Sema Meray
Die Geschichte einer groĂ&#x;en Liebe
Immer wieder, ob wir der Liebe Landschaft auch kennen und den kleinen Kirchhof mit seinen klagenden Namen und die furchtbar verschweigende Schlucht, in welcher die anderen enden: immer wieder gehn wir zu zweien hinaus unter die alten B채ume, lagern uns immer wieder zwischen die Blumen, gegen체ber dem Himmel. Rainer Maria Rilke
Die junge Frau, die am Ufer stand, fiel niemandem sonderlich auf. Die Stadt war im Sommer voller Touristen und so spazierten viele Menschen um diese Tageszeit auf der Uferpromenade entlang. Familien mit Kindern, die in der Hitze ein Eis schleckten oder Fahrrad fuhren, zogen an der Frau vorüber. Gedankenversunken blickte sie auf den Fluss. „Der mächtige Vater Rhein“, so nannten ihn die Kölner, die Einwohner der Stadt, in der sie groß geworden war. Sanft zogen die leichten Wellen des Wassers flussabwärts. Doch der Fluss war nicht so friedlich, wie es auf den ersten Blick schien. Schaute man genau hin, konnte man die kleinen strudelnden Kreise genau sehen, hinter denen sich die Strömungen verbargen und eine lauernde Gefahr darstellten. Sie hatten schon so manchen Menschen in den Tod gezogen. Auch in der Frau, die so friedlich wirkte, während sie auf den Fluss sah, brodelte es wie eine Strömung, fast nicht erkennbar. Einzig ihre rechte Hand, die etwas fest umklammert hielt, hätte einem aufmerksamen Beobachter Aufschluss über ihren Seelenzustand geben können. Das Weiß ihrer Fingerknöchel trat deutlich hervor, während sie verkrampft etwas mit ihrer Hand umschloss. Sie 5
nahm die Geräusche um sie herum nicht wahr, weder das Lachen noch das laute Reden der Spaziergänger. Hie und da ein weinerliches Kind, das seinen Willen nicht bekam. Dazu die konsequenten Ermahnungen der dazugehörigen Eltern, denen man die Strenge nicht abnahm. Gleich würden sie weich werden und dem Kind seinen Willen lassen, um endlich Ruhe zu haben. Dieser heiße Sonntag verleitete die Menschen zu Gelassenheit und guter Laune. Die junge Frau wirkte auf den ersten Blick wie eine von ihnen. Niemand ahnte, was in ihr vorging. Bilder gingen ihr durch den Kopf, Bilder, denen sie nicht Einhalt gebieten konnte. Wie in einem zu schnell abgespulten Film. Fast hatte sie vergessen, wer sie war, wie sie hieß. Gestern hatte alles in ihr aufgehört zu leben. Sie war zwar an diesem Morgen aufgestanden wie an jedem anderen Morgen, doch hatte sie nichts mehr gespürt. Eigenartig, dachte sie, wie der Körper in der Lage ist, nach außen hin alles so erscheinen zu lassen, als ob nichts wäre. So leicht konnte die Außenwelt betrogen werden. Nur nicht sie selbst. Sich selbst konnte sie nicht betrügen. Sie spürte ihr Herz schlagen, also lebte sie. Merkwürdig, sie hatte immer gedacht, es würde aufhören zu schlagen, wenn das Fühlen aufhörte. Todesursache: ein gebrochenes Herz. Was für eine pathetische Diagnose. „Lara, das würde irgendwie zu deinem Leben und Sterben passen“, sprach sie halblaut zu sich selbst. Dann spürte sie wieder den harten Gegenstand in ihrer Hand. Nein, tot war sie nicht, aber jeder Schlag ihres Herzens versetzte ihr einen stechenden Schmerz. 6
Auch ihre Hand schmerzte. Sie merkte, wie fest sie den Gegenstand in ihrer Hand hielt. Und sie erinnerte sich, warum sie heute an den Fluss gekommen war. Langsam hob sie die Hand über das Geländer an der Uferböschung. Durch diese Bewegung entspannte sich ihre Faust sofort. Gerade als sich ihre Finger lockerten und sie im Begriff war, den Inhalt in weitem Bogen in die Fluten zu schleudern, vernahm sie eindringlich das Läuten von Kirchenglocken. Hell und durchdringend. Lara kam es so vor, als würden sie ihre Aufmerksamkeit erzwingen wollen. Sie schloss unschlüssig die Augen und atmete tief durch. Langsam wandte sie sich um und sah gegenüber auf der anderen Straßenseite den rosa gestrichenen Kirchturm von St. Maria Lyskirchen hinter den Bäumen hervorragen. Lara kannte diese Kirche in- und auswendig. Die wunderschönen Tonnengewölbe, über deren restaurierte Ausmalung sie im Studium ein Referat hatte halten müssen, hatten sie dieser Kirche nähergebracht. Obwohl es in Köln unzählige romanische Kirchen gab, viele älter und mit Sicherheit architektonisch aufwendiger, war diese zierliche kleine Schifferkirche Lara ans Herz gewachsen. In prachtvollen Farben wurde im Inneren die Legende des Heiligen Nikolaus erzählt. Oft hatte Lara dort eine Kerze angezündet. Ohne den Blick von der Kirche zu wenden, setzte sie sich in Bewegung und ging darauf zu, bis sie von einem lauten Hupen aufgeschreckt stehen blieb. Sie befand sich mitten auf der Rheinuferstraße und sah den wütenden Fahrer des Wagens, der kurz vor ihr zum Stehen gekommen war, heftig 7
