Ich liebe dich Es war Sonntagmorgen, und ich wollte nur schnell zur Tankstelle, um mir eine Zeitschri� zu kaufen, und dann den freien Tag mit meiner Familie genießen. Vor dem Nachbarhaus spielten zwei Jungs mit einer alten Coladose Fußball. Es war nicht wichtig, ob hier ein Markenfußball zum Einsatz kam – die Kids wollten ihren Spaß, und da tat es auch eine alte, rostige Dose. Die beiden, die regelmäßige Besucher unseres Kinder- und Jugendzentrums waren, bemerkten mich natürlich. Wir sahen uns fast jeden Tag, spielten, quatschten und verbrachten viel Zeit miteinander. Heute war die ARCHE jedoch geschlossen, und das bedeutete für sie, dass sie ihre Freizeit anders gestalten mussten. Michael winkte mir zu und rief: „Guten Morgen!“ Tobias hingegen rannte mich fast um. „Hallo, Bernd“, begrüßte er mich. „Wo gehst du hin?“ Er war gerade sieben Jahre alt geworden, aber zum „Kindsein“ ha�e er nur wenig Gelegenheit. Seine Mutter war selbst noch ein Teenager gewesen, als er geboren wurde, und vor einigen Monaten ha�e sie noch eine kleine Tochter bekommen. Sie ha�e wechselnde Lebensgefährten, und so ha�e Tobias mal einen „Vater“ und mal nicht. Häufig ließ die Mu�er ihn mit seiner 27
Schwester allein. Dann musste er auf die Kleine aufpassen, ihr die Windeln wechseln, die Flasche geben und sie manchmal auch trösten. Er musste viel zu früh Verantwortung übernehmen und war deshalb viel reifer als andere Kinder in seinem Alter. Wenn man sich mit ihm unterhielt, ha�e man das Gefühl, man spräche mit einem Zehnjährigen, dabei besuchte er gerade mal die erste Klasse. „Ich gehe zur Tankstelle, um mir eine Zeitung zu kaufen“, antwortete ich auf seine Frage. „Dann will ich mit“, erklärte er. Alle meine Versuche, ihn dazu zu überreden, mit seinem Freund weiterzuspielen, misslangen. Tobias wollte mit. Die Zeitschri� war schnell gefunden und wir standen an der Kasse. „Du, Bernd“, sagte Tobias plötzlich, „ich liebe dich!“ Mir lief ein Schauer über den Rücken. So ein Satz, so eine Erklärung von einem siebenjährigen Jungen, der in seinem Leben selbst viel zu wenig Liebe erfahren ha�e. Die Kassiererin schaute uns verwirrt an, denn sie merkte natürlich gleich, dass wir nicht Vater und Sohn waren. Nachdem ich bezahlt ha�e, nahm ich Tobias in den Arm und versuchte, ihm zu zeigen, dass auch ich ihn lieb ha�e. Am nächsten Tag, gleich nach der Schule, klop�e es an meiner Bürotür und Tobias kam herein. Es kommt immer wieder vor, dass der eine oder andere unserer kleinen Besucher zuallererst in meinem Büro vorbeikommt, um von der Schule oder irgendeinem Erlebnis zu erzählen oder einfach nur Hallo zu sagen. Doch Tobias wollte mich an diesem Tag nach der Schule nicht nur begrüßen; er wollte etwas ganz Außergewöhnliches. 28
„Bernd“, sagte er, „morgen gehe ich nicht in die Schule! Ich werde dir hier in der ARCHE helfen. Was ihr hier macht, ist so wichtig für die Kinder!“ Was ging im Kopf dieses viel zu selbstständigen Erstklässlers vor? Das sagte ein Kind, nicht ein sozial engagierter Erwachsener. Diese Situation katapultierte mich in Gedanken viele Jahre zurück in meine eigene Kindheit. Ich sah wieder vor mir, wie meine Mu�er eines Tages mit zwei Koffern bepackt vor mir stand und mit Tränen in den Augen sagte: „Ich gehe jetzt und komme nicht wieder. Ich werde mich von deinem Vater scheiden lassen!“ Ich war damals ungefähr genauso alt wie Tobias. Mir liefen die Tränen übers Gesicht. Ihre Aussage war so endgültig. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob noch jemand in unserer Wohnung war, aber als meine Mu�er das Haus verließ, fühlte ich mich so allein, als wäre ich von allen verlassen. Mein Weinen war so laut und doch hörte es niemand. Mein Herz schlug so stark, dass der ganze Körper zi�erte. Mein Vater ha�e ein eigenes kleines Geschä�, mit dem er – leider nur mit mäßigem Erfolg – versuchte, unsere Existenz zu sichern. Natürlich führte der Weggang meiner Mu�er zu noch größeren finanziellen Schwierigkeiten, da sie im Laden mitgearbeitet ha�e. Das Geschä� ging bankro�, der Schuldenberg wuchs an, und mein Vater arbeitete von morgens bis spätabends, um so gut wie möglich über die Runden zu kommen. Um meinen Bruder und mich kümmerte sich unsere Großmutter, die unsere Familie außerdem mit einem Teil ihrer kleinen Witwenrente unterstützte. Sie kochte für uns, machte den Haushalt und half meinem Vater, so gut es eben ging. Doch es war schwer, und das merkten wir als Kinder sehr früh. Irgendwann eröffnete uns unser 29
