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Kapitel 1 New York, 1822 Sie konnte es nicht mehr ertragen. Nicht eine Minute länger! Sie musste weg von hier – an einen Ort, an dem es Menschen gab, Lachen, Leben. Laina Brightons Blick schweifte durch ihren schönen, luxuriös ausgestatteten Salon. Sie spürte erneut diese Verzweiflung in sich, die inzwischen zu ihrem täglichen Begleiter geworden war. Dieser Raum war so elegant, so vollkommen, so leer. Stanford fehlte ihr. Oh, wie sehr er ihr fehlte. Wenn sie doch nur Kinder gehabt hätten, dann vielleicht . . . Laina verdrängte diese herzzerreißenden Gedanken, unterdrückte die Tränen, die ihr in der letzten Zeit immer so schnell und so häufig kamen, und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Ihre Gestalt erschien in dem goldgerahmten Spiegel, als sie daran vorbeieilte. Sie verlangsamte ihre Schritte. Dann drehte sie sich um und warf einen Blick in den Spiegel. Der Schmerz war noch immer in ihren Gesichtszügen sichtbar, aber auch eine Entschlossenheit, die sie nicht mehr gesehen hatte, seitdem Stanford vor neun Monaten so überraschend gestorben war. Sie drehte sich rasch um und riss die Tür auf. „Beaumont?“ Der tadellos gekleidete Butler erschien so plötzlich, als hätte er hinter der Tür gelauert. Laina runzelte missbilligend die Stirn. Das war auch so etwas. Die Dienstboten waren ständig um sie bemüht. Laina fühlte sich förmlich erdrückt von so viel Fürsorglichkeit. „Ja, gnädige Frau?“ „Ich fahre nach Philadelphia, Beaumont.“ Sie ignorierte die rasch unterdrückte Missbilligung in seinen Augen. Beaumont war die Verkörperung eines idealen Dienstboten. „Sagen Sie Carlson, dass er die Kutsche sofort fertig machen soll. Ich möchte innerhalb der nächsten Stunde abreisen.“ 5


„Innerhalb der nächsten Stunde? Aber gnädige Frau, das ist unmög. . .“ Er hielt inne, als er sah, wie Laina ihre Schultern straffte. Er verneigte sich knapp. „Jawohl, gnädige Frau. Innerhalb der nächsten Stunde. Benötigen Sie noch etwas?“ „Ja. Schicken Sie Tilly auf mein Zimmer, damit sie Annette beim Packen helfen kann.“ Ihre langen schwarzen Röcke raschelten laut, als Laina herumwirbelte und auf die kunstvoll geschnitzte, bis in den dritten Stock heraufreichende Treppe zueilte. Sie warf einen flüchtigen Blick zurück auf den Butler, als sie die ersten Stufen hinaufging. „Und sagen Sie Hannah, dass sie einen Proviantkorb fertig machen soll – für zwei Tage. Und . . .“ Sie musste sich räuspern, weil plötzlich ihre Kehle eng wurde. „Und schicken Sie Billy voraus, damit er für frische Pferde sorgen kann. Ich will so schnell wie möglich nach Randolph Court!“

Philadelphia „Laina! Was für eine wunderbare Überraschung! Ich freue mich ja so . . .“ Elisabeth wollte voller Begeisterung in den Salon eilen, hielt aber inne, als sie ihre Schwägerin sah. „Sehe ich so schrecklich aus?“ Laina zwang sich zu einem Lächeln und stand auf. Der Raum schien sich um sie zu drehen. Sie musste sich mit einer Hand an der Sessellehne festhalten, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden. „Laina, Liebes, was ist los mit dir?“ Ihre Schwägerin lief auf sie zu und umarmte sie heftig. „Du bist so blass und du zitterst wie Espenlaub. Bist du krank?“ „Nein. Ich bin nur unheimlich müde.“ Laina biss sich auf die Unterlippe, um das Lachen zu unterdrücken, das in ihrer Kehle steckte. Vielleicht war sie hysterisch. Die Situation war schließlich alles andere als lustig. Auch das noch! Sie zwinkerte heftig, um die Tränen zurückzuhalten, die ihr plötzlich in die Augen traten. Dann machte sie einen Schritt zurück. Wie leicht war es doch, sich dem Selbstmitleid hin6


