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Umgang mit Depressionen

Ihre Denkweise kann einen großen Einfluss auf Ihr Gefühlsleben ausüben. Stellen Sie sich vor: Eines Morgens begrüßen Sie gut gelaunt Ihren Chef, doch statt Ihren Gruß freundlich zu erwidern und ein paar Worte zu plaudern, murmelt dieser nur ein distanziert klingendes „Guten Tag“. Innerhalb weniger Sekunden fühlen Sie sich niedergeschlagen und irritiert. Der Morgen, der so positiv begann, hat plötzlich eine düstere Farbe bekommen, und Ihnen ist gar nicht mehr danach zumute, an Ihre Arbeit zu gehen. Als Sie Ihrem Chef später wieder über den Weg laufen, wenden Sie den Blick ab und tun so, als hätten Sie ihn nicht bemerkt, um nicht noch eine unangenehme Begegnung zu erleben. Sie schlussfolgern, dass das Verhalten Ihres Chefs der eigentliche Grund ist, warum Sie sich deprimiert fühlen. In Wirklichkeit aber sind Ihnen seit der Begegnung mit ihm eine ganze Serie von negativen Gedanken durch den Kopf gegangen. Würde man sie auf einem Computerbildschirm festhalten, sähe das Ganze etwa so aus: 쑲 „Mein Chef hält nicht besonders viel von meinen beruflichen Leistungen.“ 쑲 „Er mag mich eigentlich nicht.“ 쑲 „Er meidet mich, weil er mich wahrscheinlich beim 35


nächsten Beurteilungsgespräch negativ bewerten wird – vielleicht verliere ich sogar meinen Arbeitsplatz!“ 쑲 „Ich bin unbegabt. Ich habe beruflich versagt – mir gelingt einfach nie etwas.“ Natürlich können Ihnen in solch einer Situation auch noch viele andere Gedanken durch den Kopf gehen. Alle diese Gedanken lösen in Ihnen Gefühle aus. Vielleicht sind auch Gedanken darunter, die der Wahrheit schon ein Stück näher kommen. Zum Beispiel denken Sie vielleicht darüber nach, dass Ihr Chef Ihnen normalerweise mehr Aufmerksamkeit schenkt, und ziehen deshalb den Schluss, dass er vermutlich mit irgendeinem persönlichen Problem beschäftigt ist. Vielleicht vermuten Sie auch, dass Ihr Chef es eilig hatte, um pünktlich zu einer Sitzung zu kommen, und ihm deshalb keine Zeit blieb, mit Ihnen zu plaudern. Möglicherweise fällt Ihnen auch ein, dass Smalltalk Ihrem Chef nicht liegt und seine kurz angebundene Reaktion nichts mit Ihrer Person zu tun hat, sondern eher auf seine eigenen Schwächen im Umgang mit anderen verweist. Auf einer eher philosophischen Ebene könnten Sie aber auch denken: „Mein Chef ist zwar vermutlich nicht gerade begeistert über mich, dies bedeutet aber nicht unweigerlich, dass das Leben deshalb schrecklich ist und ich als Mensch versagt habe.“ Das, was wir denken, kann unsere Gefühle stark beeinflussen. Es gab einmal zwei Brüder, von denen der eine überaus optimistisch und der andere extrem pessimistisch war. Ihre Eltern beschlossen eines Tages, in einem Experiment die Reaktionen ihrer Söhne zu testen. Sie setzten den Pessimisten in ein Zimmer, das mit den neuesten Spielsachen voll gestopft war, und den Optimisten in einen Raum voller Pferdemist. Nach einer Stunde schauten sie nach. Der pessimistische Junge war niedergeschlagen und unzufrieden und dachte immerzu, dass die Spielsachen nicht funktionieren oder ihm einfach keinen Spaß bereiten werden. Sein 36


