/Elisabeth Eberle //
//Jochen /Elisabeth Eberle //
Klepper / //Jochen Licht in Klepper / dunkler Licht in Nacht // dunkler Eine Romanbiografie Nacht// Eine Romanbiografie
Zwei deutschen Pfarrhäusern gewidmet Gabriele und Dr. Karl-Ludwig Hoch, Dresden Barbara und Ernst Eyrich, Wain
„Die Weitherzigen richteten nicht“ Eva-Juliane Meschke
// Inhalt / Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1913 / 1922 / 1925 / 1927 / 1929 / 1930 / 1931 / 1932 / 1933 / 1934 / 1935 / 1937 / 1938 / 1939 / 1940 / 1941 / 1942 /
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Schlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Wolkenschafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Johanneum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Überall Stoff für Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Der Herr mit dem Hut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Vorsichtige Bande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Jetzt habe ich Dich und Du mich . . . . . . . . . . . . . . . 49 Berlin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 „Du darfst Deinen Namen behalten“ . . . . . . . . . . . . 57 Jahreswende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Wem kann man noch glauben? . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Dem König ins Herz geblickt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Zusammenhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Zufluchtsorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Auf der Suche nach Auswegen . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Kriegstage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Dreifaches Ende. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 70 Jahre später . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
// Prolog /
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ochen Klepper. Nenne ich seinen Namen, begegnet mir Unterschiedliches. Nie gehört, sagen die einen während bei anderen die Augen leuchten und einige sogar sofort eine Liedstrophe oder eine Gedichtzeile parat haben. Marbach am Neckar. Ein goldener Spätsommertag, den ich im Deutschen Literaturarchiv verbringe. Wir sitzen draußen, sie und ich, tauchen auf, für eine knappe Stunde, holen Luft. Kaffee und heiße Schokolade, zwei Zigaretten, in Ermanglung eines Pausenbrotes. Diese Pause wird lang. Sie, das ist mein Gegenüber, unten in der Schillerhöhe, im Arbeitsraum der Handschriftenabteilung. Nachdem wir uns tagelang über den Schreibtisch weg Ausdauer zugelächelt haben, verabreden wir uns für die Mittagszeit. „Du schreibst über Klepper“, sagt sie. Damit habe ich nicht gerechnet. Eine junge Frau, sie stammt nicht aus Kirchenkreisen, geschweige denn aus protestantischen, erklärt sie mir. Wir kommen ins Gespräch. Sie arbeitet für ihre Dissertation, es geht um einen Schriftsteller, der, wie Klepper, der Inneren Emigration zugeordnet wird. Diesen Begriff erfand kein Geringerer als Thomas Mann. Er, der 1933 Deutschland verließ‚ bis 1952 in den USA und die letzten drei Jahre seines Lebens in der Schweiz lebte. Das Leben im Exil war auch nicht einfach, viele litten unter der Entwurzelung, hatten Besitz und Auskommen den Nazis zurücklassen müssen. Die Erfolge blieben aus oder verringerten sich so, dass sie um das finanzielle Überleben kämpften, manche verarmten, verzweifelten, einige wählten den Freitod. Eine der Ausnahmen blieb Thomas Mann. Warum aber blieb Jochen Klepper, mit Frau und Kind, beide Juden, in Deutschland? Natürlich tauschen auch wir uns über diese Frage aus. Man kann ihr nicht ausweichen. Warum versuchte Klepper zurechtzukommen, hoffte, wartete, bis es nicht mehr ging? Für unser heutiges Denken kaum vorstellbar. Mit dem Wissen der Nachgeborenen sowieso, ganz zu schweigen davon, dass wir in Flugzeuge steigen wie in Autos, um mal 6/
