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ei diesen Worten Jesu kniete Enoch in seinem Vorgarten im Vorort von Chicago nieder und weinte. Er weinte auch, weil er sich so sehr danach sehnte, in Jerusalem zu sein. Diese Bibelstellen hatte er jahrelang studiert, und er wusste, was gerade geschah. Er konnte es nicht erwarten, dorthin zu kommen, wieder mit seinen Freunden von der Tribulation Force zusammen zu sein und alles, jede Einzelheit, über den großen Tag Gottes, des Allmächtigen, zu erfahren. Mehr als alles andere jedoch wünschte er sich, Jesus zu sehen.
B
Mit jedem Augenblick fiel es Rayford immer schwerer, die Größe dieses übernatürlichen Ereignisses zu erfassen. Sensorische Überlastung war eine grobe Untertreibung. Er brauchte sich nicht einmal in den Arm zu zwicken, um sich davon zu überzeugen, dass dies kein Traum war. Alles war so real, so eindrucksvoll, dass sogar „kleinere“ Wunder neben den weltweiten und örtlich begrenzten Erdbeben ihre Bedeutung hatten. Wie die Tatsache, dass er noch immer keine Erschöpfung empfand, obwohl er wer weiß wie lange nicht mehr geruht, geschweige denn geschlafen hatte. Doch als er, Mac und Abdullah das Militärfahrzeug vor der Altstadt abstellten und sich der riesigen Prozession durch das wieder geöffnete Osttor in die Stadt anschlossen, erwartete ihn ein neues Phänomen. Es war eine Sache, seinem Herrn, dem König aller Könige, bei seinem letzten triumphalen Einzug in die Stadt Davids zu folgen, doch was er dann dort vorfand … Jerusalem, vor allem die Altstadt, hätte von dem Blut der Toten überquellen sollen. Hunderttausende waren dort auf höchst groteske Weise ums Leben gekommen. Gestank, Blut und Leichen hätten sie erwarten sollen und vor allem die Skelette der Soldaten und der Pferde. Doch das Erdbeben hatte den Ölberg gespalten und die Ewige Stadt etwa 100 Meter hoch gehoben und somit gleichzeitig eine unglaubliche Säuberungsaktion bewirkt. Jesus führte die glückliche
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Menge in die Stadt und in die Altstadt hinein. Es war eine Parade von singenden, tanzenden und feiernden Menschen, die sich ausgelassen umarmten und ihren Herrn anbeteten. Seltsamerweise waren alle Mauern gefallen. Es gab keine Hinweise mehr auf die Schlacht, die hier getobt hatte, keine Einschläge von Bomben und Rammböcken, keine Unebenheiten mehr. Wo die Mauern gestanden hatten, befanden sich nun sanft ansteigende Hügel aus feinen, gebrochenen Steinen. Sogar die Klagemauer war verschwunden. Sie wurde nun nicht mehr gebraucht, denn Jesus war jetzt da. Und richtig, als Jesus in die Nähe der Westmauer kam, begann er zu sprechen. Auf seinem Pferd hob er sich nur wenig von den anderen Menschen hinter ihm ab, und er war auch von ihnen abgewandt, doch Rayford wusste, alle konnten ihn genauso gut verstehen wie er selbst inmitten der Menge. „Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen: Ich, der Mensch Christus Jesus, der ich mich als Lösegeld hingegeben habe für alle.“ Wo waren nur die Überreste des Krieges? Rayford konnte nur raten. Es war, als sei die Stadt hin- und hergeschüttelt worden. Und auch wenn die Gebäude und Sehenswürdigkeiten stehen geblieben waren, waren die Trümmer der Mauern und die sterblichen Überreste der Menschen in die Spalten gerutscht und jetzt für alle Ewigkeit bedeckt. Die Stadt Gottes war wieder neu. Die Menschen konnten es nicht fassen. Als Jesus auf seinem Pferd weit genug in die Stadt hineingeritten war, sodass auch der letzte der ihm nachfolgenden Menschenmenge den Stadtrand erreicht hatte, wendete er sich nach rechts und zum Ende der Menge, sodass alle Menschen einen Kreis bildeten. Eingerahmt wurden sie von den berittenen himmlischen Heerscharen. Die Israeliten ignorierten sie; sie schienen sie vorübergehend gar nicht zu bemerken. Rayford konnte sie ganz deutlich erkennen, wie bestimmt auch alle anderen. Er freute sich auf das Wiedersehen mit seinen Angehörigen, das hoffentlich bald stattfinden würde. Aber da Jesus nun in ihrer Mitte war, dachten alle nur an ihn. Alles andere – Angenehmes wie Unangenehmes – verblasste angesichts dessen zur Bedeutungslosigkeit. Als endlich alle stehen geblieben waren, stieg Jesus vom Pferd und streckte die Arme aus. „Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst die Boten, die zu dir gesandt sind. Wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt. Darum war euer
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Haus von Gott verlassen. Und ich habe euch gesagt: Von jetzt an werdet ich mich nicht mehr sehen, bis ihr ruft: Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!“ Jesus sah die Israeliten an, und Rayford wusste intuitiv, dass jeder von ihnen dasselbe empfand wie er, nämlich dass Jesus ausschließlich ihn ansah. Um Rayfords Fassung war es geschehen. Er holte tief Luft und rief so laut er konnte: „Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn!“ Und alle anderen stimmten in sein Rufen mit ein. Ein glückliches Lächeln trat auf Jesu Gesicht.