zugeben, wenn andere einem Mitgefühl entgegenbrachten. „Ich bin direkt hierhergekommen.“ „Direkt? Ohne Zwischenstopp? Bist du noch zu retten?“ Laina zuckte zusammen, als sie diese lauten Worte von der Tür her hörte. „Nein, Brüderchen, ich bin nur verzweifelt.“ Ihre Unterlippe zitterte, als sie sah, wie ihr jüngerer Bruder den großen Raum durchquerte und mit schnellen Schritten auf sie zulief. Die Tränen, die sie unterdrückt hatte, fingen nun an zu fließen, als seine starken Arme sich um sie legten. Oh, wie wunderbar sich diese Umarmung anfühlte! Sie legte den Kopf an seine muskulöse Brust. „Bitte schimpfe nicht mit mir, Justin. Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten in diesem düsteren, leeren Haus. Ich musste einfach hierherkommen.“ „Ich schimpfe doch nicht mit dir, weil du gekommen bist, Laina, sondern deshalb, weil du so unüberlegt gehandelt hast.“ Justin umfasste ihre Oberarme und schob sie von sich weg. Dann betrachtete er sie mit einem Stirnrunzeln. „Warum hast du uns nicht Bescheid gegeben? Ich hätte dich holen können. Du hättest diese Reise nicht ganz allein machen müssen, ohne dass sich jemand um dich kümmert und ohne Rast zwischendurch. Schau dich doch mal an! Du bist so erschöpft, dass du nicht einmal mehr aufrecht stehen kannst.“ „Ich weiß.“ Laina sah mit ihren tränennassen Augen in die markanten, jetzt aber düsteren Züge ihres Bruders. „Ich weiß, dass das dumm von mir war, Justin, aber dann hätte ich tagelang warten müssen, bis . . . Oh!“ Sie schwankte vor Erschöpfung. „Ich glaube, ich setze mich lieber.“ „Du brauchst keinen Sessel, Laina, du brauchst Schlaf. Nimm sie einfach mit, Justin.“ Mit diesen Worten drehte Elisabeth sich rasch um und lief den beiden voraus. Laina war zu müde, um zu protestieren, als ihr Bruder sie ohne große Umstände auf die Arme nahm und aus dem Zimmer trug.

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„Ich glaube nicht, dass wir Dr. Allen rufen müssen, Justin. Laina hat kein Fieber.“ Elisabeth warf einen Blick auf ihren besorgten Ehemann. „Schlaf ist die beste Medizin für sie.“ Laina sank erleichtert in die Kissen, als Elisabeth die Hand von ihrer Stirn nahm. Mit letzter Kraft lehnte sie sich an das Kopfende des Bettes. Nach ihrer langen Reise war es einfach zu angenehm, liegen zu bleiben. Sie unterdrückte den Wunsch, die Augen zu schließen, und lächelte Justin an. „Elisabeth hat recht, Brüderchen. Bitte mache keinen Wirbel um mich. Ich brauche nur Schlaf.“ „Und eine kräftige Mahlzeit.“ Justin betrachtete sie mit einem Stirnrunzeln. „Du hast wohl vergessen zu essen. Sieh dich bloß an, Laina. Du bist dürr wie eine Bohnenstange!“ Es wurde ihr ganz warm ums Herz, als sie die Besorgnis sah, die in diesen Worten lag. „Du bist so ein liebevoller, mitfühlender Mensch, Justin.“ Sie rümpfte die Nase. „Aber leider nicht besonders höflich.“ Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln. Elisabeth trat neben ihren Mann und legte ihm die Hand auf den Arm. „Laina wird es bald besser gehen, Justin, aber zuerst muss sie nach der langen Reise ein Bad nehmen, damit sie sich ins Bett legen kann. Deshalb solltest du jetzt besser nach unten gehen. Ich komme nach, sobald Trudy und ich Laina für die Nacht hergerichtet haben.“ Justin sah seine Frau an und Laina wurde es ganz schwer ums Herz. Stanford hatte sie verehrt, aber er hatte sie nie so angesehen wie Justin seine Frau – besonders als klar war, dass sie ihm keinen Stammhalter schenken würde. Und jetzt . . . Laina unterbrach ihre düsteren Gedanken und sah zu, wie ihr Bruder die Hände sanft um das Gesicht seiner Frau legte und ihr einen zärtlichen Kuss gab. Dann hob er mit einem breiten Lächeln den Kopf. „So! Endlich habe ich ein Verlangen befriedigt, das ich schon seit der ersten Nacht hatte, die wir in diesem Raum verbracht haben – na ja, wenigstens zum Teil.“ 8


