Nirgendwo ist Bollywood Wie sie das hasste! Dabei hatte sie ja schon gewusst, dass es wieder passieren würde. Es war nämlich immer dasselbe. Sie überlegte wie jedes Mal, ob sie nicht einfach gar nichts sagen sollte. Als wäre sie stumm oder einfach schwer von Begriff. Sie hatte einfach keine Lust auf irgend so einen blöden Kommentar, der garantiert jedes Mal folgte, wenn die Frage kam: „Und wie heißt du?“ „Destiny“, antwortete Destiny schicksalsergeben und löste damit prompt wie jedes Mal die verhasste Reaktion aus. „Oh, was für ein toller Name! Da haben sich deine Eltern aber etwas Besonderes für dich ausgedacht!“, säuselte die noch gar nicht so alte neue Deutschlehrerin, die sich selbst als „Frau Schönborn“ vorgestellt hatte. Frau Weiske, ihre „Alte“, war im Mutterschaftsurlaub, zu schade. Und als wäre es nicht schon peinlich genug, setzte die jetzt auch noch zu einem kleinen Vortrag an: „Wisst ihr denn, was dieser schöne Name bedeutet?“, fragte Frau Schönborn lächelnd in die Runde und dachte wohl, die originellste Frage der Welt gestellt zu haben. Doch die ganze Klasse stöhnte im Chor und Destiny wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der hässliche Spind an der gegenüberliegenden Wand ein magischer Kleiderschrank wäre, durch den sie auf der Stelle verschwinden könnte. Robert, der sonst nicht so gern mit Lehrern sprach, raffte sich zu einer Antwort auf: „Dieser bezaubernde Name unsrer Mitschülerin heißt soviel wie Schicksal, und Sie sind nicht die Erste, die danach fragt. Und soweit ich weiß, findet Destiny es schrecklich, dass alle immer auf ihrem Namen rumreiten, stimmt´s?" Robert drehte sich zu Destiny um. Eigentlich konnte man bei Robert nie sicher sein, wie er etwas meinte und ob er ihr mit dieser Frage helfen wollte oder nur die Lehrerin bloßstellen. Egal, der Effekt war jedenfalls gut, denn Frau Schönborn wurde rot und wechselte sofort das Thema. Dieser blödsinnige Name, den viele so toll fanden und für den sie wirklich nichts konnte! Es waren nicht mal Mama und Papa, die was dafür konnten. Den Namen hatte Destiny damals mitgebracht, als sie zu ihnen kam, genauso wie den Beutel ungewaschener Wäsche und das kaputte Spielzeug. Von Letzterem konnte sie sich trennen, aber der Name blieb an ihr hängen. Ihre Freundinnen konnten auch gar nicht verstehen, was daran so schlimm sein sollte, außer eben diese Kommentare von anderen Leuten. Sie fanden den Namen cool, originell, außergewöhnlich. Na ja, wenn man Katrin oder Lisa hieß, konnte man das wahrscheinlich nicht verstehen. Und wenn man einfach das Kind seiner, wie hieß es so schön: „leiblichen Eltern“ war und genauso aussah wie seine Schwestern und Brüder, dann wollte man natürlich gern mal an irgendeiner Stelle etwas Besonderes sein. Aber bei Destiny war das Gegenteil der Fall – sie wollte am liebsten aussehen wie alle anderen und bloß nicht auffallen, und sie hätte viel dafür gegeben, einen gewöhnlichen Namen zu haben. Sicher hatte ihre leibliche Mutter den Wunsch gehabt, ihr einen ungewöhnlichen Namen zu geben. Vielleicht war damals ja gerade irgendeine Sängerin, eine Schauspielerin oder ein Lied namens Destiny „in“ gewesen? Wahrscheinlich musste sie noch dankbar sein, dass sie nicht Madonna, Sinead oder so ähnlich hieß. Oder Gertrud wie ihre arme Freundin. Es ließ sich ja sowieso nicht mehr ändern.
