Antje Rösener · Hansjörg Federmann
Frische Gedanken für die Lebensmitte
Inhalt
1 „Those were the days . . .!“ oder: Hat man mit vierzig seine Ideale begraben? . . .
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2 Barfuß im Garten oder: Bin ich wirklich schlauer geworden im Umgang mit mir selbst? . . . . . . . . . . . .
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3 Freunde fürs Leben oder: Vom Abstand, der verbindet . . . . . . . . . . . . 29 4 Wozu Religion? oder: Warum Spiritualität als Fast Food nicht zu haben ist . . . . . . . . . . 42 5 „Die Eltern ehren“ oder: Welcher Generationenvertrag gilt heute? . . . . .
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6 Geld macht glücklich! oder: Wofür ich ausgebe, was ich habe . . . . . . . . . 70 7 „Marmor, Stein und Eisen bricht“ oder: Das Geheimnis eines erfolgreichen Ehelebens? . . . . . . . . . . . . . . 83 8 Kinder, Kinder! oder: Wie wir das Leben weitergeben . . . . . . . . . .
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9 Vom Lachs bei IKEA und dem Fremdeln mit Gott oder: Was mir heilig ist . . . . . . . . . 108 10 Wieder zu zweit oder: Warum der Valentinstag gar nicht so dumm ist . . . . . . . 122 11 Zu viel, zu schnell, zu laut! oder: Warum die H채ngematte eine Alternative ist . . 135 12 Humorig 채lter werden oder: Von der ewigen Jugend an der Wursttheke . . . 153 13 Ein richtig tolles Paar! oder: Warum die n채chsten zehn Jahre spannend werden . . . . . 163 Und jetzt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
1 „Those were the days . . .!“ oder: Hat man mit vierzig seine Ideale begraben?
Liebe Antje! Neulich bei einer Tagung passierte mir etwas, was ich zum letzten Mal vor Jahren erlebt hatte. Es war ein warmer Abend und viele saßen nach Ende des Programms noch an Tischen an der Gartenseite des Hauses. Plaudernd, einen guten Roten trinkend. Und in einer Ecke begannen einige zu singen. Donovans „Universal soldier“ wehte herüber und bei Leonard Cohens „So long, Marianne“ setzte ich mich dazu. Und lange nach Mitternacht, als die Runde allmählich kleiner wurde, stimmten wir dieses Lied an, das mir auf der Heimfahrt nicht aus dem Kopf ging: „Those were the days my friend, we thought they’d never end, we’d sing and dance forever and a day. We’d live the life we choose, we’d fight and never lose, for we were 7
young and sure to have our way.“ – Nie endende Tage voller Lachen und Tanzen, ein frei bestimmtes Leben und lohnende Kämpfe für einen guten Weg. Ein Lied, das von Idealisten erzählt, die später das Leben einholt: „Then the busy years went rushing by us, we lost our starry notions on the way“ – „dann überrollten uns die arbeitsreichen Jahre und unterwegs haben wir unsere strahlenden Überzeugungen verloren“. Ist das der Lauf der Welt? Mit zwanzig war auch ich überzeugt, dass man Überzeugungen und Ideale einfach haben muss: Für einen Schuldenerlass in der Dritten Welt, für Gleichberechtigung, für Abrüstung – und wenn einer dagegen war, konnte man immerhin erhitzt mit ihm diskutieren. Heute mit vierzig empfinde ich, dass diese konkreten Überzeugungen an Strahlkraft verloren haben – und es scheint sie auch niemand ernstlich zu vermissen. Vielleicht ist das eine Zeiterscheinung nach dem Ende des ideologischen Ost-West-Gegensatzes. Was „fortschrittlich“ und was „konservativ“ ist, beginnt zu schillern und sich zu vermischen und abzuschleifen. Und doch ist dieser Verlust an Idealen wohl zugleich eine Alterserscheinung. Der italienische Philosoph Benedetto Croce sagt mit einem Anflug von Spott: „Wer vor seinem 30. Lebensjahr niemals Sozialist 8
war, hat kein Herz. Wer nach dem 30. Lebensjahr noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.“ An Stelle der leidenschaftlich vertretenen Überzeugungen und dem Einsatz für Ideale finde ich heute eine Menge anderes, das meine Zeit füllt: Eine kaputte Taschenlampe reparieren, die Kasse des Fördervereins verwalten, aufgeschrammte Kinderknie verarzten und Geschichten vorlesen. Im Gegensatz zu den Idealen, die das Große, das Utopische zum Ziel hatten, liegt hier das Ergebnis auf der Hand. Und die Frage ist offen, ob der selbst gebackene Kuchen für Tante Karin im Altenheim nicht auch ein lohnender Beitrag für mehr Menschlichkeit in der Welt ist. Die Vierziger haben mich pragmatisch gemacht – und offenbar viele Gleichaltrige mit mir. Gut ist das, was funktioniert. Die Bibel ist für pragmatische Vierziger ein Stachel im Fleisch. Die meisten ihrer Bücher handeln von Menschen, die keineswegs mit den Verhältnissen arrangiert haben. Jesus war keiner, der sich um die Auswahl von Blumen für den Vorgarten gekümmert hat – freilich auch keiner, der seine Überzeugungen nur in Worten vertrat. Die Hörer der Bergpredigt erlebten einen leidenschaftlichen Dreißigjährigen und am Ende der Rede heißt es 9
