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EINS STEPHENS VERWUNDETER KÖRPER liegt nur wenige Zentimeter von mir entfernt im Bett. Seine Augen sind geschlossen, aber ich kann nicht sagen, ob er wach ist oder schläft. Rote Leuchtziffern, die geräuschlos jeden seiner Herzschläge registrieren, blinken mich von einem schwarzen Monitor aus an. Das starke Medikament, das die Schwester in der Notaufnahme ihm verabreicht hat, senkt zwar die Herzfrequenz, aber es lindert offenbar auch seine Schmerzen. Ein gebrochener Arm und ein gebrochener Knöchel sind glücklicherweise die schlimmsten Verletzungen, die Stephen sich bei seinem Sturz vom Dach meines Hauses zugezogen hat. An einigen Stellen bedecken Pflaster und Verbände die Schürfwunden, die er außerdem noch abbekommen hat, aber um seine gebrochenen Knochen wieder zu richten, ist eine Operation notwendig. Ich betrachte ihn, wie er so daliegt – ein verletzter Mann, den ich kaum kenne –, und alles, was ich denken kann, ist: So ist es also, wenn man sich verliebt. Ich muss völlig verrückt sein. Ich kenne Stephen doch erst seit vier Tagen! Und wenn man einen Menschen seit vier Tagen kennt, bedeutet das ja beileibe nicht, dass man ihn auch kennt. Ich weiß nicht, was das alles bedeutet. Ich weiß nur, dass ich mich einfach nicht von diesem Krankenhausbett losreißen kann, obwohl Stephen mit Sicherheit nicht in Lebensgefahr schwebt. Der Sturz hat ihn nicht umgebracht. Ich bin dankbar für die Weißdornbüsche vor meinem Küchenfenster, die seinen Sturz abgebremst haben. Aber er hat sich an den dornigen Ästen der Sträucher verletzt, überall an den Armen, im Gesicht und an den Beinen, aber das Gute: Die dornigen Äste haben ihn auch vor dem Aufprall auf dem harten Boden bewahrt. Ich mag gar nicht daran denken, was passiert wäre, wenn er auf der anderen Hausseite auf die betonierte Garagenauffahrt gestürzt wäre. 9


Meine Nachbarin Serafina hat Stephens Sturz zufällig gesehen. Es war kurz nach 11 Uhr heute Morgen, also vor etwas über einer Stunde, als sie herübergerannt kam, an das Fliegengitter klopfte und in ihrem melodischen spanischen Akzent schrie: „Alexa! Der Handwerker ist von deinem Dach gefallen!“ „Was?“, rief ich erschrocken und rannte zur Haustür. Ich war ganz sicher, dass ich mich verhört haben musste. Serafinas langer grauer Zopf, den sie sich normalerweise um den Kopf wickelte, hing ihr lose den Rücken herunter, was ihr das Aussehen einer etwa 65-jährigen Pocahontas verlieh. „Dieser Mann ist bei dir vom Dach gefallen!“ Dieser Mann. Stephen. „Ich war gerade draußen auf der Straße!“, fuhr Serafina fort und die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. „Ich hab gesehen, wie er da ganz oben auf dem Dach gestanden hat, und dann ist er gefallen! Rückwärts!“ „Ruf einen Krankenwagen!“, schrie ich ihr noch zu, bevor ich durch die Hintertür nach draußen stürzte. Angst pulsierte durch meine Adern und bewirkte, dass die 15 Zentimeter lange Operationsnaht unter meinem Arm vor Schmerzen nur so pochte. Mir war nämlich sechs Tage zuvor ein Lymphknoten entfernt worden, an dem ein walnussgroßer Tumor festgestellt worden war, der sich dann allerdings als gutartig erwiesen hatte. Aber es tat immer noch sehr weh, und das war auch der Grund, weshalb ich überhaupt zu Hause war, während an dem Reihenhaus, in dem ich wohne, Reparaturen durchgeführt wurden. Und es ist auch der Grund, weshalb ich überhaupt weiß, dass der Mann „Stephen“ heißt. Wenn ich wie gewöhnlich arbeiten gegangen wäre, hätte ich ihn nie kennengelernt, und ich wäre bei seinem Sturz vom Dach auch nicht zu Hause gewesen. Draußen hatte ich Stephen halb auf und halb neben einer Reihe blühender Weißdornsträucher liegen sehen. Sein lin10


