet wie ihre Mutter. Es war fast ein Jahr her, dass Tam ihren wieder hergeben musste. Joseph hatte immer vor Kopf gesessen. Matt wusste nicht genau, warum sie ihn diesmal eingeladen hatten. Er hatte nicht gefragt, ob es einen Anlass gab. Vielleicht hatte Florence von Claire gehört. Er wusste, dass in mehreren Zeitungen kleine Meldungen erschienen waren und dass seine Cousine eine Schwäche für Klatsch hatte. Eine New Yorker Geschichtsstudentin war fast nackt und fast erfroren vor ihrem Apartment gefunden worden, nachdem ihr Liebhaber, ein leidlich renommierter Historikprofessor, sie verlassen wollte. Alle Artikel hatten das Pillendöschen erwähnt, das die Polizei bei ihr gefunden hatte. Aber niemand hatte erklärt, dass es immer dort in Claires Handtasche gesteckt hatte. Auch dann, als er sie nicht verlassen wollte. „Carl bekommt erst im September Urlaub“, sagte Florence, die Matt schräg gegenüber saß. „Sie gehen jetzt in die Dörfer.“ „Gut“, sagte Matt, weil Zetta gerade Weißwein holte. „Ich hab dich gern ein bisschen für mich.“ Er sah mit Erleichterung, dass Florence lächelte. Ihr Lächeln machte ihn immer übermütig. Tam spielte mit ihrer Kaffeetasse, betrachtete ihre zerkauten Fingernägel und machte sich klein. Für Matt waren die beiden Schwestern immer gleich schön gewesen. Zu groß und zu streng, um keine Angst vor ihnen zu haben, aber zu schön, um sie nicht anzubeten. Beide hatten herbe Züge und blassgrüne Augen. Ihre viel zu vollen Lippen hatten sie immer trotzig aussehen lassen. Aber nun waren sie verschieden, weil sie unterschiedlich beladen waren. Florences Angst ließ sie jünger und zerbrechlicher wirken. Tams Gesicht war beim Trauern härter geworden, sie hatte feine Linien um den Mund, die ihr nicht standen. Einen Tag nach Josephs Tod hatte sie sich mit der Küchenschere ihr langes kastanienfarbenes Haar abgeschnitten, das er immer ein Naturereignis genannte hatte. Wenn er es nicht mehr konnte, sollte sie niemand mehr dafür lieben können. Auch Matt liebte sie mit schlechtem Gewissen jetzt ein kleines bisschen weniger. „Was macht deine Arbeit?“ fragte Tam in die Stille. Sie hatte erst vor Kurzem angefangen, solche Fragen zu stellen. „Ich rede über Dinge, die längst vorbei sind“, sagte Matt und leerte sein Weinglas. „Ich schaue in höfliche Gesichter und hoffe, dass nicht jeder im Saal übers Abendessen oder nackte Menschen nachdenkt.“ Matt merkte wie zynisch er klang. Tam lächelte und wurde schöner. „Das verstehe ich“, sagte sie. „Die meiste Zeit tue ich dasselbe. Redest du immer noch über Kriege?“ „Meistens ja“, sagte Matt. „Es kommt mir falsch vor, über etwas anderes zu reden.“ Tam sagte das, was er schon lange gefürchtet hatte. „Weil du nicht 20
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ kämpfst“ sagte sie. „Du versteckst dich hinter deinen Büchern vor deiner Familie und der Wirklichkeit.“ Matt war müde. „Das ist die Wirklichkeit, Tam“, sagte er mit seiner Dozentenstimme. „Es ist alles passiert, was ich erzähle.“ Seine Cousine nickte und zuckte mit den Schultern. „In deinen Kriegen sterben nur die anderen“, sagte sie. „Niemals du.“ Als es dämmerte und vom Wasser feuchte Kälte heraufzog, sank Matt in einen Wohnzimmersessel. Über ihm diskutierte Florence mit ihren Söhnen, die nicht einschlafen wollten. Zetta und Tam hatten sich zu einem Spaziergang verabschiedet und nicht gefragt, ob er mitkommen wollte. Es war nicht wahr, dass er nicht kämpfte. Meistens war er stolz, auf das, was er tat. Es war das Sentimentalste, das ihm eingefallen war. Aber es war auch nicht das erste Mal, dass er sich für die Art seiner Kämpfe schämte. Matt war zu müde, um zurück ins Motel zu fahren. Er war zu müde, um zu schlafen und griff nach der Fernbedienung. Eine Dokumentation über Schwärme von Fischen erschien ihm belanglos genug. Florence trug einen weißen Morgenmantel, als sie das Wohnzimmer betrat. „Willst du bei uns schlafen?“, fragte sie leise und setzte sich neben ihn auf die Sofalehne. „Ich habe das Bett in deinem alten Zimmer bezogen.“ „Ich kann nicht versprechen, dass ich schlafe“, sagte er. „Aber ja, ich würde gern bleiben.“ Florence griff nach einer Strähne seiner aschblonden Haare und drehte sie um ihren Zeigefinger. Sie flüsterte fast und er konnte ihren Atem fühlen. „Es war so leicht, dich gern zu haben, weil ich um dich keine Angst haben musste“, sagte sie. „Aber jetzt habe ich Angst. Du bist gar nicht hier oder?“ Matt sagte nichts und legte die Hand auf Florences Bein. Auf eine Stelle, die von Stoff bedeckt war. Sie musterte ihn, ihr Haar war lang und fiel auf seine Schultern. „Du hast denselben Anzug bei Josephs Beerdigung getragen“, stellte sie nüchtern fest. „Es ist egal ob wir uns am Grab oder zum Frühlingstee treffen. Wir bekommen dieselbe Version von dir, aus der wir nicht schlau werden. Niemand von uns.“ Matt musste die Augen schließen, dann konnte er sie kurz ansehen. „Lass und schwimmen gehen, Flo“, sagte er leise. „Mir fehlt dein Badeanzug. Ich denke oft an eure Schwimmstunden.“ Florence sah nur einen Moment überrascht aus. „Es ist nicht mehr derselbe, weißt du?“ sagte sie lachend. „Aber er ist ähnlich. Ich habe immer blaue Badeanzüge.“ Eine halbe Stunde später hatten sie nasse Fußspuren im Flur hinterlassen und machten träge Witze über Zettas bevorstehende Predigt. „Ihr seid keine Kinder mehr“, würde sie sagen. Matt glaubte, dass sie diese Tatsache bedauerte. Er und Florence saßen auf dem grünen Sofa im Wohnzimmer. Keiner von ihnen hatte sich etwas übergezogen. Matts Kopf lag auf dem blauen Badeanzug genau auf Brusthöhe, Florence fühlte sich an wie mit feuchter Haifischhaut überzogen. Sie hatte schon Sommersprossen, obwohl der Sommer noch unerreichbar war. „Noah und Ben wollen manchmal, dass ich sie Professor nenne. Dann spielen wir College“, sagte sie nach einer Weile. „Sie 21
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ wollen mal werden wie du, weißt du das? Das haben sie mir vor dem Einschlafen eröffnet.“ Matt lächelte ein bisschen. „Und du? Was hältst du davon?“ Sie seufzte halb gespielt. „Am liebsten würde ich sie hier an den Limonenbäumen anbinden und ihnen das Wachsen verbieten. Aber ich glaube, Carl will kleine Männer finden, wenn er wiederkommt.“ „Das Kriegspielen wird nicht aufhören oder?“ fragte Matt. Aus den dunklen Locken seiner Cousine tropfte kaltes Poolwasser auf seine Wangen. „Es ist merkwürdig“, sagte er. „Immer wenn ich an dich als Kind denke, hast du nasse Haare. Ich glaube, damals wart ihr die einzigen Menschen, die ich lieben konnte, ohne dass es weh tat. Ich weiß nicht, ob es heute anders ist.“ Die Stille war einfach zu ertragen. Florence wischte ihm die Wassertropfen aus dem Gesicht. Im Fernseher flimmerte gelbe Wüste. „Meinst du, du kannst jetzt schlafen?“ fragte Florence schließlich. Ihre Stimme fühlte sich wie dunkler Sirup an. „Ja“, sagte Matt und erhob sich langsam. „Ich denke schon.“ Er tastete sich ohne Licht durch den bekannten Flur. Er glaubte nicht, dass er gelogen hatte.