nüchtern: „. . . und das Volk entsetzte sich über seine Lehre.“ Seitdem haben Ausleger darüber gestritten, ob die Bergpredigt ein utopisches Programm ist oder eine realistische Lebensorientierung. Unverkennbar ist, dass sie Letzteres für sich beansprucht: „Wer diese Rede hört und tut, der gleicht einem klugen Menschen, der sein Haus auf Fels baute.“ – Immerhin Wertschätzung für die Sesshaften und Häuslebauer, kein Aufruf, für Gottes große Aufgaben alles stehen und liegen zu lassen. Aber doch ein Programm voller steiler Herausforderungen: Liebt eure Feinde, sorgt nicht um euer Leben, hungert nach Gerechtigkeit . . . Kann die Begegnung mit der Bergpredigt das Feuer der Ideale neu entfachen – und vielleicht sogar mit dem Pragmatismus der Vierziger eine fruchtbare Verbindung eingehen?
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Lieber Hansjörg! Ach, da kommen mir wunderbare Erinnerungen. Weißt du, dass Tönnies – mein Mann – und ich uns das erste Mal nach einer Blockade vor dem Atomkraftwerk in Brokdorf geküsst haben? Erst saßen wir dort gemeinsam mit vielen anderen vor dem Werkstor. Er voller Sorge, dass ich vor seinen Augen von der Polizei weggeschleppt werde. Ich dagegen war die ganze Zeit am Überlegen, wie ich ihn nach der Blockade noch überreden könnte, zu mir zu kommen. Glücklicherweise hatte meine Tante Ami mir armer Studentin am Vortag ein riesiges Fresspaket mit leckerem Kuchen geschickt. Das überzeugte Tönnies sofort. Der Tag nahm einen geschmack- und lustvollen Ausklang. Politik und Eros – wunderbar, wenn beides zusammenkommt. Tja, von daher . . . so pur, rein, uneigennützig und heldenhaft war unser politisches Engagement damals vielleicht auch nicht. Eine gehörige Portion Spaß und Abenteuerlust war auch dabei. Aber du hast natürlich recht, spätestens mit den Kindern ändern sich die Kämpfe: Man kämpft beim Arzt dafür, dass die Kinder nicht bei jedem Hals- und Ohrenweh ein Antibiotikum verschrieben bekommen. Man kämpft dafür, dass sich die Süßen 11
ihre Vokabeln selbst in den Kopf pfeifen. Man kämpft mit dem inneren Schweinehund, wenn man nach einem langen Tag von der Arbeit kommt, eigentlich noch was Vernünftiges kochen sollte und doch wieder nur Wasser für Nudeln aufsetzt. Man kämpft (wenn du mich jetzt nicht bremst, dann setze ich diese Aufzählung seitenlang fort) aber nicht nur mit Bergen von Wäsche, mit Formularen für die Ämter, mit den Leistungsanforderungen der Schule. Da ist die Freundin, die an Krebs erkrankt, der Kollege, der in seiner Ehe nicht mehr ein noch aus weiß, die Nachbarin, die mal eben was geklärt haben will . . .! Ehrlich, reicht das nicht auch??? Deshalb finde ich es einfach nur klasse, wenn es z. B. Menschen im Vorruhestand gibt, die sich in diesem oder jenem Projekt richtig engagieren können oder auch kinderlose Paare. Das ist doch eine super Arbeitsteilung. Irgendwann sind wir vielleicht auch wieder dabei. Ist das wirklich nur Pragmatismus? Ist das wirklich ein Verrat an unseren einstigen Überzeugungen und Idealen? Weißt du, an dieser Stelle habe ich nicht mal Jesus gegenüber ein schlechtes Gewissen. Er hatte eine große Ausstrahlung, er konnte den Menschen glaub12
haft zeigen, wie Gottes Nähe das eigene Leben verändern kann. In seiner Gegenwart blühten die Menschen neu auf. Darüber erzählt die Bibel viele wunderbare Geschichten. Das war seine Aufgabe auf dieser Welt. Er hat sie mit aller Leidenschaft, mit aller Konsequenz erfüllt. Meine Aufgabe ist eine andere und ich hoffe und bete, dass ich die so gut wie möglich erfüllen kann – trotz meiner Macken, Fehler und Schwächen. Denn wie so viele Menschen in meinem Alter gebe ich mein Bestes, oft bis an den Rand der Erschöpfung. (Das war übrigens damals noch nicht so. Da habe ich meist wunderbar durchgeschlafen, während ich heute oft nachts aufwache, weil so vieles vom Tag noch in mir rumort und auf eine Klärung wartet). Nein, so leicht finde ich dieses Leben nicht, und auch nicht diese mittleren Lebensjahre, lieber Hansjörg. Vielleicht legst du die Latte etwas hoch? Welchen Maßstab willst du erfüllen, meinst du erfüllen zu müssen?