Hand in Hand mit ihrem Mann Ree erlebte Ming Toy Woo in der Menge alles mit. Ihr Herz war zum Überfließen gefüllt. Sie hörte jedes Wort in ihrer Muttersprache und musste sich immer wieder daran erinnern, dass es jedem in der Menge ebenso ging. Obwohl sie und Ree mittendrin standen, konnte sie Jesus ganz deutlich erkennen, ohne sich auf Zehenspitzen stellen zu müssen. Auf einmal erschienen hinter Jesus fünf himmlische Wesen, von denen sie drei erkannte: Christopher, den Engel mit dem ewigen Evangelium, Kaleb und Nahum. Dies waren die drei Engel der Barmherzigkeit, die sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatten, als sie verdeckt für die Weltgemeinschaft gearbeitet hatte. Sie hatten ihr auch versprochen, sie würde vor der Wiederkunft Christi nicht sterben. Die anderen beiden Engel wurden schnell bekannt gemacht, als Jesus einem von ihnen die Zügel seines Pferdes reichte und sagte: „Gabriel.“ Der andere stellte eine Steinbank auf, und als Jesus darauf Platz nahm, sagte er: „Danke, Michael.“ Dann sah der Sohn Gottes, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Erlöser der Menschen, direkt in Mings Augen und sagte auf Chinesisch: „Komm zu mir, mein Kind.“ Ming starrte ihn an und war wie vom Donner gerührt. Schließlich gelang es ihr, sich zu bewegen. Sie legte die Hand auf ihre Brust und fragte: „Ich?“ Jesus schien in ihre Seele zu sehen und konzentrierte sich nur auf sie. „Ja. Komm zu mir, Ming.“ Sie wollte rennen, die anderen beiseite schieben, in seine Arme springen. Aber es gelang ihr nur, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie ließ Rees Hand los und setzte sich langsam in Bewegung. Doch nun gingen alle vereint auf Jesus zu.
