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Kapitel 1 „Ich weiß nicht, was schlimmer ist“, sagte Kathy und hielt sich die Nase zu. „Der muffige Geruch hier drinnen, bevor wir angefangen haben zu putzen, oder der Gestank von Natalies Desinfektionsmittel.“ „Du willst es hier doch sauber haben, oder etwa nicht?“, gab Natalie zurück und fuchtelte dabei mit dem Desinfektionsmittel vor Kathys Gesicht herum. „Sauber ja, aber nicht stinkig.“ „Also, genau so macht meine Mutter es auch bei uns zu Hause, und willst du etwa behaupten, dass es bei uns stinkt?“, fragte Natalie und strich sich eine ihrer dunklen Locken aus dem Gesicht. „Ich sage ja nur, dass …“ „Jetzt hört endlich auf zu zanken!“, rief Paula, die gerade dabei war, einen orange-rot-gestreiften Vorhang auf eine Gardinenstange zu fädeln. „Und statt dich ständig über alles nur zu beschweren, Kathy, könntest du doch auch einfach mal das Fenster aufmachen und frische Luft hereinlassen, oder?“ „Wow“, meinte Natalie, die gerade den Boden scheuerte und einen Augenblick innehielt, um den Vorhang in Paulas Händen zu begutachten. „Der ist aber ziemlich knallig, oder?“ „Fängst du jetzt auch noch an zu nörgeln?“, fragte Paula verärgert und hielt dabei den Vorhang ans Fenster, um zu sehen, wie er dort wirkte. „Ich finde ihn hübsch“, sagte Isabelle. Der Stoff erinnerte sie an einen Sonnenuntergang. Das hatte sie auch Paula schon gesagt, als diese den Stoff aus einer großen 5


Kiste mit Stoffresten ausgesucht hatte. Paulas Oma hatte ihnen angeboten, für die Umgestaltung des Busses so viel davon zu nehmen, wie sie brauchten. Die Familien der vier Mädchen waren alle schon da gewesen, um den Bus zu begutachten, und zwar am selben Tag, an dem Mr Greeley ihn den Kindern als Dankeschön für die Entrümpelung und Verschönerung der Siedlung geschenkt hatte, in der sie alle vier lebten. Mr Greeley war der Eigentümer der kleinen Siedlung, in der überwiegend Menschen wohnten, die durch irgendwelche Lebensumstände in finanzielle Engpässe geraten waren. Als die Mädchen den Bus zum ersten Mal sahen, hatte er noch ziemlich heruntergekommen ausgesehen. Alles war voller Spinnweben, Mäusedreck, Staub und Schmutz gewesen. Aber die Mädchen hatten seitdem schwer geschuftet, um den Bus wieder auf Vordermann zu bringen, und schon bald waren die ersten Resultate ihrer Arbeit zu erkennen. „Ich habe mich doch gar nicht über den Stoff beschwert“, sagte Natalie. „Ich habe nur gesagt, dass die Farben ziemlich knallig sind. Ist das etwa ein Verbrechen oder was?“ Sie waren jetzt schon den dritten Tag dabei, ihren „Regenbogenbus“ herzurichten, und aus irgendeinem Grund schien die Stimmung an diesem Morgen ein wenig gereizt. Isabelle überlegte, ob das vielleicht am Wetter liegen konnte. „Nicht zu glauben, wie heiß das schon wieder ist!“, sagte sie in der Hoffnung, damit das Thema wechseln zu können. „Meine Mutter hat gesagt, dass es heute Nachmittag über 30 Grad werden soll.“ „Ich wohne schon mein ganzes Leben lang in Bosco 6


Bay“, sagte Kathy, strich sich die glatten Haare aus der Stirn und ließ sich auf das schmale Sofa plumpsen. „Aber ich kann mich nicht erinnern, dass es im Juni schon mal so heiß war.“ „Ein Grund mehr, endlich mal das Fenster aufzumachen“, brummte Paula und öffnete dann selbst mit großem Getöse eines der Schiebefenster. „Vielleicht sollten wir mal alle kurz ins Meer springen“, schlug Isabelle vor und ging in den hinteren Teil des Busses, wo sie für Paula den Stoff zugeschnitten hatte. „Um uns ein bisschen abzukühlen, meine ich.“ Sie setzte sich auf das Bett, nahm die Schere zur Hand und fing an, einen weiteren Vorhang zuzuschneiden. Paula brachte Isabelle gerade das Nähen bei und hatte ihr sogar versprochen, ihr diese Woche die Nähmaschine zu erklären. „Tolle Idee“, rief Paula aus dem Vorderteil des Busses. „Wir könnten doch ein kleines Picknick am Strand organisieren.“ „Ja, tolle Idee, aber lasst uns erst hier fertig aufräumen und den Müll wegbringen“, sagte Natalie. „Dann ist das Putzen nachher viel einfacher.“ „Ich dachte, wir hätten schon alles weggebracht und aufgeräumt“, sagte Kathy. Isabelle schaute sich noch einmal im Bus um und stellte fest, dass Kathy immer noch in der gleichen entspannten Haltung auf dem Sofa lag. Das schien auf jeden Fall ihr Lieblingsplatz zu werden. Isabelle schüttelte den Kopf und machte sich wieder daran, vierzig Zentimeter große Stoffquadrate zurechtzuschneiden – diesmal für Kissenbezüge. Sie wollte ja nichts sagen, aber langsam kam ihr der Verdacht, dass Kathy vielleicht ein 7