„Justin!“ Elisabeths Wangen wurden flammend rot. „Deine Schwester . . .“ „. . . weiß, dass ich dich liebe. Sieh nur, sie lächelt.“ Justin lachte leise und küsste Elisabeth auf die Spitze ihrer wohlgeformten Nase. „Ich mag es, wenn du rot wirst.“ Laina seufzte. Sie konnte nicht anders. Justin und Elisabeth waren so verliebt ineinander, so glücklich als Ehepaar, und das trotz aller Widrigkeiten, mit denen sie zu Beginn ihrer Ehe hatten kämpfen müssen. Es war anfänglich eine reine Zweckehe gewesen. Elisabeth war damals vor Reginald Burton Smythe geflohen, dem Mann, mit dem ihr Vater sie hatte verheiraten wollen. Doch dieser Mann war brutal und herzlos gewesen. Justin hingegen hatte, nachdem seine erste Frau, Margaret, ihn verlassen hatte und dann tödlich verunglückt war, schlicht und einfach eine Frau gesucht, die sich um die Kinder kümmern würde – um Kinder, die nicht einmal seine eigenen waren, die Margaret mit in die Ehe gebracht hatte. Also entschloss er sich, Elisabeth zu bitten, ihn zu heiraten. Mit der Zeit lernten die beiden schließlich, einander von Herzen zu lieben. Justin hob den Kopf. Über die weichen, goldblonden Locken seiner Frau hinweg warf er Laina einen Blick zu. „Ich wünschte, wir könnten etwas tun, um deinen Schmerz zu lindern, Lainy.“ „Wir können etwas tun. Wir lassen sie einfach spüren, wie sehr wir sie lieben.“ Elisabeth hob ebenfalls den Kopf und lächelte. „Wir können unser Glück mit ihr teilen und wir können für sie beten. Alles andere, auch die Heilung ihrer Wunden, liegt allein in Gottes Hand.“ Diese Worte sollten Laina Trost spenden, aber sie fühlte sich dadurch nur noch schlechter. Sie biss die Zähne zusammen, um die zynische Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag, herunterzuschlucken. Sie hatte noch nie eine so enge Beziehung zu Gott gehabt wie Elisabeth und seit dem Tod von Stanford ignorierte sie ihn einfach. Warum auch nicht? Was hatte Gott jemals für sie getan? Obwohl sie jahrelang gebe9


tet hatte, hatte sie keine Kinder bekommen. Jetzt war ihr Mann tot und mit ihm war jede Hoffnung auf eigene Kinder gestorben. Sie blickte weg, damit die beiden nicht den Zorn in ihren Augen sehen konnten. „Das ist wahr. Du bist eine sehr kluge Frau, Elisabeth.“ Laina erstarrte und warf ihrem Bruder einen skeptischen Blick zu. Glaubte er wirklich wieder an Gott? Wo waren sein Unglaube und seine Bitterkeit geblieben nach seiner katastrophalen Ehe mit Margaret? „Vielen Dank, mein Herr. Aber ich bin auch eine sehr beschäftigte Frau. Bitte geh jetzt!“ Elisabeth hob beide Hände und wollte sich aus der Umarmung ihres Mannes befreien, aber er schmunzelte nur und drückte sie fester an sich. Plötzlich ging die Tür auf. „Oh, bitte entschuldigen Sie, gnädige Frau! Ich wollte nicht . . . ich meine . . . Sie haben geklingelt und . . . Ich bin gleich wieder zurück.“ Als Laina das vor Verlegenheit gerötete Gesicht des Hausmädchens sah, ihr linkisches Benehmen, als sie eilig den Rückzug antrat und dabei fast über die eigenen Füße stolperte, verrauchte ihr Zorn. Dieser komische Anblick entlockte ihr ein lautes Lachen. Es tat so gut, wieder lachen zu können. Justin zwinkerte ihr zu, dann winkte er das Hausmädchen zurück. „Kommen Sie nur herein, Trudy. Ich habe mich nur verabschiedet, weil man mich aus dem Zimmer jagen will.“ Er setzte eine finstere Miene auf, neigte sich zu Elisabeth und flüsterte ihr ins Ohr: „Manchmal sind diese Dienstboten wirklich lästig!“ Sein Flüstern war so laut, dass alle es hören konnten. Trudy fing an zu kichern. Laina musste plötzlich an eine Begebenheit aus der Zeit, als sie und Justin noch klein waren, denken. Sie waren in der Küche und sahen der Köchin beim Backen zu. Justin lehnte sich zu ihr herüber und flüsterte laut: „Das riecht so gut, dass mir der Bauch schon wehtut vor Hunger. Wie gern hätte 10


