Ann Shorey
Emily – Sommer der Sehnsucht Roman
Verlag Giessen . Basel
Noble Springs, Missouri März 1866
D
u schaffst das“, sagte Emily Lindberg zu ihrem Spiegelbild und rückte energisch ihren Hut zurecht. „Es ist ja nur vorübergehend.“ Nur für kurze Zeit. Und dann würde sie ihren Mut zusammennehmen und mit ihrem Großvater sprechen, und sie würden Noble Springs ohnehin verlassen. Sie ließ ein zerlesenes Exemplar von Randolph Marcys Handbuch für Pioniere in ihre geräumige Tasche gleiten. Ihr Großvater, Richter Lindberg, hatte gesagt, sie solle ihn im Laden vertreten. Er hatte nicht gesagt, dass sie nicht lesen durfte, wenn keine Kundschaft da war. Die Kaminuhr aus schwarzem Onyx in der guten Stube schlug halb acht. Lindberg liebte Pünktlichkeit. Punkt acht Uhr wollte er sich mit ihr vor „Lindbergs Haushalts- und Kolonialwaren-Geschäft“ treffen und ihr zeigen, was sie zu tun hatte, bevor der Laden öffnete. Emily eilte aus der Tür. Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Endlich, nach einer Woche Dauerregen, zeigte sich die Sonne wieder. Bei schönem Wetter bliebe es ihr erspart, den betagten, launischen Holzofen im Laden anzufeuern, dessen Wärme die alten Männer anzog. Die hatten den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als im Laden herumzulungern. Die Absätze ihrer Stiefeletten trommelten in eiligem Rhythmus über den hölzernen Gehsteig. Nach einigen Minuten kam sie an der Pferdestation vorbei und winkte dem Mann vor dem Tor einen Gruß zu. Zu ihrer Rechten ragte das imposante Gebäude des Amtsgerichts auf. Sie bog ab und überquerte den gepflasterten Hof. Das Geschäft ihres Großvaters 7
lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite, zwischen dem Drogisten und dem Zeitungshändler. Als sie unter dem schräg abfallenden Dach der Veranda stand, bemerkte Emily das Vorhängeschloss an der Ladentür. Merkwürdig. Ihr Großvater müsste längst hier sein. Hätte sie geahnt, dass er zu spät kommen würde, hätte sie sich nicht so hetzen müssen. Sie trat auf den Gehsteig hinaus und hielt nach ihm Ausschau. Um diese Uhrzeit schien die Straße wie ausgestorben, die meisten Geschäfte waren noch geschlossen. Emily schüttelte den Kopf. Richter Lindberg und sie gingen immer denselben Weg in die Stadt. Es war unmöglich, dass sie ihn verpasst hatte. Seufzend setzte sie sich auf eine Bank im Schatten, zog ihr Buch aus der Tasche und begann zu lesen. Nach ein paar Seiten klappte sie es ungeduldig wieder zu. Ihr Großvater war in letzter Zeit ziemlich zerstreut gewesen. Möglicherweise hatte er unterwegs einen Nachbarn getroffen und bei einem Schwätzchen die Zeit vergessen. Vielleicht sollte sie den Weg noch einmal zurückgehen und fragen, ob ihn jemand gesehen hatte. Wenn nicht, konnte sie immer noch quer durch die Stadt zurück zum Laden laufen. Sie ließ den Platz vor dem Amtsgericht hinter sich und klopfte an die Tür des ersten Hauses in der West High Street. Eine Frau mit einem schreienden Baby auf dem Arm öffnete. „Miss Lindberg? Ist es nicht ein bisschen früh für einen Besuch?“ „Entschuldigen Sie bitte, Mrs Bennett. Ich bin auf der Suche nach meinem Großvater. Haben Sie ihn zufällig vorbeigehen sehen?“ „Nein.“ Mrs Bennett zog die Augenbrauen zusammen. „Warum? Wird er vermisst?“ „Nein, nein. Ich war mit ihm um acht Uhr vor dem Laden verabredet, doch er war nicht da.“ Emily spürte, wie ihr die Angst in der Kehle hochstieg. Nervös trat sie einen Schritt zurück. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe.“ Auch bei den anderen Häusern hatte sie kein Glück. Niemand hatte den alten Mann gesehen. Vor der Pferdestation sah sie einen Stallburschen, 8
der neben einer schwarzen Kutsche kniete und mit einem schmierigen Lappen die Speichen der Räder polierte. Emily blieb stehen. „Verzeihung, haben Sie heute Morgen einen älteren Herrn gesehen? Er müsste vor etwa einer Stunde hier vorbeigekommen sein.“ Der Mann richtete sich auf. „Ungefähr meine Größe? Läuft mit einem Stock?“ „Nicht ganz so groß wie Sie, aber, ja, er hat einen Stock und zieht sein linkes Bein etwas nach. – Sie haben ihn gesehen?“, fragte sie hoffnungsvoll. „Ja. Ist noch nicht lange her. Er ging mit Stock und trug einen Stuhl.“ „Er trug einen Stuhl?“ Emily sah ihn erstaunt an. „Was meinen Sie damit?