ker Arm hatte dabei in einem so seltsamen Winkel vom Körper abgestanden, dass mir allein schon beim Anblick beinahe schlecht geworden wäre. Ich hatte den heftigen Wunsch verspürt, seinen geschundenen Körper von den stacheligen Weißdornzweigen herunterzuheben, aber mir war klargewesen, dass ich das weder tun konnte noch durfte. Auch ohne die Operation hätte ich es niemals geschafft, seinen mindestens 90 Kilo schweren Körper wegzuschleppen, ganz davon abgesehen, dass ich im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, Verletzte lieber nicht zu bewegen, bis Hilfe kam. Ich hatte also einfach nur über ihn gebeugt dagestanden, seinen Namen gesagt und auf den Rettungswagen gewartet. Stephen hatte nicht gestöhnt und sich auch nicht bewegt, und genau das hatte mir am meisten Angst gemacht. Jetzt rührt Stephen sich und ich halte den Atem an. Ein leises Geräusch entweicht seiner Kehle. Bedeutet das, dass er wach ist? Plötzlich habe ich Angst, dass er die Augen aufschlägt und sich darüber wundert, dass gerade ich neben seinem Bett stehe. Wird er sich nicht fragen, wieso ich hier bin? Ich bin weder seine Frau noch seine Verlobte, ja, nicht einmal als „seine Freundin“ könnte ich mich guten Gewissens bezeichnen. Kann ich sagen, dass ich eine Freundin von ihm bin, obwohl ich ihn erst seit vier Tagen kenne? Genau das hatte ich nämlich den Sanitätern gesagt, als sie endlich kamen. Ich hatte ihnen gesagt, dass der Verletzte ein Freund von mir sei, kein Handwerker, der von meiner Vermieterin engagiert worden war. „Wie heißt der Verletzte?“, hatte mich einer der Sanitäter gefragt, nachdem sie Stephen vorsichtig von den Weißdornbüschen gehoben und auf eine Trage gelegt hatten. Der Sanitäter, der mir die Frage gestellt hatte, war gerade dabei gewesen, Stephen eine Halsmanschette anzulegen, der andere hatte in ein Funkgerät gesprochen, das an seinem Kragen befestigt war. 11


„Stephen Moran“, hatte ich gesagt. Wenigstens kannte ich seinen Nachnamen. „Wie alt ist er? Hat er irgendwelche Allergien?“, hatte sich der Sanitäter weiter erkundigt, während der andere Stephen jetzt mit Namen ansprach und ihn fragte, ob er ihn hören könne. Offenbar konnte er das nicht, denn er hatte keinen Ton von sich gegeben. „Immer noch bewusstlos“, hatte der andere Sanitäter gesagt. „Er ist 32, und ob er irgendwelche Allergien hat, weiß ich nicht“, hatte ich geantwortet und mein Magen hatte sich zusammengekrampft. Die Sanitäter hatten mich nicht gefragt, wo Stephen aufgewachsen ist. Das hätte ich gewusst: Santa Cruz. Sie hatten mich nicht gefragt, ob er gern surft. Das tut er. Sie hatten nicht gefragt, ob er freundlich zu Fremden und kleinen Kindern ist. Das ist er. Sie hatten mich nicht gefragt, ob er Angehörige hat. „Seine Mutter wohnt in Riverside“, hatte ich noch hinzugefügt und mich dabei an all die kurzen Gespräche erinnert, die wir im Laufe der vergangenen Tage geführt hatten, wenn er Pause gemacht, meine selbstgemachte Limonade getrunken oder mich um ein Aspirin gegen seine Kopfschmerzen gebeten hatte. Auch am Dienstag, als er mir ins Haus geholfen hatte, nachdem ich beim Postholen wegen der Medikamente auf dem Rasen vor dem Haus ohnmächtig geworden war, hatten wir noch kurz miteinander geplaudert. Am Montag, dem Tag also, an dem wir uns kennengelernt hatten, hatte Stephen mir erzählt, dass seine Mutter seine einzige Angehörige sei und er darüber hinaus keine Familie hätte. Er hat eine gescheiterte Ehe hinter sich und ist seit Jahren geschieden, das hat er allerdings nur ein einziges Mal und ziemlich traurig erwähnt, und zwar in einem nachdenklichen Augenblick, als ich ihm dabei zugeschaut hatte, wie er morsche Bodenbretter aus meiner Veranda herausgelöst hatte. Er weiß nicht einmal, wo seine Exfrau jetzt lebt. 12