optimistischer Bruder dagegen strahlte über das ganze Gesicht und warf mit Pferdemist um sich. „Warum in aller Welt strahlst du denn so?“, fragten ihn die Eltern erstaunt. „Bei so viel Mist muss doch ein Pferd in der Nähe sein“, erwiderte er. Das, was wir denken, kann unser Gefühlsleben stark beeinflussen. Manche Menschen ärgern sich, dass Rosensträucher Dornen haben, während andere sich freuen, wenn Dornengewächse blühen. Noch einmal: Das, was wir denken, beeinflusst unsere Gefühle. Aber nicht immer sind ausschließlich die Gedanken schuld an negativen Gefühlen. Manchmal gibt es auch biologische oder andere medizinische Ursachen. In diesem Fall sollte man einen Psychiater oder Arzt aufsuchen. Aber auch geistliche Zusammenhänge wie beispielsweise eine dämonische Belastung oder die Teilnahme an okkulten Praktiken können eine Rolle spielen. In solchen Fällen können ein Befreiungsgebet und das Mobilisieren geistlicher Kräfte erforderlich sein. Ein anderer geistlicher Zusammenhang besteht, wie schon erwähnt, wenn Gott uns die Erfahrung einer „dunklen Nacht der Seele“ zumutet, um unseren Glauben zu vertiefen und wachsen zu lassen. Es ist sehr wichtig, dass wir uns das immer wieder in Erinnerung rufen. Es ist auf keinen Fall ständig so, dass wir „uns selbst depressiv machen“. Selbstanklage ist daher keine hilfreiche Strategie zur Bewältigung einer Depression (sondern bewirkt oft sogar das Gegenteil). Allerdings ist es tatsächlich oft so: Wenn wir uns deprimiert fühlen, denken wir gewöhnlich negativ über uns selbst, unsere Welt und unsere Zukunft. Kehren wir noch einmal zu der Situation mit Ihrem Chef zurück. Es scheint, als wäre die Art und Weise, wie Ihr Chef Sie behandelt hat, der Grund, warum Sie deprimiert waren. Sie erlebten diese Situation so, als wären Sie und Ihre Gefühle einfach ein Opfer der negativen Reaktion Ihres Chefs. 37


Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass zwischen dem Verhalten Ihres Chefs und Ihren negativen Gefühlen ein ganz anderer wichtiger Zusammenhang besteht. Die entscheidende Komponente ist Ihre Interpretation des Geschehens – also das, was Sie denken und was man gewöhnlich als „Selbstgespräch“ bezeichnet. Um dieses Wissen für den Umgang mit Depressionen fruchtbar zu machen, ist ein Ansatz hilfreich, den der Psychologe Dr. Albert Ellis1 als das „ABC des Gefühlslebens“ bezeichnet hat.2 „A“ steht für die aktivierenden Ereignisse (activating events) oder die Vorgeschichte (antecedens) – für all jene Situationen also, die Sie erlebt haben. In unserem Beispiel war es die kurze, distanzierte und kühle Reaktion Ihres Chefs. „C“ steht für die Auswirkungen (consequences), also das, was sowohl Gefühle als auch Verhaltensweisen in der Folge auslösen. Im Beispiel wären es die Gefühle der Verletztheit und das ausweichende Verhalten gegenüber Ihrem Chef. Dr. Ellis ist der Ansicht, dass Menschen im Allgemeinen das Gefühl haben, dass „C“ durch „A“ verursacht wird, dass ihre Gefühle also unmittelbar auf das auslösende Ereignis zurückzuführen sind. Aber außer „A“ und „C“ gibt es noch eine weitere Komponente: das „B“ – die eigene Bewertung des Ereignisses. In unserem Fall ist „B“ Ihre Schlussfolgerung, dass Ihr Chef Sie nicht mag, dass er Ihre beruflichen Leistungen negativ beurteilen wird usw. Ihre Gefühle und Gedanken sind also gar nicht unmittelbar auf die erlebte Situation zurückzuführen, sondern wurden durch Ihre Interpretation des Ereignisses ausgelöst. Das aktivierende Ereignis (A) führt zu einer Bewertung (B), die dann bestimmte Gefühle und Verhaltensweisen (C) auslöst. Sie sehen also, welche enorme Macht Ihre Interpretationen haben. In vielen Fällen spielen sie bei Depressionen eine maßgebliche Rolle. Die bewertenden Gedanken, die zu vielfältigen negativen Auswirkungen führen, sind oft irrational, 38