“ Der Mann hängte den Lappen über den offenen Wagen und kam näher. Er war fast einen Meter achtzig groß, mit sonnengebräuntem Gesicht und dunkelbraunen Augen. Eine frische Narbe zog sich an der linken Halsseite wie eine dicke rote Linie von seinem Kinn bis hinter das Ohr. Wahrscheinlich einer der vielen Kriegsveteranen, die versuchten, im Leben wieder Fuß zu fassen. „Wie ich es sagte, Miss. Er lief in aller Herrgottsfrühe hier vorbei, einen Holzstuhl unter den Arm geklemmt.“ Emily rieb sich die Stirn, wobei ihr Hut verrutschte. Dies war seit langer Zeit das Seltsamste, was sie gehört hatte. Sie sog die Luft ein und stieß sie mit einem Seufzer wieder aus. „Und in welche Richtung ist er gegangen?“ „Tut mir leid, darauf habe ich nicht geachtet. Er kam vorbei, wir nickten uns einen Gruß zu, und er ging seines Weges.“ Er schob lässig eine Hand in die Hosentasche und musterte sie neugierig. „Sie suchen ihn wohl?“ Was denn sonst, dachte sie, aber sie sagte höflich: „Ja. Er ist mein Großvater. Uns gehört Lindbergs Laden. Wir wollten uns um acht Uhr dort treffen, aber er kam nicht.“ Der Stallbursche sah sie an, und sie las eine Spur Besorgnis in seinen Augen. „Richter Lindberg? Er ist Ihr Großvater? Dann müssen Sie Miss Emily sein.“ 9
Sie nickte. „Ich bin Curt Saxon. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen bei der Suche helfen. Ich bin ein ziemlich guter Fährtenleser.“ „Ich weiß nicht, was für Fährten es auf städtischen Bürgersteigen zu lesen gibt …“ „Unzählige Fährten, Miss Emily! Man muss sich einfach nur in das verfolgte Objekt hineinversetzen.“ „Ich betrachte meinen Großvater nicht als Objekt, Mr Saxon.“ Ein Muskel zuckte in seinem Gesicht. „Also. Sie haben gesagt, er wollte Sie beim Laden treffen. Ich gehe den Weg dorthin zurück und halte die Augen offen. Sie können entweder mitkommen oder hier warten.“ „Ich komme natürlich mit. Er ist mein Großvater!“ „Dann gehen wir.“ Mr Saxon schlug den Weg Richtung High Street ein. Er schritt zügig aus, und mit seinen langen Beinen war er ihr bald weit voraus. Verärgert bog Emily in eine Seitenstraße ein und beschloss, eine Abkürzung zu nehmen, vorbei an Gärten und Staketenzäunen. Atemlos erreichte sie den Platz vor dem Amtsgericht. Keine Spur von Mr Saxon. Na prima. Jetzt waren sie beide verschwunden. Sie schluckte ihren Ärger herunter, ließ sich vor dem Laden auf eine Bank fallen und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Das Geräusch von Schritten auf der Veranda ließ sie herumfahren. Mr Saxon kam grinsend auf sie zu. „Ich hab ihn gefunden.“ Emily sprang auf. „Wo ist er? Geht es ihm gut?“ Er machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Bestens. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.“ Sie warf einen Blick auf die benachbarten Geschäfte. Niemand in Sicht. Curts Miene verfinsterte sich. „Sie wollen wohl lieber nicht mit mir gesehen werden? Dann gehen Sie ums Haus herum in den Hinterhof. Ihr Großvater ist hinten im Schuppen.“ Seine Stiefel polterten über die hölzernen Stufen zurück auf die schlammige Straße. „Ich muss sowieso zurück zur Arbeit“, sagte er schroff. Emily errötete. Sie hatte ihn nicht kränken wollen. „Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ 10
„Nicht der Rede wert.“ Er drehte sich um und ging mit langen Schritten davon. Emily ließ ihre Tasche auf der Bank stehen und rannte hinters Haus. Durch eine Ritze spähte sie vorsichtig in den Geräteschuppen. Ihr Großvater saß an einem improvisierten Tisch, der aus kurzen Brettern bestand, die er über zwei Sägeböcke gelegt hatte. Eine Öllampe flackerte neben einem Stapel loser Papiere. „Großpapa! Was in aller Welt machst du hier?“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und sie erkannte einen der Stühle aus ihrer Küche. „Hier geht’s ja zu wie im Taubenschlag! Erst der neue Stallbursche aus der Pferdestation und jetzt du! Kann man denn nirgends seine Ruhe haben?“ Ärgerlich stemmte Emily die Hände in die Hüften. „Du wolltest dich mit mir heute früh um acht Uhr im Laden treffen! Inzwischen ist es bestimmt gleich neun.“ „Kein Grund, mich so anzuschreien, junge Dame.“ Umständlich zog er seine Uhr aus der Hosentasche und klappte den Deckel auf. „Du meine Güte, es ist schon nach neun. Ich muss die Zeit vergessen haben.“ Ächzend stand er auf und schaute sie verwirrt an. „Wieso wollten wir uns im Laden treffen?“
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