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Es war helllichter Tag und kein Irrtum möglich. Jesus hatte Rayford direkt angesehen und ihn ausgewählt. Er hatte ihn beim Namen gerufen und zu ihm gesagt: „Komm zu mir, mein Kind.“ Rayford riss den Blick von Jesus los und sah nach rechts und links. Abdullah und Mac wirkten schockiert. Auch sie starrten Jesus an und fragten, durch Gesten oder Worte, ob er mit ihnen sprach. Aber das tat er nicht, das wusste Rayford. Er spricht mit mir. Rayford deutete mit beiden Händen auf sich und zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. Und Jesus nickte. Ray ging auf seinen Erlöser zu. Wie konnte das sein? Wie konnte Jesus angesichts einer Menge dieser Größe mit jedem persönlich sprechen? Wie viel Zeit würde er jedem widmen? Das konnte Monate dauern! Und wie war es möglich, dass Rayford als Erster ausgewählt worden war? Während er mit steifen Beinen auf Jesus zuging, überschlugen sich seine Gedanken. Wo lagen die Risiken? Wie konnte er das Privileg ermessen, dem ewigen Gott des Universums in die Augen zu sehen? Er beeilte sich und Jesus sagte: „Komm her zu mir, Rayford, ich werde dir Ruhe verschaffen.“ Obwohl sein Blick auf Jesus gerichtet war und sein Körper sich fortbewegte, wurde Rayford auf einmal etwas bewusst. Er kam aus einer Menge von mehr als einer Million Menschen heraus. Fünf Engel standen hinter Jesus. Rayfords Freunde und Familie würden ihn sehen. Womit hatte er sich dieses Vorrecht verdient? Ruhe – ja, zum ersten Mal empfand er dieses Bedürfnis. Die Müdigkeit der vergangenen Stunden machte sich unvermittelt in ihm breit, und er hatte das Gefühl, als könnte er jetzt schlafen, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Doch als er zu Jesus kam und sein freundliches Lächeln sah, verblüffte ihn die Erkenntnis, dass dieser sich genauso zu freuen schien, ihn zu sehen wie er, seinen Herrn zu sehen. Und er war überwältigt von der Scham über seine Sünde. Unwürdig. Er war so unwürdig. Er wurde langsamer, blieb beinahe stehen und befürchtete, vor Scham und Demütigung zusammenzubrechen. „Nein, nein“, entgegnete Jesus noch immer lächelnd. Er beugte sich nun vor und streckte seine vernarbten Hände nach ihm aus. Als Rayford das sah, war es beinahe um ihn geschehen. Er zwang sich, weiterzugehen, obwohl er keine Kontrolle mehr über seine Bewegungen hatte, und befürchtete zu stolpern. Zu den Füßen Jesu fiel er schluchzend auf die Knie. Jede Sünde und jedes Versäumnis in seinem Leben stand ihm vor Augen.
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Doch unerwartet streckten sich liebende Hände nach ihm aus und er wurde an Jesu Brust gezogen. „Rayford, Rayford, wie habe ich mich nach diesem Tag gesehnt.“ Rayford brachte keinen Ton heraus. „Ich kannte deinen Namen vor der Erschaffung der Welt. Ich habe einen Platz für dich vorbereitet. Wenn es nicht so wäre, hätte ich es dir gesagt.“ „Aber Herr, ich – ich –“ Jesus nahm Rayford an den Schultern und löste ihn sanft von sich, dann nahm er sein Gesicht in beide Hände. Sein eigenes Gesicht war nur Zentimeter von ihm entfernt. Er sah ihn an und Rayford konnte seinem durchdringenden Blick kaum standhalten. „Ich war da, als du geboren wurdest. Ich war da, als du dachtest, deine Mutter hätte dich verlassen. Ich war da, als du zu dem Schluss kamst, dass du mit mir nichts anfangen könntest.“ „Es tut mir so Leid. Ich –“ „Ich war da, als du beinahe die falsche Frau geheiratet hättest. Ich war da, als deine Kinder geboren wurden. Ich war da, als sich deine Frau für mich entschied und du nicht.“ „Ich –“ „Ich war da, als du dein Eheversprechen beinahe gebrochen hättest. Als du beinahe gestorben wärst, bevor du mich kennen gelernt hattest. Ich war da, als du zurückbliebst. Und ich habe auf dich gewartet, als du endlich zu mir kamst.“ „Oh Herr, danke. Ich bin so –“ „Ich habe dich mit ewiger Liebe geliebt. Du solltest die Ewigkeit mit mir verbringen und jetzt wirst du das auch tun.“ Rayford quälten so viele Fragen, so vieles hätte er gern gesagt. Aber er konnte nicht. Der Blick in Jesu Gesicht führte ihn zurück in seine Kindheit, und er hatte das Gefühl, als könnte er immer hierbleiben und sich von seinem Erlöser wie ein Kind lieben und trösten lassen. Jesus legte Rayford die Hand auf die Schulter und die andere auf seinen Kopf. „Ich beuge die Knie vor meinem Vater, nach dessen Namen jedes Geschlecht im Himmel und auf der Erde benannt wird, und bitte ihn, er möge dir auf Grund des Reichtums seiner Herrlichkeit schenken, dass du in deinem Inneren durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunimmst durch den Glauben. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollst du zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und
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meine Liebe zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So wirst du mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt. Er aber, der durch die Macht, die in dir wirkt, unendlich viel mehr tun kann, als du dir erbitten oder dir ausdenken kannst, er werde verherrlicht durch die Kirche in allen Generationen, für ewige Zeiten. Amen.“ Als Rayford zu seinem Platz in der Menge zurückkehrte, wurde ihm tief in seinem Inneren bewusst, dass dies zwar eine sehr persönliche Erfahrung gewesen war, doch Jesus hatte auch allen anderen dieselbe Liebe und Aufmerksamkeit erwiesen. Auf einmal merkte er, dass auch Mac und Abdullah mit tränenüberströmtem Gesicht in die Menge zurückkehrten. Auch sie waren bei Jesus gewesen. Die drei Männer legten die Arme um ihre Schultern und beteten Jesus an. An den Gesichtern um sich herum konnte Rayford erkennen, dass jeder Einzelne eine persönliche Begegnung mit Jesus gehabt hatte.