„Ich war damals ein ganz anderer Mensch als heute“, hatte er gesagt. Und ich hätte ihn gern gefragt, was für ein Mensch er denn jetzt sei. Aber das hatte ich dann doch lieber gelassen, denn ich weiß es auch so. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich nämlich schon ziemlich stark zu ihm hingezogen gefühlt, bereits am ersten Tag. „Wissen Sie, wie wir sie erreichen können?“, hatte der Sanitäter mich aus der Erinnerung an diesen Gesprächsfetzen herausgerissen. Er hatte Stephen den Werkzeuggürtel abgenommen, den dieser bei der Arbeit immer um die Taille trug, und zu mir aufgeblickt, als er die Frage stellte. „Warum?“ Ebenso plötzlich wie erschreckend war mir in den Sinn gekommen, dass Stephen vielleicht tot war und der Rettungssanitäter die Angaben benötigte, um seine nächsten Angehörigen zu benachrichtigen. „Wenn er das Bewusstsein nicht wiedererlangt, bis wir im Krankenhaus ankommen, brauchen wir jemanden, der die Behandlungsvollmacht unterschreibt.“ „Ach so.“ „Wissen Sie, wie wir seine Mutter erreichen können?“ „Äh … also …“, hatte ich gestammelt. Stephens Mutter weiß ja noch nicht einmal etwas von mir. Jedenfalls nehme ich das nicht an. Hat Stephen ihr erzählt, dass er diese Woche an einem Reihenhaus in Mission Beach arbeiten würde? Hat er ihr berichtet, dass eine der Mieterinnen auf dem Rasen vor dem Haus zusammengebrochen ist und er sie in ihre Wohnung getragen hat? Hat er gesagt, dass er nach Feierabend zweimal länger geblieben ist, um noch ein bisschen mit dieser Mieterin im Innenhof des Hauses zu plaudern, dass sie ihm Limonade angeboten hat, dass er sie – zum ersten Mal, seit sie zwölf war – dazu gebracht hat, sich zu fragen, ob es möglich ist, eine Beziehung zu Gott zu haben? Nein. Ich war sicher, dass er ihr all das nicht erzählt hatte. Wieso hätte er das auch tun sollen? Hatte ich denn meine Mutter angerufen und es ihr erzählt? 13


Bei diesem Gedanken hatte ich fast lachen müssen. Meine Mutter besitzt nämlich gar kein Telefon. Sie hasst Telefone. Sie hat schon seit 17 Jahren kein Telefon mehr im Haus. Wenn man Kontakt zu ihr aufnehmen will, muss man schon E-Mail, Post oder Türklingel bemühen. Aber das brachte mich dennoch auf eine Idee. „Geben Sie mir doch bitte mal sein Handy“, hatte ich zu dem Sanitäter gesagt, aber ich hatte gar nicht erst seine Reaktion abgewartet, sondern schnell in die Handytasche an Stephens Gürtel gegriffen. Einem Impuls folgend hatte ich dann auch gleich noch sein Portemonnaie aus seiner Gesäßtasche gezogen, wobei ich rot anlief. Trotz dieses Umstandes hatte ich mir aber rasch einen Überblick über den Inhalt verschafft. Da war sein Führerschein. Das Foto darauf war gar nicht so schlecht. Seine Haare hatten die Farbe von Toast und er war sonnengebräunt. Das lag natürlich daran, dass er tagtäglich im legendären Sonnenschein von San Diego arbeitete. Nun erfuhr ich auch, wo er wohnte: In seinem Führerschein war eine Straße in Encinitas angegeben. Außerdem gab es noch eine Visa Card, den Mitgliedsausweis eines Automobilclubs, seinen Gewerbeschein und seine Krankenversicherungskarte. „Hier“, hatte ich gesagt und einem der Sanitäter die Karte gereicht. „Wollen Sie in Ihrem eigenen Wagen hinter uns herfahren?“, hatte der Sanitäter sich erkundigt. Das hatte allerdings eher wie eine Aufforderung als wie eine Frage geklungen. Plötzlich hatte ich mich ziemlich wichtig gefühlt. Sie wollten, dass ich mitkam. Sie nahmen an, dass ich eine enge Freundin von Stephen war. „Doch, klar.“ Der Sanitäter hatte sich wieder Stephen zugewandt, der noch immer reglos auf der Trage lag. „Nehmen Sie die Karte einfach mit“, hatte er hinzugefügt und mit dem Kopf auf die Krankenversicherungskarte 14