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Stunden später lag Destiny im Bett und konnte nicht einschlafen. Ihr ging alles Mögliche durch den Kopf. Ob sie mal im Internet herumsurfen sollte, um etwas über ihre Vorfahren in Erfahrung zu bringen? Vielleicht gab es doch etwas, das ihr helfen konnte herauszufinden, wo sie herkam ... wer sie war. Destiny wusste nur nicht so richtig, ob sie das überhaupt wissen wollte. Bis jetzt war es jedenfalls nicht so gewesen. Sie wollte nur ihre Mama als Mama, und als Erklärung, wie sie in die Familie Reuter gekommen war, sagte sie jedem: „Das hat der Gott so gemacht!“ Das genügte ihr jahrelang völlig. Bis sie vor kurzem auf Klassenfahrt in Berlin gewesen waren. Sie hatten das jüdische Museum besucht. Dort hatten sie viel über die Geschichte des jüdischen Volkes erfahren. Durch die schrecklichen Ereignisse im Dritten Reich hatten viele Juden ihre Angehörigen verloren, und nun gab es ein Archiv, wo man vermisste Familienmitglieder suchen konnte. Dadurch waren schon hunderte Überlebende zusammengeführt worden. In diesen zwei dicken Büchern waren alle bekannten jüdischen Nachnamen aufgeführt. Damals kam Destiny zum ersten Mal der Gedanke, dass sie auch über ihre Vorfahren mehr herausfinden könnte. Sie kannte ja immerhin den Namen ihrer Mutter.
Spannend blieb es in der Tat. Jeden Tag ging Destiny voller Erwartung zum Briefkasten und rief die E-Mails ab. Aber erst einmal passierte gar nichts. Es war an einem ganz normalen Dienstag, einem dieser glücklichen Tage, wo die Schule früher aus war und sie sich am späten Nachmittag im Kino treffen wollten. Destiny öffnete zu Hause die Tür und sah sofort, dass dort das lag, worauf sie seit Wochen gewartet hatten: Dieselben schnörkeligen Schriftzeichen, eine schillernd bunte Briefmarke und ihre Adresse in akkuraten lateinischen Druckbuchstaben. AirMail! Der Brief aus Indien!! Destiny hob ihn auf und merkte, dass ihre Hände dabei zitterten. In ihrem Zimmer machte sie ihre Lieblingsmusik an und setzte sich auf ihr Bett. So saß sie lange da, den ungeöffneten Brief in der Hand, und wagte nicht, ihn aufzumachen und zu lesen. Als ihre Mutter wenig später nach Hause kam, fand sie Destiny immer noch mit dem ungeöffneten Brief ins Leere starrend vor. „Hallo, mein Schatz! Geht´s dir nicht gut?“ Dann erst fiel ihr Blick auf den Brief in Destinys Hand. „Oh!“, war alles, was sie im ersten Moment dazu sagen konnte. Sie schaute Destiny fragend an. „Mama, bitte mach du ihn auf, ich kann´s nicht. Ich ... ich glaub, das war doch alles ein Fehler. Vielleicht steht da was ganz Schreckliches drin! Was soll ich denn jetzt bloß machen? Wir könnten vielleicht einfach so tun, als gäbe es den Brief nicht ...“ Daniel steckte den Kopf zur Tür rein: „Hunger!“, maulte er, ohne zu begreifen, was vor sich ging. Seine Mutter sagte nur: „Zisch mal ab!", und zwar in einem Ton, der Daniel ungewohnt schnell genau das tun ließ, wobei er nur etwas von „unfair“ in sich hinein murmelte. „Destiny, du weißt, es ist jetzt zu spät. Wenn wir den Brief einfach wegschmeißen, dann wirst du deine Fragen nie los, und das, was du nicht weißt, ist viel schlimmer als das, was du rausbekommst. Soll ich den Brief öffnen und vorlesen?“
