Der Abbruchtag
10. Oktober 1994 Brenda schlug den Kragen ihres Mantels hoch, hielt drei Finger in die Höhe und begann mit dem Countdown für den Kameramann: „Drei, zwei, eins, los!“ Sie hob das Mikrofon und sah in die Kamera. „Heute ging in Asheville mit dem Abbruch des Cameron-Hauses, eines der ältesten und bekanntesten Häuser im Montford-Distrikt, eine Ära zu Ende. Das Cameron-Haus, erbaut im Jahre 1883, bekam seinen Namen von Randolph Cameron, einem begüterten Börsenmakler, der das Haus 1921 kaufte und renovierte. In den 20er-Jahren gehörte es zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt, aber wie Sie erkennen können, hat das Haus schon bessere Tage gesehen. In den 60er-Jahren wurde es in mehrere Wohnungen aufgeteilt und erst im vergangenen Monat von den Stadtinspektoren zum Untergang verurteilt.“ Brenda zog ihren Schal gerade, während der Kameramann zum Haus schwenkte und die baufällige Veranda, die aus den Angeln gehobene Haustür und die zerbrochenen Fenster in Nahaufnahme zeigte. Als die Kamera wieder auf Brenda gerichtet war, räusperte sie sich und fuhr fort. „Die Anwohner der Straße zeigten gemischte Gefühle in Bezug auf den Abbruch des Cameron-Hauses. Die meisten sind traurig, dass dieses Wahrzeichen der Stadt verschwindet, gestanden aber ein, dass das leer stehende Gebäude ein Schandfleck und eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sei. Wie ein Nachbar zusammenfasste: ,Keiner von uns lebt ewig.‘ Für WLOS informierte Sie Brenda Delaney.“ Sie nickte kurz und lächelte in die Kamera. Das rote Licht ging aus. „Wir haben’s“, verkündete der Kameramann und Brenda seufzte erleichtert auf. 13
„Dann wollen wir zusammenpacken und zum Sender zurückfahren“, schlug sie vor. „Es wird ziemlich kalt.“ Buck, der Kameramann nickte. „Klingt gut. Wollen wir im Beanstreets anhalten und einen Kaffee trinken?“ „Heute nicht, danke“, murmelte Brenda abwesend. „Ich habe noch zu arbeiten.“ Doch eigentlich wollte sie lieber allein sein. Nicht einmal Bucks Gesellschaft, mit dem sie nun schon seit sechs Jahren befreundet war, war ihr im Augenblick willkommen. Die Abbruch-Story deprimierte sie und sie wusste nicht mal, aus welchem Grund. Sie war gut in ihrem Job, daran gab es keinen Zweifel. Im Archiv des Senders lagen unzählige misslungene Spots von anderen Reportern. Solche Fehltritte wurden gern in den Comedy-Shows verulkt. Jedes Jahr bei der Weihnachtsfeier im Sender grub irgendjemand unweigerlich die neusten Ausschnitte mit markanten Versprechern aus und spielte sie vor, sehr zum Kummer der betroffenen Reporter. Aber Brenda Delaneys Gesicht war nur selten auf dem Boden des Schneideraums zu sehen. Meistens mussten ihre Berichte nur einmal gedreht werden – sogar dieser fürchterliche Bericht vor einige Zeit im Naturzentrum, als eine Taube auf ihr landete und ihr auf den Kopf schiss. Auf jeden Fall bewahrte Brenda Delaney in allen Situationen ihre Fassung. Sie war eine gute Reporterin und die regelmäßigen Beförderungen im Sender bestätigten das. Aber sie hatte nicht das Gefühl, etwas zu erreichen. Was bewirkte es schon, wenn sie an einer Unfallstelle oder an der Abbruchstelle eines hundert Jahre alten Hauses in Montford hervorragende Arbeit leistete? Nichts, was sie tat, schien auf Dauer von Bedeutung zu sein. Aber so ist das nun einmal im Nachrichtengeschäft, argumentierte sie. Die Schlagzeile am Morgen war am Abend schon wieder uninteressant. Es war wie mit dem Manna in der Wüste – wenn man es sich nicht jeden Tag frisch holte, verfaulte es. Während ihr dieser Gedanke noch durch den Sinn ging, schüttelte Brenda den Kopf und knirschte mit den Zähnen. Und wenn sie noch hundert Jahre alt werden würde, sie 14
