Das Café am Meer - 9783765520105 - Brunnen

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Gayle Roper

Das Café am Meer


13 Als ich am frühen Dienstagmorgen beim ersten Lichtschein die Hintertreppe hinunterstolperte, mit geschwollenen Augen, weil ich mich die ganze Nacht hin und her gewälzt hatte, war ich immer noch in Traurigkeit gefangen. In meinem Kopf klang das kleine Flüstern lauter als das Livekonzert einer Rockband. „Ginny.“ Greg hatte an meinem Küchentisch gesessen und den Namen seiner toten Frau geflüstert. Ich hätte Bambussprossen unter meine Fingernägel treiben können und weniger Schmerz, weniger Verzweiflung verspürt. Selbst als für Lindsay und mich die Gefahr bestanden hatte, auf der Straße leben zu müssen, hatte ich Hoffnung gehabt. Wir waren unserer persönlichen Hölle entronnen, wir waren frei, allein, in Sicherheit. Nichts, was wir in der großen weiten Welt vorfinden mochten, ließ sich mit den Gefahren zu Hause vergleichen. Wir ließen all das Böse für ein besseres Leben zurück. Durch Gottes Gnade hatten wir es gefunden. Und ich war auch nicht undankbar. Wirklich nicht. Trotzdem weinte mein Herz, als ich das Café durch den Hintereingang betrat, und meine Hoffnungslosigkeit versetzte mir einen Stich, während ich die Tränen hinunterschluckte, die in meiner Kehle brannten. Segen in einem Lebensbereich bedeutete nicht, dass es in einem anderen Bereich nicht Kummer geben konnte. Ich fühlte mich, als wäre ich meiner tiefsten Hoffnung 96


beraubt worden, einer dummen Hoffnung vielleicht, eines unerfüllten Traumes, aber trotzdem einer Hoffnung. Und ein Wort hatte das bewirkt. „Ginny.“ Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es war, so geliebt zu werden, dass mein Name selbst drei Jahre nach meinem Tod jemandem noch so auf der Zunge lag. Oh Herr, jammerte ich im Stillen, während ich Kaffee ausschenkte und Rickys Essen und Lindsays Gebäck servierte. Warum nicht ich? Ich musste geseufzt haben, denn eine knochige Hand schob sich über den rosafarbenen Marmortresen und tätschelte meine. „Das wird schon wieder, Carrie. Was auch immer es ist, es wird wieder besser.“ Ich blickte in Mr Perkins’ freundliches, besorgtes Gesicht und hätte am liebsten den Kopf an seine Schulter gelehnt und geweint. „Mir geht es gut.“ Ich zwang mich zu lächeln. Er fuhr mit einem Finger unter seinem Auge entlang. „Ich habe nur schlecht geschlafen“, sagte ich, unglücklich darüber, dass es mir trotz Make-up offenbar nicht gelungen war, die dunklen Ringe zu verbergen. Er nickte. „Die ganze Aufregung gestern.“ „Ja, gestern war wirklich ein komischer Tag.“ Ich rang mir ein Lächeln ab. Die Tür ging auf und Greg kam herein, gut aussehend wie immer, trotz seiner Blessuren. Der Bluterguss auf seiner Stirn hatte sich in ein hübsches blaues Auge verwandelt, das ihn zwielichtig hätte aussehen lassen müssen, 97


aber das tat es nicht. Mein Herz vollführte seinen üblichen Snoopy-Tanz. Offensichtlich war die Hoffnungslosigkeit meiner Situation noch nicht bis zu ihm vorgedrungen, wie mein Verstand mit großem Kummer feststellte. Mr Perkins drückte meine Hand fester. Ich sah ihn voller Panik an. Er wusste Bescheid? Mein Gesicht brannte. Es war ein schrecklicher Tag, wenn jeder die tiefsten Geheimnisse kannte, die man hatte. Wenn Mr Perkins es gemerkt hatte, wie viel wussten dann die anderen? Ricky? Clooney? Lindsay, Mary und Kim hatten auf jeden Fall Verdacht geschöpft. Konnte das Leben noch schlimmer werden? Ich zog meine Hand weg und griff ohne nachzudenken nach dem koffeinfreien Kaffee. Beinahe hätte ich ihn Mr Perkins über die Hand gegossen, die er schützend über seine Tasse hielt. „Carrie!“ Er sah mich entsetzt an. „Den echten, bitte!“ Ich lächelte schwach. „Tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Wir müssen doch Ihr Blut am Laufen halten.“ Ich füllte seine Tasse mit meiner Spezialmischung und wusste, dass ich irgendetwas zu Greg sagen musste. Sicher würden alle genau zuhören. „Hi“, sagte Greg mit einem herzlichen Lächeln. Ich überlegte, hinter mich zu blicken, um zu sehen, wem dieses Lächeln galt. Wenn er nicht aufpasste, könnte ich denken, er freue sich, mich zu sehen. „Hi.“ Dank einer plötzlichen Hirnstarre fiel mir nichts anderes ein. Ich griff nach einem leeren Becher. Greg schob sich auf seinen Hocker, und sein Lächeln 98