gedeutet. „Wir bringen ihn ins ,Sharp Hospital‘. Da gibt es ein Traumazentrum – nur für alle Fälle. Wissen Sie, wo das ist?“ „Ja.“ „Nehmen Sie am besten den Eingang der Notaufnahme.“ Während ich zugesehen hatte, wie sie Stephen im Wagen festschnallten, hatte ich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass Serafina neben mir stand. Wahrscheinlich war sie die ganze Zeit dort gewesen. Sie hatte sich bekreuzigt, als die Sirenen aufgeheult hatten und der Rettungswagen abgefahren war. Und dann hatte sie ein Gebet für den Handwerker gesprochen, während ich in meine Wohnung geeilt war, um meine Handtasche und den Autoschlüssel zu holen. In der Notaufnahme war nicht viel los gewesen, als ich dort ankam. Dafür war ich sehr dankbar. Ich hatte mir noch nicht viele Gedanken darüber gemacht, was ich dort eigentlich wollte. Ich meide nämlich Notaufnahmen so wie andere Leute Spinnen oder Verbindlichkeit. Und das ist für mich gar nicht so einfach, weil ich nämlich als Ergotherapeutin in einem Krankenhaus arbeite, aber es ist trotzdem nicht unmöglich. Man kann fünf Jahre lang in einer Klinik arbeiten, ohne in dieser Zeit auch nur ein einziges Mal einen Fuß in die Notaufnahme zu setzen. Ich bin dafür der lebende Beweis. Diese Aversion gegen Notaufnahmen habe ich seit dem Autounfall meiner Schwester Rebecca. Das ist sicher nicht weiter verwunderlich – man entwickelt eine Aversion gegen etwas, weil es einen an die Katastrophe erinnert. Obwohl Rebecca den Unfall überlebt hat, habe ich sie doch in gewisser Weise verloren, denn durch ihre schweren Verletzungen hat sich ihre Persönlichkeit ziemlich stark verändert. Ihre Kopfverletzungen haben ihre geistige Brillanz und ihr Selbstbewusstsein beeinträchtigt, aber gleichzeitig auch ihre Aufsässigkeit und ihren Hang zum Egoismus ausgelöscht. Aus ihr wurde mit einem Schlag wieder das, 15


was ich damals war: eine liebenswürdige Zwölfjährige. Und dabei ist es auch geblieben. Das ist jetzt 17 Jahre her; sie ist inzwischen 36 Jahre alt, denkt und verhält sich aber immer noch wie ein pubertierendes Mädchen. Hin und wieder erinnere ich mich bewusst an diese Nacht vor all diesen Jahren, denn ich weiß, dass sie für uns alle ein Wendepunkt war. Vor dieser Nacht waren wir eine Familie. Meine Eltern waren noch miteinander verheiratet. Wir wohnten in Mount Helix, meine Zwillingsschwester Priscilla sprach immer noch mit meinem Vater, und meine Mutter hatte noch ein Telefon im Haus. Aber in der dunklen Stille dieser Nacht überschritten wir alle eine Linie, um dann festzustellen, dass es kein Zurück mehr gab auf die andere, die vertraute Seite dieser Grenze. Es geschah an einem späten Juniabend. Rebecca war mit Lara, ihrer besten Freundin und Mitbewohnerin im Collegewohnheim, ausgegangen. Sie hatte nicht gesagt, wohin sie wollten, aber ich erinnere mich noch daran, dass Rebecca unruhig und angespannt gewesen war. Ich dachte damals, das läge daran, dass sie nicht gerade begeistert darüber war, den Sommer zu Hause verbringen zu müssen, nachdem sie an der University of California in Santa Barbara gerade zum ersten Mal Freiheit und Abenteuer geschmeckt hatte. Nach den langen Sommerferien wollten Rebecca, Lara und eine dritte Mitbewohnerin namens Mira Fortner wieder zurück an die Uni in Santa Barbara fahren. Rebecca verließ das Haus in mieser, gereizter Stimmung – was eigentlich typisch für sie war. Lara kam nicht einmal an die Haustür, um zu klingeln, sondern sie hupte einfach nur vor dem Haus. Mira war an diesem Abend nicht mit von der Partie. Unser Vater war gerade auf Geschäftsreise in Tokio, aber meine Mutter, Priscilla und ich waren zu Hause und sahen gerade fern, als zwei Stunden später das Telefon klingelte. Meine Mutter ging an den Apparat. Es hatte einen Unfall 16


