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Juttas Erbe Nicht bei jeder Bekanntschaft springt sofort der sogenannte Funke über, aber als ich Jutta auf einer Gartenparty kennenlernte, waren wir uns sofort sympathisch. Sie war in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnliche Frau und hatte einen außergewöhnlichen Charme. Schon allein durch ihr Äußeres zog sie die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich. Sie war klein von Gestalt, hatte eine aufrechte Körperhaltung und einen lockeren, beschwingten Gang. Ihr leuchtend rotes Haar und das strahlende Lächeln ihres Mundes wirkten schon von Weitem anziehend auf jeden, der ihr begegnete. Auch durch ihren etwas anderen Kleidungsstil fiel sie auf. Ich erinnere mich noch an ihre bunte Pelzjacke, in der sie mit ihrem roten Haar wie eine Fabelfigur aus einem C.-S.-Lewis-Roman wirkte. Man war gerne in ihrer Gesellschaft, und wohin sie auch kam – sie verbreitete Freude und das Gefühl von Annahme. Jutta unterrichtete an der nahen Volkshochschule Deutsch für türkische Frauen. Oft erzählte sie uns von diesen Türkinnen, die sie in ihr Herz geschlossen hatte. Häufig wurde sie von diesen Frauen eingeladen und sie besuchte sie gerne. Hin und wieder berichtete sie von solch einer Einladung: „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was diese Frauen mir alles aufgetischt haben“, erzählte sie einmal in einer Frauenrunde mit weit aufgerissenen Augen. „Das konnte

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ich gar nicht alles essen, und als ich nicht mehr konnte, hat die Hausfrau mir sogar noch was eingepackt, damit ich es mit nach Hause nehmen konnte.“ Ein anderes Mal erzählte sie von einem Treffen, bei dem noch andere türkische Frauen eingeladen waren. Jutta erzählte: „Es wurde viel gelacht und erzählt und die Frauen hatten alle ihre Kopftücher ausgezogen. Der Hausherr wurde wohl nicht so schnell zurückerwartet. Plötzlich ging die Wohnungstür auf und der Ehemann der Gastgeberin kam nach Hause. Da hättet ihr mal die Frauen sehen sollen . . . Wie ein Schwarm aufgeschreckter Vögel griffen alle nach ihren Kopftüchern und zogen sie an.“ Wenn Jutta erzählte, erzählte ihr ganzer Körper mit und bei ihren Schilderungen blieb kein Auge trocken. Es war eine Freude, ihren Erzählungen zu folgen. Es mag sich zwar so anhören, als ob sie sich über diese Frauen lustig machte, aber dem war nicht so. Sie sprach immer mit viel Liebe und Respekt von „ihren Frauen“. Und ich dachte dann oft: Diese Frauen würde ich auch gerne einmal kennenlernen. Doch bevor ich eine Möglichkeit hatte, diese Frauen von Jutta vorgestellt zu bekommen, verstarb meine Freundin ganz plötzlich an den Folgen einer Operation. Der Schmerz des Verlustes saß tief, und es dauerte Tage, bis ich wieder klar denken konnte. Dann irgendwann kamen mir „ihre Frauen“ wieder in den Sinn. Wer wird es ihnen sagen, und wer wird sich jetzt mit einer solch hingebungsvollen Liebe um die Frauen küm-

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mern, wie Jutta es getan hat?, fragte ich mich immer wieder. Gerne hätte ich den Frauen erzählt, was passiert war, aber ich kannte weder ihre Namen noch hatte ich irgendeine Anschrift. Ich konnte also gar nichts tun. Und mein Wunsch, diese türkischen Frauen kennenzulernen, schien für mich ein Traum zu bleiben. Ein Jahr nach dem Tod meiner Freundin las ich in unserer Tageszeitung einen Bericht über muslimische Frauen, die, unterstützt vom deutschen Sportbund, mit einer integrativen Sportgruppe in unserer Stadt beginnen wollten. Sie hatten eine Halle gefunden, in der sie ungestört von unerwünschten Zuschauern Sport treiben konnten. Männliche Sportler hatten keinen Zugang, solange sie in der Halle waren. Man hoffte nun, dass auch deutsche Frauen dazustoßen würden, damit sie auch zu einheimischen Frauen Kontakte knüpfen konnten. „Was meinst du? Denkst du, dass diese Sportgruppe auch etwas für mich wäre?“, fragte ich meinen Mann und deutete auf den Artikel. Ich hatte schon seit geraumer Zeit den Wunsch, wieder etwas mehr Sport zu treiben. „Ich denke, du solltest es dir auf jeden Fall einmal anschauen“, gab mir mein Mann zur Antwort. „Geh doch zu dem angegebenen Termin einfach einmal hin und schau es dir an. Es ist ja unverbindlich. Wenn es dir nicht gefällt, war es wenigstens einen Versuch wert.“ Er hatte recht, ich würde den Versuch wagen.