war so schnell verschwunden, wie es erschienen war. Kaum saß er, da reichte ich ihm schon seinen Kaffee. Er nickte dankend. „Das Übliche?“, brachte ich heraus. Gut. Zwei Wörter. Mein Gehirn erwachte offenbar wieder zum Leben. Er nickte wieder. „Alles klar“, rief Lindsay. „Ricky, das Übliche für Greg.“ „Haben Sie gehört, was der Präsident gerade getan hat?“, fragte Mr Perkins empört. Er schenkte mir ein kurzes, mitfühlendes Lächeln, das mich zusammenzucken ließ, und schaute dann wieder entrüstet drein. In all den Jahren, die er jetzt schon hierher kam, hatte es meines Wissens keinen Präsidenten gegeben, den er mochte. Heute war ich mir allerdings nicht sicher, ob er seine Ansicht über die jüngsten politischen Ereignisse loswerden wollte oder ob er versuchte, mir das Leben leichter zu machen, indem er Gregs Aufmerksamkeit erlangte. Dieser Gedanke weckte in mir eine sentimentale Zuneigung für den anstrengenden alten Mann. Ich wandte den Blick ab und blinzelte, bis ich überzeugt war, dass ich mich nicht bloßstellen würde. Greg hob einen Finger, um Mr Perkins zu bitten, still zu sein. Er holte tief Luft, dann atmete er aus und sah mich an. „Jase Peoples wurde gefunden.“ Meine Hand wanderte reflexartig zu meinem Herzen, wie um es vor weiteren Schmerzen zu schützen. „Es ist was Schlimmes, oder?“ Er nickte. „Wo?“, fragte ich, während mein Magen sich umdrehte. 99


„Er trieb in der Bucht.“ „Nein!“ Tränen schossen mir in die Augen, und ich gab mir keine Mühe, sie zurückzuhalten. Ich dachte an Jase, wie er in der Küche stand, in eine Dampfwolke gehüllt, und mit einem Lächeln auf den Lippen seine Aufgaben verrichtete. „Jase ist tot?“ Kim stellte sich mit aufgerissenen Augen neben Mr Perkins. „Das kann nicht sein! Woher wisst ihr das? Vielleicht ist es ein Irrtum.“ Ich legte meinen Arm um sie, und Greg sagte: „Ich wünschte, es wäre einer.“ Ich spürte, wie sie zitterte, und ihr Atem ging keuchend. Ich selbst fühlte mich auch wie zerbrochen. „Er war mein Freund“, flüsterte sie. „Er war mein Freund.“ Alle schwiegen, sogar Mr Perkins. Plötzlich riss Kim sich los. „Ich muss Clooney anrufen.“ Sie rannte in die Küche. Lindsay erschien in der Durchreiche. „Ist das wahr, was Kim sagt? Jase ist tot?“ Greg und ich nickten. Meine Schwester schloss die Augen und seufzte tief. „Wie schrecklich … Ich mochte ihn sehr. Er war ein netter junger Mann. Und nette Menschen sind heute Mangelware.“ Sie drehte sich um und ging wieder in die Küche zurück. „Was für ein Verlust.“ Meine Stimme brach, und ich musste mich räuspern, bevor ich weitersprechen konnte. „Weiß man, wie es passiert ist?“ Gregs Miene verdüsterte sich. „Was immer es war, es war kein Unfall.“ 100


