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HA LT M I R EINEN P LATZ F R E I . . .

Mit 16 wünschte sich Julie Keller nichts sehnlicher, als dass ihr Zwillingsbruder Jared noch ein Jahr leben würde. Noch ein Weihnachten, noch einen Frühling. Noch einen Sommer, in dem sie lange wach bleiben und Karten spielen und sich gegenseitig mit ihren peinlichsten Erlebnissen aufziehen konnten. In dieser heißen Augustnacht aber saß sie in einem Krankenhauszimmer und hatte nur einen einzigen Wunsch an Gott: Noch einen Tag. Jared war mit zystischer Fibrose auf die Welt gekommen, einer Lungenkrankheit, die ihn immer mehr schwächte. Es ging gar nicht um die Frage, ob die Krankheit Jareds Leben fordern würde. Es ging nur um den Zeitpunkt. »Wenn wir Glück haben, wird er 25«, hatten die Ärzte der Familie Keller mitgeteilt. Und Julies Eltern nahmen es hin. Sie glaubten nicht an Gott, und die Krankheit ihres Sohnes bestärkte ihren Unglauben noch: »Gott gibt es nicht, Gebet hilft nicht, und es geschehen keine Wunder«, sagte der Vater zu diesem Thema. »So einfach ist das.« Doch Julie und Jared waren anderer Meinung. Mit 13 waren sie von Freunden aus der Schule auf eine christliche 25


Freizeit eingeladen worden. Dort vertrauten sie ihr Leben Gott an und ließen sich von da an jeden Sonntag zur Kirche mitnehmen. Auf jeden Fall so lange, wie es Jared gut genug ging. Und als es nicht mehr ging, blieb Julie bei ihm. Sie unterhielten sich über den Glauben, über die Schule und alles, was dort passierte. »Hör nicht auf, für mich zu beten, Julie«, sagte Jared dann. »Ich bin bald wieder da.« »Ich hör nicht auf.« Julie unterdrückte die Tränen. »Halt mir beim Essen einen Platz frei, okay?« »Okay.« So ein Gespräch war bei ihnen an der Tagesordnung. # # #

Im letzten Monat war es Jared scheinbar besser gegangen als sonst. Er und Julie kamen wieder zum Young Life Camp mit, diesmal als Mitarbeiter. Noch nie war ihr Verhältnis zueinander besser gewesen als in diesen langen Ferientagen, die sie mit Schwimmen, Lachen und vielen Aktivitäten verbrachten Doch am Tag nach ihrer Rückkehr fing Jared an zu husten. Wenn man an zystischer Fibrose leidet, ist man ständig von der Gefahr einer Lungenentzündung bedroht. Am nächsten Tag war klar, was Jared hatte, und die Eltern fuhren ihn schnell ins Krankenhaus. Im Lauf der Jahre hatte Jared so oft Lungenentzündung gehabt, dass Julie aufgehört hatte mitzuzählen. Diesmal aber war es schlimmer, als sie es je erlebt hatten. Die Ärzte verabreichten sofort Antibiotika und Sauerstoff. Das war zwei Tage her. Und nun hatten die Ärzte die Familie Keller zum Gespräch gebeten und die Situation erläutert. »Ich kann gar nichts versprechen«, sagte ein Arzt. »Es tut mir Leid. Es sieht so aus, als würde er es diesmal nicht überstehen.« 26


