Kapitel 1 Christine betrachtete das große Backsteinhaus vom Bürgersteig aus. Es glich mehr oder weniger den übrigen Häusern in dieser würdevollen Gegend nahe der Universität, und doch war es anders. Sie blickte die von Bäumen gesäumte Straße hinunter, um die anderen Häuser zu mustern. Es handelte sich um alte, ehrwürdige Wohnhäuser, ganz anders als in ihrem Wohnviertel, wo Häuser beinahe über Nacht wie Pilze aus dem Boden schossen, wie ihr Vater zu sagen pflegte. In ihrer Straße gab es so gut wie keine Grünflächen, und die wenigen Bäume waren bestenfalls spindeldürr. Dieses offensichtlich von einflussreichen Menschen bewohnte Wohnviertel dagegen strahlte Geschichte und Wohlstand aus, und aus irgendeinem Grund ärgerte sie sich darüber. Warum nur hatte sie den Eindruck, dass sich dieses Haus von den übrigen in der Straße unterschied? Strahlte es nicht eine gewisse Bedrücktheit aus? Ein Gefühl der Traurigkeit? Vielleicht lag es einfach an der fehlenden Weihnachtsdekoration. Kein Tannenzweig schmückte die nackte, schwarze Haustür. Und keine Lichter erstrahlten, um die trübe Dämmerung des Spätnachmittags aufzuhellen. Sie ging den gepflegten, mit Backsteinen ausgelegten Weg bis zur Haustür hinauf und drückte ohne zu zögern 5
auf die Klingel, um nicht im letzten Moment umzukehren und das ganze verrückte Vorhaben aufzugeben. Minuten schienen zu vergehen, bevor sich die Tür langsam öffnete und der Kopf einer älteren Dame mit stahlblauen Augen und silbergrauem Haar im Türspalt erschien. „Ja, bitte?“ Ihre Stimme hatte einen rasselnden Beiklang wie bei langjährigen, starken Rauchern. „Guten Tag ... Mrs Daniels? Ich bin ... ich bin Christine Bradley ...“ „Sie sind spät dran“, schnappte die Frau, wobei sie sich auf eine Krücke gestützt nach vorn neigte, um Christine besser zu sehen. Dann öffnete sie die Tür ein wenig weiter, und ein bandagierter Fuß kam zum Vorschein. Sie musterte die junge Frau. „Sie sollten gleich von Anfang an wissen, dass ich keinerlei Verspätung dulde.“ „Spät?“ Christine war leicht aus der Fassung gebracht, gleichzeitig war ihre Neugier geweckt. „Ja, die Agentur sagte mir bereits vor einer Stunde, dass Sie kommen würden. Ich hatte Sie schon fast abgeschrieben.“ „Oh, es tut mir furchtbar leid.“ Christine lächelte ihr strahlendstes Lächeln, entschlossen, das Spiel dieser seltsamen Frau mitzuspielen – jedenfalls im Augenblick. So konnte sie Zeit gewinnen und das Unausweichliche aufschieben; denn Mrs Daniels mit ihrer abrupten, um nicht zu sagen groben Art machte ihr nicht gerade Mut. „Nun, kommen Sie herein, und machen Sie diese verdammte Tür zu. Ich will schließlich nicht die gesamte Nachbarschaft heizen. Auch wenn einige Leute vielleicht etwas anderes denken – ich kann mir keine unnützen Ausgaben leisten.“ Christine schloss rasch die Tür, sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zuzuschlagen, um sich nicht erneutem Tadel auszusetzen. „Es tut mir leid, Mrs Daniels, ich möchte Ihnen ...“ „Hören Sie, verschwenden Sie nicht meine Zeit mit Entschuldigungen oder Erklärungen, Sie sind wahrscheinlich 6
ohnehin nicht für den Job geeignet. Hängen Sie Ihren Mantel dort drüben auf, und dann kommen Sie ins Wohnzimmer, damit wir dies so schnell wie möglich hinter uns bringen.“ Mrs Daniels humpelte mit ihren Krücken zu einem Ledersessel und ließ sich mit einem tiefen Seufzer hineinfallen. „Mein Knöchel. Wie konnte ich nur so ungeschickt sein, mir meinen Knöchel zu verstauchen.“ „Wie ist das passiert?“ „Das spielt keine Rolle. Ich stelle hier die Fragen.“ Sie musterte Christine abschätzend von oben bis unten. Dann winkte sie abwehrend mit der Hand. „Zunächst einmal sind Sie viel zu jung. Wie alt sind Sie? Sechzehn?“ „Ich bin neunzehn, fast zwanzig.“ Mrs Daniels schüttelte den Kopf. „Nun, ich wollte eine ältere Frau, jemanden, der Verantwortung tragen kann. Es geht hier um einen Vollzeitjob; ist Ihnen das klar? Außerdem werden einige Abende anfallen. Ich habe keine Lust, ein junges, unbekümmertes Ding einzustellen, das meint, es könnte kommen und gehen, wie es ihm beliebt, oder früher frei nehmen, weil es eine Verabredung hat. Das kann ich keinesfalls tolerieren.