verzerrt und sehr radikal. Solche Schlussfolgerungen (Dr. William Backus spricht von „Fehlschlüssen“) wirken sehr überzeugend, während sie uns durch den Sinn gehen. Oft sind sich Menschen dessen kaum bewusst; weshalb man auch von einem „automatischen Denken“ spricht. Es ist wie mit einer Armbanduhr: Nachdem man sie eine Weile getragen hat, nimmt man sie gar nicht mehr wahr; sie umschließt zwar noch das Handgelenk, aber man spürt sie nicht mehr. Die Gedanken gehen uns weiter durch den Kopf, obwohl sie uns kaum noch bewusst werden, und haben einen großen Einfluss darauf, wie wir uns fühlen und wie wir leben. Der erste Schritt im Umgang mit Depressionen liegt also im Bewusstmachen – im Erkennen dieser automatischen Denkprozesse. Dabei ist es wichtig, möglichst ganz konkret zu werden. Es genügt nicht, einfach zu sagen: „Ich bin zu hart zu mir selbst und habe oft negative Gedanken.“ Solche Denkweisen lassen sich erst dann in den Griff bekommen, wenn sie möglichst klar formuliert werden. Es kann sehr nützlich sein, sie so präzise wie möglich aufzuschreiben. Das ABC des eigenen Gefühlslebens zu kennen ist dabei sehr hilfreich. Zur Analyse kann man zum Beispiel ein Tagebuch führen und dabei eine Einteilung in die Kategorien A, B und C vornehmen. Die Aufzeichnungen lassen sich dann dazu benutzen, die eigenen Gedanken gründlich zu hinterfragen, zu überdenken und schließlich durch vernünftigeres, realistischeres und biblisches Denken zu ersetzen. In Kapitel 6, in dem wir kognitive Strategien zur Bewältigung von Depressionen erörtern, werden wir näher darauf eingehen. Betrachten wir nun eine weitere „ABC-Einteilung“. Die menschliche Erfahrung lässt sich allgemein in drei Hauptdimensionen gliedern, wobei hier „A“ für Affekt bzw. Gefühl (affect), „B“ für Verhalten (behavior) und „C“ für Denken und Erkenntnis (cognition) steht. Wenn wir depressiv sind, fühlen wir uns depressiv (A), handeln depressiv (B), 39


indem wir beispielsweise im Bett bleiben und fast den ganzen Tag fernsehen, und denken negativ (C). Oft werden Depressionen für eine reine Gefühlssache gehalten – weil die Emotionen, die mit Depressionen einhergehen, oft so stark sind. Depressionen haben aber auch etwas mit der Art und Weise unseres Handelns und Denkens zu tun – kein Bereich unseres Lebens bleibt davon unberührt. Deshalb ist es auch wichtig, im Umgang mit Depressionen alle drei Dimensionen zu berücksichtigen. Die zentrale Aufgabe auf der emotionalen Ebene besteht darin, sich der eigenen Gefühle bewusst zu werden und die nötige Trauerarbeit zu leisten, statt vor dem Kummer zu fliehen. Wenn jemand sagt, dass er sich „erlaubt zu trauern“, kann bei anderen der Eindruck entstehen, dass er sich einfach gehen lässt. Diese Einstellung kann natürlich auch zum Vorwand werden, um sich einer verantwortlichen Lebensweise zu entziehen. Aber hier geht es um die Notwendigkeit, sich dem Schmerz zu stellen, damit man als Mensch reifer wird. Deshalb würde gerade das Vermeiden von Schmerz und Trauer bedeuten, sich gehen zu lassen, eine Haltung, die nicht sehr hilfreich wäre. Auch das Bewusstmachen der eigenen Gefühle ist leichter gesagt als getan. Menschen haben die natürliche Neigung, unangenehmen Gefühlen auszuweichen, sodass viele von uns schließlich keinen Zugang mehr zum eigenen Gefühlsleben haben. Selbst Menschen, die hochintelligent sind und fließend über komplexe Zusammenhänge sprechen können, sind manchmal seltsam unbeholfen, wenn es darum geht, über emotionale Erfahrungen zu reden. Andere haben aufgrund ihres kulturellen oder familiären Hintergrunds nicht gelernt, Gefühle direkt zu verarbeiten, und deshalb kann es ihnen schwer fallen, ihre wahren Gefühle zu erkennen und auszudrücken. Gefühle sind auch deshalb schwierig, weil wir sie nicht direkt kontrollieren können. Viele Menschen versuchen, Depressionen zu bewältigen, indem sie sich sagen: „Morgen werde ich nicht traurig sein.“ Das ist strate40