Die Eltern klammerten sich aneinander fest und weinten, als die Ärzte das Zimmer verließen. Von ganzem Herzen wollte Julie ihnen vorschlagen zu beten, Gott um ein Wunder zu bitten. Aber das hatte sie früher schon versucht, und jedes Mal hatten die Eltern ihr den Mund verboten. »Wir sind eben nicht gläubig«, sagten sie. »Dräng uns deinen Glauben nicht auf.« Julie sah also zu, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich wandte sich ihre Mutter mit tränenfeuchten Augen an sie. »Wir gehen in die Cafeteria und trinken eine Tasse Kaffee. Willst du mitkommen?« »Nein … ich warte hier.« Julie brachte ein Lächeln zustande. »Falls Jared mich braucht.« Als sie gegangen waren, holte Julie tief Luft. »Gott«, betete sie im Stillen, »lass meinen Bruder nicht sterben. Wir beide hängen doch so aneinander.« Das war seit frühester Kindheit wirklich so gewesen, besonders aber in der Highschool. Julie war Cheerleaderin, beliebt und gesellig, und hatte Dutzende von Freunden. Jared war ruhig und wegen seiner Krankheit mager und schwach. Dank Julie aber wurde er ständig mit Aufmerksamkeit verwöhnt. Ende letzten Jahres war ihm ein Ehrentitel verliehen worden: Beliebtester Schüler der Klasse. »Ich find es so cool«, hatte eine Freundin von Julie eine Woche vor dem Ferienlager zu ihr gesagt, »wie gut ihr befreundet seid, du und dein Bruder. Es wäre schön, wenn mein Bruder und ich auch so eine Beziehung hätten.« Jetzt aber sah es kurz nach der schönsten Woche ihres Lebens so aus, als würde sie Jared verlieren. Der bloße Gedanke daran brach Julie das Herz und ließ ihr den Atem stocken. Sie ließ den Kopf hängen und weinte hemmungslos. Langsam verstrichen die Minuten. Julie wollte eigentlich nur raus aus dem Wartezimmer, um Jared zu sehen. Vielleicht brauchte er sie, musste die Berührung ihrer Hand spüren … vielleicht würde er dann die Kraft zum 27


Durchhalten finden, sogar für einen ganzen Tag. Doch der Arzt hatte darum gebeten, erst einmal nicht ins Zimmer zu kommen. Jared brauchte Ruhe, um gegen die übermächtige Krankheit anzukämpfen. »Herr«, flüsterte Julie, »hilf bitte meinem Bruder. Ich liebe ihn so sehr, und ich weiß, wie viel Angst er jetzt hat. Bitte hilf ihm atmen. Mach, dass die Lungenentzündung verschwindet.« In diesem Moment hörte Julie, wie jemand durch die offene Tür ins Zimmer trat. Sie schaute auf und sah einen kleinen Mann in der Kleidung des Reinigungspersonals, der einen Wischmopp und einen Wassereimer auf Rädern hinter sich her zog. Irgendwie kam ihr das Gesicht des Mannes ungewöhnlich freundlich vor, fast so, als würde es leuchten. Julie sah ihn neugierig an. Seine Uniform war zerknittert, und er war leicht vornüber gebeugt. »Ich muss dir mal was sagen«, sprach der Mann sie an. Seine Stimme war so leise, dass Julie auf dem Plastiksofa nach vorn rutschen musste, um ihn zu verstehen. »Was haben Sie gesagt?« »Es gibt da etwas, das du wissen musst.« Der Mann lächelte, und wieder fühlte Julie sich von seiner Gegenwart wie erwärmt. Kannte sie ihn von irgendwo her? Vielleicht aus der Kirche? Er kam einen Schritt näher und schaute ihr in die Augen. »Es ist eine Botschaft von Gott.« Julies Hände fingen an zu zittern. Eine Botschaft von Gott? Wer war der Mann? Woher kam er? Sie beugte sich vor, um ihn besser hören zu können. Normalerweise hatte sie eine Scheu vor Fremden, diesmal aber nicht. Der Mann sah so aus, als ob sie ihn schon ewig lang kannte. Sie wartete ab, während er noch einen Schritt auf sie zu kam. Sein Lächeln war freundlich und wirkte beruhigend. »Deinem Bruder geht es bald gut.« Der Mann zwinkerte ihr zu. »Denk an die Worte aus Maleachi 3, Vers 20.« Ein Dutzend Fragen blitzten in Julies Kopf auf, aber noch bevor sie auch nur eine stellen konnte, drehte der 28


