Der vierte Fischer - 9783765513060 - Brunnen

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Joe Kissack

Der vierte Fischer Wie drei tot geglaubte Fischer mein Leben retteten Eine wahre Geschichte


Die Fischer Die Panga hatte eine V-Form, war gut zweieinhalb Meter breit und anderthalb Meter tief. Vier Trennwände von knapp einem Meter unterteilten das Boot in fünf Sektionen. Der Bug war teilweise überdacht und diente als Stauraum. Dort befanden sich neben etwas Werkzeug, Proviant, Decken und der Kleidung zum Wechseln auch eine mit Eis gefüllte Kühltruhe, Tauchermesser, ein Schleifstein, Seil und ein Anker. Das Besondere an dieser Panga war eine verschweißte Luftkammer, deren Auftrieb eine höhere Zuladung und damit einen größeren Fang ermöglichte. Es graute schon der Morgen, als die Männer an der Hütte des Hafenmeisters vorbei und aus dem Kanal hinausfuhren. Señor Juan drehte das Ruder gen Westen in Richtung der Islas Marías, die siebzig Kilometer vor dem Festland lagen. Er ließ den Motor aufheulen, und der Bug hob sich aus dem ruhigen Pazifik. Am Steuer zu sitzen und das Heft in der Hand zu haben, löste ein berauschendes Gefühl in ihm aus. Die anderen vier Männer drückten sich an die Innenwände und machten sich für eine lange Fahrt bereit. Auf die kommenden Ereignisse war jedoch niemand von ihnen vorbereitet. (…)

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Der Pazifik Als die Panga sich den Islas Marías näherte, drosselte Señor Juan den Motor. Die Männer begannen sofort, das Fischernetz, Cimbra genannt, zu entrollen, wie sie es schon Hunderte Male getan hatten. Ein Cimbra wird aus dünnen, aber reißfesten Nylonfasern von Hand geknüpft. Dazu wird es zwischen zwei Pfosten aufgespannt, und die Jungen aus dem Fischerdorf gehen hin und her und machen daraus eine Art riesiges, kilometerlanges Tennisnetz. Es schwebt einige Meter unter der Wasseroberfläche und wird von alten Bojen gehalten, die mit bunten Stofffetzen andere Boote fernhalten sollen. Sobald das Netz an Ort und Stelle ist, fährt das Boot langsam im Zickzack über das Wasser und fängt alles ein, was zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Das Cimbra von Señor Juan war über drei Kilometer lang. Für Señor Juan war sein Cimbra genauso wertvoll wie das Boot. Das riesige Netz war dreitausend Dollar wert, mehr als das Jahresgehalt eines Fischers. Es war so kostbar, dass man sein Leben aufs Spiel setzte, um es zu retten. Manchmal verfängt sich nämlich etwas im Cimbra und droht, es zu zerstören. Ein Stechrochen zum Beispiel kann mit einem Cimbra kurzen Prozess machen. In so einem Fall zieht der Fischer seine Kleidung aus, schnappt sich das Tauchermesser, springt ins Wasser und schneidet die „Flügel“ des Tieres mit chirurgischer Präzision ab, auch wenn er dabei sein Leben riskiert – alles nur, um das Netz zu schützen. 5


Am unteren Ende des Netzes sind im Abstand von zehn Metern Haken mit knapp acht Zentimeter Länge angebracht, die manchmal mit Fischködern versehen werden. An der Wasseroberfläche wird jeder Haken mit einem Schwimmkörper markiert, meistens mit einer leeren Plastikflasche. Wenn sie sehen, dass sich das Netz bewegt, ziehen die Fischer es zum Boot. Hat sich etwas Wertvolles wie ein Hai oder ein Thunfisch darin verfangen, wird der Fang mit dem Netz hochgezogen, in den Schiffsbauch geworfen und mit Knüppelschlägen auf den Kopf getötet. Fischerei ist Knochenarbeit. Am ersten Tag fingen die fünf ahnungslosen Fischer nichts Besonderes. Nachdem sie das Cimbra im Wasser gespannt hatten, saßen sie im Boot und warteten auf Bewegung. Dann und wann nickten sie ein. Die meisten Fischer in diesem Teil der Welt arbeiten so. Ihre Väter arbeiten so. Ihre Brüder arbeiten so. Ihre Schwestern sind mit Männern verheiratet, die so arbeiten. Onkel, Großväter, Urgroßväter – so weit die Erinnerung reicht – haben alle so gearbeitet. Die meiste Zeit sitzen sie herum und warten darauf, dass sich die Flaschen bewegen. Manchmal plaudern sie, manchmal dösen sie. Ihre Notdurft verrichten sie, indem sie den Hintern am Heck durchs Wasser schleifen. Toilettenpapier gibt es nicht. Kurz nach Mitternacht wurde Salvador, den die anderen auch Chava nannten, von auffrischendem Wind geweckt. Eine kilometerhohe schwarze Wolkenwand bewegte sich rasch auf sie zu. Er weckte die anderen, aber 6