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Ein Geschmack vom Leben Iza Da Vida
„Ein Anfang der endet, beginnt plötzlich erneut. Nichts läuft mehr rund, alles dreht sich im Kreis. Stehe ich zu mir und hab alles bereut? Nur der Tod ist umsonst, doch zu welchem Preis?“ (Iza Da Vida) „Worauf zur Hölle warte ich denn noch?“, fragt sich Tim, als er die vorbeifahrenden Autos von oben betrachtet. Er weiß nicht wie hoch dieses Parkdeck ist, aber er spürt, dass die Luft in der Höhe irgendwie eine andere ist und dass er es seltsam findet. Überhaupt nimmt er hier oben wahr, dass er noch atmet, sein Körper noch am Leben teilnimmt. Noch. Hier scheint zum Luftholen plötzlich mehr Zeit und Raum zu sein. Keine Enge, kein Druck auf der Brust. Dort unten war es für ihn immer so, als würde die komplette Umwelt ihn durch einen Schlauch quetschen wollen. Diese ganze Dynamik, diese Hektik der mitmachenden Gesellschaft und die Menschen, die er so kennt… das entspricht nicht ihm. Es passt nicht. Er passt nicht und fühlt sich zu leer für eine überfüllte Welt. „Ich will da hin, wo gar nichts mehr ist”, hat er schon vor einer ganzen Weile gesagt, „so nah wie möglich an die Freiheit heran.” Und jetzt, da er hier oben steht, ist es, als bekomme er eine leise Ahnung der ersehnten Freiheit. Aus der Entfernung erscheint ihm die Welt da unten viel überwindbarer, machbarer. Es sind kleine Dinge, über die man am Wenigsten den Überblick verliert. Immer sind es nur die kleinen Dinge, denkt er sich und dass diese Welt aus der Nähe einfach eine Nummer zu groß für ihn ist. Nun hat er den Eindruck, dass die Distanz zur Welt fast stimmte. Nur noch ein winziger Schritt, ein paar Zentimeter würden sein Vorhaben zuende bringen. Doch Tim ärgert sich. Darüber, dass er zu viel Zeit und Raum zum Atmen hatte, zu viel zum Nichthandeln und Überblicken. Nächstes Mal muss das schneller gehen, macht er sich klar. Nächstes Mal würde er mehr Alkohol trinken und erst auf das Parkdeck steigen, wenn seine Wahrnehmung kein Erkennen von kleinen Dingen mehr zulässt. 23
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Er beendet die Nacht mit dem sechsten Schnitt unter dem linken Fuß und verschiebt die Deadline noch einmal. Noch ein letztes Mal. Feigling, Versager, Weichei, brüllt es in Tim. Er fühlt sich gefangen. Gefesselt am Leben, eingesperrt im eigenen Körper und er will raus. Raus, raus, raus! „Ich habe das nicht verdient!”, schreit er in die Dunkelheit, seinem Leben ins Gesicht, „Ich hab das Leben nicht verdient!” Zur Strafe den Tod? Jeder das, was er verdient? Wer mischt die Karten, wenn nicht der, der auch mit ihnen spielt? 3:45 Uhr zwischen Nacht und Morgen. Ein irgendwie surrealer Zeitraum, den er empfindet wie den hypnotisierenden Anblick eines Aquariums. Tim ist wieder dort, wo andere zu Hause sind. Zwischen den Wänden einzelner Wohnungen. Im Hauseingang will sein Fuß nicht mehr und knickt weg. Tim lässt einen kurzen, durchdringenden Schmerzlaut zu und sackt freiwillig zusammen. Er lehnt sich an die Wand unter die Reihe von Briefkästen und weint luftringend ins Leere. Wohin er geht, wohin er denkt, jeder Schritt endet in einer Sackgasse. Vor und zurück, kopfüber im Auge des Tornados. Vom Wahnsinn gepackt, getarnt in der Aura der Nacht. Nach einem Gedankenabbruch bemerkt er einen warmen Luftstrom neben sich. Ein Mädchen hat sich neben ihn gesetzt, etwa eineinhalb Meter von ihm entfernt. Sie reicht ihm Tee. Irgendwas mit Zimt. „Hab was gehört und dachte, ich sehe mal nach. Ich wohne nämlich im Erdgeschoss hinter dieser Wand”, erklärt sie ruhig. Tim reagiert nicht. Er kann nicht, bemerkt aber, dass er unbewusst den Tee angenommen hat, denn in seinem Mund erfühlt er Geschmack und Temperatur. „Ich habe dich „n paar Mal in der Uni gesehen”, erklärt sie weiter, „Wir haben die gleichen Vorlesungen besucht. Irgendwann habe ich dich dann nicht mehr gesehen.” Sie hat ein Gespür für die Situation. Ihr Tonfall vermittelt ein Es ist klar, dass alles Scheiße ist und deshalb erspare ich dir das einleitende Frage-AntwortSpiel. Fast zwei Stunden vergehen so. Apathisch schweigend, fast paralysiert und sie sitzt immer noch neben ihm und hält die Tasse in der Hand, als wäre sie gerade erst mit dem Tee gekommen. Dann sagt sie plötzlich „Lass uns drinnen weiterreden” und dass sie noch mal Tee machen wird. Apfel-Zimt. Tim weiß rückblickend nicht mehr, was genau geschehen ist. Nachts ist die Gegenwart surreal. Überall. Aber er weiß, er hat alles bei ihr gelassen. Nie hätte er gedacht, dass er das kann… Alles bei jemandem lassen. Nie hätte er gedacht, dass es okay ist. Und dass da überhaupt jemand ist, bei dem sein 24
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Schmerz willkommen ist, bei dem er selbst willkommen ist. Gelernt hatte er so was nicht. „Ich weiß nicht wie das geht”, hat er ihr dann noch gesagt und meinte damit Freundschaft. Es klang wie eine Mischung aus Entschuldigung und Dankbarkeit, als er das sagte und er erinnert sich, er hat keine Idee von Freundschaft, keine Vorstellung. So etwas hatte er noch nicht, glaubt er, jedenfalls nichts Wahres. Ob es das gibt? Funktioniert das? Wie? Sie entgegnet mit einem lächelnden Blick, der so warm ist wie ihr unerwartetes Erscheinen im Hauseingang. „Freundschaft hängt nicht davon ab, wie viele Probleme man hat oder wie stark sie sind. Freundschaft ist gegenseitige Bedingungslosigkeit. Freundsein heißt einfach Teamsein”, sagte sie ihm. Sie vergleicht es mit Komplementärfarben, die einander ergänzen, sich auffangen, stützen. Die Farbe, die im eigenen Leben fehlt, kann ein Freund geben und umgekehrt. Ein wahrer Freund ist der Boden unter den Füßen, wenn sich Abgründe auftun. Ein Freund gibt Schwerkraft, bevor man sich im Universum verliert, ist ein Wegweiser, wenn die Orientierung fehlt... Ein wahrer Freund ist einfach da, steht neben dir, hinter dir, zu dir und glaubt an dich, wenn du dich aufgibst. Er hört dir zu, auch wenn du schweigst. Ein Freund ist für dein Leben, vor allem, wenn du selbst dagegen bist! Tim hat das Gefühl, dass er darauf vertrauen darf. Es ist zwar noch neu für ihn, aber er möchte es zulassen und wehrt sich nicht gegen diese innere Unsicherheit. Es ist okay, denn er kann zum ersten Mal seit Langem wieder atmen ohne, dass er sich in seinem Brustkorb eingequetscht fühlt. Ein bisschen hat er sogar die Hoffnung, dass er seinen Körper bald nicht mehr als Gefängnis empfinden muss, denn er fühlt sich jetzt schon viel leichter. Entlasteter. Freier! Nachdem Tim an diesem Tag ausgeschlafen hat, kauft er ein Päckchen Tee und platziert es auf ihrem Briefkasten. Apfel-Zimt. Auf die Packung schreibt er: „.Ich danke dir für Wort und Ohr in der Nacht. Du hast in die Dunkelheit Licht gebracht. Wenn du etwas brauchst, ich will es dir geben, Ich erahne wieder den Geschmack vom Leben.“ Du musst da nicht alleine durch. Ein Freund kann dich im Leben begleiten. Im Leben!
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Mehr als Unkraut Anne Mayr
Und jetzt stehe ich hier mit einem Strauß Rosen für dich. Kitschig, willst du
jetzt sagen, ja. Vielleicht ein bisschen übertrieben. Ja. Aber sag nichts. Nimm sie an, und wenn du es nicht für dich tust, dann für mich. Wie so oft. Denn ich wollte dir doch eine rote Rose schenken. Für jeden Tag, an dem ich mit rotem Gesicht und geschwollenen Augen vor deiner Tür stand und du geöffnet hast, obwohl ich gar nicht reden wollte. Und sobald ich in deine Arme fiel und du die Tür in ihre Angeln zurückschleudertest, war sicher, nichts passiert mehr. Eine weiße Rose. Für jedes Wort über dich an dich für dich, das ich sagte. Zu viele waren nicht gerecht. Und ich habe sie gerufen, geschrieen lauter als die Autobahn vor unserem Fenster. Du bist stehen geblieben, wenn ich weggerannt bin. Die blaue Rose habe ich den Momenten mitgebracht. Die Momente, die uns überraschten und wieder verflogen, bevor wir sie am Kragen packen, ihnen zurufen konnten: „Ey, komm schon, bleib doch!“. Nachts um drei in fremden Schrebergärten liegt man nur einmal in der Hängematte. Und du jetzt nicht mehr neben mir. Ich habe eine gelbe Rose mitgebracht, für mein Zuhause unter deiner Bettdecke. Weil meine Gedanken mich dort nie gefunden haben. Und auch wenn sie an der Tür klingelten und klopften, ausdauernd wie ein Rudel Jagdhunde, hast du sie weggeschickt. Ich kannte nichts, was stärker war als du. Die Hunde sind lauter geworden inzwischen. Aber keine Angst, ich lasse mich nicht fressen. Rosa, für jedes deiner Worte. Denn sie können nicht nur Wunden heilen. Sie vollbringen Wunder. In meinem Kopf. In deinem? Und hätte die Frau im Geschäft mich nicht so angeguckt, als ich nach einer schwarzen Rose verlangte, hätte ich dir auch eine solche mitgebracht. Dafür, dass du einer dieser Menschen bist, die man nicht vergessen kann, egal wie sehr man will. Kitschig, ich weiß. Unnötig, ja. Aber du wärst mir tausend Rosen wert gewesen. Jeden Tag. Nicht nur mir. Du selbst warst dir nicht mal eine dieser gelben Blumen am Straßenrand wert, die nur in Kinderaugen schön sind und von denen die Mütter sagen „Das ist Unkraut“. Und deswegen bleibt mir nichts, als die Blüten einzeln in den Dreck zu werfen. Denn irgendwo darunter bist du, sagen sie. Irgendwo darunter liegt das, was du von dir übrig gelassen hast. Tausend Rosen können nicht ersetzen, was fehlt. Du wolltest nie Rosen, ich weiß. Du wolltest ja nicht einmal leben. 26
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Meine Fußnoten sind tot, aber meine Freundin lebt Rebecca Ramlow
Ich