würde sich vermutlich nie vollkommen von dem religiösen Zeug befreien können, das ihre Großmutter ihr eingetrichtert hatte. Gram hatte ihr Leben lang versucht, Brenda die Vorteile des Glaubens an Gott schmackhaft zu machen. Aber Gott hatte ihre Eltern nicht vor dem betrunkenen Autofahrer bewahren können – warum sollte sie also jetzt, wo sie erwachsen war und auf eigenen Füßen stand, auch nur einen Gedanken an den Allmächtigen vergeuden? Brenda Delaney war keine Atheistin. Sie zählte sich selbst zu den Agnostikern, aber wenn sie vollkommen ehrlich war, musste sie sagen, dass sie vermutlich eher eine Suchende war. Sie räumte die Möglichkeit, sogar die Wahrscheinlichkeit ein, dass Gott existierte. Aber diese Vorstellung brachte ihr keinen Trost. Sie war nicht ungläubig, sie mochte Gott nur nicht besonders. Und so hatte sie eine Art Waffenstillstand mit dem Allmächtigen geschlossen. Sie kümmerte sich nicht um Gott und Gott kümmerte sich auch nicht um sie. Gram hätte ihr natürlich gesagt, dass sie beten und Gott um Führung bitten sollte, wenn sie unzufrieden war mit dem Verlauf ihrer Karriere. Aber Brenda wollte Gottes Führung gar nicht; sie kam ganz gut allein zurecht, vielen Dank. Sie würde ihren Weg selbst finden, ihr Schicksal selbst bestimmen. In der Zwischenzeit sollte sie jedoch besser einmal dieser Depression auf den Grund gehen, die sie immer überfiel, wenn sie vor Ort einen Bericht drehte. Es war doch eigentlich der Teil ihrer Arbeit, der ihr am meisten lag – warum nur war sie nicht glücklich damit? Warum hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben wie das Cameron-Haus zum Tode verurteilt worden war und nur noch auf die Abbruchmannschaft wartete? Sie konnte so nicht weitermachen. Sie empfand keine Begeisterung mehr für ihre Arbeit und früher oder später würde sich das unweigerlich bemerkbar machen. Brenda beobachtete, wie Buck in den großen weißen Lieferwagen stieg und davonfuhr. Vielleicht sollte sie doch zum Beanstreets fahren. Es könnte ihr gut tun, in diesem überfüllten kleinen Café zu sitzen, einen Cappuccino zu trinken und zu versuchen, ihre Gefühle ein wenig zu ordnen. Ihre Aufgabe 15
war erfüllt. Sie musste sich zwar noch um die Bearbeitung des Beitrags kümmern, aber das würde kaum länger als eine Stunde dauern. Es wäre also durchaus möglich, ein wenig Zeit für sich abzuzwacken. Sie setzte sich ans Steuer ihres Wagens, klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete sich im Spiegel. Für ihre dreiunddreißig Jahre war ihr Aussehen okay. Die Leute sagten ihr immer, sie würde zehn Jahre jünger wirken und hätte das perfekte „Image“ fürs Fernsehen: Eine gesunde und natürliche Sportlichkeit, nahm sie an – dunkle Haare, dunkle Augen, nicht zu viele Falten. Eine viel versprechende Zukunft lag vor ihr. Und sie hatte sich, wie LaVonne Howels, ihre beste Freundin aus der Highschoolzeit, es ausgedrückt hatte, „ihren Traum erfüllt“. Was war also los mit ihr? Vonnie hätte sich natürlich über ihre Depressionen lustig gemacht, so sicher wie Gram ihr geraten hätte, darüber zu beten. Aber Vonnie war eine ausgesprochene Optimistin, die Art von Mensch, die morgens fröhlich aufstand und sich auf die wundervollen Ereignisse des Tages freute. Vonnie war Psychologin mit einer blühenden Privatpraxis und Brenda fragte sich im Stillen, wie sie als Therapeutin effektiv arbeiten konnte, wenn sie ihren Klienten ständig mit ihrer übersprudelnden Fröhlichkeit begegnete. Sie