„Mord?“ Das Wort fühlte sich komisch auf meinen Lippen an. Mord war etwas für Krimis und Fernsehserien, nicht für Menschen, die man kannte. Gregs Schweigen sagte alles, was ich wissen musste. Ich warf einen Blick in Richtung Küche, in der Kim verschwunden war. „Wie lange ist es her?“ „Ich würde schätzen, Samstagnacht, aber das ist nur eine Vermutung. Der Gerichtsmediziner wird den Todeszeitpunkt feststellen.“ Ich wischte meine Tränen ab und seufzte. „Kein Wunder, dass die Twitterer ihn nicht finden konnten.“ Lindsay erschien wieder in der Durchreiche. „Wo in der Bucht?“ „Ungefähr auf halbem Weg zwischen der Überführung und der Brücke an der Vierunddreißigsten Straße“, sagte Greg. „Er ist im Sumpfgras bei Turtle Island hängengeblieben.“ „Hast du darüber nachgedacht, warum, Greg?“ Lindsay kam jetzt ins Café, in der Hand einen Teller Rührei mit Toast. „Weckt so etwas nicht den Polizisteninstinkt in dir? Willst du nicht herausfinden, wer das getan hat?“ „Oh, doch. Klar frage ich mich, wer und warum und wie.“ Er betrachtete seinen Teller, verzog das Gesicht und stach mit der Gabel in das Rührei. „Keinen Hunger?“ Das konnte ich verstehen. Tragische Nachrichten dämpften den Appetit. „Das ist es nicht.“ Er stocherte weiter in den Eiern herum. Ich betrachtete das Rührei. Es sah gut aus, luftig und 101


locker. Ich wusste vielleicht nicht viel über Ricky als Mensch, außer dass er allergisch auf Katzen reagierte und hinter Lindsay her war, aber eins wusste ich: Er war ein guter Koch. „Das Rührei ist prima. Wirklich gut“, sagte Greg wenig überzeugend. Als wollte er seine Bemerkung unterstreichen, aß er einen Bissen und dann noch einen. „Gut.“ Ich warf einen Blick zu Lindsay hinüber, und unsere Augen trafen sich. Irgendwie waren wir beide nicht überzeugt, vor allem, weil Greg nach jedem Bissen einen großen Schluck Kaffee trank. Die Tür des Cafés ging auf, und Jem Barnes trat ein. Überrascht sah Greg seinen Vater an. „Dad! Waren wir heute verabredet?“ „Nicht, dass ich wüsste.“ Jem setzte sich auf einen Hocker. Ich mochte Gregs Vater. Er war ein großer, schlanker Mann mit schneeweißem Schnurrbart, obwohl seine Haare noch überwiegend braun waren. Er hatte ein ansteckendes Lächeln, die Art, die man unweigerlich erwiderte, egal, wie niedergeschlagen man sich fühlte. Wenn Greg in dreißig Jahren so aussah, würde er ein attraktiver Mann sein. „Ich nehme eins von Lindsays süßen Brötchen“, sagte Jem. „Es sind doch noch welche da, oder?“ Ich schob die Scheibe der Vitrine zur Seite und wählte eins für ihn aus. „Hatten wir heute irgendetwas vor?“, fragte Greg seinen Vater erneut. 102


Jem schüttelte den Kopf. „Nein, eigentlich nicht.“ Greg runzelte die Stirn. „Und warum bist du dann hier?“ Jem wohnte etwa dreißig Kilometer entfernt im Inland, zu weit weg, um eben mal vorbeizuschauen. War er hier, um nach Greg zu sehen? Das hatte er oft getan, nachdem Ginny und die Kinder gestorben waren, damals, als Greg noch zu viel trank. Aber Greg ging es jetzt gut. Ich musterte ihn, während ich Jem Kaffee einschenkte. Seine Augen waren klar und seine Gesichtsfarbe abgesehen von den blauen Flecken gesund, ein Beweis also, dass er schon lange trocken war. Ich wusste das, weil ich im Kopf Buch führte. Nicht, dass er richtig alkoholabhängig gewesen wäre. Er hatte mit dem Alkohol seinen Schmerz betäubt, um das Leben erträglich zu machen, wenn die emotionalen Qualen ihn überwältigten. Damals hatte ich hinterm Tresen gestanden, wenn Jem und Greg beieinander saßen, und mitangehört, wie Jem versucht hatte, zu seinem Sohn durchzudringen. „Du darfst den Alkohol nicht als Betäubungsmittel benutzen, um einzuschlafen.“ Jems Kummer, seinen Sohn leiden zu sehen, war in seiner Stimme unüberhörbar, und sein Blick trieb mir Tränen in die Augen. Greg nickte immer, aber seine glasigen Augen verrieten, dass er den Rat ignorierte. „Das Trinken wird deine Probleme nicht lösen, mein Sohn. Es schafft nur neue.“ „Meinst du, das wüsste ich nicht?“ An einem Tag hat103