bin in den letzten Zügen, meine Magisterarbeit zu formatieren. Schrift: Tahoma. Schriftgröße: 12. Zeilen-Abstand: 1,5. Blocksatz. Morgen ist Abgabe, hämmert es in meinem Kopf herum. A-B-G-A-B-E, und ich bin noch nicht F-ER-T-I-G. Ich rauche die gefühlt 100. Zigarette an diesem Tag. Inhaliere tief. Meine Wohnung ist eine einzige Qualmwolke. Dass ich noch nicht erstickt bin, ist ein Wunder. Ich bin eine Hülle. Eine Koffein-NikotinMagisterarbeitendphasen-Hülle. Schweißperlen treten auf meine Stirn. Eine Fußnote ist unglücklicherweise verrutscht. So ein Mist. Ich ziehe und zerre an der Fußnote, doch nichts tut sich. Das wird bestimmt noch eine Nachtschicht. „Was mache ich bei verrutschten Fußnoten?“ blogge ich ins Forum für Magisterarbeitschreibende-in-der-Endphase.de „Mach es doch wie Gutti. Lösch sie einfach! “ bloggt mir weißeelfe011 mit einem fröhlichen Smiley zurück. Ich brauche noch einen Kaffee. Stehe auf, gehe zur Maschine. Werfe einen Blick in den Spiegel. Vor mir steht ein Magisterarbeitendphasenzombie kurz vor dem Zusammenbruch. Du liebe Güte, denke ich. Du musst dringend mal wieder zum Friseur. Mein Telefon klingelt. Das ist bestimmt Leni. Wir haben uns gestritten, weil wir uns so lange nicht gesehen haben. Ihr geht es nicht gut. Das weiß ich. Sie hat sich von ihrem Ben getrennt. Ben-dem-Tennisstar. Und obwohl sie mit Ben-dem- Tennisstar nichts gemeinsam hatte - inklusive dem (Nicht-)Tennisspielen - ist sie nun in ein Depressionsloch gefallen. Seit der Trennung. Aber ich kann ihr da gerade auch nicht wirklich bei helfen. In dieser Magisterarbeitendphase bin ich zeitlich und räumlich irgendwie aus dem Ruder geraten. Wie ein Autist gefangen in seinem Magisterarbeitendphasenwahnsinnsszenario. „Ich würde mich nur noch in digitalen Welten aufhalten und wäre sozial und emotional total verkrüppelt!“, hat sie mir bei unserem letzten Streit an den Kopf geworfen. Da hat sie sogar vielleicht ein bisschen Recht. Die Leni. Aber dafür muss sie auch ein bisschen Verständnis haben, meine beste Freundin, finde ich. So ist das nun mal. Wenn man ein Magisterarbeitendphasenautist ist. Und ich habe eben nur noch diese eine einzige Nacht. Dann trennen wir uns ja wieder. Ich und meine Magisterarbeit zum Thema „Lebst du noch oder bloggst du schon? Die Macht digitaler Medien“. Es klingelt wieder. Langsam nervt es ein wenig. Seit acht Jahren kennen Leni und ich uns nun schon. Und seit acht Jahren mache ich die Auf- und Abs in den Liebesbeziehungen meiner Freundin mit. Und dann hat man einmal keine Zeit, und schon geht der Terror los. Nein, ich gehe nicht zu meinem Telefon. 27
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Stattdessen setze ich mich wieder brav vor mein verrutschtes Fußnotenproblem. In den sieben von mir geöffneten Foren für Magisterarbeitschreibende-in-der-Endphase hat noch niemand auf meinen Hilfeschrei geantwortet. Ja, ist denn das die Möglichkeit? Wozu seid ihr denn überhaupt alle online?! frage ich mich entrüstet. Nur „schlauerwurm09“ hat ebenfalls einen Gutti-Witz parat. Ich bin nervös. Hektisch poste ich einen Threat bei Facebook. Irgendeiner meiner 244 Freunde wird mir doch hoffentlich bei meinem Problem helfen können! Noch acht Stunden. Da klingelt es schon wieder. Das kann doch gar nicht wahr sein! Ich gehe zu meinem Telefon, verheddere mich dabei in einem nicht weggeräumten Schuh, der versehentlich auf der Erde herumliegt. Ich müsste dringend mal wieder aufräumen. Es ist tatsächlich Leni. Ich schalte mein Handy auf lautlos. Tippe noch schnell eine sms hinterher: „Kann gerade nicht – Magisterarbeitabschlusswahn – du weißt schon - ab morgen wieder erreichbar.“ Von nun an ist die Leni stumm. 2:39h: Ich habe es geschafft: Dank der Hilfe meines 139. Facebook-Freundes Jean- Renault Baptiste sind meine Fußnoten wieder richtig gerutscht. Meine Magisterarbeit ist vollständig formatiert! Erleichtert drücke ich auf „drucken“. Endlich habe ich meinen Seelenfrieden wieder, obwohl es mir Hunde elend geht und ich total geschafft bin. Sicherheitshalber poste ich noch schnell bei Facebook: „Magisterarbeit fertig !“ Mit einem Smiley dahinter. Drei anscheinend noch wachen Online-Freunden gefällt mein Status, was sie beherzt mit einem Daumenhoch-Symbol bekennen. Total erschöpft werfe ich mich in mein Bett. Ich bin tot, aber Hauptsache meine Fußnoten leben. Hastig erhasche ich noch einen letzten Blick auf mein Handy, ob mein Wecker auch tatsächlich auf 7 Uhr gestellt ist. Zehn Anrufe in Abwesenheit teilt mir mein Display mit. Und alle sind von Leni. Der letzte um 1:31h. Ein bisschen Sorgen mache ich mir schon. Was nur mit ihr los ist? Aber in diesem Moment fliegen meine Augen schon zu. Ich kann nicht mehr denken. Im halb komatösen Zustand schreibe ich noch eine sms: „Konnte nicht. Sorry. Magisterarbeit. Alles gut bei dir?“ bevor ich eindöse und meinen Magisterwahn ausschlafe. 4:28h: Unsanft weckt mich mein Handy aus meinem halbgaren Schlaf. Ja, ist Leni denn jetzt vollends durchgedreht? Schlaftrunken gehe ich an mein Telefon. „Hallo?“ röchele ich. Doch es ist nicht Leni. Es ist eine sonore Männerstimme, die mich jäh weckt. „Walter, Kriminalpolizei – sind Sie Frau Ruderer? „Ja, die bin ich“, piepse ich. Ich glaube es zumindest. Meine Stimme ist verrutscht. „Kennen Sie Leni Durst?“ „Ich bin ihre beste Freundin“, piepse ich eunuchenhaft. „Was ist denn los?“ „Frau Durst hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Eine Nachbarin fand sie in ihrem Bad.“ Pochend höre ich mein eigenes Blut in meinem Kopf pulsieren. Mein Kreislauf ist durcheinander geraten. „Ah ha“, sage ich schlapp, doch aus meinem Mund dringen keine Worte. „Sie ist jetzt im Krankenhaus.“ „Wo?“ röchele ich. „Marienhospital“ echoet es dumpf in meinem Schädel. „Alles klar“, sage ich sinniger Weise und 28
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ lege auf. Ich gehe zu meinem Küchentisch. Nicht ich bewege mich, der Boden bewegt mich. Auf der gegenüberliegenden Seite geht eine Oma mit ihrem blau-weiß gepunkteten Trolley durch den jungferlichen Morgen. Ein Bild des Friedens, das sich nicht an meiner Realität stößt. Was macht man bloß, wenn die beste Freundin versucht hat, sich umzubringen? Postet man das als Threat bei Facebook? Können dann die anderen Mitglieder den Status mit einem „Gefällt-mir-(nicht)-Daumen-runteroder-hoch-Symbol“ bewerten? Mir fällt kein Plan ein. Kein rationaler „Lenischneidet-sich-die-Pulsadern-auf“- Plan. Nur zuckende Bilder vor meinem Augen: Leni mit Rasierklinge. Leni Ritsch. Leni Ratsch. Leni in einer roten Blutlache. Leni Ritsch-Ratsch. Ich setze mich hin. Langsam spüre ich einen Kaugummiklumpen in meinem Magen heranwachsen. Einen dicken klumpigen Leni-mit-Blut-an-den-Armen-Kaugummi. Er wird immer größer, zäher und schleimiger, der Kaugummi. Mein Hals schnürt sich zu. Irgendwo ganz tief in mir spüre ich, wie der Leni-Kaugummiklumpen allmählich zu explodieren beginnt, sich tonnenschwer seinen Weg durch meine viel zu enge Speiseröhre bahnt, die Kehle hinaufwandert, bevor er behäbig und krachend losrollt. Der Kaugummiklumpen wird heiß und fängt zu glühen an. Spuckende Kaugummilava schäumt in mir auf. Sie fließt und fließt und strömt überall aus mir heraus. Ich taste nach den Fäden, die mich am Stuhl festpappen. Will aufstehen, doch die Fäden sitzen mich fest. Ich bin gefangen im eigenen Kaugummifadennetz. Ich weiß nicht, wie lange ich so in meinem Netz verweile. Vielleicht sind es Stunden. Vielleicht Tage. Vielleicht Jahre. Vielleicht auch nur Sekunden. Ich gehe zum Spiegel. Vor mir steht ein Aschehaufen. Obwohl ich 244 Freunde bei Facebook habe, kenne ich keinen, dem ich meine Kaugumminahtoderfahrung mitteilen könnte. Also schleppe ich mich mit allerletzter Kraft ins Krankenhaus. Der PVC-Boden zieht mich durch den Gang der Notfallambulanz. Es riecht nach Desinfektionsmitteln und Bodenreiniger. Hektisch und gleichzeitig beruhigend rauschen Nachtschwestern in weißen Pantoffeln mit dicken Pferdeschwänzen über die Flure. Ich könnte mich auch ganz gut hier hinlegen mit meiner Kaugumminahtoderfahrung, denke ich. Im Intensivstationszimmer der Notfallambulanz piepst und flimmert es aus allen Ecken. Leni liegt unter einem Meer von Drahten begraben. Fast sieht man sie gar nicht. Ihr schmaler Körper ist blass und gebrechlich zwischen den Kabeln drapiert. „Leni!“ sage ich. „ Mensch, Leni!“ Doch Leni hört mich nicht. Sie schläft. Ganz leicht bewegt sich ihr Körper, wenn sie ein - und ausatmet. Ihr 29
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Porzellangesicht wirkt so zerbrechlich. Wenn ich es anfasse, zerfällt es bestimmt zu Staub. Plötzlich habe ich das unwiderstehliche Bedürfnis, aus diesem dunklen piepsigen Raum, der nach nahem Tod riecht, etwas zu posten oder zu twittern. Irgendetwas, das mich scheinlebendiger machen würde als diese desinfizierte Notfall-Realität, aber die Nachtschwester mit dem rabiaten Pferdeschwanz hat mir mein Handy bereits entwendet. An Lenis zierlichen weißen Handgelenken haften viel zu große weiße Mullbinden. Sanft berühre ich ihre Hand, die wider Erwarten nicht zu Staub zerfällt, und fange leise zu weinen an. Leni macht jetzt eine Therapie gegen ihr Depressionsloch. „Kriseninterventionsstation“ nennt sich der Aufenthaltsort, wo sie gemeinsam mit anderen Krisenfällen ihre Krise bespricht und Antiaggressionsschaumgummibälle in Gruppentherapien herumreicht. Sie sei emotional ein bisschen instabil, sagen die Ärzte. Deshalb bekommt sie Stimmungsaufheller, die „Tavor“ heißen, und löffelt dicke Graupensuppe in stabilen Gemeinschaftsräumen. Ich besuche sie oft und bin ein bisschen stolz, dass ich ihr Hauptgast bin. Wenn ich sie besuche, machen wir lange ausgedehnte Sparziergänge durch den Krisenpark. Ich bin ein bisschen neidisch, dass Leni legal Drogen bekommt, und Leni erzählt mir, dass Angst die Wurzel allen Übels ist. Zumindest die negative. Das hat sie in ihrer Antiaggressionsschaumgummiballtherapie gelernt. Mein Handy darf ich auf dem ganzen Krisengelände nicht benutzen, aber seltsamerweise fehlt es mir auch gar nicht. Meine Magisterarbeit zum Thema „Lebst du noch oder bloggst du schon? Die Macht digitaler Medien“ habe ich nicht fristgerecht eingereicht. Ich gebe sie beim nächsten Mal ab und habe noch ein Kapitel hinzugefügt mit dem Titel: „Meine Fußnoten sind tot. Aber meine Freundin lebt.“
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“
Denn sie wissen nicht, was sie tun (können) Tamara Bandursky
Als der Nachtzug aus Wien im Kölner Hauptbahnhof einfährt, liegt die Stadt