ich jetzt einen Keks!“ Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. Die Köchin hatte sein Flüstern gehört und gab ihnen beiden je einen Keks. Die Kinder sahen auf das Gebäck, dann begegneten sich ihre Blicke und eine Verschwörung war geboren. Von diesem Moment an machten sie sich die List mit dem lauten Flüstern zunutze, wenn sie bei den Dienstboten ihren Willen durchsetzen wollten. Diese Erinnerung ließ Laina schmunzeln. Justin sah sie mit einem breiten Lächeln an. Sie wusste, dass auch er sich zurückerinnerte. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr so verloren und allein. Das Herz war ihr nicht mehr so schwer. Sie griff nach der Hand ihres Bruders. „Du bist ein wahrer Freund, Justin.“ Er drückte sanft ihre Hand, dann neigte er sich zu ihr herunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange – dicht neben ihrem Ohr. „Alles wird wieder gut, Laina. Indianerehrenwort.“ Diesmal waren die geflüsterten Worte nur für ihre Ohren bestimmt. Diesen feierlichen Schwur hatten sie immer dann ausgesprochen, wenn einer von ihnen nach dem Tod ihrer Mutter traurig oder unglücklich gewesen war. Laina musste ein plötzliches Aufschluchzen unterdrücken. Justin drückte sie fest an sich. Dann drehte er sich abrupt um und verließ mit schnellen Schritten den Raum.

 „Fühlst du dich schon ein bisschen besser?“ „Schon viel besser, Elisabeth. Danke, dass du mir Trudy ausgeliehen hast. Das warme Bad hat mir nach dem Hin- und Herschaukeln in der Kutsche wirklich gutgetan.“ Laina zupfte die schwarze Schleife am Ausschnitt ihres weißen Nachthemds zurecht und ließ sich müde auf die Bettkante fallen. Sie war so zittrig und schwach, dass sie nicht mehr stehen konnte. „Hast du Hunger?“ Elisabeth musterte ihre Schwägerin kritisch. „Ich habe die Köchin gebeten, dir ein Tablett zurechtzumachen. Es gibt Geflügelragout, einen Bratapfel, ein bisschen Käse und warme Milch.“ 11


Laina nahm ihre ganze Kraft zusammen. Sie probierte ein bisschen von dem Ragout und steckte sich ein Stückchen Käse in den Mund. Dann seufzte sie und strich ihren noch feuchten Zopf über die Schulter nach vorne. „Das Essen ist wunderbar, Elisabeth, aber ich bin einfach zu müde. Ich esse den Apfel morgen früh.“ Sie schlüpfte unter die Decken und ließ ihren Kopf wieder auf das weiche Kopfkissen sinken. „Natürlich. Du brauchst jetzt vor allem Schlaf.“ Elisabeth legte ein paar kleine Stückchen Käse auf den Teller mit dem Bratapfel. Dann bedeckte sie beides mit der Serviette und stellte den Teller auf den Nachttisch neben ein Glas Wasser. Sie gab Trudy ein Zeichen, woraufhin das Hausmädchen das Tablett mitnahm. „Kann ich noch etwas für dich tun?“ Sie zog Laina die rot- und cremefarbene Bettdecke über die Schultern. „Brauchst du vielleicht noch eine Decke?“ „Nein, danke.“ Laina warf einen Blick auf den roten Betthimmel und lächelte. „Danke, dass du mir dieses Zimmer gegeben hast, Elisabeth. Ich freue mich schon darauf, beim Aufwachen ein bisschen Farbe zu sehen. In meinem Haus ist alles in schwarze Tücher eingehüllt.“ Ihre Augen schlossen sich langsam. Mühsam schlug sie sie wieder auf. „Ich mag . . . Farben . . . besonders . . . Rot.“ Ihre Stimme wurde schwächer und ihre Augen schlossen sich wieder. „Ja, ich weiß.“ Elisabeth neigte sich zu ihr herunter und drückte sie an sich. „Gute Nacht, Laina. Ich freue mich so sehr, dass du hier bist. Schlaf gut.“ „Hmmm.“ Laina konnte nichts mehr sagen. Sie war zu schwach, um die Augen aufzumachen. Das Licht, das sie durch ihre geschlossenen Augenlider wahrnahm, wurde schwächer. Sie hörte noch das leise Rascheln von Elisabeths Kleid, das leichte Tappen ihrer Schuhe auf dem Teppich. Die Tür öffnete und schloss sich wieder. Dann war es still um sie herum. Laina stieß ein langes Seufzen aus. Zu Hause ging ihr die Stille auf die Nerven. Aber die Ruhe hier war anders. Lebendiger. Morgen würde sie die Kinder sehen. Ihre Lippen 12


verzogen sich zu einem Lächeln. Mit dieser Vorfreude im Herzen schlief sie schließlich ein.