eben für zwei Jahre in Amerika und anschließend für drei in Shanghai zu leben. War nicht damals allen klar, wie die Lage in Deutschland war, was mit den Juden und allen Andersdenkenden geschah? War es klar? Wirklich klar? „Ja“, sagen die einen, „nein“ die anderen. Wir wissen viel und doch nicht alles. Zugegeben. Es trifft mich, dass Jochen Klepper sich das Leben genommen hat, zusammen mit Johanna und Renate, Johannas Tochter. Es trifft mich, dass er nicht emigrierte, nicht allen Mut zusammennahm und es wenigstens versuchte, auch wenn er nicht wissen konnte, wie es ausgehen würde, in Frankreich, England oder sonst wo. Es trifft mich, dass er gegen den Wind hoffte. Ich schüttle den Kopf, nicht nur bei einem Eintrag seines Tagebuches, und fühle fünfzehn Fragezeichen, und es drängt mich zu Erklärungen, und ich will ihn einfach in Schutz nehmen und seine kleine Familie. Manchmal bin ich auch wütend, hätte ihm und seiner Frau am liebsten: „Geht doch endlich!“ zugerufen. „Warum denkt ihr, dass ihr es schaffen könnt, Haus, Beruf und Leben zu retten, davonzukommen?“ Auch darüber reden wir, meine Mitstreiterin im Archiv und ich. Viel hätte ich darum gegeben, Renate Stein kennengelernt zu haben, diese Fröhliche, mit der man sich bestimmt auch als alte Frau noch gut verstanden hätte. Und was hätte ich Jochen Klepper gerne noch gefragt, und Hanni. Die ungelösten Fragen des Lebens schmecken uns nicht. Aber sie halten uns wach, sensibilisieren uns, lehren uns, dass wir nicht alles bewerkstelligen können. Sie machen uns gnädig und demütig. Auch wenn das altmodisch klingt, überholt oder pastoral oder fromm. Auch wir machen Fehler, grobe Schnitzer und wiederholen die Fehler derer, die vor uns waren. Wir sind ratlos, verzweifelt und hinterher klüger. Zumindest manchmal. Wir lernen aus den Erfahrungen der anderen und machen neue. Nie dagewesene. Über Jochen Klepper ist viel geschrieben worden. Zeitgenossen skizzieren ihn, Freunde, Familienmitglieder, Wissenschaftler, Theologen, Titelträger, kluge Menschen. Es gibt viele hervorragende Texte, unterschiedliche Aspekte, interessante Darstellungen. 7/
Auch Jochen Klepper selbst hat viel geschrieben, uns viel hinterlassen. Unter anderem ein Tagebuch der Jahre 1933 bis 1942. Seine Schwester hat es später herausgegeben, eine erste Edition erschien 1956, dreizehn Jahre nach seinem Tod. Das Tagebuch gestattet Einblicke in sein Denken, seine Ängste, seine Zweifel, seine Fragen, seine Enttäuschungen und seinen Ärger. Auch in sein Glück, sein Hoffen, seine Freuden, seinen Humor. Seine Fähigkeit, in vollen Zügen das Leben zu genießen. Er schreibt in der Weite des Herzens, voll Vertrauen, voll Hingabe und Zartheit. Über seinen Willen, sich zu fügen, in Gott und dessen Hand. Trotz allem hat er nie aufgehört zu glauben. Und er hält Gott seine Hand hin – mal leer, mal gefüllt. In seinen Büchern, seinen Notizen, seinen Briefen, seinen Liedern und Gedichten ist Jochen Klepper mir wieder und wieder begegnet. Dieses Buch soll sein Leben spiegeln, nutzt intensiv die vorhandenen Quellen, um ein möglichst genaues Bild zu zeichnen, bleibt aber in manchen Szenen Fiktion. Passagen aus Jochen Kleppers Tagebuch „Unter dem Schatten seiner Flügel“ verbinden sich an mehreren Stellen in diesem Buch mit meinen eigenen Betrachtungen zu neuen Bildern. Sie sollen sich als Leser mit Jochen Klepper freuen können, mit ihm lachen und weinen – zumindest die Trauer aushalten, das ist schon viel, heutzutage. Oder mit ihm triumphieren, was er zuwege brachte und sich fragen, warum das andere nicht – sein Ringen fühlen. Auch das ist ein altmodisches Wort wie Gnade und Demut. Bewusst habe ich diese Worte gewählt. In ihnen liegt Kraft. Ich liebe diese Sprache, sie ist mir vertraut, weil ich noch mit ihr aufgewachsen bin und für manche Dinge, scheint es mir, gibt es keine schönere. Mögen Sprache und Lebensgefühl eines schlesischen Pfarrhauses aus der Zeit um 1900 und dem, was davon noch übrig blieb, für uns heute auch Welten zurückliegen, allein ihre Spur aufzunehmen lohnt sich. Elisabeth Eberle 8/
Alle Grenzen meiner Tage Biege Gott in Deinen Kreis, dass ich nur noch Worte sage, die ich von Dir kommen weiĂ&#x;! Jochen Klepper Vorspruch zu einem Buch1
1 Klepper, Jochen: Ziel der Zeit, S. 8
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// 1913 / Schlesien //