Señor Juan und Farsero machten sich wegen des Sturms keine Sorgen. Salvador hatte den Eindruck, als wären sie noch nie in einer solchen Situation gewesen und begriffen den Ernst der Lage nicht. Jesús und Lucio hingegen waren hellwach und in Alarmbereitschaft wie Polizeibeamte, die einem Kollegen in Gefahr beistehen wollen. Sie waren bereit, jeden Moment zu handeln. Ihnen war die Gefahr der Situation bewusst. Obwohl Jesús und Lucio noch keine Dreißig waren und wie umherstreunende Tagelöhner aussahen, hatten sie beide fast zwanzig Jahre Erfahrung im Fischen. Sie waren alles andere als grün hinter den Ohren und wussten, wie schnell die Situation lebensbedrohlich werden konnte. Wenige Minuten später heulte der Wind und hatte Geschwindigkeiten von über sechzig Kilometern pro Stunde aufgenommen. Fünf Meter hohe Wellen warfen das Boot und seine Insassen wie Tischtennisbälle in einer Lotteriekugel hin und her. Blitze erhellten die Nacht. Die Männer kauerten sich Halt suchend gegen die Seitenwände. Kaltes Meerwasser ergoss sich über das Boot und schlug hart gegen sie. An den Augen fühlten sich die Tropfen an wie Nadelstiche. Salvador wusste, dass jede Welle den Tod bringen konnte. Wenn die Panga kenterte oder die Männer über Bord gingen, standen ihre Überlebenschancen schlecht. Eine Welle hob das Boot fast zehn Meter hoch und warf es wieder in die Tiefe. Dabei wurde der Druck auf das Netz so stark, dass das Seil wie ein Bindfaden riss. „Wieso hast du es nicht ordentlich festgebunden?“ schrie Señor Juan Salvador an. 7


„Sie sind doch der Kapitän!“, rief Salvador wütend zurück. „Sie hätten den Knoten prüfen müssen.“ Salvador stand mitten im Boot bis zur Brust in Salzwasser. Seine Augen brannten. Er hatte stets Respekt vor Autorität … wenn sie verdient war. Ein Boot zu besitzen brachte einem vielleicht den Titel Kapitän ein, aber damit war man noch lange keiner. Seine Mannschaft zu beschuldigen und für Fehler verantwortlich zu machen machte aus Señor Juan keinen Kapitän. Von den schwarzen Wellen wurden sie immer wieder meterweit in die Luft gehoben und mit kalter Gischt begossen. Dann, wie bei einer Achterbahn, rauschte das Boot geradewegs in die Dunkelheit hinunter. Den Männern blieb nichts anderes übrig, als sich am oberen Seitenrand festzuklammern und zu hoffen, dass die Panga nicht kenterte. Mit aller Kraft harrten sie aus und ließen sich von der tosenden See herumwerfen. Die meisten ihrer Habseligkeiten verschwanden in der Dunkelheit. Es kam ihnen vor wie zwölf Runden im Ring mit Mike Tyson. Einem wütenden Mike Tyson. Schließlich ließ der Sturm nach. Die Fischer machten eine Bestandsaufnahme von ihrer Situation. Das Netz war nirgendwo zu sehen. Alles, was davon übrig geblieben war, war das zerfaserte Seilende. „Wir suchen das Netz“, knurrte Señor Juan. Salvador versuchte, ihn umzustimmen, und schlug vor, erst an Land zu fahren und später zurückzukehren, aber Señor Juan blieb hart. Salvador war ein alter Hase, was die Fischerei anging. 8