noch im Dämmerschlaf. Die Sonne wird bald aufgehen – wahrscheinlich ohne sich im Laufe des Tages wirklich zu zeigen. Der goldene Oktober ist verreist. Ich eile Richtung U-Bahn, schnell nach Hause, noch ein wenig schlafen und vom Wiener Schmäh träumen. Den besten Freund während seinem Auslandssemester zu besuchen, war eine gute Ablenkung von all den Problemen, die an einem nagen und im Grunde keine sind, aber im Studentenleben zu einem kleinen, ganz persönlichen Weltschmerz führen. In der Bahn reibe ich meine Augen, viel Schwarz bleibt am Handrücken hängen – verschmierte Wimperntusche. Mein Blick schaut müde, wie nach einer langen Partynacht. In den spiegelnden Fenstern zeichnet mir der Sprühregen Kullertränen ins Gesicht. Ich lächle sie weg, spüre nach Tagen wie diesen so etwas wie Leichtigkeit, habe ganz bestimmt keine düstere Ahnung. In meinem Appartement blinken zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter – erst Volker, der Ehemann meiner Freundin Marie, dann sein Kollege Olaf. Ich bin sofort beunruhigt. Beide haben noch nie bei mir angerufen, seit einigen Monaten haben wir uns nicht gesehen. Marie hatte ich zuletzt alleine getroffen, vor einigen Wochen im Café Gloria. Anschließend nahm sie sich wieder eine ihrer Auszeiten. Es gibt bei ihr manchmal diese Phasen, da macht sie sich rar, möchte irgendetwas mit sich selbst klären. Dann weiß ich nicht viel von ihr. Bis sie wieder anklopft. Volker sagt nur, ich solle mich bei ihm melden. Seine Stimme klingt, wie eine Stimme klingt, wenn sie eine schreckliche Nachricht übermitteln muss, bevor ihr die Worte wegbleiben. Auch Olaf hält sich bedeckt, doch er wird deutlicher. In dieser Situation könnte ich mir nun alles Mögliche zusammenreimen. Die beiden Nachrichten könnten so viel bedeuten. Solange die Dinge nicht ausgesprochen sind, ist doch alles möglich, oder? Nicht jetzt in meiner kalten, dunklen Wohnung. In diesem Moment verstehe ich die Worte zwischen den Zeilen, weiß sofort, was los ist, und verkrieche mich ins Bett. Mein Körper zittert, das Weinen kommt erst später. Es ist noch früher Morgen, kann ich einen der beiden anrufen? Natürlich. Doch lieber möchte ich warten. Denn es gibt diese Hoffnungsschimmer – nicht wirklich in meinen Gedanken, sie fliegen als Nanopartikel in meinem Hinterkopf umher. An der Wand hängt ein Hochzeitsfoto von Marie und Volker. Er groß mit 31
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ weißblonden, halblangen Locken. Sie klein, mit langen schwarzen Haaren, sehr blass. Die Märchenfigur mit den Lippen rot wie Blut kommt mir bei ihrem Anblick immer wieder in den Sinn – auch wenn ihre Nase markanter ist, Sommersprossen über ihr Gesicht tanzen. Die Geschichte der beiden hätte ein Drehbuchautor wahrscheinlich gleich wieder in die Tonne geschmissen. Zu klischeehaft. Wer möchte schon einen Film sehen, in dem sich die Babysitterin in den Familienvater verliebt und aus den beiden tatsächlich ein Paar wird? Aber ein Plot, der in der Fernsehwelt kitschig erscheint, sorgt im wahren Leben bei allen Figuren für eine unerwartete Wendung. Von Anfang an ließen mich Maries Bemerkungen über den vierzehn Jahre älteren Mann aufhorchen. Und auch in Volker ging offensichtlich etwas vor sich, das er nicht einordnen konnte. Wenn die beiden sich begegneten, existierte um sie herum nicht mehr viel. Richtig bewusste wurde mir dies, als Marie und ich an die Nordsee fuhren, um dort unseren zwanzigsten Geburtstag zu feiern. Immer wieder schlenderten wir zu den Parkplätzen am Strand. Sie wollte nach Volker Ausschau halten. Er hatte vage angedeutet, vielleicht nachzukommen. Nach ein paar Tagen gab sie die Hoffnung und wollte sofort wieder nach Hause fahren, in seiner Nähe sein. Dabei gab es dort ihren Freund. Einer mit ebenso langen schwarzen Haaren, sie teilten sich die Lackklamotten, den Kajalstift und die Kreuzohrringe. Das war ihre Szene, dort hatten sie ihre Freunde. Alle aus der gepflegten Kleinstadt, aus scheinbar ordentlichen Familien – das auffällige Äußere kein Rebellentum gegen die Gesellschaft, mehr gegen die Verlogenheit am heimischen Mittagstisch. Entgegen den Vorurteilen lachten sie viel. Doch es gab bei Marie diese Melancholie, diese Traurigkeit – tief verwurzelt, weil ihre Mutter sie nicht hatte haben wollen. Marie war bei den Großeltern aufgewachsen. Menschen, die sie liebten. Aber das Gefühl, verstoßen zu werden, das wollte sie nie mehr spüren müssen. Nie mehr alleine zurückbleiben. Sie blieb bei ihrem Freund, bis sie gehen konnte, bis es wieder jemanden für sie gab. Von einem zum anderen. Das passierte zu einer Zeit, in der sie sich bei mir eine Weile nicht gemeldet hatte. Als sie dann wieder anrief, zog sie schon bald darauf mit Volker zusammen. Marie beendete die Berufsfachschule, fand einen Job, änderte sich äußerlich – aus dem schwarzen Spitzengewand wurde ein gelbes Sommerkleid. Dann die Hochzeit vor zwei Jahren. Mit einem langen Schleier, viel Tüll, einer großen Feier – da haben sich zwei gefunden, dachten die Gäste. Ein Film mit Happy End. Wenn Marie und ich uns trafen, schien alles in Ordnung zu sein. Doch entweder spielte sie mir eine nicht vorhandene Idylle vor, oder ich übersah sämtliche Zeichen, dass etwas nicht stimmte. Von den Problemen ihrer Beziehung erfuhr ich erst bei unserem Treffen im Gloria. Sie sprach sogar von dem Ende ihrer Ehe – bislang zwar eher 32
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ unausgesprochen, aber unaufhaltsam. Sie zeigte mir einen Brief. Sehr schwülstig geschrieben. Mein Himmelsstern, ich möchte keine Nacht mehr ohne dich sein. Sie glaubte diesen Zeilen und schwärmte mir von irgendeiner Urlaubsaffäre vor, die sie im Süden während einer Reise mit Freundinnen kennengelernt hatte. In den gemeinsamen Nächten hatte er ihren inneren wunden Punkt nähren können, der einst verlassen wurde. Dieser Gefühlskern, der nicht einordnen kann, was ihm guttut oder nicht. Der immer Angst hat und die wahren Gefühle lieber zerstört, als irgendwann selber ein wenig enttäuscht zu werden. Der nicht glauben kann, weil der Glaube keine Sicherheit verspricht. Zu Hause machte sie aus ihrem Urlaubsflirt kein Geheimnis, verletzte ihren Ehemann und seine Gefühle, wollte mit dem Kopf durch die Wand. Sah nicht nach links, dachte nicht nach rechts. Volker stand daneben. Ich weiß nicht, ob er kämpfte. Darüber hat sie nicht viel gesagt. Nach diesem Treffen ging ich nachdenklich nach Hause. Bei ihr war wieder einiges im Umbruch. Und ich ahnte, dass sie sich eine Zeit lang nicht melden würde. Es ist acht Uhr, ein Anruf kann nicht mehr warten. Olaf bestätigt, was ich bereits weiß. In diesem Moment ertrage ich es nicht, ihn nach den Umständen zu fragen, und die große Frage nach dem Warum kann er mir ohnehin nicht beantworten. Die Gewissheit bringt die Tränen. Schon am nächsten Tag holt mich Olaf ab, wir fahren zu Maries Beerdigung. Im Auto erfahre ich mehr über die Dinge, die in den letzten Wochen passiert sind. Es scheint, als hätte sie alles für ihre neue Liebe im Ausland getan – unbezahlter Urlaub, mehrmals Flüge zu ihm, dort eine gemeinsame Wohnung mit ihren Ersparnissen eingerichtet, einen Kredit aufgenommen. Wenig erfahre ich über diesen Mann, auch für Olaf ist er ein Fremder. Wir wissen nur, dass Marie plötzlich von seiner Verlobten erfahren hatte, die er nicht verlassen wollte. Und wir wissen, dass er uns Marie genommen hat. Sie war wieder die Verstoßene. Allein in einem fremden Land, ohne den Mut, irgendwo anzurufen. Und sie kam an Tabletten – an viel zu viele. Während hier im herbstlichen Deutschland alle auf ein Zeichen von ihr gewartet hatten. Bestimmt wäre irgendjemand sofort zu ihr geflogen. Einer von den über hundert Menschen, die in der Kapelle stehen. Viele von ihnen schwarz verhüllt – nicht nur, weil heute Trauertag ist. Als ich den ersten Schritt in die Kapelle wage, verliert sich der Boden unter meinen Füßen. So unfassbar traurige Gesichter, so viele gelbe Rosen. Jemand nimmt mich in den Arm, tröstet und muss selbst getröstet werden. Ein paar Minuten später setze ich mich in eine der letzten Reihen. Die Orgel beginnt zu spielen. „Time to say goodbye“. Es ist nicht wichtig, doch ich denke, diese Musik ist nicht Maries Musik. Oder muss ich sagen, das war nicht Maries Musik? Sie ist meine Freundin, oder war sie es? 33
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Warum spielen sie nicht „Just like Heaven“ von The Cure? Hätte ihr das gefallen? Ist dies hier eine Beerdingung, wie Marie sie sich gewünscht hätte? Und was waren ihre Wünsche für das Leben? Vor einer Woche hatte sie noch gelebt, und wir hätten alle etwas für sie tun können. Gemeinsam mit ihr diese Wohnung im Ausland auflösen und mit der Bank sprechen können, ihr ein Zimmer in Köln suchen können. Sie hätte bei uns schlafen dürfen, und wenn sie nur mit einer Vergiftung ins Krankenhaus gekommen wäre, dann hätten wir sie besuchen können. Doch nichts ist so endgültig wie der Tod. Er nimmt uns jede Chance zu helfen. Er lässt die Dinge nicht rückwärts geschehen und hält kein Hintertürchen offen. Die Tür ist nicht nur verschlossen, sie hat das Leben vergessen. Wahrscheinlich werden in den nächsten Jahren weitere Menschen, an denen mir viel liegt, aus meinem Leben entschwinden – in eine andere Stadt gehen, im Streit von dannen ziehen, nie wieder anrufen, auswandern, sterben. Aber etwas von ihnen wird bleiben, und vielleicht werde ich in zehn oder in zwanzig Jahren da sitzen und ein paar Zeilen über Marie schreiben.
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“
Angriff Tijan Fischer
Ich zog die Jacke aus und stellte mich direkt vor sie. Sie guckte immer noch
traurig vor sich hin. Keine Ahnung, ob sie überhaupt merkte, wie nah ich an sie ranrückte. Ohne Vorzeichen schrie ich sie an. „Setzt dich doch mal durch!“, Ich gab ihr eine Ohrfeige. So volle Kanne. Verwirrt und verletzt, hielt sie sich die Wange. „Lass es raus, lass deine ganze Wut raus! Komm schon, greif mich an.“ Sie wich entsetzt einen Schritt zurück. Ich schubste sie. Endlich, ich sah einen Funken Zorn in ihren Augen aufblitzen. Ich spuckte ihr vor die Füße um sie weiter anzutreiben. „Oder traust du dich etwa nicht?“. Und dann packte sie mich voller Wut und schmiss mich in den Schnee. Ich wusste gar nicht, dass sie so stark war. Sie drückte meine Schultern gegen den Boden. So, dass ich meinen Oberkörper nicht mehr bewegen konnte. Ich schlang meine Beine von hinten um ihren Körper. Ihr griff lockerte sich. Ich nutzte das und wandte mich zur Seite und drückte sie auf den Boden. Jetzt hatte ich die Oberhand. Wir waren nass, aber unsere Gesichter glühten. Sie schrie und wollte mit in dem Arm beißen. Ich musste lachen. Ich konnte mich echt nicht mehr halten. Auch sie grinste und wir prusteten los. Ich nahm meine Hände von ihren Schultern. „Geht’s dir jetzt besser?“ „Ja man! Du bist echt verrückt“, entgegnete sie. „Ich musste dich einfach dazu bringen deine Wut raus zulassen, sonst wärst du Innerlich noch explodiert!“ „Gehst du von mir runter?“ Ach ja, ich saß immer noch auf ihr. „Klar“ Wir rappelten uns auf. Klopften den Schnee ab. Ich zog meine Jacke wieder an. „Lass uns nah Hause gehen“ Sie nahm meine Hand, die Luft war eisig, die Sonne schien. Und so gingen wir die Straße zu unseren Häusern entlang.