 Justin hörte auf, nervös auf und ab zu laufen. Er drehte sich auf dem Absatz um, als seine Frau den Salon betrat. „Ich glaube doch, dass wir Dr. Allen rufen sollten, Elisabeth. Laina sieht wirklich krank aus“, sagte er mit einem besorgten Stirnrunzeln. „Sie ist dünn wie eine Bohnenstange und schwach wie ein junges Kätzchen. Und sie hat so dunkle Ringe unter den Augen . . .“ Er schüttelte den Kopf. „Man könnte meinen, dass sie in eine Prügelei geraten ist.“ Sein Blick wurde düster. „Wir brauchen Dr. Allen.“ „Justin, ich weiß, wie schwer es für dich ist, deine Schwester so zu sehen, aber ich verspreche dir eins: Eine ruhige Nacht lässt diese dunklen Augenringe verschwinden, und das gute Essen unserer Köchin wird dafür sorgen, dass sie wieder zu Kräften kommt.“ Elisabeth ging zum Sofa und setzte sich. „Ich habe es schon einmal gesagt: Alles andere liegt in Gottes Hand. Wir können nichts anderes tun, als ihr Liebe entgegenzubringen und für sie zu beten.“ Sie lächelte und klopfte mit der flachen Hand auf das Polster neben ihr. „Warum setzt du dich nicht zu mir und genießt das schöne Kaminfeuer?“ „Ich mich setzen?“ Justin schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht einfach nur herumsitzen. Dazu bin ich zu nervös.“ Er bückte sich und warf noch ein Holzscheit in das bereits hell brennende Kaminfeuer. Dann griff er nach dem Schürhaken und stocherte im Feuer herum. „Ich wünschte, ich könnte etwas für Laina tun.“ Er stieß das Holzscheit an, bis es an der richtigen Stelle lag. Dann blickte er zu Elisabeth hinüber. „Abgesehen vom Beten.“ „Ich weiß, Liebster. Aber im Moment braucht sie nur Ruhe.“ Elisabeth stand auf, ging zu ihrem Mann und legte die Arme um ihn. Er zog sie an sich. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf das Kinn. „Warum gehst du 13


nicht ins Kaffeehaus? Ein Spaziergang wird deine düsteren Gedanken vertreiben und ein Gespräch mit deinen Freunden über das Geschäftsleben und die Politik wird dich ein bisschen ablenken.“ Er tat überrascht. „Wollen Sie mich etwa loswerden, gnädige Frau?“ Elisabeth musste lachen. „Ja, damit du ein bisschen zur Ruhe kommst.“ Justins Mund verzog sich zu einem schüchternen Lächeln. „Bitte entschuldige, dass ich mich so kindisch aufführe, Elisabeth. Ich werde deinen Rat befolgen. Die frische Luft wird mir guttun.“ Er gab ihr zuerst einen Kuss auf die Nasenspitze, dann einen weiteren auf den Mund und verließ schließlich den Raum. Als seine Schritte auf dem Flur verhallt waren, seufzte Elisabeth auf und neigte den Kopf. „Unser Vater im Himmel, bitte gib Justin und mir deine Weisheit, damit wir erkennen, was für Laina am besten ist. Bitte hilf uns, ihre Trauer und ihren Kummer nachzuempfinden, und gib uns Weisheit und Mitgefühl, um ihr darüber hinwegzuhelfen. Herr, ich bitte dich, dass du Laina auf deinem Weg führst, damit sie Frieden und Erfüllung findet. Bitte berühre ihr Herz mit deinen heilenden Händen und mache sie zu einem wahrhaft glücklichen Menschen. Darum bitte ich dich in deinem heiligen Namen. Amen.“ Wieder musste Elisabeth laut aufseufzen. Sie blinzelte, weil ihr Tränen in die Augen traten. Plötzlich verspürte sie den dringenden Wunsch, nach ihren Kindern zu sehen, ihre friedlichen, schlafenden Gesichter zu betrachten. Mit schnellen Schritten durchquerte sie den Raum, eilte durch die Halle und die Treppe hinauf. Was für ein Segen war es doch, dass sie einen liebevollen Mann und drei gesunde, glückliche Kinder hatte. Ihr Herz floss förmlich über vor Dankbarkeit. „Herr, segne doch Laina so reich, wie du mich gesegnet hast!“