Er hatte dreißig Jahre Erfahrung und so etwas nicht zum ersten Mal erlebt. Ausrüstung geht immer wieder verloren, und manchmal ist es das Beste, an Land zu gehen, sich auszuruhen und mit frischer Kraft und mehr Benzinkanistern auf die Suche zu machen. Dabei dachte er nicht nur an sich. Salvador wollte Señor Juan wirklich helfen, das Netz zu finden, und hielt es für die beste Lösung, erst einmal Kraft zu tanken. Aber Señor Juan bestand darauf weiterzusuchen. Weil ihm das Boot gehörte, gab Salvador nach und hielt angestrengt nach dem Cimbra Ausschau. Zwei Tage lang kreuzte Señor Juan verzweifelt im Zickzack über das Wasser und verbrauchte dabei fast den ganzen Treibstoff. Salvador wusste, dass die Rückkehr an Land nun unmöglich war. Das Benzin reichte nicht mehr. Ihre einzige Chance war, ein anderes Boot zu finden. Irgendwann entdeckten sie in der Ferne ein kleines Schiff und hielten geradewegs darauf zu. Die Männer waren erleichtert. Obwohl das Netz verloren blieb, hatten sie wenigstens jemanden gefunden, der ihnen an Land helfen würde, damit sie am nächsten Tag die Suche fortsetzen konnten. Aber auf der Hälfte der Strecke begann der Motor zu stottern und fiel aus. Das Benzin war aufgebraucht. Die Männer winkten und schrien in Richtung des Boots, das noch gut achthundert Meter entfernt war. Aber offenbar hatten die anderen Angst, dass sich ihre Angelleinen verheddern könnten, denn sie starteten ihren Motor und fuhren davon. Andere Boote waren nicht in Sicht. Die 9


meisten waren vor dem Sturm in den Hafen geflüchtet. Ohne Antrieb driftete die Panga ab und wurde vom Pazifikstrom westwärts getragen. Unter den Männern brach Streit aus. Salvador konnte in der Ferne noch eine der Islas Marías ausmachen, aber die starke Strömung trug ihr Boot immer weiter aufs offene Meer hinaus. Bald war den Fischern klar, dass das verlorene Netz nun ihr geringstes Problem war. Der Sturm hatte einiges Werkzeug und all ihre Konserven aus dem Boot geschleudert. Alles, was übrig geblieben war, waren ein paar Wasserflaschen, einige Brote, ihre Tauchermesser, Kleidung, Decken und Salvadors Bibel. Nach zwei anstrengenden Tagen auf der Suche nach dem Netz waren die Männer erschöpft und schliefen einer nach dem anderen ein. Als Salvador am nächsten Morgen die Augen öffnete, stand er auf und sah sich um. Wohin er auch blickte, sah er nichts als Wasser. (…)

Dichos de mi madre Ich bekam einen Anruf von einem Freund, der mir ein paar Bekannte von sich vorstellen wollte. Wie sich herausstellte, entwickelten sie familienfreundliche Bücher und suchten jemanden mit viel Medienerfahrung. Obwohl ich von der Verlagswelt wenig Ahnung hatte, reizte mich die Vorstellung, Bücher auf 10


den Markt zu bringen. Also setzten wir uns zusammen und ich hörte mir ihre Vorstellungen an. Nach einigen Treffen willigte ich zu meiner eigenen Überraschung ein, die Vertriebsabteilung zu leiten. Es sprach eigentlich einiges dagegen. Das Ganze war ein ehrenwertes Projekt, aber nicht wirklich mein Fachgebiet. „Medienvertrieb“ klang so, als überlappe es ziemlich gut mit meiner früheren Expertise, aber in Wirklichkeit war es eine völlig andere Welt. Ich hatte Fernsehlizenzen verkauft; das hier war Verlagswesen. Zudem handelte es sich um ein sogenanntes Start-upUnternehmen, und so sehr mir manche Aspekte einer kleinen Firma gefielen, war ich doch die Größe, Schlagkraft und Ressourcen großer Medienkonzerne gewöhnt. Darüber hinaus hatte ich von Materialien für Kinder und Erziehung überhaupt keine Ahnung. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich den Job annahm. Aber ich hatte Ja gesagt. Und inzwischen weiß ich auch, warum. In dieser Firma sollte mir jemand begegnen, der meinem Leben eine ganz neue Richtung geben würde – wieder einmal. * Ein alter Bekannter aus meinen Zeiten im Fernsehbusiness erklärte mir am Telefon, es gebe da eine Frau mit einer Idee für ein Kinderbuch, zu der wir Kontakt aufnehmen sollten. Sie hieß Victoria und war schon älter (obwohl man 11


