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Amys Plan Rrrums! Mit einem lauten Krachen fiel die Tür hinter Amy ins Schloss. Die winzigen birnenförmigen Kristalle des Kronleuchters an der hohen Decke schlugen mit einem leisen Klirren gegeneinander. Tante Katherine, die alleine im Salon zurückblieb, stützte ihren schmerzenden Kopf in die Hände und seufzte vernehmlich. Amy jedoch waren die Kopfschmerzen ihrer Tante gleichgültig. Sie war schließlich zu Recht wütend – und das sollte jeder im Haus zu spüren bekommen. Hatte man ihr nicht ganz fest versprochen, den Zirkus zu besuchen, der an diesem Abend seine letzte Vorstellung in London gab? „Dieses Versprechen steht so fest wie die weißen Klippen von Dover“, hatte Onkel Edward gesagt. Und was war nun daraus geworden? Onkel Edward hatte sich „in dringenden Geschäften“ auf eine 7
Reise begeben, und Tante Katherine – wie konnte es anders sein – litt ausgerechnet heute an ihren berüchtigten Kopfschmerzen. Gerade eben hatte sie Amy eröffnet, sie sei leider nicht in der rechten Verfassung für einen Zirkusbesuch und deshalb müsse auch Amy zu Hause bleiben. Zornig trat Amy mit dem Fuß gegen das auf Hochglanz polierte hölzerne Geländer der Treppe, die nach oben und somit auch zu ihrem Zimmer führte. Hölzerne Treppengeländer sind aber, wie allgemein bekannt ist, weit weniger schmerzempfindlich als die zarten Zehen einer Elfjährigen, und so musste Amy den restlichen Weg humpelnd und mit zusammengebissenen Zähnen zurücklegen. Endlich in ihrem Zimmer angekommen, warf sie sich quer über das Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie weinte nicht nur aus Schmerz oder Enttäuschung über den geplatzten Zirkusbesuch, sondern auch aus Heimweh und Sehnsucht nach ihren Eltern. Wäre sie jetzt gemeinsam mit diesen zu Hause auf dem Landgut, ja dann ... dann wäre ihr der Zirkus gar nicht so wichtig, hatte sie doch dort genügend Tiere, die zwar keine Kunststücke vollbringen konnten, aber dafür Amys Eigentum waren und sie innig liebten. Da war Spotty, der etwas zu klein geratene Hirtenhund mit dem braunen Fleck mitten in seinem 8
freundlichen weißen Gesicht. Er war Amys ständiger Begleiter: Während ihres Unterrichts bei Miss Prince, der Gouvernante, lag er immer unter dem Tisch und wartete geduldig darauf, dass sie endlich mit ihm zum Toben ins Freie ging, und nachts, wenn alle übrigen Bewohner des Hauses bereits schliefen, schlich er nach oben in Amys Zimmer, legte sich vor ihrem Bett zu Boden und wachte über ihrem Schlaf. Auch ein Pferd nannte sie ihr Eigen, nicht nur ein Pony wie andere Mädchen ihres Alters, sondern eine echte englische Vollblutstute. „Lady Fox“ hatte Amy sie genannt, denn ihr Fell hatte dieselbe rötliche Farbe wie das eines Fuchses, und auf ihren schmalen Fesseln bewegte sie sich so leicht und elegant wie eine wahre Lady. Mit „Lady Fox“ und ihrem Vater auf seinem temperamentvollen Hengst war Amy oft stundenlang unterwegs gewesen, sie kannten jeden Wildwechsel im Wald, jeden noch so schmalen Pfad über das Moor ... Ganz in Gedanken an ihr Zuhause versunken, glitten Amys Finger über die zartgliedrige silberne Kette an ihrem Hals, bis hinunter zu dem ovalen Medaillon, das im Ausschnitt ihres Kleides verborgen war. Auf der Oberfläche des silbernen Medaillons war von der geschickten Hand eines Künstlers ein Ornament eingearbeitet worden: ein großes, aus 9