gisch genauso wenig Erfolg versprechend, als würde man einer quengelnden Kinderschar auf dem Rücksitz im Auto sagen: „Wenn ihr nicht sofort aufhört zu jammern und wieder fröhlich seid, dann setzt es was.“ Mit dieser Denkund Verhaltensweise erreicht man meist das Gegenteil. Im Bezug auf ihr Verhalten müssen depressive Menschen vor allem lernen, konstruktive und hilfreiche Dinge auch dann – und gerade dann – zu tun, wenn ihnen nicht danach zumute ist. Es ist wichtig zu erkennen, dass Gefühle oft das Resultat von Verhaltensweisen sind. Oft fühlen wir uns besser, nachdem wir besser gehandelt haben. Es ist eine natürliche Reaktion zu denken: „Ich werde diese Sache … (beispielsweise ein Telefonat führen, eine Notiz schreiben, ein Projekt abschließen – was immer auch erledigt werden muss) tun, wenn ich mich danach fühle.“ Das Problem dabei ist, dass man sich eben nicht danach fühlt, wenn man deprimiert ist. Das wiederholte Aufschieben wird dann zu einer weiteren Ursache für depressive Zustände. Das ist der vertrackte Zirkelschluss der Depression. Es ist leichter, durch Verhaltensweisen neue Gefühle zu wecken, als durch Gefühle neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Für den Bereich des Denkens ist Ihnen die wichtigste Aufgabe inzwischen wahrscheinlich schon klar: negative, verzerrte und irrationale Gedanken zu erkennen, zu hinterfragen und zu ersetzen. Das Wichtigste ist, biblisch denken zu lernen oder – anders ausgedrückt – sich auf der Grundlage der Bibel „die Wahrheit zu sagen“. Der Apostel Paulus fordert uns im Römerbrief auf, uns verwandeln zu lassen. Er sagt, dass dieser Prozess der Veränderung geschieht, indem unser „ganzes Denken erneuert wird“ (Römer 12,2). Es geht hier nicht um eine oberflächliche Veränderung, indem ich mir selbst etwas einrede, und auch nicht um die bloße Akzeptanz bestimmter theologischer Lehren (obwohl das natürlich wichtig ist), sondern es geht um eine radikale Metamorphose der Art und Weise, wie wir unser Leben und unsere Welt wahrnehmen und interpretieren. Letztlich ist 41


es das Werk Gottes, der durch seine Gnade und Liebe zu uns Veränderungen in uns bewirken kann. In den nächsten Kapiteln werden wir die drei Dimensionen Fühlen, Verhalten und Denken näher betrachten. Wenn Sie – mit Gottes Hilfe – beständig daran arbeiten, diese Dinge in Ihrem eigenen Leben umzusetzen, können Sie wesentliche Fortschritte in Ihrer Fähigkeit erzielen, Depressionen zu bewältigen.

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