Mann sich um und verließ den Raum samt Wischmopp und Eimer. »Warten Sie!« Julie sprang auf und rannte zur Tür. Sie trat in den Flur und dachte, der Mann könne nur ein paar Meter weiter sein, aber er war verschwunden. Keine andere Tür im Flur war offen. Das Schwesternzimmer war etwa zehn Meter entfernt, aber Julie konnte nur eine einzige Schwester entdecken, die am Schalter stand. Julies Herz schlug doppelt so schnell wie sonst, ihr Mund stand offen. Wie hatte er so schnell verschwinden können? Wer war er überhaupt? Niemand konnte so schnell laufen, vor allem nicht mit einem vollen Wassereimer. Juli wartete einen Augenblick und schaute den Gang in beide Richtungen auf und ab, weil sie hoffte, ihn aus einem der anderen Zimmer kommen zu sehen. Nach einer Weile aber drehte sie sich wieder um und ging langsam auf ihren Platz zurück. Woher wusste der Mann über Jared Bescheid? Konnte er denn gewusst haben, dass sie auf die Nachricht wartete, ob ihr Bruder die Nacht überleben würde? Und was war mit dieser Botschaft? Maleachi 3, Vers 20. Julie hatte keine Bibel dabei, also konnte sie nicht herausbekommen, was in diesem Vers stand. Nach vielleicht einer Minute stand Julie wieder auf und eilte zum Schwesternzimmer. Sie konnte den Mann auf keinen Fall verschwinden lassen, ohne mit ihm gesprochen zu haben und ihm die Fragen stellen zu können, die sie quälten. Während sie auf die einsame Schwester hinter dem Schalter zuging, räusperte sie sich. Jetzt durfte sie keine Zeit mit Tränen verschwenden. »Ich muss bitte mit einem von Ihren Reinigungsleuten reden.« Julie überlegte. »Er war klein, etwa so groß.« Sie zeigte es mit der Hand. »Er ist vor ein paar Minuten da drüben im Wartezimmer gewesen. Ich weiß nicht genau, wo er jetzt ist, aber ich muss mit ihm reden. Können Sie ihn rufen oder so?« 29


»Hm, das kommt mir komisch vor.« Die Schwester holte sich einen Stapel Blätter aus der Schublade neben sich und sah sie langsam durch. »Das hab ich mir gedacht.« Sie schaute Julie an und klang verblüfft. »Was?« »Die Reinigungskräfte …« Sie schaute noch einmal kurz auf die Blätter. »Sie sind alle zu Hause. Vor drei Stunden schon gegangen.« »Nein.« Julie schüttelte den Kopf. »Es muss noch jemand anders da sein, ein Hausmeister oder so. Der, mit dem ich gesprochen habe, ging direkt in dieses Zimmer.« Sie zeigte zum Wartezimmer. »Ich habe erst vor drei Minuten mit ihm gesprochen. Er ist irgendwo in diesem Flur.« »Tja, Kleines, ich kann dir nur sagen, dass er nicht in diesem Krankenhaus ist. Unsere Reinigungskräfte haben Feierabend. Ihre Arbeitszeit ist längst vorbei. Außerdem glaube ich nicht, dass wir einen haben, auf den deine Beschreibung passt.« Julie trat zurück und drehte sich um. Mit langsamen Schritten ging sie durch den Flur zurück ins Wartezimmer und setzte sich wieder auf das Kunstledersofa. Dort legte sie den Kopf in die Hände und betete wieder. Gott, war das für mich bestimmt? Dieser Mann … diese Botschaft? Sie atmete schwer und merkte, dass ihr die Hände zitterten. Wenn er keine Reinigungskraft in diesem Krankenhaus gewesen war, was dann? Und woher wusste er über Jared Bescheid? Die Fragen kamen immer wieder auf, bis sie hörte, wie jemand den Raum betrat. Als sie aufschaute, dachte sie, es seien ihre Eltern, aber diesmal war es Jareds Arzt. »Sind deine Eltern in der Nähe?« Julie nickte und versuchte, mit fester Stimme zu antworten. »Sie sind unten in der Cafeteria. Sie kommen gleich zurück.« Nun hatte sie Angst vor ihrer eigenen Frage. »Wie geht es Jared?« 30


