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Advent

Der Advent markiert in den meisten westlichen Kirchen den Anfang des Kirchenjahres. Er beginnt am vierten Sonntag vor Weihnachten, das heiĂ&#x;t an dem Sonntag, der dem 30. November am nächsten liegt, und endet an Heiligabend, dem 24. Dezember.


Kapitel 1 „Advent?“ Rose warf einen Blick auf ihre Kühlschranktür, an der ihr bereits überfüllter Kalender hing. Unangenehme Gerüche stiegen vom überquellenden Abfalleimer auf. Offensichtlich hatte ihr Mann Lucas vergessen, ihn auszuleeren. „Worum geht es?“ „Um den Gemeindebrief. Der Pastor hätte gern ein paar kurze Informationen über den Ursprung des Advents, die Traditionen, die Dauer der Adventszeit. Außerdem könnte es interessant sein, ein bisschen darüber zu erzählen, wie in anderen Ländern Weihnachten gefeiert wird.“ Kate, die dienstbeflissene Sekretärin der Bethlehem-Messias-Gemeinde, sprach ihre Bitte mit einem zuversichtlichen Unterton in der Stimme aus. Rose wusste, dass am Ende dieses Gesprächs ein weiterer Termin in ihrem Kalender stehen würde, den sie mit einem Sternchen versehen müsste. Sie konnte bereits spüren, dass sich eine weitere Migräne ankündigte. Rose warf einen frustrierten Blick zum Spülbecken hinüber, das vor Geschirr nur so überquoll. Ihre beiden Teenager waren durchaus fähig, einen Schrank zu öffnen, eine Schüs6


sel und einen Löffel herauszunehmen, die Milch im Kühlschrank zu finden, Zucker auf Cornflakes zu häufen und alles aufzuessen. Aber irgendwie waren sie nicht in der Lage, mit vollem Magen ihr schmutziges Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Stattdessen stellten sie alles in der Spüle ab – in der festen Überzeugung, dass ihre Mutter schon kommen und die Spülmaschine ausfindig machen würde. Kates Stimme holte sie abrupt in die Wirklichkeit zurück. „Meinst du, du könntest uns diesen Gefallen tun?“ „Ich denke, das geht.“ Ich denke, das geht, äffte Roses innere Stimme ihren Standardspruch nach. „Bis wann soll der Artikel denn fertig sein?“ Der Herbstbasar der Gemeinde war gerade vorüber und die gehäkelten Toilettenpapiermützchen und die Rückspiegelscherenschnitte mit einer Frau bei der Gartenarbeit als Motiv waren bis zum nächsten Herbst verstaut. Die Menschen strömten bereits in Scharen nach Norden, wo sie alljährlich die bunten Herbstblätter bewunderten, die an der Küste einen so faszinierenden Anblick boten. Die Proben für die Weihnachtsanspiele, das Orchester, den Chor, die Theateraufführungen und die Krippenspiele würden bald auf Hochtouren laufen. „So bald wie möglich. Pastor Ralph möchte die Adventszeit mit etwas Fröhlichem einläuten.“ „Sicher. Ich seh mal, was ich machen kann.“ Im kommenden Monat würde in St. Paul der Winterjahrmarkt mit seinen kunstvollen Schnitzfiguren aus Eis und Schnee stattfinden, ein Ereignis, das Rose und ihre Familie nie versäumten und das sie wenigstens an zwei Wochenenden aus ihrem Alltagstrott herausholte. Es wäre besser, wenn sie ihre guten Taten in diesem Jahr rechtzeitig einplante, damit sie eine brauchbare Entschuldigung hatte, wenn sie später nein sagte. 7