zweierlei Silbersträngen geflochtenes R, umrankt von unglaublich feinblättrigen Efeuzweigen, und ein Rabe, der mit ausgebreiteten Schwingen direkt aus dem runden Bogen des Buchstabens hervorzukommen schien. Dies war das Wappen ihrer Familie, der Familie Ravenhurst1. Amy öffnete den Deckel des Medaillons und betrachtete sehnsüchtig seinen Inhalt – eine glänzende dunkelbraune Haarlocke. Eine Haarlocke ihrer Mutter. Bei ihrem Aufbruch nach Australien hatte die Mutter Amy das Medaillon mit der Haarlocke geschenkt. „Wenn du dieses Medaillon an deinem Herzen trägst, dann trägst du einen Teil von mir immer bei dir“, hatte sie gesagt. „Und wenn du Heimweh oder Sehnsucht nach mir hast, betrachte es. Dann weißt du, dass wir eines Tages wieder zusammen sein werden. Ich werde es mit dem Medaillon, das dein Haar enthält, ebenso machen, sodass wir stets miteinander verbunden sind.“ Trotz dieser Abmachung war der Abschied von den Eltern und von Ravenhurst Park*, ihrer Heimat, sehr schmerzlich gewesen, und nun waren ihre Eltern schon so endlos lange fort – bald drei Jahre. Sie besuchten den Bruder von Amys Vater, einen ehemaligen Offizier der englischen Kolonialarmee, *
Raven ist Englisch und heißt Rabe
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der in Australien lebte, und Amy, die man für eine solch anstrengende Reise für zu jung und zart befand, wurde der Obhut ihrer in London lebenden Verwandten überlassen. Bis jetzt waren lediglich zwei Briefe aus dem fernen Australien in London angekommen. Im ersten hatten die Eltern von der langen Seereise und ihrer glücklichen Ankunft berichtet, im zweiten hatte Amys Mutter geschrieben, dass sich der Aufenthalt dort leider noch etwas hinziehen würde. Seitdem hatte man nichts mehr von Sir Arthur und Lady Cecilia Ravenhurst gehört, und es kam immer öfter vor, dass Amy nachts von Träumen heimgesucht wurde, in denen ihren Eltern schreckliche Dinge zustießen. Einmal wurden sie in den ausgedehnten Sümpfen des australischen Hinterlands von einem riesigen Krokodil verschlungen, ein anderes Mal geriet ihr Schiff im Indischen Ozean in einen schrecklichen Sturm und sank. Amy wachte dann stets schweißgebadet auf und betete inbrünstig um eine baldige Heimkehr ihrer Mutter und ihres Vaters. Es war schlichtweg unvorstellbar für sie, ihre Eltern niemals wiederzusehen, und ebenso unvorstellbar war die Aussicht, ihre restliche Kindheit hier im Haus ihrer Verwandten zu verbringen. Sicher, Onkel Edward war sehr lieb, aber er war eben fast nie zu Hause. Auch Tante Katherine war auf ihre Art nett, 11
doch da sie nicht mehr die Jüngste war und niemals eigene Kinder gehabt hatte, konnte sie für ein unternehmungslustiges Mädchen wie Amy wenig Verständnis aufbringen. Das Aufregendste, was Tante Katherine mit ihr unternahm, waren gesittete Spaziergänge durch den nahe gelegenen Park (in dem das Betreten der Grünflächen natürlich strengstens verboten war) oder nachmittägliche Teepartys, bei denen Amy mit ihrer Tante und deren ältlichen Freundinnen Karten spielen durfte. Der geplante Zirkusbesuch war also so etwas wie ein unverhoffter Sonnenstrahl an einem neblig-grauen Tag gewesen – und nun war ihr nicht einmal das vergönnt. Während Amy noch diesen düsteren Gedanken nachhing, blickte sie sich in ihrem „Gefängnis“ um, einem Zimmer, dessen Einrichtung von erlesenem Geschmack und der dazu passenden Geldbörse zeugte. Ihr Blick blieb schließlich an einem Buch hängen, das aufgeschlagen auf dem Tischchen neben dem Bett lag. Onkel Edward hatte dieses Buch sozusagen frisch von der Druckerpresse weg gekauft, und obwohl Amy es seitdem schon zwei Mal gelesen hatte, war sie immer noch im höchsten Maße davon gefesselt. Sobald sie „Die Schatzinsel“ aufschlug, war sie nicht mehr Amelia Ravenhurst, die in einem langweiligen alten Haus in einer langweiligen alten Straße Londons ein langweiliges Dasein fristete, 12