gestikulieren. Jetzt erst wurde ihr klar, dass sie es seiner schnellen Reaktion zu verdanken hatte, dass sie hier noch unversehrt stand. Sie hätte tot sein können. Gestern noch hatte sie diese Vorstellung herbeigesehnt. Der Fahrer kurbelte das Autofenster herunter. „Junge Frau, ich rede mit Ihnen!“ Wie durch einen Nebel drang die aufgebrachte Stimme des Mannes an Laras Ohr. „Sie sind bei Rot gegangen“, machte der Mann ihr unmissverständlich klar. Lara sah ihn entschuldigend an. „Bitte, es tut mir so leid . . . Ich war in Gedanken . . .“ Sie merkte schon beim Versuch eines Lächelns, dass es ihr nicht gelingen wollte. „Das Denken sollten Sie den Pferden überlassen“, kam prompt die Antwort. Lara sah dem Mann die Erleichterung darüber an, dass nichts Schlimmeres passiert war. Als ihre Blicke sich kreuzten, fühlte er sich augenscheinlich ertappt, denn prompt fiel er wieder in seinen vorwurfsvollen, schnodderigen Ton zurück. „Jetzt gehen Sie endlich rüber, Sie halten ja den Verkehr auf . . . und ich warte, bis Sie drüben sind, sonst laufen Sie wieder jemandem vor . . . Nein, nein, so ’n hübsches Mädchen wie Sie, und dann so was!“ Lara eilte dankbar an dem kopfschüttelnden Mann vorüber auf die andere Straßenseite. Der Fahrer des Wagens war aufgeregter gewesen als sie selbst, obwohl ihm bei einem Zusammenprall wahrscheinlich nichts passiert wäre. Sie hingegen hätte in diesem Moment sterben können. Lara malte sich aus, wie wohl ihre Familie und 8
ihre Freunde darauf reagiert hätten. Bestimmt hätten sie wunderbare Dinge über sie als Mensch gesagt. Ihr war durchaus bewusst, dass sie bei ihren Lieben eine Lücke hinterlassen würde. Dabei fiel ihr ein, dass sie nie darüber nachgedacht hatte, wie sie im Fall ihres Todes bestattet werden wollte. Vor einigen Jahren war sie aus Überzeugung Christin geworden. In ihrem Elternhaus war es sehr liberal zugegangen, ihr Vater war schon in jungen Jahren aus der Kirche ausgetreten, ihre Mutter protestantisch, doch ohne es wirklich zu leben. So wurde auch sie nicht im Glauben erzogen. Doch oftmals hatte sie bei einigen ihrer christlichen Freundinnen eine Stärke gespürt, die sie bei sich nicht entdecken konnte. Erst später, im Erwachsenenalter, hatten sich viele Glaubensfragen für sie geklärt – aber über die letzten Dinge, über Tod und Sterben, hatte sie sich noch nie wirklich Gedanken gemacht. Sie wünschte sich nur, dass später keiner um sie trauern sollte, sondern frohen Mutes war beim Gedanken an sie. Einen Moment stockte ihr der Atem. Würde er kommen, wenn er von ihrem Tod erfuhr? Wie sähe seine Reaktion aus? Würde er weinen oder still und stumm trauern? In den schönsten Liebesfilmen wollte der Held seine Liebste immer unbedingt noch einmal sehen, bevor er starb. Um zu ihr zu gelangen, überwand er meist alle Widrigkeiten und Hindernisse. Selbst im Tod wollten sich die Liebenden noch einmal in den Armen halten, sich noch einmal küssen. Einen letzten kalten Kuss, und Schluss. 9
