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ver erklang plötzlich Applaus – jetzt hatten sie anscheinend den offiziellen Teil abgeschlossen. Alex und ich waren nun fast bis nach vorne durchgedrungen. „… total geehrt, dass einer von diesen Sternen jetzt meinen Namen trägt! Ich kann es wirklich kaum glauben!“, sagte eine männliche Stimme, und ich sah den Rücken von Jesse Wood, der in die Kameras sprach. Neben ihm stand eine brünette, total aufgetakelte Bombe, anscheinend seine Agentin oder so was. Sie packte ihn Besitz ergreifend am Arm und drehte ihn in unsere Richtung. „Mr Wood wird jetzt noch einige Autogramme geben – wenn Sie also Interesse haben …“ Damit schob sie ihn in Richtung Menschenansammlung. Hektisch sah ich mich nach etwas um, worauf ich mir ein Autogramm geben lassen konnte. Mein tropfendes Eis jonglierend riss ich Alex die Straßenkarte aus der Hand und hatte einige Mühe, sie mit einer Hand halbwegs zusammenzulegen. Als ich den Kopf wieder hob, sah ich mitten in zwei überirdisch blaue Augen.

★ Mein Herz blieb fast stehen. Jesse Wood stand direkt vor mir, schaute mich an und lächelte. Mir wurde heiß und kalt zugleich und ich war wie hypnotisiert. Auf einen Schlag kamen all die Filme mit ihm wieder in mir hoch, die ich schon gesehen hatte – und das waren eine ganze Menge. Seine Augen, die mich schon immer fasziniert hatten, blau wie der Himmel und leuchtend wie die Sterne. Wenn ich nicht so gebannt gewesen wäre, hätte ich mich bestimmt gekniffen, um zu überprüfen, ob ich vielleicht doch träumte. Das war aber gar nicht nötig, denn genau in diesem Moment drang mir ins Bewusstsein, dass mir etwas Kal15


tes und Klebriges über die Hand rann. Das war eindeutig kein Traum! „Mist!“ Instinktiv schleckte ich das herabtropfende Eis von meiner Hand, was erstens nicht viel nützte und zweitens zur Folge hatte, dass ich meine Hand schief hielt und so der Rest vom Eis aus der Waffel vor Jesses und meinen Füßen auf den berühmten Walk of Fame klatschte – zum Glück wenigstens nicht mitten auf seinen frisch verliehenen Stern! Alex hinter mir machte eine Art missbilligendes Grunzgeräusch. Ich wäre am liebsten im Boden versunken vor Peinlichkeit, aber Jesse lachte nur dieses „Aus-dem-Kinosessel-raushau“-Lachen und fragte: „Autogramm gefällig?“ Ich konnte nur nicken und ihm die Straßenkarte hinstrecken. Noch immer grinsend nahm er sie und fragte mich dann: „Wie heißt du?“ „Mia“, krächzte ich. Er kritzelte etwas auf die Karte und reichte sie mir dann mit einer eleganten Bewegung zurück. „Bitte sehr, Mia. Und schade um das Eis!“ Ich stammelte: „Da-danke! Das war’s mir wert.“ Und schon war er zum nächsten Autogrammjäger gegangen. Ich stand mit zittrigen Knien da und fühlte mich, als hätte mich gerade ein Güterzug überrollt. Wow! Ich hatte soeben wirklich und wahrhaftig mit Jesse Wood, dem aufsteigenden Stern am Kinohimmel, gesprochen und von ihm ein Autogramm bekommen! Ganz wacklig drehte ich mich zu Alex um. „K … komm, wir suchen uns irgendwo eine Bank oder so. Ich muss mich erst mal hinsetzen!“ Alex grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Na, das kann ich mir vorstellen. Was für eine coole Sache! Mann, er hat richtig mit dir geflirtet! Und das ausgerechnet dir, meiner 16


kinoverrückten kleinen großen Schwester!“ Das mit der „kleinen großen Schwester“ sagte er dauernd, weil er nun mal jünger, aber viel größer war als ich. Wir fanden in einer Seitenstraße eine halbhohe Mauer und ließen uns darauf nieder. Mein Herzschlag beruhigte sich wieder ein wenig und ich konnte sogar mit Alex über meinen kleinen Stunt mit dem Eis lachen. Das war aber auch mal wieder so ein richtiger Mia-Einsatz gewesen! „Das war ja irgendwie total typisch für dich“, lachte Alex. „Da stehst du einmal im Leben einem Superstar gegenüber, und was machst du? Du schmeißt ihm Essensreste vor die Füße!“ „Ja, es ist wirklich kaum zu glauben – aber ich hab ja den Beweis, dass es tatsächlich passiert ist!“, sagte ich und hielt die Karte hoch, die ich wie einen kostbaren Schatz umklammert hatte.