gegeben und Lara war tot. Rebecca hatte man ins Krankenhaus gebracht. Sie war zwar am Leben, aber ihr Zustand war kritisch. Es war kein weiteres Fahrzeug an dem Unfall beteiligt gewesen. Lara war aus ungeklärter Ursache von der Fahrbahn abgekommen und ungebremst gegen einen Baum geprallt. Das war jedenfalls das, was Priscilla und ich uns aus dem Wenigen zusammenreimten, was unsere Mutter zwischen dem Aufnehmen des Hörers und dem Augenblick sagte, als sie ihn einfach auf den Boden fallen ließ. Die Nachricht war kaum bei mir angekommen, als meine Mutter auch schon in die warme Nacht hinausstürmte. Sie sagte nichts zu Priscilla und mir, als sie nach den Autoschlüsseln griff, sondern ließ einfach nur den Telefonhörer fallen, stürmte aus dem Haus und rannte zu ihrem Wagen. Priscilla rannte hinter ihr her und ich rannte hinter Priscilla her. Wir stiegen auf den Rücksitz des Autos und hatten kaum Zeit, die Türe zu schließen, als Mutter auch schon losraste. Sie fuhr wie eine Verrückte zum Krankenhaus, bremste mit quietschenden Reifen, überfuhr rote Ampeln und fuhr krachend über Bordsteinkanten. Ich griff unterwegs nach Priscillas Hand und sie ließ mich auch gewähren. In der Notaufnahme der Klinik war an diesem Abend die Hölle los. Es hatte irgendwo eine Schießerei gegeben und Angehörige beider beteiligten Parteien stritten erbittert darüber, wessen Schuld es war, dass ein Sechsjähriger jetzt eine Kugel in der Brust hatte. Ein anderer Patient hatte sich beim Aufschneiden eines Brötchens fast einen Finger abgeschnitten, außerdem saß noch jemand mit einem Kleinkind im Arm da, das offensichtlich hohes Fieber hatte, sowie ein Mann, aus dessen Fuß Glasscherben herausragten. All das nahm ich auf dem Weg zu dem Zimmer wahr, in dem Rebecca lag und auf die Ankunft des Chirurgen und die Unterschrift der Eltern unter die Behandlungsvollmacht wartete. Es war, als wäre ich mitten in einen Alptraum hineingeraten. 17


Meine Mutter wurde aschfahl, als sie ihre Älteste dort schwerverletzt, blutend und mit unzähligen Schürfwunden und Blutergüssen liegen sah. Milzriss, gebrochenes Becken, perforierte Lunge und zahlreiche Quetschungen. Ich hörte, wie der Arzt all das sagte, hatte aber keine Ahnung, was es zu bedeuten hatte. Mit zwölf sagt einem der Begriff „Lungenperforation“ nicht viel. Dann erwähnte der Arzt etwas von einer Kopfverletzung, Hirnbluten und „Wir müssen den Druck verringern“, und da wusste ich irgendwie, dass sich mein Leben von dieser Nacht an verändern würde, dass – selbst wenn Rebecca überlebte, was ja offenbar der Fall war – mein Leben von nun an ganz anders werden würde. Das war die Nacht, in der ich Notaufnahmen hassen lernte. Das war die Nacht, in der meine Mutter Telefone hassen lernte.

Ich hatte Stephen nirgends finden können, als ich in der Notaufnahme des „Sharp Hospitals“ eingetroffen war. Er hätte eigentlich schon seit einer ganzen Weile dort sein müssen, denn im Unterschied zum Krankenwagen hatte ich mich an Geschwindigkeitsbegrenzungen halten und dann auch noch einen Parkplatz suchen müssen. Ich hatte mich zur Anmeldung durchgefragt und war dabei nur an zwei weiteren Personen im Wartebereich vorbeigekommen: einem Mann, der seinen Arm in einer selbstgemachten Schlinge trug, und einem wimmernden kleinen Jungen mit einem Kühlpack auf einer Gesichtshälfte, der auf dem Schoß seiner Mutter saß. Die Schwester am Tresen der Aufnahme hatte aufgeblickt und mich angelächelt. „Kann ich Ihnen helfen?“ „Ich bin Alexa Poole und ein … also mein Freund Ste18