hätte ihren Zustand Gram oder Vonnie nicht erklären können. Sie fühlte sich einfach . . . na ja, festgefahren. Sicher, sie war erfolgreich, aber alles, ihr Job, ihr Leben, erschien ihr so vorhersehbar. Ihre Gefühle ließen sich vielleicht in einem Satz zusammenfassen: Sie wollte, dass etwas passierte. Irgendetwas. Aber hier auf der Montford Avenue an einem ungewöhnlich kalten Oktobernachmittag würde es bestimmt nicht passieren. Am besten schüttelte sie diese Niedergeschlagenheit ab und widmete sich wieder ihrer Arbeit. Sie kramte in ihrer großen Ledertasche, die ihr gleichzeitig als Handtasche und als Aktentasche diente, holte ihre Schlüssel heraus und steckte den Wagenschlüssel ins Schloss. Doch bevor sie Gelegenheit hatte, den Motor anzulassen, klopfte es an der Scheibe. Ein großer, stämmiger Mann in einer Regenjacke stand davor. Sein Name war Dwaine Bodine und er 16
gehörte zu der Abbruchmannschaft. Sie hatte versucht, ihn für den Bericht über das Cameron-Haus zu interviewen, aber er war ihr zu eifrig gewesen, zu kamerahungrig. Vielleicht wollte er ihr nur behilflich sein, immerhin war er, wie die Leute sagten, ein „gutmütiger alter Junge“. Aber wenn Brenda einen ungebildeten Bauerntölpel vor die Kamera ließ, würde sie zum Gegenstand des Gelächters im Nachrichtenraum werden – und ganz sicher bei der diesjährigen Weihnachtsparty. Wohl gemeinte, aufrichtige Begeisterung lag auf Dwaines grobem Gesicht und Brenda erschauderte. Erneut klopfte er ans Fenster und bedeutete ihr, sie solle es herunterlassen. Vielleicht sollte sie sich anhören, was er wollte. Zumindest hatte Buck die Kameras mitgenommen, Dwaine würde also sein Gesicht in den Abendnachrichten nicht sehen, egal wie sehr er sich auch darum bemühte. Brenda ließ das Fenster herunter. Noch bevor es ganz unten war, hatte Dwaine schon seinen Kopf hereingesteckt und brabbelte begeistert von seiner „Entdeckung“. Offensichtlich hatte der Mann gerade ein Frikadellensandwich gegessen, denn sein Atem roch unangenehm nach Knoblauch. „Was für eine Entdeckung?“, fragte Brenda, während sie sich so weit wie möglich von ihm zurückzog. „Sehen Sie nur“, sagte er. Er griff in seine Jacke und zog eine Flasche aus blauem Glas heraus. „Sehen Sie nur, was ich auf dem Dachboden gefunden habe.“ Er reichte sie ihr und verschränkte stolz die Arme vor der Brust. „Ich dachte, Sie könnten das vielleicht in Ihrer Story verwenden. Ich könnte erzählen, wie ich sie gefunden habe, hoch oben auf den Dachbalken . . .“ „Tut mir Leid, Dwaine“, murmelte Brenda zerstreut. Sie betrachtete die Flasche in ihren Händen. „Buck ist mit den Kameras bereits auf dem Weg zum Sender. Für heute sind wir fertig. Aber vielen Dank. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die behalte?“ „Nein, nein, machen Sie nur.“ Sein breites Lächeln verschwand und er legte die Hand auf die Wagentür. „Dann gehe ich jetzt wohl mal besser wieder an die Arbeit.“ „Ich auch.“ Brenda lächelte und tätschelte seine Hand. 17
„Vielen Dank für alles, Dwaine. Sie sind mir eine große Hilfe gewesen.“ „Wirklich?“ Sein Lächeln kehrte zurück. „Ich werde Sie mir heute Abend im Fernsehen ansehen, Miss Delaney. Sie sehe ich am liebsten.“ Er senkte den Kopf und sah sie verlegen an. „Könnten Sie mir ein Autogramm geben?“ Brenda unterdrückte ein Seufzen. Für Leute wie Dwaine war sie vermutlich eine Berühmtheit. Selbst Reporter hatten dann und wann ihre Fans. „Natürlich.“ Er kramte in seiner Tasche herum und holte eine fleckige Papierserviette heraus. Die Flecken ließen sich leicht als Marinara-Sauce identifizieren. Sie hatte Recht gehabt – Frikadellensandwich. „Wie wäre es stattdessen mit einem Foto?