★ Den ganzen restlichen Abend dachte ich natürlich nur an Jesse, die coolste Minute meines bisherigen Lebens und die Tatsache, dass ich ihn wahrscheinlich nie wieder sehen würde. Der Gedanke machte mich irgendwie ganz traurig. Pünktlich waren Alex und ich wieder am Auto, vor dem die anderen schon warteten. Natürlich war dieser Stadtteil von L. A. viel zu groß, um ihn an einem Tag zu besichtigen, aber für das erste Mal war es schon ein tolles Erlebnis gewesen – und die Begegnung mit Jesse war das absolute Sahnehäubchen! Auf dem Weg nach Hause schaute ich in den Sternenhimmel und bedankte mich bei Gott, dass ich Jesse getroffen und mit ihm geredet hatte. Ich meine, dass mir so etwas einmal passieren würde ... das hatte ich höchstens 17


geträumt, aber nicht in Wirklichkeit für möglich gehalten. Alex erzählte den anderen natürlich in den schillerndsten Farben von unserer Begegnung mit Jesse Wood. So wie er es darstellte, klang es, als hätte ich ihm das Eis über den Designeranzug gekippt. Die anderen lachten sich halb tot, und ich lachte mit, aber innerlich hätte ich die Szene lieber wie einen kleinen, kostbaren Schatz in meinem Herzen eingeschlossen und erst abends wieder hervorgeholt, wenn ich allein war. Nach dem Duschen zu Hause begutachtete ich mich im Spiegel. Ich hatte halblanges, dunkelbraunes Haar, grüne Augen, eine Stupsnase und volle Lippen, die fast immer zu einem Lächeln verzogen waren, denn ich war ein fröhlicher Mensch – meistens jedenfalls. Ich gefiel mir eigentlich ganz gut. Das einzige Problem aus meiner Sicht war meine Figur – ich war nicht dick, aber bestimmt auch kein magersüchtiges Elfchen, sondern hatte einen kräftigen Knochenbau. Eher nicht das Material, aus dem Hollywoodträume sind. Hatte Jesse wirklich mit mir geflirtet, wie Alex behauptet hatte? Das war wohl eher unwahrscheinlich. Ich legte mich auf mein wunderbar weiches Bett und ließ den Tag noch einmal Revue passieren. All die Eindrücke … und vor allem Jesse. Es war total verrückt, einem waschechten Hollywoodstar gegenüber gestanden zu haben, der auch noch so gut aussah. Ich überlegte, ob ich jetzt bei Anne anrufen konnte, meiner besten Freundin. In Deutschland müsste es jetzt irgendwie um die Mittagszeit sein, oder? Ich schnappte mir das Telefon und wählte Annes Handynummer. Fast sofort war sie dran. „Ja?“ „Anneeeeee, du wirst es nicht glauben! Rate mal, wen ich heute getroffen habe?! Echt, live und in Farbe?!?“ „Keine Ahnung! Leo di Caprio?“ 18


„Nein! Jesse Wood! Und er hat mir ein Autogramm gegeben und sogar mit mir gesprochen, ist das nicht geil?“ „Wow, wie cool! Na, da hast du ja an deinem letzten Tag noch den Knaller erlebt! Und, wie ist er so in echt?“ „Hm, ziemlich klein – aber er hat total viel Ausstrahlung, und seine Augen sind sogar noch intensiver als im Film. Hach, Alex meint, er hätte ein bisschen mit mir geflirtet …“ Anne lachte. „Na klar, träum weiter! Hast du nicht gelesen, mit wem er gerade was laufen hat? Ich glaub, es war Mischa Barton …“ „Mensch, lass mir doch meine kleinen Träume“, lachte ich mit. „Auf jeden Fall war’s total super. Aber ich freu mich auch wieder voll auf zu Hause und natürlich auf dich!“ „Ja, ich mich auch auf dich! Wann landet ihr?“ „Weiß ich gar nicht, ich meld mich noch mal, okay? Muss jetzt auflegen, wird sonst so teuer. Tschüssi!“ Seufzend schloss ich die Augen. „Ob ich ihn je wieder sehen werde?“, fragte ich mich. Na ja, da war ich wohl zu sehr Realist, um das wirklich zu erwarten. Die langen Schatten der Trauerweide färbten das weiße Kissen grau. „Gott, ich weiß nicht, was zu Hause auf mich wartet, aber es wird nicht gerade die Erfüllung meiner Träume sein. Warum habe ich Jesse getroffen? Ich meine, es war toll, aber jetzt kommt mir Deutschland irgendwie noch viel gewöhnlicher vor. Ich wünschte, ich könnte hier bleiben.“

★ Der nächste Tag kam viel zu schnell. Meine letzten Stunden in Amerika. In Kalifornien. Am anderen Ende der Welt. Unendliche Weiten, unendliche Küsten, der unendliche Ozean. Alles schien unendlich, nur nicht die Zeit. 19