phen Moran ist mit dem Krankenwagen hier eingeliefert worden. Er ist beim Auswechseln von Schindeln vom Dach gefallen. Ich glaube, er hat sich einen Arm gebrochen. Ich meine … Natürlich bin ich nicht sicher … Ich habe den Sturz nämlich gar nicht mit eigenen Augen gesehen …“, hatte ich ohne Punkt und Komma losgebrabbelt. Ich hatte mich so angehört, als versuchte ich gerade, einen wütenden Richter davon zu überzeugen, dass ich Stephen wirklich nicht selbst und absichtlich vom Dach geschubst hatte. Mitten im Satz hatte ich innegehalten und die Schwester einfach nur angestarrt. „Ist schon in Ordnung“, hatte die Schwester mit sanfter Stimme entgegnet. „Die Notaufnahme ist schon ein bisschen unheimlich und kann einem wirklich Angst machen, aber Ihr Freund ist in guten Händen, glauben Sie mir.“ Ich hatte wie eine Dreijährige genickt. „Wissen Sie vielleicht, wie wir Mr Morans Familie erreichen können? Gibt es jemanden, der uns Informationen geben kann, damit wir ihn optimal versorgen und behandeln können? Das Einzige, was er noch mit Mühe und Not hinbekommen hat, ist die Unterschrift auf der Behandlungsvollmacht.“ „Dann ist er also wach?“, hatte ich erwidert und dabei war mir seltsam schwindelig gewesen. „Er ist immer wieder einmal wach, aber dann auch wieder ohne Bewusstsein“, hatte die Schwester geantwortet. „Kennen Sie irgendwelche Angehörige von Mr Moran?“ Ich hatte völlig vergessen zu versuchen, seine Mutter zu erreichen. Ich war so mit meinen schlimmen NotaufnahmeErinnerungen beschäftigt gewesen, dass ich noch nicht einmal nachgeschaut hatte, ob ihre Nummer auf seinem Handy gespeichert war. „Ach ja! Ich … ich versuche sofort, seine Mutter zu erreichen“, hatte ich gestammelt und in meiner Handtasche nach Stephens Handy gekramt, wobei meine Hand auch sein 19


Portemonnaie berührt hatte. Ich hatte es herausgezogen, seine Krankenversicherungskarte in die freie Hand genommen und sie der Schwester gegeben. „Danke“, hatte sie erwidert und mir ein Klemmbrett mit einem Aufnahmeformular gegeben. „Könnten Sie das vielleicht für uns ausfüllen?“ „Vielleicht erst mal nur seine Adresse und sein Alter“, hatte ich gesagt. „Na ja, das ist dann wenigstens schon einmal ein Anfang.“ Ich hatte das Klemmbrett genommen und war zu einer Stuhlreihe am Fenster hinübergegangen, wo ich dann Stephens Handy aus meiner Handtasche genommen und die gespeicherten Nummern durchgesehen hatte. Unter „M“ hatte ich „Mutter“ gefunden. Ich hatte auf die entsprechende Taste gedrückt und darauf gewartet, dass irgendwo in Riverside ein Telefon klingelte und jemand abnahm. Beim vierten Klingeln meldete sich eine Frau. „Mrs Moran?“ „Ja?“ „Äh, also mein Name ist Alexa Poole. Ihr Sohn Stephen arbeitet gerade an dem Mietshaus, in dem ich wohne.“ Ich hatte eine kurze Pause gemacht. Er hatte sie also nicht angerufen, denn mein Name sagte ihr offensichtlich nichts. „Also, als er heute bei mir auf dem Dach gearbeitet hat, ist er abgestürzt. Ich bin jetzt mit ihm hier im ,Sharp Hospital‘ in San Diego.“ „Ist er in Ordnung? Ist er verletzt?“ Ich hatte Anspannung und Panik in ihrer Stimme wahrgenommen. Beides erkannte ich wieder, denn genau so hatte sich vor 17 Jahren auch meine Mutter angehört, als sie einen ganz ähnlichen Anruf wie diesen bekommen hatte. „Ich glaube, er hat sich den Arm gebrochen und viel20


leicht auch ein Bein oder den Knöchel. Außerdem hat er etliche Schürfwunden. Er ist in ein Weißdorngebüsch vor meinem Küchenfenster gefallen, aber er war nicht so richtig bei Bewusstsein, als der Krankenwagen gekommen ist und ihn mitgenommen hat, deshalb weiß ich nicht so genau, ob ihm sonst noch etwas fehlt.“ „Jesus!“, hatte Mrs Moran daraufhin nur gesagt. „Mrs Moran, ich bin jetzt bei ihm in der Notaufnahme und ich bräuchte ein paar Informationen von Ihnen.“ „Aber natürlich. Ich kann auch gern selbst mit der Aufnahme reden.“ Ich war mit Stephens Handy zurück zum Aufnahmetresen gegangen und hatte es der lächelnden Schwester zurückgegeben, die mir mit einer Geste zu verstehen gab, ich solle ihr bitte auch das Klemmbrett geben. Die Schwester hatte dann angefangen, Mrs Moran Fragen zu stellen, und ich hatte dagestanden und völlig ungeniert zugeschaut, was sie auf dem Formular notierte. Blutgruppe B positiv. Mandeln entfernt, als er acht war. Vater verstorben. Nichtraucher. Keine Erkrankungen in der Kindheit. Bisher noch keine Knochenbrüche. Hat in den vergangenen Wochen über Kopfschmerzen geklagt. Treibt regelmäßig Sport. Keine Allergien bekannt. Ist freundlich zu Fremden und kleinen Kindern, hätte ich gern noch hinzugefügt. Die Schwester hatte von dem Klemmbrett aufgeblickt, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ich hatte mich plötzlich unglaublich fehl am Platze gefühlt, wie ich so dastand und lauschte. Es war irgendwie nicht richtig und deshalb trat ich vom Tresen zurück. Als sie alle Fragen gestellt hatte, hatte die Schwester wieder gelächelt und mir das Handy zurückgegeben. „Die Mutter Ihres Freundes ist jetzt hierhin unterwegs“, hatte sie gesagt. „Sie schätzt, dass sie eigentlich in ungefähr einer Stunde hier sein müsste.“ Ich hatte das Handy wieder in meine Handtasche gesteckt. 21