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ie Krone hing schief. Die ganze Zeit schon. Der Text saß. Den zu vergessen wäre einer wirklichen Niederlage gleichgekommen. Gelänge es, im Lot zu bleiben, würde vielleicht auch der Kopfschmuck zu halten sein – und auf seine Ohren konnte er zählen:
Wir sind in Gottes Händen, nicht in ihren Marschiert zur Brücke; jetzo naht die Nacht Jenseits der Brücke wollen wir uns lagern Und morgen weiter fort sie heißen ziehn2 Jochen genoss den Beifall. Als die Krone endgültig zu Boden ging, störte es ihn nicht3. Für zehnjährige Gelegenheitskönige war dies keine Katastrophe, zudem war es die letzte Verbeugung, bevor der Vorhang fiel. Das heißt, Hildegard4 und Erhard5 purzelten lachend und kreischend von ihren Stühlen. Mit ihnen die schwarzen Stoffbahnen, die sie gerade lange genug hatten halten können, bis der Bruder dahinter verschwunden und somit alle gespannte Aufmerksamkeit in Beifall und Stimme des Publikums versunken war. „In zehn Minuten zu Tisch bitte, verehrte Damen und Herren!“ Georg Klepper hatte sich selbst und seine Stimme erheben müssen, aber das war er ja gewohnt. Triumphierend blickte er in die Runde. So sah er den Salon am liebsten: voller Menschen. Nicht zuletzt deshalb unterrichtete er mit Freude eine kleine Privatschulklasse, zu der auch seine eigenen Kinder zählten. Oft entstand aus den Unterrichtsstunden ohne lange Vorplanung ein kleines Hauskonzert. Pastor Klepper beherrschte 2 Klepper, Jochen: Ziel der Zeit, S.8 3 Shakespeare, König Heinrich der V, Dritter Aufzug, sechste Szene 4 Hildegard Klepper (1898–1990), zweites Kind von Hedwig und Georg Klepper 5 Erhard Klepper (1906–1980), viertes Kind
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einige Instrumente und war interessiert an allen neuen technischen Errungenschaften. Regelmäßige Lichtbilder- und Kintoppvorführungen holten die Welt jenseits des seelenruhigen Städtchens in den Klepper’schen Salon. Dass ihr Pastor eigens mit seinem Auto nach Paris zur Weltausstellung gefahren war, beschien auch die treuen Beuthener Kirchenkinder mit ein bisschen Glanz und Modernität. In Schlesien leben und fromm zu sein, hieß noch lange nicht, hinter dem Mond zu wohnen! Vater Kleppers erster großer Erfolg dieses Herbstes schmorte seit einigen Stunden in der Terrine und wartete nur darauf, aufgetischt zu werden. Zu wessen Ärger er diesmal seine Beute vor der Nase weggetroffen hatte, versuchte er erst gar nicht herauszufinden. Er hinderte schließlich niemanden daran, noch früher aufzustehen. Großmutter Weidlich war zur besonderen Freude der Kinder vor zwei Tagen angereist, und so hatten er und Hedwig beschlossen, schon einmal ihre private Jagd- und Theatersaison zu eröffnen und eine erste Gesellschaft zu geben. Jährlich aufs Neue war er gerade in diesen Wochen besonders froh, nicht mit seiner lebhaften Familie im Pfarrhaus unter der direkten Beobachtung des Oberprimarius wohnen zu müssen. Mit Leib und Seele Pastor, überzeugte ihn Freiheit im Tun und Lassen ebenso. Der Hirsch war zart. Jetzt erst, da die ausgelassene Feierstimmung des ganzen Tages langsam wich, verspürte Jochen Hunger. Seine Wangen glühten, ihm war heiß, und es beengte ihn der steife Kragen. Glücklicherweise war Seth6 heute sein Gegenüber. Sie tauschten belustigte Blicke oberhalb und kameradschaftliche Fußstöße unterhalb des Tisches. Jochen musste sich mühen, gerade zu bleiben und nicht zu tief zu rutschen. Nur kein Malheur mit Besteck oder Bratensoße riskieren! Weiße Tischtücher verrieten alles, und Waschfrauen verziehen nichts. Seth war ihm einfach mit einer gewissen Kraft voraus, obwohl er jünger und, ebenso wie Jochen, weder groß noch stämmig war. „Wäre morgen noch einmal eine Ausfahrt drin, was denkst du?“ 6 Seth Demel, Schulkamerad und Kindheitsfreund Jochens