Der Erlöser war im Schlaf zu Enoch gekommen, und doch war diese Begegnung so real und tief gewesen, dass der junge Mann sie nicht auch nur eine Sekunde infrage stellte. Als es vorüber war, fand er sich auf dem Boden kniend wieder, und er hatte das Gefühl, als sei Jesus bei ihm in diesem Raum gewesen. Er war an bedeutsame Ereignisse in seinem Leben erinnert worden, an seinen Weg vom Glauben weg und dann wieder zurück zum wahren Glauben. Enoch konnte erneut die Hand Gottes in seinem ganzen Leben erkennen und das Wissen, dass Jesus ihn schon vor der Erschaffung der Welt mit Namen gekannt hatte … Sein Telefon klingelte, und als Enoch den ersten Anruf entgegennahm, bekam er das Signal, dass weitere Anrufe da waren. Eine Stunde später hatte sich fast jeder seiner kleinen Herde gemeldet. „Ich möchte unbedingt hinüberfahren“, darin waren sich alle einig, „aber wenn Jesus auch hierherkommt, dann muss ich das vielleicht gar nicht.“
Jesus stand mit ausgestreckten Armen da. Immer wieder war Rayford über die Erfahrung verblüfft, dass er ihn trotz der vielen Menschen um sich herum ganz persönlich sah und hörte. „Ich ermahne euch“, sagte er, „ein Leben zu führen, das des Rufes würdig ist, der an euch erging. Seid demütig, friedfertig und geduldig,
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ertragt einander in Liebe und bemüht euch, die Einheit des Geistes zu wahren durch den Frieden, der euch zusammenhält. Verlasst euch nicht auf Fürsten, auf Menschen, bei denen es doch keine Hilfe gibt. Haucht der Mensch sein Leben aus und kehrt er zurück zur Erde, dann ist es aus mit all seinen Plänen. Wohl dem, dessen Halt der Gott Jakobs ist und der seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott setzt. Der Herr hat Himmel und Erde gemacht, das Meer und alle Geschöpfe; er hält ewig die Treue. Recht verschafft er den Unterdrückten, den Hungernden gibt er Brot; der Herr befreit die Gefangenen. Der Herr öffnet den Blinden die Augen, er richtet die Gebeugten auf. Der Herr beschützt die Fremden und verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht. Der Herr liebt die Gerechten, doch die Schritte der Frevler leitet er in die Irre. Der Herr ist König auf ewig, dein Gott, Zion, herrscht von Geschlecht zu Geschlecht. Halleluja!“ Rayford stimmte genau wie alle anderen in das Lob mit ein. Zum ersten Mal seit Jesu Wiederkunft sah er Jesus sprechen und hörte ihn nicht nur. Er sprach mit den Engelwesen hinter sich und natürlich erregte dies die Aufmerksamkeit der gesamten Versammlung. Der Engel, den er Gabriel genannt hatte, trat vor. „Kinder Israels!“, begann er mit kristallklarer Stimme, die alle hören konnten. „Und Heilige der Trübsalszeit! Wahrhaftig, jetzt begreife ich, dass Gott nicht auf die Person sieht, sondern dass ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist. Er hat das Wort den Israeliten gesandt, indem er den Frieden verkündete durch Jesus; dieser ist der Herr aller. Ihr wisst, was im ganzen Land der Juden geschehen ist, angefangen in Galiläa, nach der Taufe, die Johannes verkündet hat; wie Gott Jesus von Nazaret gesalbt hat mit dem Heiligen Geist und mit Kraft, wie dieser umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Teufels waren; denn Gott war mit ihm. Und wir sind Zeugen für alles, was er im Land der Juden und in Jerusalem getan hat. Ihn haben sie an den Pfahl gehängt und getötet. Gott aber hat ihn am dritten Tag auferweckt und hat ihn erscheinen lassen, zwar nicht dem ganzen Volk, wohl aber den von Gott vorherbestimmten Zeugen: denen, die nach seiner Auferstehung von den Toten mit ihm gegessen und getrunken haben. Von ihm bezeugen alle Propheten, dass jeder, der an ihn glaubt, durch seinen Namen die Vergebung der Sünden empfängt. Amen.“