“ Sie tolerieren nicht gerade viel, dachte Christine, doch laut sagte sie: „Um ehrlich zu sein, gehe ich nicht sehr häufig aus. Mittwochs besuche ich gelegentlich den Abendgottesdienst, mehr nicht.“ „Aha, Sie sind also eine Kirchgängerin?“ Mrs Daniels’ Augenbrauen gingen mit einem Anflug von Interesse in die Höhe, doch ihre kalten blauen Augen blickten Christine immer noch an, als könnten sie durch diese personifizierte Enttäuschung hindurchsehen. Christine rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. Was, um alles in der Welt, machte sie hier? Und warum nur hatte sie zugelassen, dass das Gespräch so eigenartig verlief? „Ähem, Mrs Daniels, ich muss Ihnen sagen ...“ „Wo sind eigentlich Ihre Referenzen?“ Es klang wie eine Anklage. 7
„Referenzen?“ Christine betrachtete den mürrischen Gesichtsausdruck ihres Gegenübers und beschloss, das Spiel weiterzuspielen. Mrs Daniels fuhr sich mit der Hand durch ihr kurz geschnittenes Haar und rollte mit den Augen. „Bringen sie euch jungen Leuten denn heutzutage gar nichts mehr bei? Wenn Sie zu einem Einstellungsgespräch erscheinen, wird von Ihnen erwartet, dass Sie Referenzen mitbringen. Ich nehme an, Sie haben keine. Haben Sie je zuvor eine Anstellung gehabt?“ „Nun, ich habe während der Highschool zwei Jahre lang bei McDonald’s gejobbt.“ Mrs Daniels stieß ein freudloses Lachen aus. „Das ist ja großartig. Sie könnten vielleicht in meine Küche gehen und mir einen Big Mac zum Abendessen machen. Menschenskind, Mädchen, verstehen Sie irgendetwas von Hausarbeit?“ „Hausarbeit?“ „Oh, warum gebe ich mich eigentlich mit Ihnen ab, Miss ... Miss – wie war noch gleich Ihr Name?“ „Christine. Christine Bradley.“ „Richtig.“ Ihre Augen verengten sich. „Nun, Miss Bradley, sagen Sie: Kennen Sie den Unterschied zwischen einem Aufnehmer und einem Besen?“ Christine nickte langsam. „Ich habe meinem Vater in den letzten sechs Jahren den Haushalt geführt.“ Sie spürte einen Kloß in ihrer Kehle, als ihr mit einem Mal bewusst wurde, wie sehr sie ihn und die Vertrautheit ihres früheren Zuhauses vermisste. Mrs Daniels blickte skeptisch. „Und was hat Ihre Mutter getan?“ „Meine Mutter ist gestorben“, sagte Christine ruhig. Zweimal, dachte sie. „Oh, das ist schade.“ Mrs Daniels schien nur ein klein wenig weicher zu werden. „Doch wenigstens scheinen Sie zu wissen, wie man einen Haushalt führt?“ 8
Christine nickte erneut, bereit, dieses absurde Gespräch zu beenden, aber noch nicht bereit, dieser feindlich eingestellten Frau ihre wahre Identität zu enthüllen. Wie konnte eine so kalte, abweisende Person ihre leibliche Großmutter sein? Vielleicht hatte sie irgendwo einen Fehler gemacht, sich ganz und gar geirrt. Doch sie wusste, dass das nicht möglich war. Ohne Zweifel handelte es sich um die richtige Frau. Es war die richtige Adresse, die richtige Stadt, der richtige Name. Doch gleichzeitig war alles falsch. Furchtbar falsch! „Mrs Daniels“, begann Christine erneut. „Ich muss Ihnen wirklich ...“ „Nun, ich möchte, dass Sie mir diese Referenzen bringen, und wenn Sie mich zufrieden stellen und sich keine geeignetere Person bewirbt, dann können Sie sofort bei mir anfangen. Meine Schwiegertochter geht mir seit Tagen auf die Nerven. Heute noch hat sie mir gesagt, dass sie sich nicht ständig um meinen Haushalt kümmern kann, vor allem während der Ferien, und ich bin froh darüber. Je seltener ich diese Frau zu Gesicht bekomme, desto besser. Ich kann einfach nicht begreifen, wie mein Stiefsohn sich mit einer solchen Person einlassen konnte.“ Das muss mein Onkel sein, dachte Christine. Obwohl ihr Vater nie über Leonores Geschwister gesprochen hatte. Vielleicht war er ein Stiefonkel. Sie war sich nicht sicher. Immerhin hatte ihr Vater nur wenig über ihre leiblichen Eltern gewusst, nur den Namen und den Wohnort. Beides war erst kürzlich und mehr oder weniger zufällig herausgekommen. „Und diese Enkelkinder sind auch nicht gerade das Gelbe vom Ei. Ungezogene Gören, wenn Sie mich fragen, heulende, nörgelnde Gestalten, die ständig im Weg sind.“ „Aber Sie können sich glücklich schätzen, eine Familie zu haben ...“ „Glücklich schätzen?“ Mrs Daniels blickte finster drein. „Sie warten nur darauf, dass ich den Löffel abgebe, damit 9