“ Er war ein netter Bursche und er hatte versucht, ihr zu helfen. Sie konnte es sich leisten, großzügig zu sein. Sie holte ein PR-Foto von sich und einen Stift aus der Tasche und schrieb in die Ecke: Für Dwaine – Vielen Dank für Ihre wertvolle Hilfe, Brenda Delaney, WLOS. Er nahm es, las, was sie geschrieben hatte, und begann zu strahlen. „Vielen Dank. Hey, vielleicht arbeiten wir ja irgendwann noch mal zusammen.“ „Vielleicht.“ Brenda schloss das Fenster und fuhr winkend davon. „Aber auch nur in deinen Träumen“, murmelte sie. * Ausnahmsweise einmal war das Beanstreets fast leer. Brenda saß an einem kleinen Ecktisch, trank einen Cappuccino und machte sich Notizen. Auf der anderen Seite des kleinen Cafés saß ein Mann mit einem Pferdeschwanz und drei goldenen Ohrringen. Er malte eifrig in einem Skizzenblock herum und sah immer wieder zu ihr hin. Sie saß bereits seit einer Stunde dort. Die erste Seite ihres Notizblocks hatte sie mit ihren Tageserlebnissen gefüllt, eine Gewohnheit, die sie bereits seit dem Teenageralter pflegte, als sie noch vorgehabt hatte, nach New York zu gehen und dort die Medienwelt im Sturm zu erobern. Doch an diesem Nachmittag hatte sie nichts Weltbewegendes notiert; sie hatte ver18
sucht, ihrer Depression auf den Grund zu gehen, Strategien für die Zukunft zu entwerfen und eine Richtung zu finden. Brenda war eine Planerin; früher hatte sie immer einen Weg der Hoffnung auswählen, einen Kurs entwerfen und ihm folgen können. Doch an diesem Tag schien nichts zu funktionieren. Sie schrieb und schrieb, drehte sich im Kreis und gab schließlich ihr Vorhaben ganz auf. Eins war ihr jedoch vollkommen klar geworden: Sie brauchte eine Veränderung, etwas, das ihr Interesse fesseln und ihrem Leben und ihrer Arbeit einen Sinn geben konnte, das über einen dreißig-, sechzig- oder neunzig-Sekunden-Spot in den Abendnachrichten hinausging. Aber wie sollte sie das zu Stande bringen? Sie konnte doch nicht einfach in das Büro des Redakteurs marschieren und verkünden, sie brauche bedeutungsvollere Aufgaben. So funktionierte das nicht. Ein Reporter, ein guter jedenfalls, schuf sich sein eigenes Drama, entdeckte selbst die Storys, die das Herz seines Publikums berühren würden. Sie dachte über ihren Bericht über das Cameron-Haus nach – ein ganz gewöhnlicher Bericht mit Hintergrundbildern von dem heruntergekommenen alten Gebäude. Sie selbst stand im Vordergrund und drosch Phrasen vom „Ende einer Ära“. Nicht gerade ein preisverdächtiger Bericht. Du meine Güte, diese Story interessierte nicht einmal sie selbst, wie konnte sie erwarten, dass das Publikum daran interessiert war? Sie stellte sich vor, wie heute Abend um 18 Uhr 26 während ihres fünfundvierzig-Sekunden-Spots in der ganzen Stadt der Wasserdruck abfiel, weil alle Leute ihre Toilette benutzten. Brenda sah auf die Rechnung, die die Kellnerin auf den Tisch gelegt hatte. Ein Dollar und fünfundsiebzig Cents. Na ja, nicht einmal hier tat sie etwas Gutes. Sie konnte genauso gut in den Sender zurückkehren, ihre Arbeit machen und dann so schnell wie möglich nach Hause gehen. Sie griff in die Tasche zu ihren Füßen und suchte nach ihrer Geldbörse. Ihre Hand streifte etwas Kühles und Glattes. Die Flasche, die Dwaine ihr vom Dachboden des Cameron-Hauses gebracht hatte. Die blaue Glasflasche. * 19