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“
Freund aus dem Supermarkt Sigrid Minrath
War
eigentlich ´ne simple Rechenaufgabe, dass ich´s nicht in die nächste Klasse schaffen würde: viele versaute Klausuren und mündlich hatte ich´s eh nicht drauf. Meinen Eltern hatte ich vorgemacht, ich schaff´s schon, macht euch mal keinen Kopf, mein Problem und so. Bis zum Schluss hatte ich auf Gnade vom Mathelehrer gehofft, aber war wohl nix ... Nachdem ich´s schwarz auf weiß hatte, gab´s zu Hause neben dem normalen Larifari erst mal ´ne Menge Zoff: Warum hast du nicht früher was gesagt, du hättest doch Nachhilfe kriegen können, jetzt verlierst du ein Jahr, wir haben dir vertraut und bla. Dauernd diese wackelnden Köpfe und diese Du-machst-esuns-so-schwer-Blicke, Mann, das war echt kaum auszuhalten. Schlimme Zeit, sowieso, meine Eltern voll am Meckern, meine verknallte Schwester nicht ansprechbar und die aus meiner alten Klasse konnten mich jetzt nicht mehr gebrauchen. Am liebsten wär´ich abgehauen. Ganz weit weg. Meine Eltern bestanden dann drauf, dass ich mir für die Ferien einen Job suche, damit ich nicht „rumhänge“, dann erlebst du mal, wie das ist, wenn man von morgens bis abends arbeiten muss - wir müssen schließlich auch jeden Tag unser Geld hart verdienen. Von nix kommt nix, Arbeit hat noch keinem geschadet und lauter so Sprüche. Was in mir innen drin so los war, danach haben sie nicht gefragt, Hauptsache immer schön pflegeleicht und unauffällig. So´n kleines Zeichen von Absolution wär´ echt nett gewesen, mal ´n nettes Wort oder so, kam aber nix. Der totale Durchhänger! 5 Wochen Aushilfe im Supermarkt - die lagen vor mir wie eine riesige, fette Mauer. Und in den ersten Tagen hatte ich das Gefühl, hey, diese Mauer wird immer höher und manchmal knallte ich auch voll dagegen: nörgelnde Kunden, der gehetzte OberRegaleinräumer, mach mal schneller, Junge, und schleppen, ordnen, freundlich bleiben. Abends nach dem Essen fiel ich todmüde ins Bett; meine Eltern fanden das toll. Jede Nacht kippten in meinen Träumen meterhohe Regale voller Dosen um, weil ich unbedingt auf das oberste Regalbrett klettern wollte. Kurz bevor ich dann oben ankam, kippte es im Zeitlupentempo mit mir um und ich lag unter einem Haufen von Hundefutterdosen. Niemand half mir aus dem Dosenchaos ´raus und zur Strafe musste ich auch noch alles ganz alleine wieder einräumen. Nach der zweiten Arbeitswoche wollte mich der Marktleiter in seinem Büro sprechen; du machst einen guten Job, ich bin ganz zufrieden mit dir ... Hä? Das kam ja total unerwartet, tat echt gut, mal was Nettes zu hören; die 36
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Mauer schrumpfte ein bisschen. Aber dann präsentierte er mir seinen Sohn: Das ist Mark, er soll hier auch ein paar Wochen in den Ferien arbeiten, er ist so alt wie du, zeig´ ihm mal, was hier so zu tun ist. Ihr macht das schon. Och nee ..... Gefiel mir gar nicht, dass ich dem Sohn vom Chef zeigen sollte, wo´s langgeht. So alt wie ich, aber ´n lahmer blasser Typ mit gegelten Haaren. Marken-T-Shirt. Affige Schuhe. Und der soll hier Regale einräumen! Das kann ja super werden! Mark verschränkte die Arme; wahrscheinlich fand er das mit mir und dem Job auch nicht so doll. Ich dachte dann, jetzt hat der Typ vielleicht auch noch ´n Sprachfehler, jedenfalls sagte der so gut wie nix, nur hm und ja und nein. Bis zwei Tage später beim Einräumen tatsächlich das Regal mit dem Hundefutter umkippte und ich eine ganze Ladung „Huhn mit Karotten in Jelly“ in den Rücken und an den Kopf kriegte. Mark ließ den Karton mit den Batterien, die er einräumen sollte, fallen, packte mich an den Schultern und zog mich zur Seite, hey Mann, alles klar, kannste aufstehn, geht’s, sag mal was. Was der alles auf einmal wissen wollte! Er hat sogar gestottert, so aufgeregt war er. Ich packte mir an den Kopf, war wohl alles in Ordnung bis auf den Schreck und eine dicke Beule über´m Auge. Da kam auch schon Marks Vater angelaufen, was ist denn hier los, jemand verletzt? Gefiel mir, wie er ziemlich besorgt und dann echt erleichtert aus der Wäsche guckte, als er sah, dass nur ein Regalbrett verbeult, wir beide aber okay waren. Ihr räumt das hier jetzt schön weg und dann könnt ihr machen was ihr wollt, morgen seid ihr wieder pünktlich bei der Arbeit. Also ab mit euch! Wofür so ein umgekipptes Regal nicht alles gut ist!? Fix stellten wir´s auf und sortierten die unverbeulten Dosen wieder ein; die mit ´ner Delle flogen in einen Karton, ab ins Lager, unverkäuflich. Und nun? Was machen wir? Hä? Ich dachte, ich hätte doch so einen kleinen Dachschaden abgekriegt, mich verhört: Mark fragte MICH, was WIR jetzt machen sollten!? Der? Mit mir? Junge, keine Ahnung, mach´ du ´n Vorschlag, denn ich war ja schließlich nur sein Boss im Supermarkt, was wusste ich denn, was der so in seiner Freizeit machen wollte. Er gab mir mit dem Kopf ein Zeichen Richtung Lager, kam mit dem Karton verbeulter Dosen wieder ´raus, packte ihn draußen auf seinen Gepäckträger. Ich fuhr mit dem Rad hinter ihm her, bis wir am Stadtrand am Tierheim ankamen. Na gut, er wollte hier das Futter abgeben und dann? Wir stellten unsere Räder ab, schleppten den Karton zum Eingang, wo Mark schon von weitem von einem alten Mann begrüßt wurde, danke, mein Junge, ja, wie immer, hinter Bonnies Zwinger. Und wie sollte´s jetzt weitergehn? Ich tippte ihm auf die Schulter, hey Mann, was jetzt? Er legte einen Zeigefinger auf seinen Mund, Mann, sei mal ´n bisschen leiser, Bonnie geht’s nicht gut. Ich starrte ihn an, damit hatte ich nun nicht gerechnet, aber jetzt ging mir ein Licht auf, deswegen nur ja und nein und hm. Der stotterte, aber volle Lotte. Er guckte schnell weg und zog mich zum Boxerzwinger. Erst wollte ich nicht, aber Mark zog mich in den Zwinger und der Hund sprang sofort an ihm hoch. 37
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Wir waren dann fast jeden Tag nach unserer Arbeit in dem Tierheim und am Wochenende durften wir mit Bonnie spazieren gehn. Hat echt Spaß gemacht und Mark hat mir beigebracht, wie man mit Hunden umgeht, damit man keine Angst vor ihnen haben muss. Und wenn er ganz leise mit Bonnie sprach und sie lobte und tröstete, musste er fast gar nicht mehr stottern: Bonnie ist besser als jede Therapie, aber ich darf keinen Hund haben, meine Mutter ist allergisch und der Dreck und so. In diesen Sommerferien haben wir alles zusammen gemacht: Regale einräumen, Rad fahren, Eis essen, schwimmen, Tierheim und ab und zu hat Mark mir Nachhilfe in Mathe gegeben. Wir konnten über alles reden: über sein Stottern und die Idioten, die sich darüber lustig machen, über meine Eltern, über Schule und Mädchen und was wir später alles machen wollten. Von dem Geld aus dem Ferienjob waren wir in den Herbstferien eine Woche mit dem Rad unterwegs; der Hammer. Wir sind heute noch dicke Freunde und müssen manchmal darüber lachen, wie blöd wir uns am Anfang fanden: lahm, arrogant, Marken-T-Shirt, na und??? Man muss sich die Mühe machen, dem anderen auch mal hinter das blasse Gesicht gucken oder selbst die Maske fallen lassen, dann kann man sogar im Supermarkt einen Freund für´s Leben finden.
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“
Eine weinende Statue aus Stein Renate Meyer
2. November 2009
Ich hatte wieder einen schrecklichen Alptraum. Ich stand in einem Haus an der Kellerklappe und ging die Stiege hinab. Die Falltür über mir schloß sich; ich fühlte mich ausgesperrt und bestraft. Über mir eine Familie beim Fernsehen, in einer anderen Wohnung eine lautstarke Party – Geborgenheit, Licht, Leben und Freude. Nur ich war allein, ausgeschlossen. Totenstille und Dunkelheit im Keller. Ich stand unten an der Leiter, hatte einen Fuß auf der untersten Sprosse, den anderen auf dem Kellerboden. Die Kerze in meiner Hand war fast abgebrannt. Um mich herum waren überall Skelette. Ich hatte das Gefühl, ein Teil davon zu sein und überlegte, ob ich nicht die Kerze ausblasen und mich still dazusetzen sollte, verharrte aber unentschlossen. 5. November 2009 Gerade schellte das Telefon. Laut, schrill, fordernd drang der Ton durch die Schleier meiner Benommenheit, erreichte meinen Kopf, verharrte dort, wurde immer lauter, ging wie ein Pulsschlag in kurzen rhythmischen Wellen durch meinen Körper, ließ sich nicht mehr abschütteln, versuchte, mich zu einer Reaktion zu zwingen… Wenn es nur nicht so mühselig wäre, den Arm zu bewegen, den Hörer abzunehmen und ein verbindliches „Ja, bitte“ zu murmeln. Wenn ich nur wüßte, wer mich sprechen wollte, dann könnte ich mich schon darauf vorbereiten, die richtige Maske auswählen, vielleicht die Maske für gute Bekannte. „Ach, du bist es? Wie geht es dir? Morgen treffen? Ja, gerne, um wie viel Uhr?“ Für kurze Zeit, für den nächsten Abend würde mich das vielleicht aus meiner Lethargie reißen. Möglicherweise meldet sich aber auch meine Familie; das wäre weitaus anstrengender. Verlangt würde da die Maske der ewig hilfsbereiten Zuhörerin. „Sprich doch mal mit deiner Schwester! Sie hat schon wieder… und auf dich hört sie doch.“ Gottseidank, das Telefon ist verstummt. Der unbekannte Anrufer hat aufgegeben. Morgen wird sich wahrscheinlich jemand im Büro bei mir melden, sich darüber beschweren, dass ich ständig auf Achse und nie erreichbar sei. Und mit lang eingeübter Munterkeit werde ich darauf eingehen: „Ich war mit Bekannten unterwegs. War sehr nett.“ Wie sollte ich auch anderen erklären, dass ich oft nicht in der Lage bin, ein Telefongespräch zu führen, dass ich ein ganzes Wochenende lang allein zu Hause bleibe, ohne andere sehen zu wollen. Die würden mich glatt für verrückt erklären. Vielleicht bin ich das auch. Ich bin ohne tiefe Gefühle, bin leer, bin abwesend. Schwarze Nacht, dunkler Nebel, undurchsichtiges Glas schirmen mich von meiner Umwelt ab. Das Leben und die tägliche Routine 39