„Danke“, entgegnete ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen. „Möchten Sie, dass ich nachfrage, wann Sie zu ihm können?“ Ihre Frage war für mich ein wenig überraschend gekommen, denn sie sagte es so, als ginge sie ganz selbstverständlich davon aus, dass ich das natürlich wolle. In dem Augenblick, bevor ich ihr antwortete, dachte ich daran, wie Stephen mich zwei Tagen zuvor ins Haus getragen hatte, wie er mich vorsichtig aufs Sofa gelegt und mir das Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte, als ich langsam wieder aus dem Nebel teilweiser Bewusstlosigkeit aufgetaucht war. Wie er diskret weggeschaut hatte, als mein Morgenmantel bei dem Versuch, mich aufzurichten, vorne auseinandergerutscht war. Wie er mir ein Glas Wasser geholt hatte. Wie er bei mir geblieben war und mir zugehört hatte, als ich ihm spontan erzählte, was sonst noch niemand wusste, dass ich nämlich ein paar Wochen lang gar nicht gewusst hatte, ob der Tumor unter der Achsel bösartig war oder nicht. Dass ich meiner Mutter gar nichts von dem Tumor hatte erzählen können. Ihr am allerwenigsten. Ich hatte ihm von Rebecca erzählt, meiner 36 Jahre alten Schwester, die immer noch Kinderspiele spielt, und von ihrem Unfall. Ich hatte ihm erzählt, dass meine Eltern noch ein weiteres Kind gehabt hätten, das sie wirklich verloren hatten, einen Sohn – meinen Bruder Julian –, der ein paar Stunden nach der Geburt an einem Herzfehler gestorben sei, vier Jahre bevor dann Priscilla und ich geboren wurden. Ich hatte ihm erzählt, dass Priscilla seit vier Jahren nicht zu Hause gewesen ist, dass sie vor sieben Jahren nach London gezogen und seither nur einmal wieder zu Hause gewesen ist. Dass mein Vater eine neue Frau, ein neues Haus, einen neuen Sohn und ein neues Leben hat. „Es gab niemandem, dem ich hätte sagen können, wie groß meine Angst war“, hatte ich eingestanden, und dabei 22


hatte ich zugegebenermaßen ein bisschen weinerlich geklungen. Ich glaube, irgendwie wusste er, dass der Grund, weshalb ich ihm all das erzählte, nicht der war, dass ich keine Freunde hatte, mit denen ich darüber hätte reden können. Ich habe Freunde auf der Arbeit und unter den Joggern, mit denen ich meinen Lieblingsstrand teile, und auch Serafina ist meine Freundin. Außerdem habe ich auch ein paar liebe Bekannte in der Kirchengemeinde, in die ich manchmal gehe. Ich glaube, Stephen war klar, dass es sich hier um sehr persönliche Dinge handelte, die ich nur jemandem anvertraue, der mich wirklich mag, jemandem, der sich mit mir zusammen Sorgen macht, der mit mir zusammen die Angst ausgestanden hätte, dass ich vielleicht Krebs haben könnte, der mit mir zusammen gekämpft hätte, wenn das wirklich der Fall gewesen wäre, und der um mich geweint hätte, wenn ich an der Krankheit gestorben wäre. Er hatte einfach nur dagesessen und sich alles angehört. „Du bist sehr mutig“, hatte er gemeint, als ich fertig gewesen war. „Nein, das bin ich nicht …“, hatte ich angesetzt. „Doch, bist du. Sieh dir doch nur mal an, wie du selbst gelitten hast, um deiner Mutter nicht noch mehr Kummer zu machen. Sie ist doch der Grund, weshalb du mit niemandem über deine Ängste geredet hast, oder? Aufgrund dessen, was deiner Schwester zugestoßen und was mit deinem kleinen Bruder passiert ist. Du wolltest nicht, dass deine Mutter auch nur einen Augenblick lang Angst haben muss, dich auch noch zu verlieren. Das finde ich ziemlich mutig und selbstlos.“ Ich hatte nicht gewusst, was ich dazu sagen sollte. Dann war Stephen aufgestanden – er hatte neben mir auf dem Sofa gesessen – und hatte mir die Zeitung gereicht, wegen der ich überhaupt erst nach draußen vors Haus gegangen war. 23