Ihr war klar, dass gerade ihre Fantasie mit ihr durchging. Die traurige Wahrheit war, dass er jeden Kuss hätte haben können, doch er hatte sich anders entschieden. Sie spürte noch seine Umarmung, den Geruch seiner Haut, den warmen Druck seiner Lippen. Wahrscheinlich würde sie bis ans Lebensende diese Empfindung haben, wenn sie an ihn dachte. Lara stand nun direkt vor der Kirche und sah an ihr hinauf. Der Kirchturm, den sie sonst oft wegen seiner grazilen Proportion bewundert hatte, thronte heute mächtig über ihr. Dass am Ende alles in Gottes Hand lag, davon war sie überzeugt. Aber es fiel ihr im Moment schwer, sich mit den Entwicklungen der letzten Tage abzufinden. Deshalb vielleicht auch ihre seltsamen Gedanken über das Ende. Sie wollte leben, aber der Schmerz über den Verlust, das Ende ihrer Träume war so entsetzlich groß. Entschlossen lief sie um das Gebäude herum und ging die drei Stufen zum Portal hinauf. Nachdem sie die Kirche betreten hatte, fiel die schwere Holztür hinter ihr ins Schloss und ließ den Straßenlärm sofort verstummen. Im Inneren empfing Lara eine wohltuende Kühle. Flüchtig sah sie sich um und stellte fest, dass die Decke immer noch unverändert war. Nur Teilflächen der Ausmalung waren restauriert; der weitaus größte Teil wurde durch einen einfachen weißen Anstrich ergänzt. Sie war heute Morgen allein hier. Die flackernden Schatten der Kerzen waren die einzige Bewegung, derer sie gewahr wurde. Der Kerzenaltar befand sich direkt neben dem Eingang auf der rechten Seite. Er stand vor der soge10
nannten „Schiffermadonna“. Die Muttergottesfigur mit dem Jesuskind auf dem Arm lächelte überlebensgroß auf Lara herab. Lara starrte sie an und merkte nicht, wie ihr die Tränen die Wangen hinunterrollten. Was hatte der Engel in der Bibel zu Maria gesagt? Kaum hörbar sprach sie die Worte, die sie schon so oft gebetet hatte: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen . . .“ Lara spürte den salzigen Geschmack auf ihren Lippen. Energisch wischte sie mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen, ohne den Blick von der Madonna zu wenden. Schließlich griff sie in ihre Handtasche und kramte so lange darin, bis sie einen Fünfeuroschein gefunden hatte. Sie rollte den Schein mit einer Hand zusammen und steckte ihn in die Kerzenbox. Nun nahm sie ein Teelicht und wollte es vorsichtig an einer der brennenden Kerzen entzünden. Da sie es zum Anzünden schräg halten musste und das Wachs sofort auf die brennende Kerze tropfte, gelang es ihr erst beim zweiten Versuch. Lara sah wie hypnotisiert auf das Kerzenlicht. Sie fühlte sich schon sehr lange in Kirchen ungemein wohl. Auf unerklärliche Weise zog es sie zu ihnen hin, wenn sie in anderen Städten und auch anderen Ländern unterwegs war. Doch heute war sie voller Zweifel. Es war erst einige Wochen her, dass sie voller Liebe und Zuversicht das letzte Mal eine Kerze gespendet hatte. Für ihre Liebe. In vollem Vertrauen auf Gottes Segen. Wieso auch nicht, es war ja etwas Wunderbares, wenn sich zwei Menschen in Liebe fanden. Wurde das nicht immer in der Kirche gepredigt – die Liebe zueinander als 11
ein hohes Gut vor sich herzutragen? Genau das hatte sie gespürt, als sie Maximilian das erste Mal begegnet war. Nie würde sie den sonnigen Tag im Garten einer Bekannten vergessen, die zu einem sommerlichen Beisammensein eingeladen hatte. Lara kannte einige der Anwesenden und unterhielt sich gerade angeregt über das Ahrtal und seine faszinierende Landschaft, als er erschien. Er kam zusammen mit seiner jüngsten Tochter, die gerade achtzehn geworden war. Das Erste, was ihr auffiel, war sein umwerfendes Lächeln. Es brachte ihr Herz aus dem Takt. Sie war so irritiert von seiner imposanten Erscheinung, dass sie seinen Namen nicht verstand. Auf jeden Fall schaffte er es, sie sofort in seinen Bann zu ziehen. Es kam selten vor, dass Lara sprachlos war, doch was in diesem Moment geschah, konnte sie nicht einordnen. Sie brauchte einige Minuten, um ihre Fassung wiederzuerlangen. Erst dachte sie, es sei Einbildung, dass er ununterbrochen zu ihr sah, doch als sich ihre Blicke kreuzten, sah sie sich bestätigt. Ihr Herz schlug laut und unregelmäßig. Lara glaubte, rot anzulaufen, so sehr fühlte sie sich ertappt. Keiner der anderen Gäste am Tisch schien etwas bemerkt zu haben, dabei war doch gerade die Welt aus den Fugen geraten, dachte Lara, ihre Welt, korrigierte sie sich in Gedanken und musste lächeln. Offenbar hatte der Fremde ihr Lächeln auf sich bezogen, denn er erwiderte es mit einem umwerfenden Lächeln. Jetzt kam er auf ihren Tisch zu, gefolgt von seiner Tochter. 12