Langsam erschien ein Lächeln im Gesicht des Arztes. »Na, ich glaube, das darf ich dir sagen.« Er zuckte die Achseln. »Es ist wie ein Wunder. Jared bekam keine Luft mehr. Eigentlich haben wir vor zehn Minuten noch gedacht, dass wir ihn verlieren. Dann fing er an zu husten, und nach ein paar Minuten hat er wieder völlig normal geatmet. Wir haben eine Röntgenaufnahme gemacht, und … ich kann es mir nicht erklären. Seine Lungen haben sich dramatisch verbessert. So etwas habe ich noch nie gesehen.« »Meinen Sie, dass er gesund ist?« Von neuem quollen die Tränen aus Julies Augen. Das Lächeln des Arztes schwand ein wenig. »Er ist krank, das weißt du ja. Niemand von uns kann etwas an seiner Fibrose ändern. Aber er ist außer Lebensgefahr. Wenigstens vorläufig.« Als Julies Eltern zurückkamen, teilte sie ihnen die gute Nachricht mit. Sofort strahlten die Gesichter so freudig auf, dass es Julie ans Herz ging. Leise entrang sich ihrem Innersten ein Gebet. Danke, Gott, dass du uns noch ein bisschen Zeit schenkst. Dann schaute Julie von ihrer Mutter zum Vater und wieder zurück. »Darf ich euch etwas sagen?« »Natürlich, Liebes.« Die Mutter kam an ihre Seite und berührte sie an der Schulter. »Ich glaube, dass ich eben einen Engel gesehen habe.« Die Mutter hielt ihre Hand zurück und zog die Augenbrauen hoch. »Ein Engel? Na, Julie, warum sagst du denn so etwas?« Julie holte tief Luft und erzählte ihnen die Geschichte von dem kleinen Mann und seiner Botschaft. Zum ersten Mal, seit sie und Jared an Gott glaubten, hörten die Eltern ihr tatsächlich zu. Doch erst als sie zu Hause war und in der Bibel nachschaute, änderte sich die Einstellung ihrer Eltern für immer. Im Vers ging es darum, dass man Gott fürchten soll, damit die Heilung kommt. 31


»Sogar die Ärzte meinten, dass die Veränderung bei Jared ein Wunder ist«, sagte die Mutter später am Abend. »Wer sind wir, uns dagegen zu wehren?« # # #

Was Julie anging, so vergaß sie nie, wie dicht sie damals vor dem Verlust ihres Bruders gestanden hatte. Seitdem bewahrte sie den Vers in ihrem Herzen. Sie sagte ihn immer wieder für sich auf, wenn sie wieder einmal im einsamen Wartezimmer für ihren Bruder betete, damit er noch einen Sommer, noch eine Jahreszeit erleben dürfe. Oder noch einen Tag. Sie bekam nie wieder Besuch von dem geheimnisvollen Boten, aber sie bewahrte sich die Überzeugung, dass der Mann ein Engel gewesen sei, den Gott ihr geschickt hatte, als sie am dringendsten darauf angewiesen war. Als Jared sieben Jahre später an einem kühlen Septembermorgen starb, war Julie an seiner Seite, aber auch ihre Eltern. Sie waren inzwischen zum Glauben an die sehr reale Gegenwart Gottes in ihrem Leben gekommen. Julie sprach die Worte dieses besonderen Bibelverses bei seiner Beerdigung. »Das ganze Leben meines Bruders war ein Wunder«, berichtete sie der Schar von einigen Hundert Menschen, die gekommen waren, um von ihrem Bruder Abschied zu nehmen. »Aber Gott musste mir eines Abends damals im Sommer einen ganz bestimmten Besucher schicken, um mich daran zu erinnern, dass er Herr der Lage ist. Mein Bruder ist jetzt im Himmel, und zum ersten Mal ist er ganz und gar geheilt.« Dann schaute sie hoch zum Himmel und ließ den Tränen freien Lauf. »Ich hab dich lieb, Jared. Halt mir einen Platz am Tisch frei.«

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