„Ich muss jetzt wieder an die Arbeit“, hatte er gesagt. „Natürlich nur, wenn du sicher bist, dass alles in Ordnung ist und du allein zurechtkommst.“ Ich hatte genickt und ihm hinterhergeschaut, wie er auf die Veranda hinausging, wo neue Bodenbretter festgenagelt werden mussten. Die Schwester hatte auf meine Antwort gewartet. „Ja, bitte. Ich würde ihn gern sehen.“

Inzwischen bin ich seit 20 Minuten in Stephens Zimmer. Er wurde auf ein normales Zimmer verlegt, und wir warten jetzt darauf, dass Ivy Moran aus Riverside kommt. Der OP ist vorbereitet. Der gebrochene Ellbogen muss an zwei Stellen genagelt werden, und der zertrümmerte Knöchel soll mit einer Stahlplatte fixiert werden, damit er möglichst gut verheilen kann. Die Ärzte nehmen an, dass Stephen bei seinem Sturz vom Dachfirst zuerst auf den Ellbogen und dann auf den Knöchel aufgeschlagen ist. Einer der Ärzte macht sich Gedanken darüber, wieso es überhaupt zu dem Sturz gekommen ist. Er spricht immer wieder Stephens häufige Kopfschmerzen an, von denen dieser den Ärzten offenbar erzählt hat. Er hat mich schon zwei Mal gefragt, ob ich den Sturz gesehen hätte, und ich habe es beide Male verneint. Gerade bewegt Stephen sich wieder und befeuchtet seine Lippen mit der Zunge. Ich sehe, wie seine Lider flattern und sich dann öffnen. Er sieht mich. „Alexa?“, flüstert er. Ich rücke näher an ihn heran. Instinktiv greife ich nach der Hand seines unverletzten Arms. „Ja, ich bin’s.“ „Was war in der Limonade?“, fragt er und ein schwaches Lächeln huscht über sein Gesicht. 24


„Du bist gestürzt“, antworte ich. „In meine Weißdornbüsche.“ „Und … bin ich noch ganz?“ „Gebrochener Arm, gebrochener Knöchel, jede Menge Kratzer und Schrammen, aber ich glaube, du wirst weiter Geige spielen können.“ Er grinst, aber aus dem Grinsen wird ziemlich schnell eine Grimasse. Er hat Schmerzen. „Ich sollte meine Mutter anrufen“, flüstert er. „Sie ist schon unterwegs“, antworte ich und drücke seine Hand. „Ich habe dir dein Handy geklaut und ihre Nummer gefunden. Sie wird bald hier sein. Und dann wirst du am Arm und am Knöchel operiert.“ Er nickt. „Was hat mich denn eigentlich am Kopf getroffen?“, murmelt Stephen kurz darauf. „Wie bitte?“, frage ich. „Was mich am Kopf getroffen hat?“, wiederholt er. „Das weiß ich nicht, Stephen.“ Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Serafina hat nicht erwähnt, dass er von irgendetwas am Kopf getroffen worden ist. Einen Augenblick lang schweigen wir beide. Dann erkundige ich mich nach dem, was ich jetzt als besonders dringlich empfinde. Es ist wohl besser, ich erfahre jetzt sofort, wenn sein Herz bereits vergeben ist. „Stephen, soll ich sonst noch jemanden benachrichtigen?“ Ich frage mich, ob er wohl merkt, was wirklich hinter der Frage steckt. Ich meine damit nämlich nicht, ob ich meine Vermieterin Rose anrufen und ihr sagen soll, dass sie sich jemanden suchen muss, der die Reparaturarbeiten am Haus zu Ende bringt. Ich meine auch nicht, ob er ein Haustier hat und ich jetzt jemanden anrufen soll, der sich um das Tier kümmert. Ich meine, ob es da sonst noch jemanden gibt. 25


Er macht ein Auge auf, und ich spüre, wie seine Hand sich bewegt. „Nein“, meint er leise und sein kleiner Finger berührt den meinen. Dann dämmert er wieder weg. Ich falle. Aber ich lasse seine Hand nicht los.

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