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Am folgenden Montagmorgen sollte das erste Treffen stattfinden. Ich bewaffnete mich mit Sportkleidung und machte mich auf den Weg zur Turnhalle. Dort warteten schon etwa 30 bis 40 ausländische Frauen, eine Frau vom Sportbund, ein Herr vom Verein, ein Herr vom Ausländerbeirat und ein Reporter des hiesigen Rundfunks. Als ich sah, dass ich offensichtlich die einzige deutsche Frau war, verließ mich zwar so langsam mein Mut, aber ich beschloss, der ganzen Sache doch eine Chance zu geben. Nach der offiziellen Begrüßung und einigen Erklärungen verließen die Männer endlich die Halle und es konnte losgehen. Es machte von Anfang an total viel Spaß. Die Frauen kamen aus verschiedenen Ländern. Die größte Gruppe war die der Türkinnen, einige kamen jedoch auch aus Pakistan, Indien, Afghanistan, China, Eritrea und aus dem Sudan. So unterschiedlich wie ihre Herkunft war ihre Kleidung: Einige Frauen waren total verschleiert, andere trugen Kopftuch, manche waren aber auch westlich gekleidet wie ich. Es war richtig nett mit den Frauen, und man merkte, wie gut es ihnen tat, aus ihrem Umfeld herauszukommen und sich zu bewegen. Auch mir machte es riesigen Spaß und ich beschloss wiederzukommen. An einem der folgenden Montage fing es gerade an zu regnen, als ich aus dem Auto stieg, und da ich keinen Regenschirm dabei hatte, zog ich mir kurz entschlossen meinen Schal über den Kopf. Das wird

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sowieso nicht auffallen, dachte ich, die meisten Frauen haben ja auch ein Kopftuch an. Doch weit gefehlt. Vor der Halle warteten bereits einige Frauen auf unsere Übungsleiterin, die uns immer die Halle aufschloss, und eine der Frauen, eine Türkin, fragte mich: „Warum du Kopftuch an?“ „Weißt du, ich bin schon etwas erkältet und möchte nicht noch richtig krank werden“, antwortete ich ihr. „Außerdem hatte ich keinen Regenschirm dabei, da habe ich einfach meinen Schal genommen.“ Sie lachte und erwiderte: „Türkinnen werden nicht schnell an Ohren krank. Sie immer warm an Kopf mit Kopftuch.“ Jetzt musste ich lachen und sie fuhr fort: „Warum du hier Sport als deutsche Frau?“ Ich merkte, dass sie sich mit mir unterhalten wollte. Während des Gespräches – ich weiß heute gar nicht mehr, wie es kam – erzählte ich ihr von meiner Freundin Jutta, die türkischen Frauen Deutsch unterrichtet hatte. Da wurde sie plötzlich ganz aufgeregt und sagte zu mir: „Frau Schiffner, ich kenne.“ Dann drehte sie sich zu den anderen türkischen Frauen um und es folgte ein Schwall türkischer Worte, die ich ja nun nicht verstehen konnte. Die einzigen Worte, die ich verstand, waren: „Frau Schiffner.“ Während sie mit den anderen Frauen sprach, deutete sie immer wieder auf mich. Dann rief sie einige andere Frauen, die weiter abseits gestanden hatten, zu uns. „Wir alle bei Frau Schiffner in Schule. Weißt du, Deutsch gelernt.“

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Da waren sie, „Juttas Frauen“, und ich beschloss, sie näher kennenzulernen. Doch das war zunächst gar nicht so einfach. Ich bat Gott im Gebet, mir doch passende Möglichkeiten zu schenken und mir zu zeigen, wie ich die Freundschaft dieser Frauen gewinnen konnte. Je länger wir uns kannten und zusammen turnten, desto mehr wuchsen sie mir ans Herz. Die Frauen hatten eine natürliche Herzlichkeit und waren so dankbar, dass ich als einzige deutsche Frau regelmäßig Sport mit ihnen machte. Einmal sagte eine der Türkinnen zu mir: „Du bist immer da und machst Sport mit uns.“ Damit wollte sie zum Ausdruck bringen, dass sie sehr wohl bemerkt hatte, wie wichtig die Frauen mir waren. Auch die anderen Frauen zeigten mir ganz offen ihre Zuneigung und schon bald bekam ich die erste Einladung von einer pakistanischen Frau. Die Türkin, die mich zuerst angesprochen hatte, lud mich dann in den Sommerferien zusammen mit meinem Mann und den Kindern zu einem Ausflug des türkischen Elternvereins ein. Auf dieser Fahrt stellte sie mir ihre Freundinnen vor und wir kamen näher in Kontakt. Das Eis war gebrochen und weitere Einladungen folgten. Ich begann in der Zwischenzeit, mich bei einem türkischen Christen aus unserer Gemeinde über den Islam zu informieren. Vor allem war mir wichtig, zu erfahren, wie ich mich den Frauen und auch ihren Männern gegenüber verhalten sollte, ohne Anstoß zu erregen. Da ich über den islamischen Glauben so gut

