Andi Weiss
Inseltage Eine kleine Geschichte vom Gl端ck, das Leben neu zu begreifen
Wie oft sind es erst die Ruinen, die den Blick freigeben auf den Himmel. Viktor E. Frankl
Inhalt Angespült . . . . . . . . . . . . . . . . . Khalil, der Inseleremit . . . . . . . . . . Gefangen auf der Scheiterinsel . . . . . Die Legende vom Schattenschatz . . . . Gut und Böse . . . . . . . . . . . . . . . Gesetz ist Gesetz . . . . . . . . . . . . . Das wichtigste Gesetz . . . . . . . . . . Richtig auf dem falschen Weg . . . . . Das Geschenk . . . . . . . . . . . . . . Poloko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie ich vergaß, mich zu erinnern . . . Das kostet Mut . . . . . . . . . . . . . . . Der Vergebungsfelsen . . . . . . . . . . Lüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neid trägt kein schönes Kleid . . . . . . Die Gabe der Unterscheidung . . . . . Khalils Wanderstab soll mich erinnern Ein Blick zurück . . . . . . . . . . . . . Abschied . . . . . . . . . . . . . . . . . Vita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Angespült
I
ch versuchte meine Augen zu öffnen, fühlte mich aber viel zu schwach. Mein Herz tobte – es raste – wollte irgendein Rennen gewinnen, eine Schlacht schlagen, ein Ziel erreichen. Gut, von mir aus! Darauf wollte ich mich gerne einlassen. Ich war ein Kämpfer! Ich war es gewohnt, mir selbst hohe Ziele zu stecken – und sie auch zu erreichen. Aber welche Aufgabe wurde mir hier gerade gestellt? Welches Spiel spielte das Schicksal mit mir? Ich kannte weder den Weg noch das Ziel. Wusste nichts, rein gar nichts. Lebte ich überhaupt noch? Wo war ich? Ich lag, irgendwo, konnte mich nicht bewegen, versuchte mich aufzurichten – erfolglos. Dieses Gefühl, nichts mehr tun zu können, aber zugleich auch nichts mehr leisten zu müssen, machte mir Angst – doch im selben Moment schmeckte dieser Zustand befreiend, entlastend, Ohnmacht und Erlösung zugleich, wie das Nirwana im Nirgendwo – einfach nur leicht. Und dann war alles wieder Nacht. Rabenschwarze Nacht. Irgendwann wurde ich wieder wach – musste wohl Stunden geschlafen haben. Ich spürte die warme Sonne nicht mehr auf meiner Haut. Alles schmerzte. Die Sonne hatte 9
meinen Körper verbrannt, das Salzwasser biss in den offenen Wunden. Mein einziger Wunsch: ein Königreich für eine Süßwasserdusche! Jetzt, sofort! Oder noch lieber: sterben! „Gott, wenn es dich gibt . . .“ – ich kannte diese Worte aus kitschig-amerikanischen Filmen. Dann, wenn die Situation aussichtslos schien, dann, wenn der Drehbuchautor keinen Ausweg mehr sah. Dann, ja dann fingen die Menschen an, auf das große Wunder zu hoffen. Dann wurde die Variable X ins Spiel gebracht, die Notbremse gezogen, der Feuerlöscher von der Wand gerissen. „Gott, wenn es dich gibt . . .“, stammelte ich und war selbst überrascht, diese Worte zu sprechen. Ich spürte keinen Lebenshunger mehr. Ich konnte nicht mehr, hatte keinen Drang, keine Energie, kein Verlangen mehr. „. . . wenn es dich gibt . . . dann . . . dann lass mich endlich sterben. Erlöse mich!“ Dumpfe Geräusche drangen an mein Ohr. Es zischte und knackte. Rauch stieg in meine Nase. Brannte da ein Feuer? Ich versuchte meine Augen zu öffnen, war aber viel zu schwach, um meinem Körper Befehle zu erteilen. Ich lauschte . . . War da noch jemand? Da war doch noch jemand! Aber wer? „Konzentrier dich! Streng dich an!“, befahl ich mir wortlos. Ich kramte in den hintersten Regionen meiner ausgelaugten Synapsen, wollte mich erinnern, suchte Bilder und Zusammenhänge. Doch da war nichts. Nur Leere. Geschmacklose, dunkle, kalte Leere. 10
Wenn ich mich wenigstens an meinen Namen erinnern könnte. Leon? Nein, Leon hieß ich nicht. Oder doch? Wie kam ich denn auf Leon? Doch, doch: Leon. Ich war mir da ganz sicher. Langsam kamen Bilder, die sich in meinem Gehirn wirr aneinanderreihten. Mein Zuhause. Meine Frau. Meine Kinder. Mein Chef. Mein Büro. Mein Boot. Halt, mein Boot! Wo war mein Boot? Ich wurde panisch, versuchte zu schreien – aber aus meiner trockenen Kehle kam nur ein leises Stöhnen. Ich wollte mich zur Seite rollen, wollte mich aufrichten, irgendwie bewegen – aber mein Körper gehorchte mir nicht. Wie bei einem langweiligen Diavortrag schoben sich langsam verschwommene, unvollständige Bilder vor mein inneres Auge und erzählten mir schemenhaft die Geschehnisse der vergangenen Tage. Mein Boot. Ich hatte es für mich bauen lassen. Heimlich. Es hatte mich eine Menge Geld gekostet. Dann kam der Tag, an dem mein Verlangen zu fliehen über die Vernunft siegte. Ich wollte weg. Möglichst weit weg. Wollte fliehen – so wie jetzt auch. Aber ich konnte mich nicht bewegen! Mein ganzer Körper war wie gelähmt. Verzweifelt versuchte ich um Hilfe zu schreien, irgendwie musste ich mich doch bemerkbar machen! „Trink!“ Was war das? Dieses Geräusch klang anders als das Knacken des Feuers. „Trink!“ Wieder hörte ich den gleichen, rauen Ton. Jemand, etwas – stieß mich an. Mehrmals. 11
PlĂśtzlich floss kaltes Wasser Ăźber meine ausgetrockneten Lippen. Und wieder wurde es tiefe, rabenschwarze Nacht um mich herum.
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