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Mit einem leisen Wimmern dreht sich Laina um. Ihre Finger schlossen sich fest um das Kopfkissen. Sie zog es näher zu sich und ballte es in ihrer Hand zu einem dicken Klumpen zusammen. Wieder bewegte Laina ihre Finger. Aus der Finsternis kamen Kinder auf sie zugeschwebt, Kinder jeden Alters – von Säuglingen bis hin zu Jugendlichen. Es waren zornige, ängstliche Kinder. Sie griff nach jedem Kind, das sich ihr näherte. Sie riss ein Kind nach dem anderen aus der Finsternis und steckte es in ihr Herz, wo es Liebe und Schutz finden konnte. Ihr Herz wurde immer größer. Sie hatte Angst, dass es platzen könnte, aber noch immer sammelte sie die Kinder ein. Ihre Arme erlahmten unter der Last und schließlich ließ sie sie sinken. Nein! Nein! Sie durfte nicht aufhören. Sie musste den Kindern unbedingt helfen! Ein Mann kam und stellte sich neben sie. Sie konnte seine Stärke förmlich spüren. Er begann damit, die Kinder aus der Finsternis zu reißen, und sie spürte eine Erleichterung. Sie versuchte, einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu werfen, aber er drehte sich immer wieder von ihr weg, wenn er nach einem weiteren Kind griff. Ihr Herz war schon ganz dick angeschwollen. Konnte es überhaupt noch weitere Kinder aufnehmen? Was sollte sie mit ihnen anfangen? Plötzlich erschien Justin. Er legte seine Hand auf ihr Herz. „Es wird alles gut, Lainy. Indianerehrenwort.“ Seine Hand verwandelte sich in einen Geldbeutel, der aufplatzte und Geld auf die Kinder in ihrem Herzen regnen ließ. Die Kinder fingen an zu lachen. Dieses Geräusch erfüllte sie mit Freude und sie musste ebenfalls lachen. Dann nahm der Unbekannte ihre Hand und plötzlich waren sie allein. Die sanfte Berührung raubte ihr den Atem. Sie sah zu ihm hoch, aber sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Wer war der Mann? Dann hörte sie, wie Justin lachte. Er kannte den Fremden. Sie drehte sich ruckartig zu ihrem Bruder um, aber er entfernte sich langsam von ihr. 15


„Bitte bleib, Justin! Sag es mir! Wer ist er?“ „Indianerehrenwort, Lainy, Indianerehrenwort . . .“ „Justin, so warte doch!“ Laina saß plötzlich kerzengerade im Bett. Sie war von ihrem eigenen Rufen aufgewacht. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie legte die Hand auf ihre pochende Brust und suchte mit den Augen das Zimmer nach ihrem Bruder ab. Das leise aufflackernde Kaminfeuer warf dunkle Schatten auf die Gegenstände im Raum. Niemand war hier. Sie war allein. Es war nur ein Traum gewesen. Mit einem Kopfschütteln sank Laina zurück auf das Kissen. Ihr war klar, warum sie von Justin und Kindern geträumt hatte. Schließlich hatte sie an sie gedacht, als sie eingeschlafen war. Aber wer war der Fremde in ihrem Traum? Und was hatte die Sache mit dem Geld zu bedeuten? Das alles ergab keinen Sinn, absolut keinen Sinn. Sie gähnte und dann fielen ihr die Augen zu. Wahrscheinlich war sie einfach nur müde . . .

Kapitel 2 Der Hunger weckte sie auf. Laina öffnete die Augen. Ihr Blick fiel auf den roten Betthimmel über ihr. Sie starrte verwirrt auf das Stück Stoff, aber als die Benommenheit des Schlafes von ihr gewichen war, musste sie lächeln. Sie hatte es geschafft! Sie war in Randolph Court. Das war zu schön, um wahr zu sein! Laina setzte sich auf und ließ ihren Blick durch das große Schlafzimmer schweifen. Sie erfreute sich an dem Anblick. Jemand war bereits da gewesen und hatte im Kamin Holz nachgelegt. Die Flammen tanzten fröhlich. Ihr flackerndes Licht ließ die rot-beige gemusterte Seide an den Wänden hell glänzen und das in Rot, Blau und Grün gehaltene Paisley16


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