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Jochen rollte mit den Augen und sog die Luft ein. Nichts ließ sich so herrlich leicht in dramaturgischer Gebärde beantworten wie eine harmlose Frage. Aber dazu kam er nicht: Ein heftiges Stechen fuhr ihm in die Lunge und löste einen Krampf in seiner Luftröhre aus. Nicht jetzt, wo es doch heute so schön war! Er umklammerte seine Gabel. „Mach den Kragen ab!“, flüsterte Seth eindringlich und schielte zum oberen Teil der Tafel, an der die Erwachsenen sich lebhaft unterhielten. Ob es klug wäre, einen Blick seines Vaters zu erhaschen oder nicht? Sanitätsrat Demel war der behandelnde Arzt der Kleppers und mit Jochens Asthma vertraut. Ein erneuter Blick auf den Freund beruhigte Seth bereits wieder: Jochen schien sich gefangen zu haben. Dem Verhalten der Mädchen nach hatten die von all dem nichts bemerkt. Sie gestikulierten mit Händen und Bestecken und lachten laut. Beides zusammen genommen, ging wohl für ihr Alter schon als nicht mehr damenhaft durch. „Nun, fragen wir Vater doch nachher einfach“, japste Jochen, froh, dass alles so glimpflich vorbei gegangen war und keinerlei Aufmerksamkeit nach sich gezogen hatte. In solchen Momenten war ihm Publikum verhasst. Wenn ihm nur nicht so entsetzlich heiß wäre! Er lehnte sich zurück und verspürte plötzlich eine große Müdigkeit, liegen und schlafen müsste jetzt schön sein. Morgen dann, vielleicht nach dem Nachmittagstee, eine Ausfahrt mit dem Auto, alle Kinder. Noch einmal, bevor die Eiswinde den ersten Schnee über die Oder brächten und Mutter ihn endgültig nicht mehr mitfahren lassen würde. „Schläfst du? Feiner Heinrich der Fünfte!“ Jochen riss die schweren Lider nach oben und funkelte Margot7 an – wortlos. Die schüttelte nur die vollen Locken. Schwestern! Allein seine augenblickliche Erschöpfung verhinderte es, ihr genau jetzt seinen schon länger genährten Gedanken geradeheraus ins Gesicht zu schleudern: „Kurze Haare würden dich viel eleganter machen!“ Der letzte Rest Mohnpudding war kaum verzehrt, da stieß Jochen erneut Seths Füße an. Er bedeutete ihm, dass man einen 7 Margot Klepper (1895–1980), ältestes Kind von Georg und Hedwig Klepper
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Versuch wagen könne, vom Tisch zu gehen, ohne zuvor die Erlaubnis bei den Eltern eingeholt zu haben. Erhard rutschte schon seit Minuten unruhig auf seinem Stuhl hin und her und sah inständig bittend zu ihnen. Es schien ihm tatsächlich gelungen zu sein, das ganze Mahl ohne Spuren auf Jacke oder Hose aufzuessen. Zumindest nach dem, was man von der Ferne beurteilen konnte. „Hast du gut gemacht, Kleiner.“ Jochen genoss das Gefühl solch banaler Leichtigkeit wie dieser. Es machte die Müdigkeit plötzlich angenehm. Der häusliche Friede war den ganzen Tag überaus stabil gewesen, und es war kaum zu befürchten, jetzt noch durch ein Fehlverhalten eine Missstimmung heraufzubeschwören. Sie steuerten das Zimmer der Jungs an. Dort warteten die Spielkarten mit den neuesten Schiffen der Kaiserlichen Marine. Großmama hatte sie aus der riesigen Spielwaren-Abteilung von Tietz aus Nürnberg mitgebracht. Bis so etwas im winzig kleinen Ladengeschäft für solcherlei Dinge in Kuhbeuthen8 ankam, vergingen halbe Ewigkeiten. Sie spielten sich hitzig. Erhard mochte nicht, wenn er verlor. Jochen überließ ihm hin und wieder großzügig seine Stiche. Als sie ermüdeten, warfen sie die Karten auf einen Stapel und wandten sich Büchern und Magazinen zu, die sich in einem Weidenkorb, säuberlich aufgereiht, neben Jochens Bett befanden. Ein merklich kalter Luftzug wehte durch die offene Tür, als Sanitätsrats an diesem Abend das Haus verließen. Sie waren mit Abstand die Letzten. Erhard steckte auf Befehl der Mutter schon im Pyjama, aber Jochen hatte noch mit Seth zur Tür kommen dürfen. Der Abschied ergab keine lange Prozedur, sie fröstelten alle deutlich. „Schnattern da etwa von Weitem schon die Brieger Gänse9?“ rief der Gastgeber seinen ins Schummerlicht einer trüben Laterne entschwindenden Freunden nach. 8 So nannte man das Beuthen an der Oder in Unterscheidung zur weit größeren Bergbaustadt Beuthen in Oberschlesien. 9 „Brieger Gänse“ ist die niederschlesische Bezeichnung für die oft hoch aufgetürmten Eisschollen der Oder
