Ich bin immer noch da Am Tag vor der Einschreibung für das College kam Janice, eine hübsche rothaarige Studienanfängerin, mit dem Bus in der Stadt an. Mit ihrem einzigen abgeschabten Koffer, der nur noch durch einen alten Gürtel zusammengehalten wurde, weil die Schlösser kaputt waren, marschierte sie die sechs Kilometer von der Busstation zum Campus im Osten der Stadt. Janice sah sich zuerst eine Weile auf dem Campus um und bewunderte die Gebäude. Sie konnte kaum fassen, dass sie wirklich hier angekommen war. Trotz all der Schwierigkeiten in ihrem Leben hatte sie es endlich geschafft. Lächelnd begab sich Janice zum Verwaltungsgebäude und stieg die riesige Treppe zum Eingang hoch. Sie zog die schwere Eichentür auf und betrat langsam die Halle. Erst einmal musste sie stehen bleiben und den Anblick und die Gerüche in sich aufnehmen. Schließlich suchte sie die richtige Tür, strich sich den Rock glatt, ordnete ihre Haare und betrat das Büro. Pearl, die langjährige Assistentin des Direktors, lächelte sie an. „Ich würde gern mit dem Direktor sprechen“, sagte Janice selbstbewusst. „Möchten Sie sich nicht setzen?“, fragte Pearl. „Ich sehe mal nach, ob er gerade frei ist.“ Kurz darauf wurde Janice in das Büro des Direktors geführt. Nervös, aber entschlossen stellte sie ihren Koffer ab und sagte geradeheraus: „Sir, ich möchte gern hier studieren. Ich habe alle meine Kleider und acht Dollar mitgebracht. Mehr besitze ich nicht. Zurück nach Hause kann ich nicht, weil ich nicht mehr genug Geld für die Rückfahrt habe. Aber ich kann arbeiten; ich kann sehr hart arbeiten. Und ich kann alles lernen, was ich lernen muss. Ich wünsche mir mehr als alles in der Welt, hier zu studieren. Können Sie mir helfen?“ Der Direktor lächelte. Er war ein warmherziger Mensch, der die 10
Collegestudenten liebte, vor allem die besonders entschlossenen. „ Ja, ich denke, ich kann Ihnen helfen“, grinste er. Und er half ihr tatsächlich – indem er finanzielle Unterstützung für sie beantragte und ihr Studentenjobs und Stipendien verschaffte. An diesem Abend rief Janice ihre Mutter an und verkündete: „Mama, ich bin hier. Und ich werde bleiben! Ich werde studieren!“ Vier lange Jahre säuberte Janice Tabletts in der Cafeteria, sie wischte Böden im Studentenzentrum, sortierte ganze Stapel Bücher in der Bibliothek ein, holte den Abfall aus dem Verwaltungsgebäude und übernahm zahlreiche andere weniger angenehme Aufgaben. Wenn Janice nicht arbeitete, saß sie in den Vorlesungen oder lernte. Im Gegensatz zu den meisten anderen von uns nahm Janice kaum an gesellschaftlichen Aktivitäten auf dem Campus teil. Sie hatte dafür einfach keine Zeit. Sie besuchte keine Partys, ging nicht mit Jungen aus, sie schloss sich keinem Club an und ging freitagabends nicht ins Kino. Sie tat nichts anderes, als zu arbeiten und zu studieren. Und das mit einem fröhlichen Gesicht. „Hey, Janice, wie geht es?“, fragten wir sie immer. „Großartig! Dank Gottes Hilfe bin ich immer noch da!“, erwiderte sie dann und lachte, während sie in der Cafeteria das Essen von einem weiteren Tablett abkratzte. In unserem zweiten Collegejahr brach auf dem Campus die Hongkong-Grippe aus. Die Krankheit schlug mit aller Macht zu. Einmal lagen mehr als die Hälfte der 4.000 Studenten mit der Grippe im Bett. Zwischen ihren Jobs ging Janice in ihrem Wohnheim von Zimmer zu Zimmer und half der Krankenschwester, die kranken Mädchen zu versorgen, ihr Erbrochenes aufzuwischen und ihnen Medikamente und Flüssigkeit einzuflößen. Zwei ganze Wochen lang bekam sie kaum Schlaf. Dann, als es fast allen wieder besser ging, bekam Janice selbst die Grippe. Trotz ihrer Proteste, sie müsse arbeiten gehen, steckte die Krankenschwester sie ins Bett. „Aber ich kann es mir nicht 11
leisten, nicht zur Arbeit zu erscheinen“, jammerte sie. „Ich brauche jeden Dollar, den ich verdienen kann, um im College zu bleiben.“ Als die Mädchen in Janices Wohnheim hörten, dass nun auch sie krank geworden war, traten sie in Aktion, um ihr ihre Freundlichkeit zu vergelten. Eine ihrer Freundinnen meldete sich in der Cafeteria, um die Tabletts zu reinigen, eine entsorgte den Abfall aus dem Verwaltungsgebäude, eine andere wischte die Böden im Studentenzentrum, und eine dritte übernahm ihre Aufgabe, die Bücher in der Bibliothek wieder einzusortieren. Sie wechselten sich dabei ab, bis Janice wieder gesund war. Als sie ihre Arbeit wieder selbst übernehmen konnte, zeigten ihre Stempelkarten, dass sie in der Woche, in der sie krank gewesen war, insgesamt vier Überstunden gemacht hatte! Janice und ich machten am selben Tag unser Examen. Ich ging auf die Bühne und nahm in aller Stille mein Abschlusszeugnis entgegen. Als Janice an der Reihe war, erhob sich die gesamte Studentenschaft und klatschte Beifall (zur damaligen Zeit war so etwas bei feierlichen Abschlusszeremonien eigentlich undenkbar). Sie hatte sich unseren Respekt und unsere Bewunderung erworben. Verblüfft über diesen ungewöhnlichen Beifall hielt der Direktor bei der Verlesung der Namen inne und forderte Janice auf, ihren Kommilitonen zu antworten. Erstaunt, aber glücklich, ging Janice zum Podium, hielt ihr Abschlusszeugnis in die Höhe und sagte: „Dank Gottes Hilfe bin ich immer noch hier!“ Mary Hollingsworth
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