te Greg die Beherrschung verloren. „Ich habe das öfter gesehen, als ich zählen kann. Ich bin schließlich Polizist, falls du dich erinnerst.“ Es herrschte betretenes Schweigen, während Jem in seine Tasse starrte und Greg verloren dreinsah. „Zumindest war ich einer.“ Er rutschte vom Hocker und rannte beinahe zur Tür hinaus. Jem seufzte, gab mir zu viel Trinkgeld und verabschiedete sich mit hängenden Schultern. Dann an einem Samstag, ungefähr ein Jahr nach dem Tod von Ginny und den Kindern, waren Gregs Brüder eingeschritten, alle fünf, auch der, der Missionar in Mexiko war. Sie stellten ihn hier im Café zur Rede. „Das hat mir gerade noch gefehlt.“ Greg sah sie angewidert an. „Und Mom und Dad habt ihr nicht auch noch mitgebracht?“ „Wir wollten nicht, dass sie hören, wie wir Tacheles mit dir reden“, sagte einer der Brüder. „Was wir zu sagen haben, ist nicht für ihre Ohren bestimmt.“ „Verschwindet, lasst mich in Ruhe.“ Greg warf ihnen einen düsteren Blick zu. „Es ist mein Ernst.“ „Wir gehen“, sagte ein anderer, „aber du kommst mit, ob du willst oder nicht.“ „Fünf gegen einen? Mit euch werde ich schon fertig.“ „Im Augenblick bist du ein so erbärmlicher Kerl, dass du es mit keinem von uns aufnehmen könntest“, sagte der Missionar aus Mexiko. Sie hatten alle diese Mit-uns-nicht-Miene aufgesetzt, und es war offensichtlich, dass sie ihn notfalls gewaltsam mitnehmen würden. Ihre Chancen standen nicht 104


schlecht, trotz der Tatsache, dass Greg bei der Marine und bei der Polizei gewesen war. Schließlich nahmen sie ihn mit und mussten ihm erfolgreich ins Gewissen geredet haben. Seitdem hatte er keinen Tropfen mehr angerührt. Ganz langsam war er wieder zum Leben erwacht, und ich fand, dass er gute Fortschritte machte. Jetzt betrachtete Jem ihn. „Welcher von deinen Mietern hat dich verprügelt?“ Greg hob vorsichtig die Hand an sein blaues Auge. „Du hast nicht auf Twitter davon gelesen?“ „Ich bin nicht auf Twitter.“ „Da war dieser Kerl namens Chaz“, begann Mr Perkins und erzählte seine Version des Zwischenfalls. Da er nicht dabei gewesen war, stimmte nicht alles, aber im Großen und Ganzen kannte er die Fakten. Jem sah beeindruckt aus. „Ist hier noch etwas passiert, was ich wissen sollte, Mr Perkins?“ Mr Perkins berichtete über Jase. „Ich habe in den Nachrichten von dem Mord gehört, als ich hierher unterwegs war“, sagte Jem. „Mir war nicht klar, dass es eine Verbindung zu Carries Café gab.“ „Es ist so unglaublich traurig!“ Meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich musste schlucken. Alle nickten zustimmend. Dann schwenkte Mr Perkins seinen Löffel und tropfte Kaffee auf den Tresen. „Die große Frage ist, was mit ihm passiert ist, nachdem Bill ihn k.o. geschlagen hat. Und die zweite große Frage – war es Bill?“ „Mr Perkins! Wie können Sie so etwas Schreckliches 105


sagen!“ Kim trat an den Tresen und funkelte ihn an. „Bill würde niemals so etwas Böses tun.“ „Er hat schon etwas Böses getan“, gab Mr Perkins zu bedenken. „Er hat Jase bewusstlos geschlagen.“ Kim wischte diese Tatsache mit einer Handbewegung fort. „Das hat er doch nur getan, um mich zu beschützen. Er ist einfach zu lieb, um etwas wirklich Gemeines zu machen.“ Ich seufzte. Kim ignorierte die immer noch lilafarbene Stelle an ihrem Handgelenk. „Außerdem war er mit mir zusammen“, sagte sie. „Wie hätte er Jase etwas tun sollen, wenn er bei mir war?“ Greg musterte sie. „Er war die ganze Nacht bei dir?“ Sie wand sich. „Na ja, nicht ganz. Clooney will, dass ich am Wochenende um Mitternacht zu Hause bin. Ich finde das total uncool, aber er gibt keinen Zentimeter nach.“ Sie schnaubte. „Sei froh, dass sich jemand Sorgen um dich macht.“ Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen. In ihrem Alter war ich bereits auf mich allein gestellt und hatte für meine zehnjährige Schwester sorgen müssen, zu Tode geängstigt, aber fest entschlossen. Ich hätte gerne eine liebevolle Familie gehabt, auch wenn sie aus einem entfernten Verwandten wie einem Großonkel bestanden hätte. „Jase ist erst vor Kurzem wieder nach Hause zurückgekehrt, nachdem er mehrere Jahre fort war“, sagte Greg. „Meine Quellen besagen, dass er beim ‚Pfad‘ war.“ Wenn es seine Absicht gewesen war, die Aufmerksam106