sie all dies erben können.“ Sie machte eine ausladende Handbewegung und stieß ein scharfes, zynisches Lachen hervor. „Und nur, damit Sie Bescheid wissen, Miss Bradley: Falls Sie glauben, Sie könnten hier herumschnüffeln und die Alte bestehlen, sollten Sie sich das gut überlegen. Ich bin zwar fast achtzig, aber hier oben ist noch alles in bester Ordnung.“ Sie tippte sich an die Stirn. „Meine Familie ist da anderer Meinung. Ich bin mir sicher, dass sie mich am liebsten für senil erklären und in ein Seniorenheim abschieben würden, wo ich langsam verwelken und schließlich sterben würde.“ Sie beugte sich nach vorn und starrte Christine an. „Sie wurden nicht von Felicity geschickt, oder?“ „Felicity?“ Christine hatte mehr und mehr das Gefühl, dass ihr die Situation entglitt. „Meine Schwiegertochter“, erklärte Mrs Daniels mit einem Stirnrunzeln. „Sie hat es auf mich abgesehen. Ich weiß das.“ „Aber warum?“ Trotz ihrer Vorbehalte und des starken Wunsches, dieser streitsüchtigen Frau zu entkommen, wollte Christine weitermachen. Sie spürte, dass es einen Grund für die Verbitterung und Abgestumpftheit dieser Frau gab. Sie wollte wissen, was dahinter steckte. „Wie ich schon sagte, sie haben es auf mein Geld abgesehen.“ Sie lächelte verschmitzt, als ob sie ein Geheimnis verbarg. „Und das ist völlig in Ordnung für mich. Ich habe vor, sie weiter hinzuhalten, damit sie mir während meiner letzten Jahre ein Minimum an Respekt entgegenbringen. Ich bin sicher, dass sie nur aus diesem einen Grund versuchen, freundlich zu mir zu sein – sie glauben, dass ich ihnen mein enormes Vermögen hinterlassen werde.“ Sie lachte erneut, doch diesmal schwang Traurigkeit in ihrer Stimme mit, als sie durch die sorgfältig eingerichteten Räume des großen, stillen Hauses klang. Unerklärlicherweise und trotz ihrer Verwirrung fühlte Christine eine Welle des Mitleids für diese verbitterte Frau 10
in sich aufkommen. Und obwohl es unmöglich schien, sie als Blutsverwandte zu betrachten, fühlte sie eine seltsame Verbundenheit mit ihr. „Okay, Mrs Daniels, ich werde mich um die Referenzen kümmern. Ich kann Ihnen den Namen und die Telefonnummer meines Pastors und meines Vorgesetzten bei McDonald’s geben. Ich könnte Ihnen auch die Telefonnummer meines Vaters geben, aber er hat vor kurzem das Land verlassen, um auf einer Missionsstation in Brasilien zu unterrichten. Reichen Ihnen diese zwei Namen?“ „Mir bleibt wohl nichts anderes übrig. Aber hören Sie auf mich, junge Frau, sollten Sie sich künftig für einen Job bewerben, bringen Sie Ihre Referenzen gleich mit!“ Mit einem lauten Stöhnen stand sie mühsam auf und griff nach ihren Krücken. „Die jungen Leute heutzutage!“ Christine stand ebenfalls auf. „Wann soll ich anfangen?“ „Nun, Felicity kommt heute zurück. Kommen Sie morgen früh um Punkt acht Uhr, aber nicht eine Minute eher, denn vorher bin ich noch nicht auf. Wenn Sie mir versprechen können, dass Sie morgen kommen, kann ich Felicity sagen, dass sie sich nicht um mich zu kümmern braucht. Ich habe ihr und meinem Stiefsohn seit letztem Samstag, als ich aus der Klinik entlassen wurde, gesagt, dass sie sich nicht um mich zu kümmern brauchen. Meinen Sie, die beiden hätten auf mich gehört? Kein bisschen!“ Sie nahm die Krücken und humpelte davon, ohne ein Wort des Abschieds und ohne Christine zur Tür zu begleiten. Christine nahm einen kleinen Notizblock aus ihrer Tasche, schrieb sorgfältig die gewünschten Angaben auf ein Blatt Papier und legte den Zettel auf den glänzenden Mahagonitisch in der Diele. Dann zog sie leise ihren Parka über und verließ das Haus. Es wurde bereits dunkel, und sie zitterte vor Kälte. Sie beschleunigte ihre Schritte und fragte sich, in was sie da hineingeraten war. Sie hatte bisher keine Pläne für die Weihnachtsferien gehabt. Nun würden sie aller Voraussicht nach unvergesslich werden. 11