Destiny nickte und klammerte sich an ihrem Lieblingskissen fest. Ihre Mutter öffnete den Brief und begann zu lesen – der Brief war in ordentlichen englischen Buchstaben verfasst. Dear Destiny! Wie gut, dass Destiny fließend Englisch konnte, da brauchte sie nichts zu übersetzen. Sie las weiter: Dein Brief hat uns alle tief bewegt und sehr überrascht. Ja, ein Mann namens Jayraj Prabakaran lebt hier, er ist mein Großonkel. Mein Name ist William Prabakaran. Leider ist mein Großonkel nicht in der Lage, dir selbst zu schreiben, obwohl er es von Herzen gern tun würde. „Uncle“, wie wir ihn hier alle nennen, hatte vor einem Jahr einen Schlaganfall und kann seitdem das Bett nicht mehr verlassen und sich nicht mehr bewegen. Aber sein Geist ist klar und seine Stimme, wenn auch brüchig, so doch deutlich. Uncle ist ein wunderbarer Mensch, wir verehren ihn hier alle. Dass er eine Enkelin in dem Land hat, dass er so liebt, hat er kaum verkraftet. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass all die Jahre ungenutzt vergangen sind, in denen er nichts gewusst hat. Nichts von seiner Tochter, nichts von dir. Wie konnte Gott das zulassen? Du musst wissen, Uncle hat uns immer von Deutschland erzählt, vom Schnee dort, von den großen Supermärkten, in denen es alles gibt. Und solange ich mich erinnern kann, stand das Bild einer sehr schönen Frau neben Uncles Bett. Ihr Name war Dorothee, und er muss sie sehr geliebt haben, denn er hat hier in Indien nie geheiratet. Er hat uns auch erzählt, dass er lange auf eine Nachricht von Dorothee gewartet hat, bis dann irgendwann ein Brief eintraf. Es war die Nachricht vom Selbstmord dieser Frau, die wohl deine Großmutter war. Mein Vater hat mir erzählt, dass sein Onkel damals fast unter der Last zerbrochen ist, denn er hat sich die Schuld am ihrem Tod gegeben. Unsere ganze Familie hat diese Tragödie mitbekommen, ich war damals natürlich noch viel zu klein, um irgendetwas davon zu verstehen. Uncle war wie gesagt völlig am Boden zerstört, obwohl er nie einen Brief erhalten hat und wirklich annehmen musste, dass Dorothee nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Von einem gemeinsamen Kind hat er nie etwas erfahren, das musst du ihm glauben. Und dann traf vor einigen Tagen dein Brief hier ein. Leider gibt es hier in unserem Dorf noch keine Internetverbindung, ich muss dafür zwei Stunden bis nach Madras fahren. So wirst du diesen Brief erst in ein paar Wochen erhalten, und ich bete, dass du ihn überhaupt bekommst. Uncle hat sein Leben ganz Gott zur Verfügung gestellt. Nachdem er von Dorothees Tod erfuhr, hat er ein tiefes Glaubenserlebnis gehabt. Er hatte danach endlich wieder Frieden und konnte hier eine Arbeit mit Waisenkindern beginnen. Dafür lieben ihn alle bei uns. Doch seit seinem Schlaganfall kann er nun nichts mehr tun. Liebe Destiny, sein größter Wunsch wäre es, dich einmal sehen zu können! Wir wissen, du bist noch sehr jung, jemand müsste dich nach Indien begleiten, und all das kostet viel Geld. Du brauchst Impfungen, und wir wissen nicht einmal, ob du uns kennen lernen möchtest. Für uns wäre es eine große
Ehre, und für Uncle wäre es wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit, die ihn in seinem gefesselten Körper manchmal umfängt. Wenn du das nächste Mal schreibst, kannst du dann bitte ein Foto von dir mitschicken? Uncle möchte so gern wissen, wie du aussiehst. Wir anderen hier natürlich auch. Wir, das ist meine Familie. Babu, Uncles Neffe, mein Vater. Ama, meine Mutter Susanna, mein Bruder Suresh und meine Schwestern Ani und Grace. Wir hoffen auf deine Antwort William