Mit einem Gähnen erhob ich mich, ging an das Fenster und schob es hoch. Sofort stieg der Duft von Chads Rosen in meine Nase und ich hörte das Gezwitscher der Vögel, die an der kleinen Marmortränke ihr morgendliches Bad nahmen. Ein leichter Nebelschleier hing über dem Teich und wurde durch das schwache Sonnenlicht zu einem glitzernden Meer aus Tropfen. Es war ein wunderschönes Bild. Es tat aber auch weh; denn ich würde es an diesem Tag zum letzten Mal sehen. Ein Kribbeln stieg in mir auf, ein unangenehmes, denn ich dachte an alles, was mich in Deutschland erwarten würde: die Monotonie des Alltags, ein nervtötender Job in der Eisdiele und nebenbei demnächst ein Praktikum bei der heimischen Tageszeitung. Einen Studienplatz (fürs Lehramt, wie einfallsreich) hatte ich noch nicht gefunden und außerdem waren wir sowieso chronisch knapp bei Kasse und mussten sparen. Ich seufzte. Am liebsten wollte ich gar nicht dran denken. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mir noch gar nicht angeschaut hatte, was Jesse mir eigentlich auf meine tolle Straßenkarte geschrieben hatte. Ich holte sie hervor – und fiel beinahe vom Bett. Für Mia: Die Begegnung mit dir war echt erfrischend! ;–) Darf ich dir irgendwann ein neues Eis kaufen? Jesse Wood Darunter stand eine Handynummer! Ich glaubte zu träumen. Wie gebannt starrte ich auf die Zeilen, bis sie vor meinen Augen verschwammen. War das ein Traum oder ein schlechter Scherz? Ich holte mein Handy, um zu sehen, ob es wirklich Jesses Telefonnummer war. Mit klopfendem Herzen wählte 20


ich die Nummer und erwartete eigentlich, dass es den Anschluss gar nicht gab. Wenn ich auch nur einen Moment geglaubt hätte, dass es wirklich Jesses Nummer war, hätte ich mich niemals getraut, anzurufen! Nach einiger Zeit nahm jemand ab. „Ja?“ Das war tatsächlich Jesses Stimme! „Hallo, wer ist da?“ Ich hatte das Gefühl, vom Blitz getroffen worden zu sein. Alles drehte sich ein wenig. Ich riss mich zusammen und räusperte mich. „Äh – ich bin’s, Mia. Die von der Stern-Verleihung.“ „Mia?“ Seine Stimme klang erst fragend, dann erfreut. „Ah, die Eisprinzessin vom Walk of Fame!“ „Ja, genau die“, antwortete ich heiser. Er lachte und ich dachte, ich würde platzen vor Glück. „Hey, cool, dass du anrufst! Wie geht’s dir? Hast du den Verlust deines Eises verkraftet?“ „Hör bloß auf, das war mir total peinlich!“, sagte ich und hatte dabei gleichzeitig das seltsame Gefühl, mir selbst dabei zuzuschauen, wie ich mit Jesse Wood plauderte. „Aber nein, ich fand es total süß! Weiß du, die Frauen, die ich normalerweise so um mich habe, würden niemals so eine Kalorienbombe auch nur ansehen. Aus irgendeinem Grund sind die alle der Meinung, sie dürften nur 40 Kilo wiegen oder so was. Du warst da eine echt erfrischende Abwechslung! Endlich mal eine ganz normale Frau, die gern isst! Ich liebe das!“ Wow, er nannte mich „Frau“, nicht „Mädchen“ oder so. Und was war das eben mit „Liebe“ gewesen? In meinen Ohren rauschte es. Das konnte doch alles gar nicht wahr sein! „Hör mal, Mia, im Moment kann ich schlecht telefonieren. Aber ich würde dich wirklich gern demnächst mal auf ein neues Eis einladen. Ich melde mich, okay? 21


Deine Nummer hab ich ja jetzt. Pass auf dich auf! Und immer schön essen!“ Und damit hatte er aufgelegt. Bumm! Ich sank auf mein Bett zurück und zwang mich, ganz langsam bis Hundert zu zählen. Es funktionierte tatsächlich; danach konnte ich wieder halbwegs normal atmen und mein Kopf schwirrte mir nicht mehr ganz so stark. „Okay“, schnaufte ich. „Okay. Ganz ruhig weiteratmen! Ich habe eben mit Jesse Wood telefoniert. Er fand mich süß, er will mich auf ein Eis einladen, und ich habe seine Handynummer. Yeeeeeeeessss!!“ Das war doch wirklich nicht zu fassen! Noch nie ein Date gehabt, und dann gleich ein Sechser im Lotto! Mit Zusatzzahl! Doch dann fiel mir siedend heiß ein, dass Jesse mich gar nicht treffen konnte, falls er das tatsächlich vorhaben sollte – ich würde ja heute wieder nach Deutschland abreisen! Erschrocken griff ich wieder zum Handy und wählte noch mal seine Nummer. Doch diesmal sagte nur eine Computerstimme: „Der gewünschte Gesprächspartner ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal!“ Mist! Ich fing an, ihm eine SMS zu schreiben, doch dann merkte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich sie formulieren sollte. Außerdem rief Mama mich zum Frühstück. Na gut, vielleicht fiel mir auf dem Weg zum Flughafen etwas Geistreiches ein.

★ Mama nahm uns nach dem Frühstück beiseite. Wir Kinder hatten schon alles gepackt und warteten nur noch auf die Abfahrt. Zugegeben, wir waren ziemlich mies drauf. 22


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