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wie gar nichts wusste, besorgte ich mir schließlich auch christliche Bücher über den Islam. Ich wollte den Frauen ja auch von meinem Glauben als Christ erzählen, und dazu war es schon auch wichtig für mich zu wissen, was Muslime glauben. Doch es sollte noch etwas dauern, bis ich zum ersten Mal Gelegenheit hatte, den Frauen von Jesus zu erzählen. In der Zwischenzeit pflegte ich das zarte Pflänzchen der Freundschaft mit einigen der Frauen und wartete einfach ab. Wie heißt es doch so schön: Kommt Zeit, kommt Rat! Im Herbst kam der Ramadan und mit ihm Einladungen zum Essen für meinen Mann und mich und ich lud die Familien dann im Gegenzug im Advent zu uns zum Kaffeetrinken ein. Nach und nach wurden die Gespräche tiefer, und wenn mir die einzelnen Frauen ganz ungezwungen von dem berichteten, was sie als Muslime glauben, konnte ich ebenfalls ganz unbeschwert und fröhlich von dem erzählen, was ich als Christ glaube. Sie hörten zu und waren oft erstaunt über meinen Glauben und darüber, wie ich ihn lebte. Immer wieder hielt ich Ausschau nach Möglichkeiten, um die Frauen zu besuchen oder sie zu mir nach Hause einzuladen. Kurz vor Weihnachten lud ich drei „meiner“ afghanischen Frauen zum Frühstück zu mir ein. Es schien das erste Mal zu sein, dass sie von einer deutschen Frau eingeladen wurden. Als sie die Weihnachtsdekoration in meinem Haus sahen, wagte eine der

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Frauen mich zu fragen: „Was bedeutet Weihnachten? Was feiert ihr Christen an diesem Fest?“ Nichts freute mich mehr, als ihnen von der Geburt Jesu zu erzählen und davon, warum er zu uns auf die Erde kam. Alle drei hörten gebannt zu und stellten viele Fragen. Es beschämte mich zu sehen, dass diese und auch die anderen Frauen schon so lange in unseren Land lebten, dass ihnen aber anscheinend noch nie jemand etwas über unseren christlichen Glauben erzählt hatte. Viele der Frauen hatten in Deutschland sehr negative Erfahrungen gemacht, und da wir hier in einem sogenannten christlichen Land leben, dachten sie, dass alle Christen auch so wären wie die Menschen, die sie kennengelernt hatten. Sie hatten ein sehr schlechtes Bild von Christen. Das tat mir unendlich leid, und ich nahm mir vor, ihnen ein anderes Bild des Christseins zu vermitteln. Als eine Türkin und ihre Familie uns zu Hause besuchten, sagte sie zu mir: „Mehr als zwanzig Jahre ich bin hier in Deutschland, aber du bist erste deutsche Frau, die mich einladet.“ Wie beschämend dieser Satz für meinen Mann und mich doch war! Meine Freundin Jutta hatte begonnen, Beziehungen zu Türkinnen zu knüpfen, doch bevor diese vertieft werden konnten, hatte sie unsere Welt schon verlassen müssen. Sie hat mir aber – so sehe ich das heute – ein Erbe hinterlassen, das ich angenommen habe. Ich freue mich, dass Gott den Wunsch meines Herzens gehört hat und ich „Juttas Frauen“ kennenlernen durfte. In der Zwischenzeit sind ganz

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tiefe Freundschaften entstanden – nicht nur zu den Türkinnen, auch zu den anderen Frauen, und immer wieder ergeben sich Gelegenheiten, mit ihnen über meinen Glauben zu sprechen. Sie wollen wissen, was unsere Bibel über bestimmte Themen sagt, und fragen mich, was ich darüber denke. Eine junge Frau sagte neulich zu mir: „Du bist die erste deutsche Frau, die ich kenne, die so über ihren Glauben redet und die man auch ausfragen kann. Von dir kann ich wenigstens mehr erfahren.“ Als wir etwas später über Jutta redeten, sagte ihre Mutter zu mir: „Frau Schiffner gerne immer mich besucht. Ich sie geliebt. Sie war gute Frau. Ich dich auch habe lieb, du meine Freundin.“ Ich war überrascht. Das war eines der schönsten Komplimente, die ich je bekommen habe. Es ist ein schönes Erbe, das Jutta mir da hinterlassen hat! Erika Kern ist verheiratet, hat 5 Kinder und lebt in

einem Dorf in Osthessen. Sie ist leidenschaftliche Hobbygärtnerin, liebt den Umgang mit Menschen und schreibt gern. Ihr erstes Buch „Die Zeit meiner Stoßgebete“ ist im Brunnen Verlag erschienen.

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