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Eine gute Frage. Bei den leidenschaftlich geführten Debatten der Jugendzeit habe ich ja längst durchschaut, dass manche Ideale eher Kopfgeburten waren, die sich zwar prima diskutieren ließen, aber letztlich für uns ohne praktische Auswirkungen blieben. Dennoch spüre ich, dass der christliche Glaube (wie jede Religion) eine ethische Grundrichtung angibt, die gut für unser Leben ist, eine Grundrichtung, der sich zu folgen lohnt, weil wir damit im Einklang mit Gottes Wirken sind und etwas von dem verwirklichen, was letztendlich zählt. Da ist dieses schöne Bild vom Schätzesammeln in der Bergpredigt: Sammelt euch keine Schätze auf Erden, wo sie verrosten und von Motten gefressen werden – sammelt euch himmlische Schätze, die weder Rost noch Motten fressen können. Ich wünsche mir eine Orientierung, die mir hilft, dem Wertvollen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Gerade in einer Lebenssituation, die mich oft von einer Aufgabe zur nächsten treibt, ohne dass viel Zeit ist, nach dem Sinn zu fragen. Wenn ich mir die Bergpredigt anschaue, fällt mir auf, wie „geerdet“ die Lebensanweisungen sind, die Jesus gibt. Nicht die Zustimmung zu hohen Wahrheiten oder Prinzipien ist entscheidend, sondern immer das, was zwischen meinen Mitmenschen und mir 14
passiert. Früher habe ich mich oft daran gestoßen, was Jesus da für radikale Forderungen aufstellt: Sag nie „du Depp“ zu deinem Mitmenschen – sonst Höllenstrafe. Schau nie einer anderen Frau nach – sonst besser Auge ausreißen. Heute, mit der Erfahrung, dass sich das Leben eben doch vor allem in den Niederungen des Alltags und nicht in den Höhen kühner Ideologien abspielt, finde ich allmählich einen neuen Zugang zu diesen Aussagen. Nein, keine Angst, ich reiße mir jetzt nicht das Auge heraus. Aber ich nehme die Drohungen mal als dramatisches Element, mit dem Jesus die Spannung erhöht und sehe in der Sache: Er hat recht! Das sind die kleinen Dinge, die darüber entscheiden, ob unser Leben himmlisch oder höllisch wird: Dass ich meinen Kollegen nicht zum Deppen mache, dass ich – bei aller Sympathie für die Reize anderer – darauf achte, die Liebe zu meiner Frau zu pflegen, dass ich ehrlich mit meinen Mitmenschen umgehe und auch im Gegner, in dem, der mir ein Bein stellt, noch einen sehen kann, der Achtung verdient. Ich glaube, dass hier für die wichtigsten Lebenslagen auf den Punkt gebracht wird, welches Verhalten sich langfristig lohnt – und zu einem himmlischen Schatz wird. Vielleicht ist ja gerade die Freude der Tante im Altenheim über den 15
Kuchen, der Trost des Kindes mit dem frisch bepflasterten Knie oder das Nudelgericht am Abend, das du deiner Müdigkeit abgerungen hast, ein solcher Schatz –, weil all das aus dem Wunsch geschieht, unseren Mitmenschen Gutes zu tun. Nicht nur den Fernsten, sondern auch den Nächsten. Das ist jetzt nicht gerade das Ideal in „großen Scheinen“ –, aber vielleicht in stetig gezahlten kleinen Münzen. Was hältst du von solchen „Alltagsidealen“?