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ türmen sich wie der Mount Everest vor mir auf. Für mich ist jeder Tag eine neue Mutprobe, ist jede Aufgabe eine neue Bewährung, ist jeder Fehler ein Weltuntergang. Wer hat doch einmal gesagt: „Die Hölle, das sind die anderen.“ Sartre? Die Hölle, das bin ich selbst. Vielleicht ist diese Erde die Hölle, auf der wir für frühere Untaten büssen müssen. Ich bin so müde, so unsagbar müde. Jede Bewegung kostet eine Unmenge an Energie, Energie, die ich für die tägliche Routine doch so dringend benötige. Ich bin sogar zu erschöpft, um ins Bett zu gehen und die Decke über meinen Kopf zu ziehen, mich abzuschirmen. Ich bleibe bewegungslos sitzen. Morgen, morgen wird es wieder besser sein, aber jetzt bin ich zu müde. 12. November 2009 Depressionen, hat meine Hausärztin gesagt, seien in unserer Zeit weit verbreitet, ja beinahe eine moderne Seuche. Woran erkennt man, dass man depressiv ist? Wenn einem das Lachen, die Freude, die innere Ruhe fehlen? Wie mir? Seit Monaten schon bin ich nur eine funktionsfähige Hülle, ohne Innenleben, stets bestrebt, richtig zu reagieren, mich den Ansprüchen der Umwelt gewachsen zu zeigen, so zu tun, als ob ich lebte. Manchmal habe ich den Eindruck, neben mir zu stehen, zu beobachten, wie sich diese Hülle bewegt, wie sie Energie und Begeisterung vortäuscht. Dann könnte ich mir selbst auf die Schulter klopfen: „Gut machst du das! Du wirkst richtig lebendig!“ Aber all diese Betriebsamkeit rettet mich nicht vor einem immer wieder neuen Abrutschen in endlose Traurigkeit, in undefinierbare Sehnsucht, in grundlose Tränen, die mir gleichmäßig und unaufhörlich aus den Augen quellen, sobald ich wieder allein, mit mir selbst allein bin. Eine weinende Statue aus Stein. Ein sinnloses Leben. Niemand sieht mich, niemand spricht mit mir, ich bin sprachlos, ich bin nicht vorhanden, nur meine Hülle lebt. Manchmal denke ich, es muß einfach sein zu sterben. Ich beneide die Toten, die alles überstanden haben. Nichts bekümmert sie mehr; sie brauchen keine Angst mehr zu haben. 15. November 2009 Bei der heutigen Kaffeerunde im Büro berichtete eine neue Mitarbeiterin vom tödlichen Unfall eines entfernten, noch jungen Verwandten. Ich brach in Tränen aus, lief aus dem Raum. Eine Kollegin kam mir nach, sprach mir gut zu. Sie verstünde ja, dass ich den Tod meines langjährigen Lebenspartners noch nicht ganz überwunden hätte, aber dieses Unglück sei doch vor fast einem Jahr geschehen. Ich müßte mich doch zusammenreißen. In den letzten Monaten hätte ich doch schon wieder ein normales Leben geführt. Wenn sie wüßte … Sie kennt mich überhaupt nicht, sieht nur die 'Büromaske', die ich hier trage. Niemand kümmert sich um mich, niemand versteht mich, meine Umwelt nicht und meine Familie auch nicht. Nur meine beste Freundin Elke sagt mir zuweilen, ich dürfe nicht alles in mich hineinfressen, ich könne mich doch bei ihr aussprechen, sie verstehe doch, wie sehr mich Jochens Tod berührt habe. 40
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Ein schwerer Klumpen in meiner Magengegend. Ich kann den Druck der Anforderungen, die an mich gestellt werden, nicht mehr ertragen. Es hat alles keinen Sinn mehr: Ich kann einfach nicht mehr, ich will auch nicht mehr. 25. November 2009 Sie haben mich aus dem Krankenhaus entlassen, mit ein paar schönen Worten über den Wert des Lebens und der Ermahnung, nicht noch einmal einen solchen Unsinn zu machen. Ein Selbstmordversuch Unsinn? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Meine Freundin Elke hat mich vom Krankenhaus abgeholt, zu ihrer Wohnung gebracht. Ich soll dort bei ihr bleiben, bis ich mein Leben wieder in den Griff bekommen habe. 17. Dezember 2009 Abend für Abend sitzen Elke und ich bei einem Glas Wein zusammen und reden. Eigentlich rede meist ich, und sie hört zu. Ich bin diejenige, die ablädt, die von ihren Schwierigkeiten, ihrer Angst, ihrer Trauer um Jochen berichtet. Ich erzähle ihr, wie es zu meinem Selbstmordversuch kam, wie ich nach jener Kaffeerunde im Büro nachmittags nach Hause ging, zwei ganze Packungen meiner Beruhigungstabletten schluckte, mich dann ruhig und fast zufrieden ins Bett legte. Ende meiner Erdenstrafe. Der Vorhang fällt. Niemand würde mich vermissen. Und wie ich Stunden später wieder aufwachte und feststellte, dass ich mich kaum bewegen, nur noch lallen konnte. Ein geradezu gleichgültiger Gedanke: Ach ja, du wolltest doch sterben. Dann, völlig unerwartet, eine Art Aufbäumen: Nein, ich will nicht sterben, ich habe doch noch gar nicht gelebt. Wie ich mich zum Telefon schleppte, sie anzurufen versuchte, mich verwählte, Unbekannte aus dem Schlaf hochscheuchte, mich noch lallend, aber höflich entschuldigte, und sie schließlich erreichte. Abtransport ins Krankenhaus, Magenauspumpen, ein Notbett auf dem Flur. 20. Januar 2010 Elke hat mich dazu überredet, eine Therapie anzufangen. Ich bin alles andere als begeistert. Eine Psychotherapie machen, also zugeben, dass man mit seinem Leben nicht zurecht kommt, aus der Norm fällt, versagt hat? Aber ich gehe hin, trotz innerer Widerstände. Je mehr ich mich der Tür zur Praxis nähere, desto langsamer werden meine Schritte, desto heftiger klopft mein Herz. Das Atmen fällt mir schwer. Oft kämpfe ich mit der Versuchung, umzukehren, die Flucht ins Altvertraute anzutreten, aufzugeben. Wovor fürchte ich mich? Die Therapeutin ist doch immer gleichbleibend freundlich, immer geduldig. Trotzdem steigt schon nach wenigen Minuten Anwesenheit in mir das Verlangen auf, die Stunde abzubrechen. Ich sitze sprungbereit auf der Stuhllehne, schaue verstohlen auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten, noch zehn… Kurz bevor ich gehen darf, kann ich mich am besten äußern, dann, wenn keine Zeit mehr für weitere Fragen bleibt.
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ 15. Mai 2009 Es ist Frühling, und mir geht es so gut wie noch nie zuvor. Ich weiß nicht, was los ist, und ich weiß nicht, wie es gekommen ist, aber mit einem Mal nehme ich meine Umwelt wahr. Ich lebe ja! Ich sehe, dass der Himmel blau ist, dass die Sonne scheint, dass es überall Menschen gibt. Ich fühle mich wie eine Mumie, deren Sarkophag geöffnet wurde und die sich erhebt und leben will. Noch eingewickelt in Leinwand, deren Haltbarkeit für die Ewigkeit gedacht war. Noch… Und ich habe sehr viel optimistischere Träume: Ich bin ein Schmetterling, der sich verpuppt hat, aber noch wie gelähmt in seinem Kokon sitzt und ohne Hilfe von außen sein Gefängnis nicht verlassen kann. Ein chinesisches Sprichwort sagt, dass alle Dunkelheit der Welt das Licht einer einzigen Kerze nicht auslöschen kann. Ein echter Freund, eine echte Freundin sind wie Kerzen, die unsere dunkelsten Phasen des Lebens erhellen. Es wäre schön, wenn wir alle wenigstens eine derartige Kerze in unserem Leben hätten.
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Sommerwiese im Winter Kerstin Franz
Wie jeden Morgen stellt Alex sich nach dem Duschen vor den Spiegel und übt sein Lächeln. Das Lächeln, das ihm einen gewissen Freiraum verschafft.
„Frühstück ist fertig“, sagt seine Mutter, als er die Treppe herunter kommt. Er lächelt sie an, weiß was jetzt kommt. „Gut siehst du aus, Junge. Ich bin so froh, dass es dir endlich besser geht.“ Sie grinst wie ein Honigkuchenpferd. „Ich auch“, antwortet er knapp und schiebt sich einen Löffel mit Cornflakes in den Mund, um nichts Weiteres sagen zu müssen. Das funktioniert immer. Heute nicht. „Du darfst es deinem Vater nicht übel nehmen, wenn er so streng ist. Er ist nicht gut darin, seine Gefühle zu zeigen, aber er liebt dich, das weißt du doch, oder?“ Oh Mann, jetzt geht das wieder los. Alex‘ Muskeln spannen sich schlagartig an und das Essen bleibt ihm im Hals stecken. Mit der einen Hand umfasst er krampfhaft den Löffel, mit der anderen gräbt er seine Fingernägel so tief in die Handfläche, bis der Schmerz ihn daran erinnert, jetzt nicht auszurasten und seiner Mutter die Wahrheit über ihren ach so feinen Ehemann vor die Füße zu spucken. Das wäre ihr Ende und er wäre schuld. Deutlich dröhnt die Warnung seines Vaters in seinem Kopf. Er muss hier raus. Und zwar schnell. Hastig murmelt er „Hm. Ich muss los, 1. Stunde Mathe“, springt auf, packt seine Tasche und verlässt das Haus. Draußen lehnt er sich mit dem Rücken gegen die reichlich verzierte Haustür und muss erst einmal tief durchatmen. Die Abdrücke von den Schnitzereien des Holzes werden sicher in einer Stunde noch auf seiner Haut sichtbar sein, weil er sich mit aller Kraft dagegen presst, um seinen Ärger zu betäuben. Er liebt seine Mutter... muss sie beschützen... darf nichts sagen... sonst... Sein sicher geglaubtes Kartenhaus fällt in sich zusammen. Wiedermal. Und wiedermal ist es sein Vater, der die Abrissbirne schwingt. „Du willst aber jetzt nicht da runter springen, oder?“ Erschrocken reißt Alex die Augen auf und starrt in ein fremdes Gesicht, das über ihm zu schweben scheint. Leuchtend grüne Augen mit kleinen roten Punkten, wie eine Sommerwiese voller Blumen. Als er sich von diesem Anblick losreißt wird ihm bewusst, dass er total verheult am Brückengeländer hockt und gar nicht weiß, wie er hier hergekommen ist. Hastig wischt er sich mit dem Ärmel seiner Jacke die 43
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Tränen weg. „Du weißt aber schon, dass es Winter ist ... und arschkalt? Ich kann mir ehrlich gesagt was Schöneres vorstellen, als dich aus dieser Drecksbrühe... dieser schweinekalten Drecksbrühe zu ziehen.“ Sie lächelt. Nichts daran ist künstlich oder einstudiert. Ein Lächeln, so ehrlich, dass es schmerzt. „Warum verschwindest du dann nicht einfach und lässt mich in Ruhe?“, antwortet er barsch. „Du hast das also tatsächlich vor? Willst deine Ruhe?“ Sie setzt sich im Schneidersitz vor ihm auf den Gehweg und sinniert vor sich hin. “Ruhe, ewige Ruhe, unendliche Ruhe... Weißt du eigentlich, wie entsetzlich langweilig das ist? Den ganzen Tag, die ganze Nacht, immer und ewig nur dumm rumzuliegen und nichts machen zu können? Das würde ich mir ehrlich gesagt noch mal überlegen, wenn ich du wäre.“ „Du bist aber nicht ich, also verschwinde und kümmere dich um deinen eigenen Scheiß.“ Sie scheint einen Moment zu überlegen, bevor sie antwortet. „Hab ich schon, deshalb kann ich jetzt hier sein.“ „Du bist verrückt“, schnaubt Alex, zieht die Beine eng an seinen Körper, schlingt die Arme darum und legt die Stirn auf die Knie. „Ich bin verrückt? Wer will denn hier von der Brücke springen?“ Eine ganze Weile herrscht Stille. Niemand sagt etwas. Ist sie weg? Bevor Alex den Kopf hebt, ist er sich nicht sicher, ob er das wirklich will, und als er sieht, dass sie unverändert vor ihm sitzt, ist er sogar ein bisschen erleichtert. „Pass auf“, beginnt sie erneut. „Ich mach’ dir einen Vorschlag. Wir gehen da hinten ins Café, wärmen uns auf und wenn du dann immer noch... na du weißt schon ...“ Alex ist verwirrt. Wie kann dieses Mädchen, in Anbetracht dieser doch eher außergewöhnlichen Situation, so locker mit ihm umgehen? Sie kennt ihn doch gar nicht. Oder ist es für sie vielleicht gar nichts Außergewöhnliches? Seine Neugier ist geweckt, obwohl er sich nie trauen würde, zu fragen, was sie damit gemeint hat, als sie sagte: Deshalb kann ich jetzt hier sein. „Du redest nicht viel, was? Musst du auch nicht. Ich erzähl dir einfach alles, was du wissen willst, oder was du nicht wissen willst, okay?“ Sie blickt ihn an und in ihrem Gesicht spiegeln sich all seine Fragen, als ob sie in ihn hinein sehen könnte. Das fühlt sich unheimlich an, aber auch faszinierend und er kann nichts anders tun, als zu nicken. „Ich heiße übrigens Lina.“ „Alex.“ „Hi Alex, schön dich kennenzulernen.“ Sie streckt ihm die Hand entgegen und er greift zu. „Dann mal los,“ sagt Lina zitternd, „bevor wir hier festfrieren.“ „Warum machst du das?“, fragt Alex, der nicht minder zittert und zögerlich hinter Lina her trottet. „Weil ich zu wissen glaube, wie es in dir aussieht und weil ich weiß, was das für 44