Vater, dass unsere Großmu�er schwer krank war und wahrscheinlich nicht mehr lange leben würde. Sie ha�e Krebs und musste operiert werden. Die Ärzte gaben ihr nach der Operation noch zwei Jahre, doch sie lebte und li� noch fünf weitere. All das nagte an mir wie ein Geschwür. Nachts schreckte ich regelmäßig aus dem Schlaf auf. Wenn ich dann wach dalag, fragte ich mich, was ich tun würde, wenn meine Großmu�er jetzt tot und nicht mehr für uns da wäre. Tagsüber half ich, so gut ich konnte, im Haushalt: einkaufen, kochen, abwaschen, mit zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen. Für Kinderträume gab es da wenig Raum. Einen Traum jedoch behielt ich mir. Er begleitete mich durch die ganze Kinderzeit: Ich wollte musizieren. Doch das war mein Geheimnis. Wir ha�en ja ohnehin kein Geld für Musikunterricht und unmusikalisch war ich noch dazu. Je älter ich wurde, desto unausgeglichener wurde ich. Ich war o� traurig, wütend, und schließlich wollte ich mir sogar das Leben nehmen, auch wenn ich nicht wusste, warum. In meiner Freizeit trieb ich mich viel auf der Straße und auf öffentlichen Plätzen herum, ich rauchte und hörte Musik, um mich von meinen Problemen abzulenken. Mein älterer Bruder erzählte mir eines Tages, dass er die Heilsarmee besuchte. Das sei eine Gruppe von Christen, die eine Menge Angebote für Kinder hä�e. Er sagte, dass man dort sogar kostenlosen Musikunterricht bekommen konnte. Das interessierte mich. Vielleicht konnte mein Traum ja doch in Erfüllung gehen. Vielleicht konnte ich endlich ein Instrument lernen. Am darauffolgenden Sonntag besuchte ich die Heilsarmee. In meiner Familie sprach man wenig über Reli30
gion und so wusste ich nicht viel über Christen und ihren Glauben. Der Go�esdienst, der an diesem Abend abgehalten wurde, interessierte mich auch nicht sonderlich; ich war ja sowieso aus einem anderen Grund hier. Nach dem Go�esdienst sprach ich mit dem Kapellmeister und bat ihn um Posaunenunterricht. Er war ein freundlicher Mann, selbst Vater von zwei Kindern, und er nahm mich als Schüler auf. Von da an ging ich regelmäßig in die Heilsarmee. Ich besuchte jede Veranstaltung und lernte Blasmusik und Gitarrespielen. Nach einiger Zeit lud mich der Jugendleiter der Heilsarmee ein, den Nachmi�ag mit ihm zu verbringen. Er wollte mich näher kennenlernen, da ich ja relativ neu dabei war. Ich sagte gerne zu. Ich genoss es, mit Menschen zusammen zu sein, die mich ernst nahmen und Zeit für mich ha�en. Wir unterhielten uns bei einer Tasse Tee. Nach einer Weile fragte der Jugendleiter: „Bernd, weißt du eigentlich, dass es jemanden gibt, der dich liebt?“ Über diese Frage ha�e ich nie nachgedacht. Wann auch? Zu Hause waren wir mit anderen Dingen beschä�igt – mit Geldnot und Krankheit. Aber jetzt, wo ich darüber nachdachte, konnte ich mich nicht erinnern, dass ich jemals auf dem Schoß eines Erwachsenen gesessen ha�e oder dass mir je ein Erwachsener gesagt ha�e, ich würde geliebt. War das der Grund für die innere Unruhe, die mich umtrieb? Der Jugendleiter erzählte mir von Go�, der den Menschen seine Liebe durch seinen Sohn geschenkt hat, der alles auf sich genommen ha�e, um mir die ganze Liebe Go�es zu geben. Das ha�e ich vorher noch nie gehört. Für mich war Go� genauso weit weg wie diese Liebe, die mir doch so gefehlt ha�e. 31
An diesem Nachmi�ag betete ich. Ich legte diesem unbekannten Go� meine ganze Kindheit hin, denn ich wollte seine Liebe erfahren. Ich entschied mich, Christ zu werden, und das war die beste Entscheidung meines damals 16-jährigen Lebens. v
Zurück zu Tobias. Er lebt heute in einer anderen Stadt bei seiner Tante. Das Jugendamt hat der Mu�er das Sorgerecht entzogen, weil sie ihren Sohn überfordert ha�e. Als Tobias und seine Tante mich vor einiger Zeit besuchten, sah man diesem Jungen an, dass in seinem Leben eine positive Veränderung sta�gefunden ha�e. Er ha�e endlich jemanden gefunden, der mit ehrlichem Herzen zu ihm sagen konnte: Ich liebe dich.
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