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„Mais non, mon Chèr10, das wird noch lange dauern und nun prophete nicht gar so geräuschvoll herum, das ist hier nicht die Kanzel, und was sollen die Leute von Pasters11 denken – um diese Uhrzeit!“ Hedwig Klepper zog ihre Stola noch fester um die Schultern und versetzte ihrem Gatten einen freundschaftlichen Rippenstoß. Dieser küsste seine Frau so blitzschnell in den Nacken, dass sie kurz aufschrie. Jochen überfiel Glück. Tiefes Glück. Warum konnte es nicht immer so sein zwischen den Eltern? Aus welchen Gründen nur konnten sie auch so unerbittlich streiten und ihm dabei das Herz zerreißen? Alle Scheu fiel plötzlich von ihm ab, und er hakte sich zwischen beiden unter. Wortlos sah er von einem zum anderen, selig, den muskulösen Arm auf der einen, den weichen auf der anderen Seite zu spüren. Einen so stattlichen Vater und eine schöne Mutter zu haben war doch ein Privileg, und dazu in einem großen Haus mit so vielen Annehmlichkeiten zu leben. Nicht alle Kinder hatten das. Das wusste er längst. Beflügelt vom Tage stahl er sich noch einmal rasch über den bereits dunklen Flur. Ohne anzuklopfen drückte er vorsichtig die Klinke an einer der Zimmertüren herunter: „Großmama! Gehst du morgen zu uns oder ins Hochamt?“ „St. Stephan“, lispelte Großmama mit Kleinmädchenstimme und fiel dann sofort in einen kehligen Brustton: „Aber das nächste Mal zu Hochwürden Pastor Klepper, in Ewigkeit, AMEN!“ Jochen bog sich vor Lachen. „Psst!“ Großmama wusste nur zu gut, dass man ihn längst im Bett wähnte. Im Hinausschleichen wandte er noch einmal einen Blick zum Waschtisch. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. „Joachim?“ Er straffte sich. „Warum bist du heute Abend eine Zeitlang so blass gewesen?“ Sie hatte es also bemerkt, Seth und sie, sonst keiner. „Komm her!“ Großmama breitete ihre Arme aus. Wie weich ihr seidener Nachtrock war. So könnte man einschlafen. Er fühlte ihren Kuss auf der Stirn: „Dieu te garde! Gott schütze dich!“ 10 Französisch gehörte bei Kleppers zum Alltag. Die Urgroßmutter mütterlicherseits stammte aus Frankreich. 11 Schlesisch: Pastors
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// 1922 / Wolkenschafe //
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it jedem Zug fühlte er sich wohler. Er drehte sich auf den Rücken, holte gleichmäßig weit aus und machte für einen Moment die Augen zu. Es gab keine Hindernisse, auf den Fluss war Verlass. Er umschloss ihn, ohne ihn zu bedrängen, erfrischte den Leib und gab die Seele frei. Ob sich so ein Taugenichts-Leben anfühlte? Ein gemütvolles Eichendorffsches Taugenichts-Leben?12 Ach, hier war gut sein. Schlesien, Heimat! Jochen öffnete die Augen und ließ sich mit nur wenigen Arm- und Beinbewegungen treiben. Er überstreckte den Nacken: Wolkenschafe, ein Haufen friedlicher Wolkenschafe auf tiefblauer Weide. Fast hatte er Lust, laut zu jubeln. Er fühlte sich frei wie die Oderschiffer, die raue Worte rufen durften, wenn ihnen danach zumute war. Die allein Wind und Wetter und nicht Menschen ausgesetzt waren, die einen mit den schönsten Gedichten köderten, dann aber widerwärtige Dinge von einem forderten, und jüdische Mitschüler Aufsätze schreiben hießen, die ihr eigenes Volk brüskierten. Wie gerne hätte er diesem Zustand mit einem unmissverständlichen Kraftwort der Oderschiffer damals schon ein Ende gesetzt. Hier, im Fluss, fühlte es sich an, als müsse er dies jetzt, im Nachhinein, noch tun. Ihm war, als würde einen das Wasser von all dem reinigen, was man zu tragen und zu verschließen verdammt war. Aber was machte er sich Gedanken: Glogau13 war er doch los! Er hätte das Abitur auch mit mehr „gut“ abschließen können als nur in Religion und Deutsch. Viel wichtiger wäre ihm allerdings gewesen, er hätte Vater sein Herz über die Sache mit Fromm ausschütten können. Es ging nie. Selbst jetzt nicht, nachdem darüber auch sein erstes Studienjahr in Erlangen zu Ende 12 Aus dem Leben eines Taugenichts, Titel einer Novelle des schlesischen Dichters Joseph von Eichendorff 13 Garnisons- und Kreisstadt, ca. 30 km von Beuthen entfernt. Dort besuchte Jochen von 1917–1922 das Gymnasium und wohnte bei der mit Kleppers befreundeten Familie Fromm.