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ ein beschissenes Gefühl ist.“ „Wolltest du etwa auch?“ „Du meinst die Brücke?“ Alex nickt und bedauert im gleichen Moment, die Frage gestellt zu haben. Will er das wirklich alles wissen? Hat er nicht selber genug Probleme? Aber bevor er weiter darüber nachdenken kann, redet Lina schon weiter. „Nee, das hätte wenig Sinn. Ich bin eine gute Schwimmerin. Bei mir waren es Tabletten, und wie du siehst, hat es glücklicherweise nicht geklappt.“ Während sie ihn anlächelt, öffnet sie die Tür zum Café, wo sie inzwischen angekommen sind. Zielstrebig steuert sie auf den Tisch in der Ecke zu und fragt: „Kaffee? Tee? Croissant?“ Alex schaut sich unschlüssig um. „Die Croissants musst du unbedingt versuchen, die sind absolut genial. Dafür würde ich sterben. Komm ich lad dich ein.“ Alex kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dieses Mädchen ist einfach unmöglich. Er kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal jemandem begegnet ist, der so viel redet. „Wusst‘ ich‘s doch, du kannst tatsächlich lächeln. Dabei wollte ich mich gerade für meinen letzten Satz entschuldigen. Ziemlich makaber, oder? Aber ich wollte das immer schon mal sagen. Sorry.“ Kichernd gibt sie bei der Bedienung, die gerade an den Tisch kommt, die Bestellung auf. „Du bist doch verrückt“, gluckst Alex. „Nein, wenn überhaupt, war ich verrückt. Ich wollte alles wegschmeißen und wenn man es genau ... ich meine im Nachhinein betrachtet, war alles Bullshit. Ich weiß, dass du so was nicht hören willst, weil du es jetzt nicht glauben kannst, aber es stimmt.“ Die Kellnerin kommt mit einem riesigen Tablett voller Croissants, Butter, Marmelade, Tee und Kaffee. Alex weiß gerade nicht ob er lachen oder weinen soll. Er kann einfach nicht anders, als Lina anzustarren und ihr beim Schlemmen zuzusehen. Dass sie das, was sie tut genießt, ist nicht zu übersehen, und selbst ein voller Mund hindert sie nicht daran weiterzusprechen. „Ich war Leistungsschwimmerin. Mein Vater war der Trainer und ich seine Marionette. Ich war leider nie gut genug - für ihn - und das hat er mich täglich spüren lassen. Manchmal musste ich 10 Stunden am Tag trainieren. Ich kann dir sagen, da wachsen einem Schwimmhäute. Dann hatte ich es irgendwann bis zur deutschen Meisterin geschafft, aber das war immer noch nicht gut genug, vor allem weil wegen des vielen Trainings meine Schulnoten sehr gelitten haben. Tja und nach über 10 Jahren Drill war ich am Ende und wollte nur noch meine Ruhe... und das für immer. Also hab ich mir, als es gar nicht mehr auszuhalten war, einen Pillencocktail eingeworfen. Gestorben bin ich nicht, aber ich lag 2 Wochen im Koma. Ich kann dir sagen, das war Hölle pur, nur ohne Hitze. Ich hab gefroren ohne Ende und wäre beinahe doch noch an Langeweile verreckt. Du kannst nicht schlafen, bist fast 20 Stunden wach, kriegst alles mit, auch das, was du gar nicht mitbekommen sollst und kannst kein Stück reagieren. Null. Nichts. Niente. Ich rede und rede... was ich eigentlich damit sagen will, hätte ich vorher mal die Notbremse gezogen, 45
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ deutlicher gezeigt, dass mir das zu viel wird und mir nicht ständig eingeredet, dass ich auf Teufel komm raus funktionieren muss, hätte es nicht soweit kommen müssen. Wenn du verstehst, was ich meine.“ Alex ist sprachlos, aber zum ersten Mal seit einer Ewigkeit will er reden. Reden, ohne sich Gedanken machen zu müssen, dass er was Falsches sagen könnte. „Ich habe meinen Vater mit einer anderen Frau gesehen. Er hat gesagt, wenn ich meiner Mutter davon erzählen würde, wäre ich Schuld, wenn sie sich was antut - das muss unser Geheimnis bleiben, hat er gesagt.“ „Wow, das ist bitter. Wie lange ist das her?“ „3 Jahre!“ „Wie, 3 Jahre? Hat er die Freundin denn immer noch?“ „Keine Ahnung.“ „Hast du ihn nie wieder darauf angesprochen?“ „Nie wieder.“ „Wie alt bist du eigentlich?“ „15“ „Hab ich das richtig verstanden? Du warst 12 Jahre, als dein Vater dir so eine Lüge zugemutet hat und ihr habt nie wieder darüber geredet?“ „Richtig.“ „Möchtest du 16 werden, und dass ich dir dabei helfe?“ „Ja.“
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Vanilleeis und Fallschirmspringen Dalia Staus
Ich
träume gerade etwas Schönes. Ich trage in meinem Traum dieses neue Kleid, welches ich gestern im Schaufenster gesehen habe. Ich tanze barfuss auf dem weißen Sand und lache laut. Dann höre ich eine nervige Türklingel und ein dumpfes Klopfen. Ich springe auf, wie vom eiskalten Wasser überrascht. Ich greife nach meinem verblassten Frotteemantel, ziehe noch schnell meine Pantoffel an und mache genervt die Tür auf. Ich werde von zwei jungen, sympathischen Polizisten begrüßt, die vorsichtig ihre Worte wählen. Sie sollen bei Nina einen Zettel mit meiner Adresse gefunden haben. Meine Freundin soll tot sein. Sie habe sich offensichtlich das Leben genommen. Sie bitten mich, zur Identifikation im Leichenschauhaus vorbeizukommen. Sie sprechen mir ihr Beileid aus und verabschieden sich. Ich habe doch erst letzte Woche mit Nina telefoniert. Sie hat gesagt, sie verreist für zwei Wochen, aber sie ist bis zu meiner Geburtstagsparty auf jeden Fall zurück. Sie kann doch nicht einfach tot sein… Ich habe in einer Woche einen runden Geburtstag. Sie weiß doch, wie wichtig ihre Anwesenheit mir ist. Ich rufe sie auf dem Handy an mit der Hoffnung, dass es ein Irrtum ist. Ich bete, dass sie rangeht, aber das Telefon ist in der Tat aus. Mein Körper schwebt. Ich spüre keine Füße mehr unter dem Boden. Gott sei Dank finde ich noch eine letzte Zigarette unter meinem Bett. Mit jedem Atemzug fange ich an zu realisieren, was die Nachricht der Polizisten bedeutet. Ich würde gerne laut schreien, aber meine Stimme versagt. Ja, das ist sie. Nina Schulz. Sie ist weiß wie Kreide und kalt wie Schnee. Der kleine, tätowierte Skorpion schmückt immer noch ihren schmalen Arm. Ich war damals dabei, als sie ihn tätowieren ließ. Eigentlich wollten wir es zusammen machen - sie auf dem linken, ich auf dem rechten Arm. Ich habe mich aber im letzten Moment umentschieden und habe mir ein kleines Bauchnabelpiercing stechen lassen. Danach sind wir Eisessen gegangen. Wir haben so gut wie alles zusammen unternommen. Vielleicht haben wir uns auch deswegen ohne Worte verstanden. Das Einzige, was wir nicht zusammen gemacht haben, war das Fallschirmspringen. Sie wollte es schon immer mit mir tun, aber ich habe mich wegen meiner Höhenangst geweigert. Ich verlasse gefasst das Leichenschauhaus und gehe langsam nach Hause. Unterwegs kaufe ich mir ein Vanilleeis, die Lieblings-Sorte von Nina. Ich merke schon jetzt, wie sehr ich sie vermisse. Wie soll es ohne sie weitergehen? Wem kann ich meinen Kummer anvertrauen? Mit wem soll ich in den Urlaub fahren? Werde ich noch Jemandem begegnen, mit dem man über die gleichen blöden Witze lachen kann? 47
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Ich wühle meinen Kleiderschrank durch und nehme Ninas kariertes Hemd heraus. Ich bin so froh, dass sie es bei mir vergessen hat. Es duftet noch ein wenig nach ihr. Ich ziehe es an und mache meine Haare zurecht. Sie würde mich bestimmt auslachen, weil ihr Hemd an mir so ausgewachsen wirkt. Damit sie noch mehr Spaß hat, ziehe ich eine Perücke in Pink an, die wir zusammen in einem Secondhand-Laden geklaut haben. Ich wühle meine CDs durch. Ich muss es finden! Da, ist es. „No Good“ von Prodigy. Ich mache meine verstaubte Musikanlage an und drehe sie so laut wie möglich auf. Ich hüpfe mit jedem Rhythmus immer höher, immer heftiger, zünde eine Zigarette an und hüpfe weiter. Als ich heftiges Klopfen von unten höre, fange ich noch schneller und noch heftiger an rumzuhüpfen. Einen Moment lang habe ich geglaubt, sie hüpft mit. Wir haben es öfters gemacht, vor allem, wenn eine von uns traurig war. „Frau Steinmeyer. Frau Steinmeyer! Hallooo!“ Ich wache verheult auf und sehe eine junge Krankenschwester, die durch ihre Hornbrille ein wenig streng aussieht. Sie sagt, meiner Freundin Nina geht es den Umständen entsprechend gut. Ich darf zu ihr. Eigentlich glaube ich nicht an Gott. Aber ich dankte allen Göttern dafür, dass es nur ein böser Traum war und dass ich Nina im Arm halten darf. Sie will nicht glauben, dass sie ein Teil meines Lebens ist. Aber das stimmt. Wir haben uns schon in der ersten Klasse einander geschworen, dass wir Freunde fürs Leben sein werden. Ich nahm mein Versprechen sehr ernst. Auch heute hat es sich nicht für mich geändert. Früher haben wir die gleichen Farben im Leben gesehen, nur in den letzten Jahren wirkten ihre Farben allerdings etwas verblasst. Ich mache mir große Vorwürfe, dass ich ihre Farben nicht auffrischen konnte. Eines ist aber klar - ich werde sie nicht mehr aus den Augen lassen. Bis es ihr gut geht. Ich sage ihr, dass ich in einer Stunde zurückkomme. Ich glaube, sie ist froh, wieder alleine zu sein. Egal. Ich renne nach Hause, nehme ihr altes, kariertes Hemd aus meinem Schrank, eine uralte CD, mein verstaubtes CD-Gerät. Die Perücke soll auch nicht fehlen, schließlich war das ihre Idee, sie aus Spaß zu klauen. Unterwegs finde ich einen italienischen Eisladen und kaufe ihr einen vollen Becher Vanilleeis. Als ich zurückkomme, finde ich sie halbsitzend im Bett. Sie schaut nachdenklich durchs Fenster. Dann dreht sie sich um und schaut mich mit ihren großen Augen an. Ich stehe vor ihr, eingequetscht in ihr Hemd, mit dieser berühmten Perücke, gebe ihr das Eis und mache die Musik an. Ich glaube, ich sehe sie heimlich schmunzeln, als ich bei „Everybody dance now“ die Schritte vortanze, die wir vor zwanzig Jahren zusammen geübt haben. Am Ende bin ich aus der Puste, aber glücklich. 48
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Es ist ein Jahr vergangen. Nina ist mittlerweile zu mir gezogen. Ich begleite sie zwei Mal wöchentlich zum Gesprächstherapeuten, sie mich zum Yoga. Auch, wenn sie nicht zugeben will, sie hat sich in meinen Nachbar Jörg verguckt. Na ja, so abgeneigt scheint er auch nicht zu sein. Vielleicht wird daraus was. Ich fühle mich ein wenig ausgelaugt. Es war ein intensives Jahr. Aber es ist das Beste, was mir je passieren konnte – meine alte Freundin ist langsam zurück. Ich merke, dass sie mit der Zeit wie eine Blume gedeiht und hoffe, dass es so bleibt. Nächstes Wochenende gehen wir Fallschirm springen. Nur dieses Mal muss sie mir die Hand halten.