nicht genau wusste, wie alt), hatte graues Haar, war nur eins fünfzig groß und wog keine fünfzig Kilo. Victoria war Jüdin und in Kolumbien, genauer gesagt, Bogotá aufgewachsen. Ihr verstorbener Mann war leitender Angestellter bei Coca-Cola gewesen und hatte ein Jahr vor seinem Tod ein Buch geschrieben, um dessen Veröffentlichung sich Victoria bemühte. Mir gefiel ihre unerschütterliche Courage, aber da war noch etwas, was mich anzog. Wenn unsere Besprechungen vorbei waren, blieben Victoria und ich noch sitzen. Während wir miteinander redeten, bewunderte ich jedes Mal das Leuchten in ihren Augen, wenn das Thema auf Gott kam. Das Manuskript, das sie uns vorgestellt hatte, passte nicht so gut in unser Programm, aber ihre zweite Idee gefiel uns sofort: Dichos de mi madre - „Die Redensarten meiner Mutter.“ Das Ganze sollte ein Geschenkbuch mit etwa dreihundert spanischen Sprichwörtern werden, speziell für Lateinamerikaner. Victoria stellte sich das Buch als Geschenk von einer Generation an die nächste vor; ihr Beitrag für den Erhalt ihrer Kultur. Uns erschien es wie ein leichter Einstieg in diesen Markt, den wir vielleicht noch auf andere Sprachen erweitern konnten. Ich war dafür, und wir beschlossen, es herauszugeben. Ich weiß, im Leben passiert nichts „einfach so“, aber wenn man mittendrin steckt, sieht man oft weder, was genau sich ereignet, noch warum. Es geschah in einer meiner Nachsitzungen mit Victoria. Die Besprechung war beendet und der Rest des Teams hatte den Konferenzraum verlassen. Victoria und 12


ich erzählten uns von Gott und seinem Volk hier auf der Erde. Wie immer war ich nicht nur vom Inhalt unseres Gesprächs fasziniert, sondern auch von ihrem tiefen Glauben. Jeder von uns hatte noch andere Dinge, denen er sich widmen musste, also verabschiedeten wir uns voneinander. An der Tür vom Konferenzraum blieb Victoria stehen, drehte sich um und fragte: „Joe, hast du das von den mexikanischen Fischern gehört?“ Es sagte mir nichts. „Drei mexikanische Fischer wurden gerade in der Nähe von Australien gerettet. Zehn Monate und fast zehntausend Kilometer sind die armen Leute in einem winzigen Boot auf dem Meer getrieben. Eine unglaubliche Geschichte.“ Ich war wohl in Gedanken schon bei meinen nächsten Aufgaben. Regungslos sah ich sie an. Warum erzählte sie mir das? „Die drei sagen, sie hätten nur überlebt durch rohen Fisch, Regenwasser … und ihren Glauben.“ Jetzt fiel bei mir der Groschen. „Und Joe, das Einzige, was den Sturm überdauert hat, war ein Buch – eine Bibel. Es heißt, sie hätten immer wieder darin gelesen.“ Ich war inzwischen ganz Ohr. „Ich habe es gestern im Fernsehen gesehen“, sagte Victoria. „Wenn du willst, lies es im Internet nach.“ Ich rollte mit dem Stuhl zu einem der Computer hinüber und warf die Suchmaschine an. Victoria blieb im Türrahmen stehen und sah mir zu. Ich fand den Link 13


und sah die Schlagzeile: drei Männer gerettet. Dort stand auch das Zitat mit dem rohen Fisch und dem Glauben. „Ist das nicht eine unglaubliche Geschichte?“, fragte Victoria. Ich nickte. Irgendetwas an der Story packte mich. Ich wollte später mehr über die verschollenen Männer lesen, die sich von den Worten der Bibel ernährt hatten und nach langer Zeit auf See gerettet worden waren. Aber jetzt hatte ich anderes zu tun. Ich stand auf und wollte in mein Büro gehen, aber Victoria ließ mich nicht durch. Sie blieb hartnäckig. „Meinst du, du könntest sie kriegen, Joe? Die Geschichte an Land ziehen?“ Privat mochte die Odyssee der Fischer mein Interesse geweckt haben, aber als geschäftliches Unterfangen sah ich die Sache bestimmt nicht. „Victoria“, sagte ich, „um die Geschichte wird sich die halbe Welt reißen.“ Sie blieb unbeeindruckt. „Die Story zu haben wäre großartig, Joe.“ Sie dachte einen Moment nach. „Mein Neffe könnte dir helfen. Er wohnt in Mexiko-Stadt. Und er ist dir sehr ähnlich, Joe. So ein richtiger Draufgänger. Und tiefgläubig. Soll ich ihm deine Mailadresse geben?“ Um ehrlich zu sein, war ich mit meinen Gedanken schon längst wieder woanders. „Klar, gerne“, sagte ich, um meine Ruhe zu haben. Damit verließ Victoria das Büro. Und ich war mir ziemlich sicher, nie wieder etwas über die Fischer zu hören. (…)