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Die Versammelten wiederholten wie mit einer Stimme: „Amen.“ Und Jesus sprach erneut zu ihnen: „So sollt ihr beten: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf Erde. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“ Nachdem sie mit Jesus gebetet hatten, öffneten sie die Augen, und Rayford bemerkte, dass jetzt nur noch vier Engel hinter Jesus standen. Michael war verschwunden. Jesus fuhr fort: „Ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir. Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.“ Jesus hob die Augen zum Himmel und sagte: „Vater, du hast mich verherrlicht, damit ich dich verherrliche. Denn du hast mir Macht über alle Menschen gegeben, damit ich allen, die du mir gegeben hast, ewiges Leben schenke. Das ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott zu erkennen, und mich, den du gesandt hast. Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zu Ende geführt, das du mir aufgetragen hast. Vater, verherrliche du mich jetzt bei dir mit der Herrlichkeit, die ich bei dir hatte, bevor die Welt war. Für sie bitte ich; nicht für die Welt bitte ich, sondern für alle, die du mir gegeben hast, denn sie gehören dir. Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein; in ihnen bin ich verherrlicht. Ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ging verloren, außer dem Sohn des Verderbens, damit sich die Schrift erfüllt. Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, wie auch ich nicht von der Welt bin. Heilige sie in der Wahrheit; dein Wort ist Wahrheit. Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt. Ich aber habe dich erkannt, und sie haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Ich habe ihnen deinen Namen bekannt gemacht und werde ihn bekannt machen, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen ist und damit ich in ihnen bin.“ Und wieder trat Gabriel vor. „Der Herr ist treu; er wird euch aufbauen und vor dem Bösen beschützen.“
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Bei der Erwähnung des Bösen bemerkte Mac die Unruhe in der Menge hinter Jesus und den Engelwesen. Menschen traten zur Seite, murmelten vor sich hin und machten Platz für den Erzengel Michael. Bei ihm waren Nicolai Carpathia in seiner nun ausgesprochen unordentlich sitzenden Lederkleidung und ohne Schwert, der recht erschöpft wirkende Leon Fortunato in einem seiner einfachen Gewänder und ohne Kopfschmuck und die drei gespenstischen Wesen, die Carpathia ähnlich sahen und die Mac und die anderen über die versteckte Kamera gesehen hatten, als Carpathia und Fortunato sie den zehn Königen der Welt vorgestellt hatten. Es waren Astaroth, Baal und Cankerworm, die drei froschähnlichen dämonischen Wesen, die ausgesandt wurden, um die Völker zu täuschen, sie zu überreden, sich in Megiddo zu sammeln, um gegen den Sohn Gottes zu kämpfen. Sie waren hässliche, kreideweiße Wesen, die menschliche Gestalt angenommen hatten und die gleichen schwarzen Anzüge trugen. Sie wirkten geschlagen, gebeugt, als würden sie von ihrem eigenen Bösen niedergedrückt. Sie hingen zusammen, setzten sich aber von Carpathia und Fortunato ab und auch Nicolai und Leon schienen nichts miteinander zu tun haben zu wollen. Michael führte die fünf vor Jesus. Sein Verhalten erstaunte Mac. Natürlich zeigte er gerechten Zorn, aber auch so etwas wie Enttäuschung, sogar Traurigkeit. Keine Freude war zu spüren. Das armselige Trio hakte sich unter, kniete vor Jesus nieder und jammerte und schrie. Carpathia wandte Jesus den Rücken zu und sah mit in die Hüften gestemmten Händen die Israeliten trotzig und gelangweilt an. Leon rang die Hände und betastete gelegentlich seine protzige Goldkette mit der 216. Schuldbewusst und angsterfüllt sah er Jesus an, dann und wann warf er einen flüchtigen Blick zu Carpathia, als suche er Rat und Hilfe. Gabriel trat zwischen Jesus und die drei Wesen. Er bückte sich, um ihre Gesichter sehen zu können, und sagte mit lauter Stimme: „In Erfüllung einer uralten Prophezeiung kniet ihr an diesem Tag vor Jesus, dem Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes, der Gott gleich war, aber nicht daran festhielt, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ „Ja!“, zischten die Wesen. „Ja! Wir wissen es! Wir wissen es!“ Und sie beugten sich noch tiefer, warfen sich mit ihren verkrüppelten Körpern flach auf den Boden.