ganz klein wenig verwöhnt – um nicht zu sagen faul – war. Aber Isabelle fühlte sich immer noch ein bisschen wie die Neue, also hielt sie lieber den Mund, als irgendjemandem auf die Füße zu treten. „Ja, ich hatte auch gedacht, dass wir mit dem Saubermachen schon fertig sind“, sagte Natalie, „aber dann habe ich unters Bett geschaut und …“ „Unter das Bett?“ Isabelle beugte sich vor und entdeckte unter sich etwas, das wie ein massives Holzpodest aussah. „Wie soll denn da noch etwas darunter sein?“ „Mein Vater hat es mir gestern Abend gezeigt“, erklärte Natalie, „als er uns geholfen hat, den Strom anzuschließen.“ Die Mädchen hatten von Mr Greeley die Erlaubnis bekommen, von Natalies Haus aus, das nur ungefähr fünfzig Meter entfernt war, ein langes Stromkabel zu legen. Sie konnten zwar nicht viele Elektrogeräte anschließen, aber es reichte, um den Kühlschrank am Laufen zu halten und zusätzlich noch eine Lampe oder Paulas Nähmaschine funktionstüchtig zu machen. „Hier, ich zeig’s dir“, sagte Natalie und kam zu ihr in den hinteren Teil des Busses. „Steh mal kurz vom Bett auf.“ Isabelle erhob sich und wartete, während Natalie sich vorbeugte und das Bett am Fußende ein Stück hochhievte. Als sie es angehoben hatte, sorgte ein Sprungfedermechanismus unter dem Bett dafür, dass es sich an die Wand hochklappen ließ. „Siehst du?“, sagte Natalie. „Wow!“, staunte Isabelle, als sie sah, dass das Podest von oben wie eine riesige Vorratskiste aussah, die vollgestopft war mit altem Kram. „Und wer hat davon gewusst?“ 8


„Anscheinend mein Vater. Er hat gesagt, das seine Eltern früher ein Wohnmobil mit einem ganz ähnlichen Klappbett gehabt haben.“ „Es ist total toll, dass dein Vater uns bei all unseren Aktionen hilft“, sagte Isabelle und versuchte, nicht neidisch darauf zu sein, dass Natalie so einen coolen Vater hatte. Isabelles eigener Vater war Alkoholiker und hatte ihre Mutter oft geschlagen, bevor Isabelle, ihr Bruder und ihre Mutter irgendwann bei Nacht und Nebel vor ihm geflüchtet waren – mit nichts als dem, was sie am Leib trugen. Sie hatten sich einen neuen Nachnamen zugelegt und hofften, dass er sie auf diese Weise nicht aufspüren und zurückholen konnte. „Ja, das finde ich auch“, sagte Natalie. „Am Wochenende muss er sich mal die Wasserleitung ansehen. Er hat gesagt, dass wir vielleicht sogar das Waschbecken und die Toilette benutzen können.“ „Lasst mich mal sehen“, sagte Kathy und drängte Isabelle beiseite, um unter das Bett zu schauen. „Mich auch“, sagte Paula. Jetzt hatten sich alle vier Mädchen in die winzige Schlafecke gezwängt und sahen sich das wilde Durcheinander von Kartons und anderen Sachen an, die dort unter dem Klappbett verstaut waren. Bis jetzt hatten sie nur verschlissene Vorhänge und ekeliges altes Bettzeug aus dem Bus entsorgt – Sachen, die muffig gerochen hatten oder von irgendwelchem Getier angenagt worden waren. Aber so etwas wie das hier hatten sie bisher noch nicht entdeckt. Es schien wirklich interessant zu sein. „Sieht aus, als ob das die persönlichen Sachen von jemandem sind“, spekulierte Paula. Isabelle bückte sich und holte eine Apfelsinenkiste 9