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Blutsbrüder Die Fischer trieben seit vier Tagen auf dem Ozean. Wasser und Nahrung waren verbraucht. Jesús’ letztes Abendessen bestand aus dem kleinen Rest, den er vergangene Nacht aus der Zahnpastatube drücken konnte. „Gott ist da oben und passt auf uns auf“, versuchte Salvador den anderen Mut zu machen. Er war sich sicher, dass sie überleben würden. „Gott ist immer da. Wir haben doch eine Bibel an Bord. Wir sollten beten.“ Salvadors Bibel war für ihn etwas Besonderes: Als junger Mann hatte er oft Dummheiten angestellt. Während einer dieser jugendlichen Eskapaden wurde einer seiner Freunde schwer verletzt. Die Ärzte sagten, er würde nie wieder laufen können. An jedem Tag im Krankenhaus las Salvadors Freund in der Bibel, die ihm seine Eltern gegeben hatten. Er erzählte, er habe Gott um Vergebung gebeten und ihm geschworen, in Zukunft sein Bestes zu geben. Und jetzt vertraue er darauf, dass Gott ein Wunder geschehen lassen würde. Salvadors Freund glaubte fest daran, die Klinik auf eigenen Beinen zu verlassen. Salvador pflichtete ihm bei, dass das eine großartige Sache sei, merkte aber bei seinem Freund trotz wochenlanger Krankengymnastik keine Fortschritte. Am Tag der Entlassung aus dem Krankenhaus rollte Salvadors Freund in einem uralten Rollstuhl in Richtung Ausgang. Plötzlich löste sich vorne ein Rad und der Rollstuhl kam jäh zum Stehen. Verblüfft sah Salvador mit an, wie sein Freund aufstand, einen Schritt in 15


Richtung Tür machte und wie angekündigt auf eigenen Beinen die Klinik verließ. „Wenn du an Gottes Macht glaubst“, sagte Salvadors Freund, „dann kannst du auch Wunder erleben.“ Er schenkte Salvador seine Bibel. Die anderen Fischer kannten die Geschichte hinter dieser Bibel nicht, und Señor Juan schien überhaupt nicht gläubig zu sein. Er saß zusammengekauert in einer Ecke des Bootes und tat fast überhaupt nichts. Farsero ahmte ihn oft zum Spaß nach und schmollte. Salvador wurde immer mehr zum gefühlten Kapitän, Jesús zum Ersten Offizier und Lucio zum Matrosen und offiziellen Chronografen, weil er eine Casio-Uhr mit Kalenderfunktion im Wert von zwanzig Dollar besaß. Am ersten Abend ihrer Odyssee sah Lucio auf die Uhr. Es war zehn vor sieben. Nach gefühlten zwei Stunden blickte er wieder aufs Ziffernblatt. Es war fünf vor sieben. (…)

Auf gut Glück Ich hatte beschlossen, nach Mexiko-Stadt zu fliegen, wo Victorias Neffe wohnte. Als ich gelandet war, rief ich auf der Arbeit an. Einer der Partner erklärte mir, dass sie das Projekt noch einmal diskutiert hatten und sich nicht daran beteiligen würden. Ich war also auf mich allein gestellt. Obendrein wurde mir klar, ich würde meine Aktion nie jedem bis ins Letzte erklären können – einschließlich mir selbst. Aber ausnahmsweise war ich einmal nicht 16


versessen darauf, dass alles vernünftig und bis ins letzte Detail einleuchtend zu sein hatte. Alles zu begreifen, bringt einen nämlich nicht zwangsweise an den Ort, wo man hinwill oder vielleicht hinsollte. Also machte ich mir nicht die Mühe, meinen Kollegen zu erklären, warum ich nach Mexiko geflogen war. Zumindest jetzt nicht. Mir selbst sagte ich: Ich bin schließlich im Verlagswesen, da ist es legitim, nach einer guten Geschichte zu suchen. Und die ganzen Jahre im Fernsehstudio sollen ja auch nicht umsonst gewesen sein, oder? Aber das war nicht die ganze Wahrheit, und ich wusste das. Von außen sah es so aus, als würde ich meiner Spürnase für Geschichten folgen. Und einen Buchvertrag oder gar einen Film an Land ziehen. Aber in Wirklichkeit war ich gar nicht auf die Geschichte aus. Ich folgte einem Ruf, dessen Ergebnis ich weder kontrollieren noch mir ausmalen konnte …

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