Brenda saß im Dunkeln auf ihrem Bett und starrte aus dem Fenster auf die bunten Lichter, die unter ihr funkelten. Manchmal war es abends schwer, die Sterne am Himmel von den Lichtern auf der Bergseite zu unterscheiden. Es war, als hätte man den gesamten Mitternachtshimmel als Decke – über sich, unter sich und um sich herum. Sicherlich hatte ihr „idealer Job“ auch Vorteile. Zum Beispiel dieses Haus auf dem Berg über der Stadt. Fünf Minuten vom Sender entfernt. Von hier oben hatte sie eine Aussicht auf das historische Grove Park Inn und die Berge im Westen. Vier Schlafzimmer, ein Wohnzimmer mit gewölbter Decke und einer Glasfront mit Aussicht, eine hochmoderne Küche und ein schönes Bad. Auf keinen Fall würde sie sich dieses Haus noch leisten können, wenn sie auf der Suche nach einem „bedeutungsvolleren“ Job den Sender verließ. Aber die heutige Ausstrahlung ihres Berichtes über das Cameron-Haus hatte sie darin bestärkt, dass sie etwas unternehmen musste. Sie hatte ihn sich dreimal beim Zusammenschneiden, einmal bei der Ausstrahlung um sechs und jetzt noch einmal in den Elf-Uhr-Nachrichten angesehen. Sie wirkte gleichgültig, schrecklich gelangweilt und ihr Lächeln war so aufgesetzt, dass es kaum auszuhalten war. Als sie sich selbst diese scheußlichen Worte „das Ende einer Ära“ sagen hörte, stellte sie den Ton ab. Über den Bildschirm flimmerten Bilder des Cameron-Hauses, früher eine Sehenswürdigkeit, jetzt heruntergekommen und verfallen. Sein letzter Augenblick des Ruhms. Morgen um diese Zeit würde diese Villa ein Haufen Schutt sein. Nichts würde von ihm übrig bleiben, nichts, außer dieser blauen Flasche. Brenda stellte das Fernsehgerät ab, knipste die Nachttischlampe an und untersuchte die blaue Glasflasche. Vermutlich war es Abfall, vielleicht würde man beim Antiquitätenhändler noch einen oder zwei Dollar dafür bekommen. Aber auf jeden Fall war die Flasche ungewöhnlich. Zehn Zentimeter hoch, in der Form eines kleinen Hauses mit einem langen Hals. An den Seiten waren eine Tür und Fenster angedeutet; zerstreut glitten ihre Finger über die Umrisse. Das Glas war von den Jahren auf dem Dachboden staubig und der Korken steckte fest im Flaschenhals. 20
Sie stellte die Flasche auf den Nachttisch und lehnte sich seufzend an das Haupt ihres Bettes. Sie würde noch eine ganze Weile nicht schlafen können; vielleicht sollte sie sich deshalb noch einen Film ansehen. Wo hatte sie nur die Fernbedienung hingelegt? Aus den Augenwinkeln heraus entdeckte sie sie auf dem Nachttisch. Sie drehte sich um. Das Licht der Nachttischlampe fiel durch die staubige Flasche und warf einen blauen Schimmer auf das Bett. Brenda blinzelte und nahm die Flasche zur Hand. Sie hielt sie noch näher ans Licht. Da war doch etwas drin. Sie packte den Korken und zog, doch er rührte sich nicht. Nach einigen vergeblichen Versuchen nahm Brenda die Flasche mit in die Küche und suchte in einer Schublade nach einem Korkenzieher. Vielleicht konnte sie ihn herausziehen. Beim dritten Drehen des Korkenziehers zerbarst der ausgetrocknete Korken in tausend Stücke. Die Überreste des Korkens fielen in die Flasche. Brenda hielt sie hoch und spähte hinein. Da waren irgendwelche Blätter drin, aufgerollt und durch den Flaschenhals in die Flasche gesteckt. Ihr Pulsschlag beschleunigte sich, doch ihr Verstand schritt sofort ein und dämpfte ihre Aufregung. Das hier war schließlich keine auf dem Meer treibende SOS-Nachricht. Nach zehn Minuten endlich hatte sie es geschafft, die Blätter mit Hilfe eines Küchenmessers und einer Pinzette aus der Flasche zu ziehen. Sie nahm sie mit in ihr Schlafzimmer und breitete sie auf dem Bett aus. Dann begann sie zu lesen. Gleich die erste Seite ließ ihr ein Schaudern über den Rücken laufen. Ich, Letitia Randolph Cameron, lege hiermit an diesem 25. Dezember 1929 meinen Lebenstraum nieder . . . Du meine Güte, dachte Brenda, dieses Zeug wurde vor fünfundsechzig Jahren geschrieben. Letitia Cameron. Mittlerer Name Randolph. Sie musste irgendwie mit Randolph Cameron verwandt sein, dem Börsenmakler, der das Haus in den 20er-Jahren renoviert hatte. Seine Frau vielleicht? Nein, wohl eher seine Tochter. Weihnachten 1929. Zwei Monate nach dem Schwarzen Freitag, dem Tag, an dem der Börsenkrach die Weltwirtschaftskrise ausgelöst hatte. 21