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Sagen die Anderen Nora Gormanns
Selbstbewusst scharwenzelt der Herbst durch die Straßen und streichelt den
hohen Gebäuden gönnerhaft die Köpfe, wie ein Herrchen seinen gehorsamen Schoßhunden. Erste Blätter haben sich schon ins Gewand des gegen Ende neigenden Jahres geworfen und in einem Tanz entlang der Bordsteinrillen verloren. Der Herbst mag, wie sie ihm bedingungslos folgen – ganz gleich, welchem Winter er sie auch ausliefert. In der Buchhandlung scheint es nur geringfügig wärmer zu sein als draußen. Einem Frösteln nachgebend, zieht die junge Frau instinktiv den Kopf tiefer zwischen die Schultern. In geübter Manier hält sie ihr Buch so geschickt, dass sich ihre Finger überlappen und gegenseitig Wärme spenden. Hinter den gläsernen Fensterfronten verabschiedet sich der späte Nachmittag allmählich in den Feierabend. Um sie herum ist es still; in dieser Abteilung ist es das immer. Der junge Mann wird von ihrer Wahrnehmung bereits als Fremdkörper eingestuft, lange bevor sie ihn überhaupt zu Gesicht bekommen hat. Dabei beschränkt sich sein Dasein zunächst auf eine Gestalt hinter dem Regal, vor dem sie steht. Eine sich langsam, aber dynamisch bewegende Gestalt. Da hat sich jemand in der Abteilung geirrt, möchte sie ihm durch die Bücher hindurch hämisch zuflüstern, auf dass er ertappt herumwirbelt, sich seiner selbst bewusst wird und die Beine in die Hand nimmt. Vorerst hält sie sich aber geschlossen. Er kommt derweil am Ende des Ganges an, vor einer weiteren Bücherwand, die ihn wie an einer stark befahrenen Straße nach rechts, nach links und wieder nach rechts schauen lässt. Nur sich umdrehen, das tut er nicht. Er hat die einzige Anwesende offenbar nicht bemerkt und sie amüsiert das glatt. Sein Profil ist vorbildlich und kennt das Problem einer Charakternase ebenso wenig wie das mangelnder Ausstrahlung. Der Rucksack baumelt leger wie ein gottgegebenes Accessoire über seiner rechten Schulter. Instinktiv tastet ihr Blick die Etage ab; sucht die Traube an Studenten, aus der er gepurzelt sein muss. Denn einen wie ihn, den gibt es nicht alleine. Den gibt es nur in Gruppen: morgens in der Vorlesung, mittags in der Kantine und abends auf dem Trainingsplatz oder im Club. Sport oder Sportmedizin kommen ihr spontan in den Sinn, als sie sein Kreuz genauer betrachtet. Alles an ihm scheint so symmetrisch, so ideal aufeinander abgestimmt und in sich gefestigt, dass sie ihn augenblicklich davonjagen möchte. 50
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ Er vertieft unterdessen seine Suche, sein Blick scannt die Buchrücken. Dann macht er einen zaghaften Schritt in Richtung Regal und schluckt so schwer, dass sein Adamsapfel regelrecht gegen seinen Schal bollert. Nichts an ihm scheint mehr so gefestigt, wie vor wenigen Sekunden noch. Es erinnert sie daran, dass sie heute joggen gewesen ist und dass sie morgen joggen gehen wird und übermorgen und immer so weiter. Man sieht es ihr an, genau wie ihm. Bloß nicht stehen bleiben, immer weiter machen. Mit schmalen Fingern, die nach frisch Gedrucktem riechen, klappt sie tonlos ihr Buch zu und schiebt es zurück zwischen seine Artgenossen. Ob sie ihm einfach verraten sollte, wo die Anatomiebücher stehen? Aber wer sich an der Uni einschreibt, sollte auch des Lesens mächtig sein. Zur Not hätte er ja seine Freunde mitbringen können. Sie sieht sie quasi vor sich: Eine Ansammlung nach AXE riechender Halbstarker, die alle mit Ach und Krach ihr Abitur im Frühjahr zusammengeschustert haben und sich jetzt, den Lebensunterhalt von den Eltern bezahlen lassend, in der Stadt austoben. Zweifellos ist er einer dieser Jungen. Aber er hat sich nicht verlaufen. Er ist nicht in der falschen Abteilung. In dem Moment, als er vorsichtig nach einem der Bücher greift, es aus dem Regal zieht, langsam die ersten Seiten bis zum Inhaltsverzeichnis durchblättert, kurz Halt macht und dann schnell das gewünschte Kapitel aufschlägt, wird es ihr bewusst. Sie steht zu weit weg, als dass sie den Buchtitel hätte lesen können. Und selbst wenn sie unmittelbar hinter ihm stünde, könnte sie ihm nicht über die Schulter schauen. Er misst locker über 1.85m, sie keine 1.70m. Trotzdem tritt sie näher, sich bewusst in seinem toten Winkel haltend, wofür er sie höchstwahrscheinlich hassen würde, wenn er es denn wüsste. Aber er weiß es ja nicht. Er liest, und er gibt sogar dabei eine exzellente Figur ab. Nur die Nähe fällt ihm in den Rücken und verrät nicht nur, dass er grüne Augen unter dichten, schwarzen Wimpern und energischen Augenbrauen besitzt. Sie verrät auch, dass sein Haar zwar blond und fraglos tiptop gestylt ist, aber keinen gesunden Glanz mehr beherbergt. Einst müssen auch Sommersprossen, die im Krieg zwischen natürlicher Bräune und selbst herbeigeführter Blässe zwangsläufig gefallen sind, sein Nasenbein bevölkert haben. Einige seiner Fingerrücken sind gerötet, aufgesprungen und rissig, insbesondere Zeige- und Mittelfinger. Außerdem sind seine Lymphknoten enorm angeschwollen. Der arme Schal kann gar nicht so viel kaschieren wie er müsste. 51
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ All das ist nichts Neues und nichts Außergewöhnliches für ihn. Im Gegenteil: Er steht hier, weil all das alteingesessen und viel tiefgehender ist, als strohiges Haar und aufgesprungene Hände es je zum Ausdruck bringen könnten... Seiner Mimik nach zu urteilen, ist er ehrgeizig, klug und resolut. Vor allem ist er jedoch eines: müde. Unendlich müde. Aber er kann sich nicht ausruhen, nicht verschnaufen, sondern muss weitermachen. Warum auch nicht? Er ist doch gut. Sagen zumindest die anderen. Das Geräusch, das entsteht, als er eine Seite umblättert, wallt kurz auf, bevor die Stille sich wieder zwischen ihnen einnistet. Er weiterliest und sie den Blick von ihm löst, um ihn nicht länger an- oder gar zu durchschauen. Sie ist auch gut. Sagen die anderen. Geholfen hat es ihr allerdings nie. Was er liest, rüttelt sichtlich an seinem Nervenkostüm, lässt seine Brauen tiefer sinken und ihn die Unterlippe unbewusst zwischen die Zähne ziehen. Er hat Ratgeber wie diesen immer gemieden. Inhaltlich zu hässlich, zu umständlich, zu kompliziert. Bloß für die Labilen und Kranken dieser Welt geschaffen. Entsprechend nicht sein Stil, denn so ist er nicht. Sowohl seine Freunde als auch seine Familie können das bestätigen. Was soll er also damit? Es hat gar nicht wirklich etwas mit ihm zu tun. Bei ihm ist alles grundlegend anders. Dachte er immer. Bis er gemerkt hat, dass seine Leistungskurve unaufhaltsam einknickt und sein Herz zum Spielball eines selbst gezüchteten Elektrolytungleichgewichts verkümmert ist. Es keine Bestleistung mehr gibt, nur noch das krankhafte Ringen nach einer solchen, nur noch ein Hinterherhinken. Ein Herzstolpern. Wenn er das nächste Mal fällt, das hat ihm sein unregelmäßiger Herzschlag deutlich zu Verstehen gegeben, wird er womöglich nicht mehr aufstehen. Dann gibt es kein Morgen mehr. Die bloße Vorstellung daran raubt ihm vor Angst den Atem. Deswegen ruhen seine Turnschuhe heute, während sein Magen knurrt und seine Handflächen schwitzen und sein Geist wie ein hungriger Tiger im Käfig auf- und abstolziert; impertinent nach Auslauf, Fressen und Erfolg verlangend. So geht es aber nicht weiter. Er weiß das und sie weiß das, weit besser als ihm lieb ist. Nach wie vor mit kalten Fingern gestraft, tritt sie hinter ihm hervor und langt ins Regal. Vor Schreck zuckt er daraufhin deutlich zusammen und weicht affektiv zurück. Sie wirft ihm nur ein flüchtiges Lächeln zu, bevor sie sich dem Buch widmet und ihm somit genügend Zeit einräumt, seine Gesichtszüge zu sortieren, den Blick stramm zu ziehen und den Schal zurecht zu rücken, auf 52
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Kurzgeschichten-Wettbewerb zum Thema „Freunde fürs Leben“ dass die Hamsterbacken seine optische Erscheinung nicht allzu sehr entstellen. Einen Kugelschreiber aus der Manteltasche ziehend, schlägt sie das Buch an einer beliebigen Stelle auf und notiert zwei gut lesbare Zahlenabfolgen am Rand, ehe sie es wieder zuklappt und ihm hinhält: „Hier.“ Er muss nur zugreifen. „Du hast doch schon reingeschrieben!“, lehnt er mit dem erstbesten Vorwand ab, den er zu fassen kriegt. Das hier ist ein Missverständnis, nur ein Missverständnis. „Kauf’s trotzdem. Ist das Bessere von beiden.“ Für ihre Verhältnisse verblüffend ehrlich, nimmt sie ihm den Ratgeber aus den Händen und ersetzt ihn durch den anderen. Gegenwehr leistet er keine. Lediglich seine Augen glühen auf, denn er ist stolz und fühlt sich auf frischer Tat ertappt. Deswegen geht sie, bevor er womöglich noch zum Angriff überwechselt. Gleich darauf steht sie auch schon auf der Rolltreppe, Seite an Seite mit einem dieser Mädchen, dem zu viele Männer hinterher blicken und zu viele Leute einimpfen, es hätte das perfekte Leben. Ein Leben mit so viel Talent und so viel Hingabe, so vielen Freunden und so rosigen Zukunftsaussichten. Es ist ein Leben voller unerfüllbarer Erwartungen, nie enden wollender Unzulänglichkeit und hemmungslosen Brechfesten im Geheimen. Alles soll irgendwie weg. Alles muss irgendwie raus. Die Zukunft blüht nicht, sie ist verwelkt und schwarz und macht ihr panische Angst. Das ist es. Bei ihm wird es vermutlich ähnlich sein. Niemand kotzt sich schließlich freiwillig so dermaßen die Seele aus dem Leibe, dass das Herz aufzugeben droht. Sie ist heilfroh, als sie die Rolltreppe endlich verlassen kann und nicht länger gezwungen ist, das lebenshungrige Mädchen im Glas anzustarren. Zehn Minuten später wartet sie bibbernd an der Bushaltestelle, vom Herbst und seinem bunten Blättergefolge umgarnt, als eine eintreffende SMS ihre Handtasche vibrieren lässt. Die Nummer ist unbekannt, aber die dankenden Worte sprechen für sich.
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