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Gabriel fuhr fort: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde – wie ihr – ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ‚Jesus Christus ist der Herr‘ – zur Ehre Gottes, des Vaters.“ „Jesus Christus ist der Herr!“, keuchten sie und Gabriel trat hinter Jesus. „Jesus Christus ist der Herr! Es stimmt! Es stimmt! Wir erkennen das an! Wir erkennen ihn an!“ Jesus beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Knien auf. Die drei hielten ihr Gesicht dem Boden zugewandt, sahen ihn nicht an. „,So wahr ich lebe‘, spricht Gott, der Herr, ‚ich habe kein Gefallen am Tod des Schuldigen, sondern daran, dass er auf seinem Weg umkehrt und am Leben bleibt.‘“ „Wir bereuen! Wir werden umkehren! Wir werden umkehren! Wir beten dich an, oh Jesus, Sohn Gottes. Du bist der Herr!“ „Aber für euch ist es jetzt zu spät“, sagte Jesus und Mac war erneut über die Trauer in seiner Stimme verblüfft. „Ihr wart Engelwesen, im Himmel bei Gott. Doch wegen eures Stolzes wurdet ihr hinabgeworfen. Statt dem Bösen zu widerstehen, habt ihr beschlossen, ihm zu dienen.“ „Wir haben uns geirrt! So sehr geirrt! Wir erkennen an, dass du der Herr bist!“ „Wie mein Vater, mit dem ich eins bin, habe ich keinen Gefallen am Tod des Schuldigen, aber das ist Gerechtigkeit und das ist euer Urteil.“ Und während die drei schrien, platzten ihre reptilienartigen Körper auf. Eine Masse von Blut, Schuppen und Haut ging in Flammen auf und wurde schließlich vom Wind davongetragen. Leon warf sich mit solcher Wucht zu Boden, dass seine Handflächen laut aufklatschten und sein Kopf fest aufschlug. Er riss sich seine Kette ab und warf sie weg. Unter dem eindringlichen Blick Jesu erhob er sich, riss sich sein Gewand vom Leib, warf es weg und streifte auch die Schuhe von den Füßen. Dann warf er sich in seiner einfachen Hose, dem Hemd und den Socken mit dem Gesicht zuerst zu Boden. Sein dicker Bauch drückte sich gegen das Pflaster. „Oh mein Herr und mein Gott!“, jammerte er. „Ich bin so blind gewesen, so böse, habe mich so geirrt!“ „Weißt du, wer ich bin?“, fragte Jesus. „Wer ich wahrhaft bin?“ „Ja! Ja! Ich habe es immer gewusst, Herr! Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“
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Jesus erhob sich. „Du wagst es, Gott zu lästern, indem du meinen Diener Simon zitierst, den ich gesegnet habe, denn Fleisch und Blut haben es ihm nicht offenbart, sondern mein Vater, der im Himmel ist?“ „Nein, Herr! Dein Vater hat es auch mir offenbart!“ „Ich sage dir die Wahrheit: Weh dir, dass du diese Erkenntnis nicht gehabt hast, solange es noch Zeit war. Vielmehr hast du mich und den Plan meines Vaters für die Welt zurückgewiesen. Du hast deinen Willen gegen meinen gestellt und wurdest der falsche Prophet. Du hast die größte Sünde unter dem Himmel begangen: Du hast mich als den einzigen Weg zu Gott, dem Vater, abgelehnt und sieben Jahre lang die Welt getäuscht.“ „Jesus ist der Herr! Jesus ist der Herr! Töte mich nicht! Ich bitte dich! Bitte!“ „Der Tod ist zu gut für dich. Wie viele Seelen sind wegen dir und den Worten, die aus deinem Mund kamen, für immer von mir getrennt?“ „Es tut mir Leid! Vergib mir! Ich schwöre allen Werken des Satans und des Antichristen ab! Ich schwöre dir meine Treue!“ „Du bist für die Ewigkeit zum Feuersee verdammt.“ „Oh Gott, nein!“ Gabriel fuhr ihn an: „Ruhe!