Brenda sah die anderen Blätter durch. Es waren ähnliche Erklärungen von drei anderen Mädchen mit Namen Eleanor James, Adora Archer und Mary Love Buchanan. Die anderen Namen sagten Brenda nichts, obwohl sie sich vage an ein Modegeschäft mit Namen Buchanan an der Biltmore Street in der Nähe des Pack Place erinnerte. In dem Gebäude befand sich jetzt, so weit sie sich erinnerte, eine Bäckerei. Sie überflog die einzelnen Seiten. Letitia Cameron hatte in einer feinen, weiblichen Handschrift geschrieben. Eleanor James Schrift war eckiger. Adora Archer schrieb mit vielen Schnörkeln und Mary Love Buchanan hatte eine gut lesbare, bodenständige Schrift. Eine kleine Tuschzeichnung war beigefügt, die Darstellung eines Kindes, das ein Weihnachtspäckchen öffnet. Erstaunlich lebensnah, dachte Brenda. Unter der Skizze standen die Initialen MLB. Ganz eindeutig waren diese Mädchen noch jung gewesen, vermutlich Teenager, als sie diese Erklärungen verfassten. Die Tinte war verblichen und uneben, das Papier rau und brüchig. Wenn Brenda Recht hatte, lagen diese Seiten seit mehr als sechs Jahrzehnten unberührt auf dem Dachboden des Cameron-Hauses. In ihrer Fantasie formte sich ein Bild, das sie nicht wieder los ließ. Vier junge Mädchen, beste Freundinnen, schreiben ihre Lebensträume nieder und stecken sie in diese blaue Glasflasche. Sicherlich hatten sie eine Art Zeremonie veranstaltet – natürlich, Mädchen in diesem Alter lieben das Dramatische. Sie konnte sich vorstellen, wie sie im Kreis zusammensaßen, sich gegenseitig in höchstem Ernst ihre Träume anvertrauten und sich versprachen, immer befreundet zu bleiben. Es war ein faszinierendes Bild, bei dem sich die Frage aufdrängte: Was war aus diesen vier Mädchen geworden? Waren ihre Träume tatsächlich in Erfüllung gegangen? Hatte sich für sie das Schicksal erfüllt, das sie sich vorgestellt hatten? Sie mussten jetzt so um die achtzig sein. Waren sie überhaupt noch am Leben, um ihre Geschichte zu erzählen? Die Geschichte. Brendas Herz begann zu klopfen und Tränen traten ihr in die Augen. Da lag es vor ihr. Der Abbruch des historischen 22
Cameron-Hauses war nicht die eigentliche Story. Das hier war die Aufgabe, nach der sie gesucht hatte. Die Geschichte der Menschen, die sich in den vergangenen fünfundsechzig Jahren Schicht um Schicht aufgebaut hatte. Sanft berührte sie die vergilbten Seiten und fuhr mit den Fingern über die verblasste Tinte. Das war es, was in ihrem Leben gefehlt hatte – die Leidenschaft. Diese Geschichte konnte ihre Zukunft verändern, konnte ihrer Arbeit Bedeutung und Wichtigkeit zurückgeben. Dies war die Richtung, nach der sie gesucht hatte. Sie wusste nicht, wieso sie so sicher war, aber sie wusste es einfach. Sie würde diese Frauen finden, sie aufspüren, ihre Geschichten erzählen. Sie würde Profile erstellen, vielleicht sogar eine ganze Serie machen. Falls . . . Bitte, Gott, dachte sie plötzlich, bitte lass sie noch am Leben sein. Das war das erste aufrichtige Gebet, das sie seit dem Tod ihrer Eltern vor zweiundzwanzig Jahren gesprochen hatte.
23