voller alter, verstaubter Schallplatten hervor. „,Jefferson Airplane‘“, buchstabierte sie langsam den seltsamen Namen auf der Hülle und holte dann die nächste Platte heraus. „,Bread‘. Was sollen denn das für Gruppen sein?“ „Komisch“, sagte Kathy. „Meint ihr, der ganze Plunder hier gehört Mr Greeley?“ „Hey, das ist kein Plunder!“, wandte Paula ein und schien an den Sachen wirklich interessiert zu sein. Sie holte noch ein Album aus der Kiste und las sich den Text auf der Rückseite der Plattenhülle durch. „Meine Mutter hat auch ein paar solcher alten Schallplatten. Sie wollte sie eigentlich schon weggeben, aber dann habe ich sie ihr abgeschwatzt. Ich sammle sie inzwischen selbst und finde sie total cool.“ „Willst du die hier vielleicht haben?“, fragte Isabelle und hielt Paula die Kiste hin. „Nun mal nicht so hastig“, sagte Kathy. „Was meinst du denn damit, dass du sie sammelst, Paula? Sind die wertvoll oder so?“ Paula zuckte mit den Achseln. „Nur für Sammler.“ „Also, meine Schwester erzählt mir immer wieder, dass alle möglichen Sachen, die wie Müll aussehen, in Wirklichkeit ziemlich wertvoll sein können.“ „Für die meisten Schallplatten, die ich in meiner Sammlung habe, kriegt man bei ,Ebay‘ meistens nicht mehr als 10 bis 20 Dollar.“ „Egal, vielleicht behalten wir die hier doch lieber im Bus“, sagte Kathy. „Ich meine, der Bus gehört ja schließlich uns allen, oder?“ „Kein Problem“, meinte Paula und steckte das Album wieder in die Kiste zurück. „Aber ich habe keine Ahnung, wie wir sie hier drinnen hören wollen.“ 10


„Wie wär’s mit dem Ding hier?“, fragte Natalie und holte etwas hervor, das aussah wie eine altmodische Musikbox. Sie hielt die Box hoch und pustete dann den Staub vom Deckel weg, sodass Kathy niesen musste. „Gesundheit!“, sagte Isabelle und musste ein Kichern unterdrücken. „Das ist ein Plattenspieler!“, rief Paula. „Ob der wohl noch funktioniert?“ „Ich frage mich jetzt wirklich, was in den Kisten hier wohl sonst noch alles drin ist.“ Isabelle beugte sich vor und griff nach einem Pappkarton, der mit Büchern vollgestopft war. Es waren hauptsächlich Taschenbücher, aber es befanden sich auch ein paar ziemlich alte, gebundene Exemplare darunter. Isabelle sah die Bücher flüchtig durch und stellte fest, dass es eine bunte Mischung aus Krimis, Klassikern und ein paar Gedichtbänden war – zufällig alles Dinge, die sie mochte. „Hey, die sehen alle noch ziemlich gut aus“, sagte sie und schaute zu dem eingebauten Bücherregal hinüber, das über dem Hinterfenster des Busses befestigt war. „Sollen wir die da reinstellen?“ „Bring sie lieber erst mal ins Freie und staub sie ab“, entschied Kathy. „Soll ich sie auch desinfizieren?“, neckte Isabelle sie, als sie die Kiste mit den Büchern zur Tür schleppte. Sie wollte den Ort dieser überraschenden Schatzsuche eigentlich nicht verlassen, aber drinnen wurde es ihr langsam zu eng und zu stickig. „Vielleicht sollten wir all die Sachen, die unter dem Bett stehen, mit nach draußen ins Freie nehmen“, rief sie den anderen über die Schulter zu. „Da können wir sie besser anschauen und auch gleich sauber machen.“ 11