„Danke, Rose. Wir wussten, dass wir auf dich zählen können!“ Rose verabschiedete sich und trennte mit einem müden Tastendruck die Verbindung. Informationen über die Adventszeit. Diese Aufgabe war nicht schwer, nur zeitintensiv, und Zeit war ein kostbarer Luxus. Sie brachte rasch die Küche in Ordnung und leerte den stinkenden Abfalleimer aus. Danach schob sie ein Blech Brownies in den Ofen. Diese waren für die Jugendgruppe ihres Sohnes Eric bestimmt, die sich an diesem Abend treffen würde. Anschließend wandte Rose sich der riesigen Schachtel mit dem Weihnachtsschmuck zu, die ihr Mann Lucas am Vorabend vom Dachboden geholt hatte, und betrachtete den Zierrat, der sich im Laufe der Jahre angesammelt hatte: Mistelkränze, die schon bessere Zeiten gesehen hatten, zwei Keramikbehälter für Kekse, ein Schneemann und ein mit leichten Rissen durchzogenes, lachendes Weihnachtsmanngesicht, das Anna fallen gelassen hatte, als sie drei gewesen war. Während sie vorsichtig das Papier vom Familienadventskalender löste, dachte Rose an all die Jahre, die diese Tradition ihre Familie nun schon begleitete. Ohne den Adventskalender wäre es einfach kein richtiges Weihnachten. Er war ein wertvolles Familienerbstück. Eine kunstvolle Schnitzerei aus dem Schwarzwald, die aus winzigen Würfeln bestand, in denen hinter jedem Datum eine kleine Krippenfigur stand. Großvater Karlsen hatte dieses Souvenir während seines Militärdienstes im Ersten Weltkrieg in Frankfurt für Großmutter Louise gekauft. Man erzählte sich in der Familie, dass Großmutter heftig mit ihm geschimpft hatte, weil er Geld für etwas ausgegeben hatte, das nicht unbedingt notwendig gewesen war. Der Adventskalender war an Roses Mutter weitergegeben worden, und diese hatte ihn dann ihrerseits ihren Töchtern vermacht, die das unbezahlbare Erbstück in Ehren 8


hielten. Und in diesem Jahr würde der Kalender Roses Haus zieren. Sie stellte den Adventskalender auf das Regal über dem Tisch in der sonnigen Küchennische und suchte die erste geschnitzte Figur heraus. Dann stellte sie die winzige, handbemalte Krippe unter das Datum des 1. Dezembers. Rose trat einen Schritt zurück und bewunderte ihr Werk. Warmes Sonnenlicht fiel durch die kahlen Zweige des Ahornbaumes, der gleich vor dem Fenster stand. In Minnesota war man für solche milden Wintertage dankbar. Roses Blick wanderte über den braunen Rasen. Lucas hatte so viel zu tun, dass er es versäumt hatte, das Vogelbad winterfest zu machen. Die runde Betonschale musste umgedreht werden, damit sich kein Wasser darin ansammeln und gefrieren konnte. Wie in jedem Jahr vor der Weihnachtszeit verbrachte Lucas viele zusätzliche Stunden im familieneigenen Transportunternehmen. In der Vorweihnachtszeit lief das Geschäft immer sehr gut. Lucas war nicht der Einzige, der kaum Zeit für eine Verschnaufpause fand. Sie hatten alle viel zu tun. Weihnachten bedeutete, dass zu einem bereits hektischen Terminkalender noch viele Gemeindeaktivitäten hinzukamen. Rose spürte den bekannten Druck in ihrem Magen, als sie sich wieder einmal fragte: „Wie soll ich das alles nur schaffen?“ Weihnachten sollte mehr sein als hektische Aktivitäten, drängende Menschenmassen und überarbeitete Ehemänner. Dieses Fest hatte eine tiefere Bedeutung. Das wusste Rose genau. Es war auch nicht so, dass sie nicht gern in einen langsameren Gang geschaltet hätte, aber das Leben ließ ihr dafür keinen Raum. In diesem Jahr würde sie um ihrer Familie willen alles machen, aber die innere Begeisterung und die Freude, die sie früher erfüllt hatten, fehlten. Sie war es einfach müde, den ganzen Weihnachtsschmuck aufzuhängen, die Lichter9


ketten unter dem Dach anzubringen und endlos Plätzchen zu backen. Sie war so sehr damit beschäftigt, Weihnachten zu gestalten, dass ihr keine Zeit blieb, Weihnachten zu erleben. Sie verschob den Adventskalender ein Stückchen. Durch diese Bewegung geriet der 1. Dezember ins Wackeln. Der Holzwürfel purzelte herunter, schlug auf dem weißen Küchentisch auf und rollte dann hinter ein Stuhlbein. Rose bückte sich, quetschte sich auf Händen und Knien durch die Stuhlbeine und tastete mit der Hand nach dem Würfel. Ihr Handy begann, eine Version von „Stille Nacht“ zu spielen. Diesen Klingelton hatte ihre fünfzehnjährige Tochter Anna ihr für die Weihnachtszeit eingestellt. Roses Kopf schoss in die Höhe und knallte mit voller Wucht von unten gegen die Tischplatte. Tränen traten ihr in die Augen. Davon werden meine Kopfschmerzen auch nicht besser. Während sie sich die schmerzende Stelle rieb, kroch sie aus dem Gewirr aus Tisch- und Stuhlbeinen heraus. Der Geruch nach angebrannten Brownies stieg ihr in die Nase. „Stille Nacht, heilige Nacht! Alles schläft, einsam wacht …“ Rose verbrachte kostbare Sekunden damit, hektisch nach einem Topflappen zu suchen. Rauch stieg von den Seiten der Backofentür auf. Der Rauchmelder schaltete sich ein. Neben dem durchdringenden Alarmton ertönte immer noch das Weihnachtslied aus dem Handy. „Holder Knabe im lockigen Haar. Schlaf in himmlischer Ruh!“ Rose fand den Ofenhandschuh, schlüpfte mit ihrer rechten Hand hinein, öffnete die Backofentür und zog das Blech mit den rauchenden Brownies heraus. Dann tauchte sie das rauchende Blech ins Spülbecken und griff gleichzeitig mit der linken Hand nach dem Telefon. Dichter, dampfender Rauch legte sich schlagartig wie eine Nebelschicht über die Küche. 10