Lieber Hansjörg, vor Kurzem habe ich mit anderen auf einem Seminar einen Film gesehen: „Mein Leben ohne mich.“ Eine 23-jährige Mutter, die mit ihrem Freund und zwei kleinen Kindern in einer Art Campinghütte lebt. Beide versuchen die Familie mit Gelegenheitsjobs zu ernähren und kämpfen sich so miteinander durch die Alltagsmühlen. Oft sehr liebevoll, manchmal am Rand der Verzweiflung. Dann bekommt sie die Diagnose, dass sie nur noch ein paar Monate zu leben hat. Völlig aufgewühlt zieht sie sich in ein Fast-FoodRestaurant zurück: „Ich brauche einen Ort, um nachzudenken.“ 16
Sie entschließt sich, niemandem etwas zu sagen, um keine wertvolle Zeit bei den Ärzten zu verlieren. Dann macht sie eine Liste mit den Dingen, die sie noch erleben will. – Ihren Kindern jeden Tag sagen, dass sie sie lieb hat. – Ihren Kindern bis zum 18. Geburtstag gute Wünsche auf ein Tonband sprechen. – Eine neue Mutter für ihre Kinder finden und eine Gefährtin für ihren Freund . . .! – Mit einem anderen Mann schlafen, um zu wissen, wie das ist! – Noch mal erleben, dass sich ein anderer in sie verliebt! – Ihren Vater im Gefängnis besuchen. Und so weiter, es sind in etwa zehn Dinge und viele davon kann sie tatsächlich noch in die Tat umsetzen. Der Film ging ganz schön an die Nieren. (Ich habe wieder mal viele Tränen vergossen . . . und es tat gut!) Danach haben wir nicht geredet, niemand. So war es verabredet worden. Wir haben schweigend miteinander Mittag gegessen und dann noch drei weitere Stunden geschwiegen. 17
Jeder und jede war mit seinen Gedanken für sich alleine. Da ging mir so viel durch den Kopf. Worauf kommt es mir an im Angesicht des Todes? Woran werde ich mich erinnern, wenn ich eines Tages weiß, dass meine Tage gezählt sind? Was wird mir dann etwas bedeuten? Was für Prioritäten setze ich deshalb schon heute? In der Bibel, in Psalm 90 gibt es ja diesen schönschwierigen Satz, der auf vielen Beerdigungen gesprochen wird: „Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden!“ Wenn man bedenkt, dass dieser Satz vielleicht 3000 Jahre alt ist, muss man sagen: Der ist wirklich klug und im Leben von jedem Menschen immer wieder aktuell. Natürlich ist die Situation in dem Film eine künstliche, aber diese Frage: Worauf kommt es mir an? Wofür gebe ich – angesichts des Todes – meine Lebenskraft, meine Lebenszeit und auch mein Geld??? Die ist verdammt wichtig. Die eigenen Ideale geben Orientierung, auch die Hilfen, die uns die Bibel gibt. Das hast du ja beschrieben. Aber das habe ich an diesem Film wieder mal vor Augen geführt bekommen: Das Leben ist manchmal 18
ganz anders. Es gibt so viele unberechenbare Situationen, wo jeder Mensch neu schauen muss, wie er einem Satz der Bibel gerecht werden kann oder eben auch seinem eigenen Ideal. Ich konnte die junge Frau zum Beispiel so gut verstehen, dass sie noch mal einen anderen Mann genießen wollte . . .! Auf einmal war dieser Wunsch da, angesichts ihres nahen Todes in so jungen Jahren. Diese Situation hat der Schreiber des Evangeliums damals gewiss nicht im Auge gehabt, als er niederschrieb, dass die Männer anderen Frauen nicht hinterherschauen sollen. Von daher . . . vielleicht ist das auch eine Frucht dieser Zeit in der Lebensmitte: Man hat erlebt, dass man hinter seinen eigenen Idealen zurückbleibt. Man hat erlebt, dass das Leben manchmal verwickelter, überraschender, schwieriger ist, als man mit zwanzig dachte. Man hat in Situationen gestanden, in denen es keine astreinen Lösungen gab, sondern Kompromisse zu schließen waren. Man ist milder geworden, mit sich selbst und anderen. Trotz all dem spürt man – vielleicht auch angesichts der inzwischen überschaubar gewordenen Lebenszeit – dass man sich nicht einfach treiben lassen sollte. Es werden immer wieder Wegkreuzungen 19
kommen, wo ich Entscheidungen treffen kann. Nehme ich diesen Weg oder jenen? Gut war, dass der Film das so deutlich machte: „Mensch, ihr könnt Prioritäten setzen, ihr könnt euch für A oder B entscheiden. Also denkt nach, überlegt, was für Wünsche und Ideale ihr habt, welche Verantwortung euch aufgetragen ist und dann: Schaut, wie es weitergehen kann. Gestaltet eure Zeit.“
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