keit von Kim abzulenken, war ihm das nicht gelungen. Sie sog scharf die Luft ein und platzte heraus: „Sie wissen, dass Jase beim Pfad war?“ „Beim Pfad?“ Lindsay sah entsetzt aus, als sie einen Teller mit frisch gebackenen, untertassengroßen Zuckerplätzchen für die Vitrine hereinbrachte. „Die mit dem Erzengel Michael?“ „Die sind doch alle verrückt“, sagte Mr Perkins. „Vielleicht.“ Greg schob den Teller mit dem größtenteils ungegessenen Rührei von sich, das er unter seiner Papierserviette zu verstecken suchte. „Auf jeden Fall sind sie speziell. Ich nehme ein Plätzchen.“ Lindsay tat eins für ihn auf einen Teller. „Wie alt war er eigentlich?“, fragte Mr Perkins. „Er sah aus wie zehn.“ Ich nahm an, er meinte Jase und nicht Michael. „Fünfundzwanzig, meinen Unterlagen zufolge“, sagte Greg. „Er verschwand mit achtzehn, war sieben Jahre weg und offenbar die meiste Zeit davon beim Pfad.“ „Wenn Sie mich fragen, ist das eine gefährliche Sekte“, sagte Mr Perkins. Diesmal neigte ich dazu, ihm zuzustimmen. Alles, was ich über die Gemeinschaft gelesen hatte, klang unecht, angefangen von ihrem Anführer, dem Erzengel Michael, bis zu ihrem zurückgezogenen, heimlichtuerischen, „gottgeweihten“ Leben auf dem abgelegenen Wüstengelände. „Jeder, der sich als moderne Inkarnation des Erzengels Michael ausgibt, ist entweder sehr merkwürdig oder begeht ganz bewusst Betrug.“ Greg biss in sein Plätzchen und seufzte. „So oder so ist er gefährlich.“ 107


„Leben diese Leute auch polygam, so wie manche Mormonen?“, fragte Jem. „Ich kann mich nicht erinnern.“ „Ja, das tun sie“, sagte Greg. Mr Perkins stieß einen angewiderten Laut aus. „Perverslinge. Ich hoffe, sie landen alle im Gefängnis.“ Ich tätschelte seine Hand. „Jetzt mal halblang.“ „Ich mache ein paar Minuten Pause, in Ordnung, Carrie?“ Kim sah blass aus und klang atemlos. Sie sah mir nicht in die Augen. Sie griff unter den Tresen und zog das Sudoku-Buch hervor, dass sie dort aufbewahrte. „Ich bin in der Nische hinten.“ Außer Greg, Jem und Mr Perkins waren nur noch zwei andere Gäste im Café. „Sind die beiden versorgt?“ Ich zeigte mit dem Kopf auf den Mann und die Frau, die in Nische eins ins Gespräch vertieft waren. „Sie trinken nur noch ihren Kaffee. Die Rechnung haben sie schon, und sie sagen, sie wollen sonst nichts mehr.“ Ich nickte. „Sag Ricky, was du essen willst.“ „I-ich will nichts.“ Noch jemand, der den Appetit verloren hatte. „Kommt Bill zum Frühstück her?“ „I-ich weiß nicht.“ Ich betrachtete Kim. Irgendwie wirkte sie durcheinander. Greg musterte sie ebenfalls. War es der Tod von Jase? Er war ein Freund gewesen, und sein Verlust musste ihr Kummer bereiten. Ich jedenfalls war sehr traurig deswegen. Oder war im Paradies doch nicht alles in Ordnung, obwohl sie Bill noch vor wenigen Minuten 108


verteidigt hatte? Vielleicht war sie sich wegen des Mordes an Jase unsicher, was ihn betraf, oder der blaue Fleck an ihrem Handgelenk hatte doch eine abschreckende Wirkung. „Mach eine Pause“, sagte ich. Sie tat mir leid. „Ich sage Ricky, er soll dir deine Lieblingspfannkuchen mit Schokoladenstückchen machen und sie dir bringen, wenn sie fertig sind.“ Mit einem schwachen Lächeln drehte Kim sich um und ging zur letzten Nische, wo sie sich mit dem Rücken zu uns niederließ. Armes Mädchen. Ich kannte vielleicht nicht ihr Problem, aber ich kannte das Gefühl der Leere im Magen, wenn die Welt außer Kontrolle geriet …

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