Als Rose sich das Telefon ans Ohr hielt, verklangen gerade die letzten Töne. „… in himmlischer Ruh!“ „Hallo!“ „Rose?“, flötete Sharon Walker. „Ja?“ „Ist es gerade ungünstig?“ Rose konzentrierte sich auf den Rauch und den Dampf, der vom Spülbecken aufstieg. Es gelang ihr, die Luft vor dem Rauchmelder so gut zu fächern, dass das schrille Geräusch endlich verstummte. Ihre Finger betasteten die Beule an ihrem Kopf. Sie war nicht überrascht, als sie feststellte, dass diese ziemlich groß war. „Kann ich etwas für dich tun, Sharon?“ Sharon war die Leiterin ihres Bibelkreises. „Lois Gleeson musste heute an der Gallenblase operiert werden.“ Besorgt entgegnete Rose: „Das tut mir leid. Wie geht es ihr?“ „Sie hat die Operation gut überstanden. Morgen kommt sie nach Hause. Ich bin gerade dabei, ihre Verpflegung für die nächste Woche zu organisieren. Kann ich dich für Freitag- und Montagabend auf die Liste setzen? Sie braucht ballaststoffreiches Essen, keine Milchprodukte und wenig Fett.“ So gern Rose ihr auch eine Absage erteilt hätte, sie brachte es einfach nicht übers Herz. Wo sollte sie denn die Zeit finden, an zwei Abenden in dieser Woche zusätzliche Mahlzeiten vorzubereiten und sie zu Lois zu bringen? Sie müsste es zwischen das Basketballtraining und die Chorprobe quetschen, aber wie könnte sie sich weigern, Lois zu helfen? Lois hatte ihrer Familie Essen gebracht, als Rose im vergangenen Winter mit einer Grippe im Bett gelegen hatte. „Sicher, natürlich helfe ich!“ Sie schloss die Augen, weil ihr Kopf so sehr pochte, und tastete nach einem Stift, um die Termine in ihrem Kalender zu notieren. Ohne den Kalender 11


und den Tagesplaner, den sie in ihrer Handtasche immer bei sich hatte, würde sie an manchen Tagen wahrscheinlich sogar vergessen, sich anzuziehen. Sie plauderten noch ein paar Minuten, bevor Sharon sich verabschiedete, um ihre restlichen Anrufe zu tätigen. Kaum hatte sie aufgelegt, da erschütterte ein lautes Scheppern die Stille. Rose wandte sich langsam um und starrte stumm das Kalenderregal an, das jetzt schief hing und nur noch mit einem Haken an der Wand befestigt war. Der 1. Dezember lag wahrscheinlich irgendwo zwischen der Küche und dem Nachbarhaus. Rose sank auf einen Stuhl, während eine immer länger werdende To-do-Liste durch ihren Kopf geisterte. Die Gemeindeveranstaltungen, das Weihnachtsprogramm, der Secondhand-Laden, Brownies, die Mahlzeiten für Lois und so weiter … Wie sollte sie das nur alles unter einen Hut bekommen? Und was würde Lucas sagen, wenn er erfuhr, dass sie noch mehr Aufgaben übernommen hatte? In letzter Zeit hatte er ein wenig gereizt reagiert, weil sie ständig unterwegs war. Aber wollte Gott denn nicht, dass sie ihren Nächsten half? Wie konnte sie Menschen, die ihre Hilfe brauchten, einen Korb geben? Sie hatte Gott versprochen, alles zu tun, was ihr vor die Hände kam. Und zwar gut zu tun. Plötzlich hatte sie das Gefühl, von jedem Einzelnen ihrer achtunddreißig Jahre erdrückt zu werden.

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