Kathy, Natalie und Paula stimmten dem Vorschlag zu. Sie wollten die einzelnen Dinge in Ruhe begutachten, um dann zu entscheiden, was mit den Sachen passieren sollte. Eine ganze Menge davon wanderte geradewegs in den Müll, aber anderes wie die Schallplatten und Bücher schien es doch wert, aufgehoben zu werden. „Es sieht ganz so aus, als hätten die Sachen einem Mann oder einem Jungen gehört“, sagte Paula und hob einen Baseball-Handschuh sowie ein paar andere Sportausrüstungsgegenstände auf. „Vielleicht sind das auch Sammlerstücke. Auf jeden Fall sehen sie alt aus.“ „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser olle Kram noch was wert sein soll“, sagte Kathy mit gerümpfter Nase. „Außerdem können wir doch nicht alles im Bus aufheben. Dafür haben wir da drin gar nicht genug Platz.“ „Doch, haben wir wohl, und zwar unter dem Bett, genau dort, wo es vorher auch lag.“ „Ja, aber sollen wir den Platz dafür verschwenden?“, widersprach Kathy. „Wir können doch lieber andere Sachen dort aufbewahren.“ „Was für andere Sachen denn?“, fragte Paula interessiert. „Hey, guckt mal hier“, sagte Isabelle und zog etwas aus der Bücherkiste heraus, das wie ein altes Highschool-Jahrbuch aussah. „,Bosco Bay Pumas, 1979‘ – wow, das ist ja schon ziemlich lange her“, sagte Paula und sah Isabelle über die Schulter, um sich den Umschlag des verblichenen roten Buches anzuschauen. „Glaubt ihr, dass es Mr Greeley gehört hat?“ „Auf keinen Fall“, meinte Kathy. „Wem auch immer dieses Jahrbuch gehört hat, er kann heute nicht viel älter 12


als 45 Jahre sein. Und Mr Greeley sieht ungefähr wie 70 aus. Vielleicht sogar noch älter.“ „Dann sehen wir es uns doch einfach mal an“, sagte Isabelle. Sie setzte sich auf den sandigen Boden, klappte den Umschlag auf, und es kam ein weißes Vorsatzblatt zum Vorschein, auf dem in unterschiedlichen Handschriften Notizen standen. „Als ob es signiert worden wäre“, sagte Kathy. „Vielleicht entdecken wir ja irgendeinen Hinweis darauf, wem es gehört hat.“ Isabelle setzte sich jetzt ebenfalls in den Sand und fing an, die Seiten zu studieren. Die anderen schauten ebenfalls gebannt auf das Geschriebene, und schon bald lasen sich die Mädchen die Einträge gegenseitig vor. „,Für Dan, einen echten Mann‘“, las Paula. „,Ich werde dich auf dem Fußballfeld vermissen. Es leben die Stürmer! Rick Byers.‘“ „Was soll denn das heißen?“, fragte Kathy. „Stürmer?“ „Das ist eine Position im Football“, erklärte Paula. „,Oh, Danny Boy …‘“, las Isabelle. „,Ich wünschte, ich hätte dich besser kennengelernt … Bleib am Ball. In Liebe, April.‘“ Isabelle lachte. „,April‘ mit drei Herzen unter ihrem Namen!“ „Na, die war ja anscheinend schwer verknallt in Danny Boy“, sagte Kathy. „,Du solltest mehr lächeln…‘“, las Natalie. „,Es erhöht deinen Marktwert. Grüße und Küsse, Kathy.‘“ Jetzt mussten sie alle lachen. „Klingt ja ganz so, als wäre Dan ein heißer Typ gewesen“, sagte Isabelle. „Apropos heiß“, meinte Paula. „Ich fange hier draußen langsam an zu braten!“ 13


„Ich auch“, sagte Kathy. „Ich dachte, wir wollten am Strand picknicken und dann schwimmen gehen.“ „Stimmt!“, bestätigte Charlie. „Kommt, lasst uns die Sachen hier schnell sauber machen und wieder in den Bus räumen.“ „Also gut“, schlug Paula vor. „Ihr räumt die Sachen wieder in den Bus, und ich geh in die Siedlung und seh mal nach, was meine Oma und ich für ein Picknick zusammenschmeißen können – oder hat jemand eine bessere Idee?“ „Das klingt super“, stimmte Isabelle zu, während sie das Jahrbuch wieder in die Bücherkiste zurücklegte. „Dann können wir anderen nach Hause gehen, unsere Schwimmsachen holen und uns dann wieder hier treffen“, sagte Kathy. „Ich komme bei dir vorbei, Paula, und helfe dir, die Picknicksachen zu tragen“, bot Isabelle an. Rasch entstaubten sie die Sachen, die sie nach draußen gebracht hatten, räumten sie wieder in den Bus und rannten dann nach Hause, um sich umzuziehen. Auf dem Weg in die Siedlung ging Isabelle dieser Dan nicht mehr aus dem Kopf. Während sie zu Hause den Badeanzug anzog, den sie von Paula geschenkt bekommen hatte, musste sie immerzu an ihn denken. Wer mochte dieser Dan wohl sein? Und wie kam sein Jahrbuch in Mr Greeleys Bus? Isabelle liebte alles Geheimnisvolle und Rätselhafte. Und es sah ganz so aus, als hätten die Mädchen nicht nur einen Bus geerbt, sondern auch noch ein großes Rätsel!

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