“ Leon kroch mehrere Meter davon, wo er zusammengekrümmt und schluchzend liegen blieb. Jesus setzte sich wieder, und Nicolai Carpathia, der sich noch immer der versammelten Menge zugewandt hatte, zuckte die Achseln und barg die Hände tief in seinen Taschen. Seine Augenbrauen waren hochgezogen, ein verächtliches Lächeln umspielte seine Lippen. Mac fragte sich unwillkürlich, wie sein Gericht wohl ausgehen würde. Er wusste durch Chaims Predigten, dass selbst Carpathia sich beugen und bekennen sollte, dass Jesus der Herr war, aber er zeigte keine Furcht und ganz gewiss keine Demut. Michael trat an seine Seite, Gabriel an die andere. Michael packte ihn am Ellbogen und drehte ihn herum, während Gabriel rief: „Knie nieder vor deinem Herrn!“ Carpathia riss sich von Michael los und verschränkte erneut die Arme. Jesus befahl: „Luzifer, fahre aus von diesem Mann!“ Und bei diesen Worten schien Carpathia zu schrumpfen. Wieder sah er so aus, wie Mac ihn unter dem Tempelberg in den Ställen Salo-
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mos gesehen hatte. Seine Lederkleidung war ihm nun zu weit und hing schlaff an ihm herunter. Seine Hände und Finger wurden dürr. Sein Hals schien in dem Kragen, der jetzt viel zu weit war, zu schwimmen. Carpathias Haar bedeckte nur spärlich seinen Kopf und war fast farblos. Dunkle Adern durchzogen seine Haut. Er war blass und seine Haut durchscheinend, als könnte sie leicht abgezogen werden. Wieder hatte Mac das Gefühl, dass Carpathias Körper so ausgesehen hätte, wenn er seit seiner Ermordung dreieinhalb Jahre zuvor im Grab gelegen hätte. Trotz der Hitze zitterte und bebte der ehemalige Potentat. Langsam und eindeutig unter Schmerzen legte er sich sein Cape über die Schultern, um sich darin wie in einem Kokon zu verstecken. „Knie nieder!“, befahl Gabriel und er und Michael traten wieder hinter Jesus. Carpathia nickte schwach und ließ sich bedächtig auf ein Knie nieder. Es schien, als sei das Pflaster zu hart für ihn. Schließlich beugte er auch das andere Knie. Seine Hände hielt er an der Seite, damit er nicht der Neigung nachgab, sich hilflos über das Gesicht zu wischen. Da kniete er, auf allen Vieren, schwach, armselig und zerbrechlich, und sein Ledercape hing schlaff von seinen knochigen Schultern. Mac merkte, wie menschlich er selbst im Gegensatz zu Jesu Gerechtigkeit dachte. Wenn er an Jesu Stelle gewesen wäre, hätte er seinen Triumph sicher ausgekostet. Mac hätte zweifellos gesagt: „Na, jetzt bist du kein großer Mann mehr, oder? Wo ist denn dein Schwert? Wo ist die Armee? Wo sind das Kabinett, die Subpotentaten? Jetzt bist du der Supreme Impotat, nicht wahr?“ Aber hier ging es nicht um den Sieg. Hier ging es um Gerechtigkeit. Jesus sagte: „Du bist dem Teufel ein williges Werkzeug geworden.“ Nicolai protestierte nicht, bettelte nicht. Er senkte nur den Kopf noch weiter und nickte. „Du bist ein Rebell gegen die Dinge Gottes und sein Reich. Du hast mehr Leiden verursacht als irgendein anderer in der Geschichte der Welt. Gott hat dir die Gaben der Intelligenz, Schönheit, Weisheit und Persönlichkeit gegeben, und du hattest die Möglichkeit, sie angesichts der so wichtigen Ereignisse in der Geschichte der Menschheit zum Besten zu nutzen. Doch du hast jede einzelne Gabe zu deinem persönlichen Vorteil