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gegangen war. Es schien, als hätte sich der innere Abstand zu den Eltern durch die Zeit seiner Abwesenheit vergrößert. Vater war heute nicht mit ihm gekommen, obwohl das Schwimmen zu der einzig sportlichen Vergnügung gehörte, die sie durch all die Kinder- und Jugendjahre miteinander geteilt hatten. Jetzt fröstelte ihn doch. Es war auch erst Ende April. Billum14 war von Mutter verboten worden mitzukommen. Zwischendurch fand Jochen ihre Fürsorge übertrieben. Dann wieder ließ sie alle Zügel schleifen, wie er zu seiner Verwunderung feststellte. Gut, Billum war erst acht, aber kerngesund und fröhlich. Jochen überfielen zärtliche Gedanken an den Bruder, als er aus dem Wasser stieg. Handtuch, Hemd und Hose waren von der Frühjahrssonne angewärmt. Wie gut das tat! Er zog das Rad aus dem Gras. Vergnügt steuerte er der Stadt zu. Viel würde sie auch heute nicht bereithalten, weder für ihn noch für die allermeisten. Aber am nächsten Tag würde er noch einmal in den Schwarzen Adler gehen, die Komödianten sehen. Das bisschen Eintrittsgeld würde er leicht zusammenkratzen. Seit dem Krieg war nichts mehr wie zuvor. Und was darauf in Versailles geschehen war, drohte auf Jahre hinaus nichts viel besser werden zu lassen. Schändlich! Wirklich darben musste man nicht. Nur täglich höhere Unsummen für Brot bezahlen. Nicht, dass es kein Brot gäbe, das schon. Gediegen Speisen war das aber nicht gerade zu nennen, was sich auch auf der elterlichen Tafel abspielte. Prompt regte sich sein Magen: Hunger! Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Vielleicht würde er heute Abend noch einmal die Aufzeichnungen durchsehen, sie doch noch zusammenpacken und mit nach Breslau nehmen. Es waren ja nur dünne Blätter, ein Heft. Ein bisschen war er stolz darauf. Am meisten auf seine Zeitungseingabe der maroden und unbeleuchteten Bahnhofsstraße wegen. Dass er sich das getraut hatte! Er pfiff, trat etwas kräftiger in die Pedale. Fisch sollte man sein, dann konnte man immer im Wasser bleiben. Mit Jordanwasser 14 Wilhelm (1915–1987), jüngster Bruder Jochens, genannt Billum
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hatte Vater ihn getauft. Gestern vor genau zwanzig Jahren. Typisch! Dafür bewunderte er Vater und für seine Art zu predigen. Aber er würde nie an ihn heranreichen – er war zu schwächlich geraten, er, der älteste Sohn. Vater hatte sichtlichen Spaß, wenn er bei Gelegenheit einem Bauern oder Handwerker helfen konnte, eine überladene Karre zu ziehen. Er war sogar noch in der Lage, dabei ein Lied zu schmettern, die Töne treffend sicher in melodischem Bariton. Ihm hingegen drangen schon jetzt die Schmerzen hinter die Stirn und in die Augenhöhle von dem bisschen Radfahren. Ärgerlich stemmte er sich noch ein wenig mehr gegen den Wind. Er war doch auch ein Mann! Und ab morgen Theologiestudent in der altehrwürdigen Leopoldina. Mein Herz hat einen Schlag getan – nur wie ein Fisch die Flosse regt, ein Gras im Winde sich bewegt, ein Vogel seine Schwingen hebt – und alles Leben war gelebt, und alle Ewigkeit brach an. JK15
15 Klepper, Jochen: Ziel der Zeit, S. 9
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