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eingesetzt. Du hast Millionen von Menschen dazu verführt, dich und deinen Vater, den Satan, anzubeten. Du warst der gerissenste Zerstörer meiner Anhänger und hast mehr getan, um die Seelen der Menschen ins Verderben zu führen, als jeder andere in deiner Zeit. Doch schließlich sind deine Pläne fehlgeschlagen, deine Herrschaft hat versagt. Und jetzt, was sagst du, wer ich bin?“ Die Pause war scheinbar endlos, die Stille tödlich. Schließlich krächzte Nicolai mit demütiger, schwacher Stimme: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, der für die Sünden der Welt gestorben und am dritten Tag auferstanden ist, wie es in der Schrift vorhergesagt ist.“ Jesus gestikulierte beim Reden, und Mac hatte den Eindruck, er wünschte, Carpathia würde ihn ansehen. Aber das tat dieser nicht. „Und was hast du aus deinem Leben gemacht?“ Carpathia sank noch mehr in sich zusammen. „Ich bekenne“, flüsterte er, „dass mein Leben vergeudet war. Wertlos. Ein Fehler. Ich habe mich gegen den Gott des Universums aufgelehnt, der mich, wie ich jetzt weiß, geliebt hat.“ Jesus schüttelte den Kopf und Mac sah große Traurigkeit in seinen Gesichtszügen. „Du bist für das Schicksal von Milliarden von Menschen verantwortlich. Du und dein falscher Prophet, mit dem zusammen du das Blut von Unschuldigen vergossen hast – meine Anhänger, die Propheten und meine Diener, die an mich geglaubt haben –, ihr werdet lebendig in den Feuersee geworfen werden.“ Die Erzengel Michael und Gabriel traten vor. Michael zerrte den falschen Propheten und den Antichrist auf die Füße. Er blieb vor Jesus stehen, als erwarte er Anweisungen. Nicolai Carpathia stand zusammengesunken und mit hängendem Kopf vor ihm. Leon Fortunato sah entsetzlich aus, die Haare wirr, das Gesicht gerötet und tränenüberströmt, die Hände vor sich umklammert. Gabriel verkündete der Menge: „Und ich sah das Tier und die Könige der Erde und ihre Heere versammelt, um mit dem Reiter und seinem Heer Krieg zu führen. Aber das Tier wurde gepackt und mit ihm der falsche Prophet; er hatte vor seinen Augen Zeichen getan und dadurch alle verführt, die das Kennzeichen des Tieres angenommen und sein Standbild angebetet hatten. Bei lebendigem Leib wurden beide in den See von brennendem Schwefel geworfen.“ Gabriel trat zur Seite, und an der Stelle, an der er gestanden hatte,
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öffnete sich ein Loch im Boden, ein Meter im Durchmesser, aus dem fauliger, schwefelhaltiger Rauch stieg. Mac und alle anderen Menschen in der Stadt hielten sich die Nase zu. Eine blaue zischende Flamme schoss aus dem Loch empor sechs Meter in die Höhe, die Mac nur mit einer monströsen Azetylenflamme vergleichen konnte. Nun kam noch der Geruch nach Äther dazu, und Mac merkte, wie die ersten Reihen der Menschenmenge zurückwichen. Obwohl Mac weiter vom Geschehen entfernt stand, spürte er die enorme Hitze, die diese wütende Feuersäule abgab. Jesus und die fünf Engelwesen waren offensichtlich dem Gestank und der Hitze gegenüber immun, aber Carpathia und auch Fortunato versuchten zurückzuweichen. Michael hielt sie fest, den Blick auf Jesus gerichtet. Dieser nickte traurig, und ohne zu zögern, führte Michael die beiden an den Rand des Loches. Fortunato wand sich wie ein unwilliges Kleinkind und wollte sich losreißen, doch mit mächtigem Arm stieß Michael ihn in das Loch. Sein Jammern verstärkte sich und verstummte schließlich. Carpathia wehrte sich nicht. Er bedeckte nur sein Gesicht mit den Unterarmen, als er hineingestoßen wurde, und dann hallte sein Schrei durch ganz Jerusalem, bis er tief genug gefallen war, dass man ihn nicht mehr hören konnte. Das Loch schloss sich so schnell, wie es sich aufgetan hatte, und das Tier und der falsche Prophet waren nicht mehr.
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