nein, sie war Jim Hawkins, der an Bord der Hispanola auf die Suche nach einem sagenhaften Goldschatz ging, die wogenden Meere durchkreuzte, sich mit dem Schiffskoch anfreundete, der sich später als ein fieser Pirat namens Long John Silver entpuppte, und nach vielen gefährlichen Abenteuern am Ende reich mit Schätzen beladen in seine englische Heimat zurückkehrte. Was hätte sie nicht darum gegeben, auch nur eines dieser Abenteuer selbst zu erleben. Sie war es gründlich leid, für alle nur die „liebe kleine Amy“ mit den langen rotblonden Locken und den niedlichen Grübchen in den Wangen zu sein. Und plötzlich wusste Amy, was sie zu tun hatte. Wenn sie wirklich Abenteuer erleben wollte, musste sie selbst etwas unternehmen, und heute bot sich ihr die Gelegenheit dazu: Sie würde abends heimlich aus dem Haus schleichen und ganz alleine den Zirkus besuchen. Dann konnte sie sich, nachdem die Vorstellung beendet war, vielleicht auf eigene Faust noch ein wenig umsehen. Einen Löwen oder Elefanten oder gar die berühmten weißen Dressurpferde einmal ganz aus der Nähe zu sehen, das war doch fast so etwas wie ein Abenteuer! Je länger Amy über diese verwegene Idee nachdachte, desto besser gefiel sie ihr, und als die Abenddämmerung über die große Stadt fiel, in den 13
Häusern die Vorhänge zugezogen und die Lampen angezündet und in dem riesigen Zirkuszelt die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, war ihr Plan perfekt. $
Zunächst unterschied sich dieser Abend in nichts von unzähligen anderen vorher: Nach einem üppigen warmen Mahl begaben sich Mrs Katherine Montgomery, Miss Prince und Amy in den „Kleinen Salon“, in dem, je nach Jahreszeit, immer ein kleineres oder größeres Feuer im Kamin brannte, denn hinter den dicken Mauern des alten Hauses war es sommers wie winters zugig und kalt.Vor dem knisternden Feuer verbrachten die drei dann gemeinsam ihren Abend – Tante Katherine für gewöhnlich mit einer Stickarbeit in den Händen, Miss Prince und Amy mit einem Buch vor der Nase. Die beiden Damen hatten immer schon während der Mahlzeit alle eventuellen Neuigkeiten miteinander ausgetauscht und waren ganz zufrieden damit, stillschweigend die Gesellschaft der anderen zu genießen, Amy aber glaubte manchmal, vor Langeweile sterben zu müssen. Heute allerdings war das nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, Amy fieberte dem Ende des Beisammenseins mit größter Ungeduld entgegen. Sie hatte 14
sich zwar wie immer in einem der samtbezogenen roten Sessel niedergelassen und hielt ihr Buch in den Händen, aber über die hohe Lehne hinweg schielte sie mehr oder weniger unauffällig ständig von der großen Standuhr in der Ecke hinüber zu Tante Katherine, dann wieder zurück zu der Uhr und so fort. Damit hatte es nämlich eine ganz besondere Bewandtnis: Jeden Abend, wenn die Zeiger der Uhr leise tickend auf die Neun zurückten, begann auch der Kneifer* auf Tante Katherines aristokratisch schmaler Nase langsam nach vorne zu rücken; denn je müder die Tante wurde, desto tiefer sank ihr Kopf, was wiederum den Kneifer in Bewegung brachte. Kurz bevor er dann endgültig seinen Halt auf der Nase verlor, schreckte Tante Katherine meistens hoch und verkündete: „Es ist wohl an der Zeit, zu Bett zu gehen, meine Lieben.“ Manchmal war der Kneifer sogar tatsächlich schon unten auf ihrem Schoß, mitten auf der Stickarbeit gelandet, ehe sie aufschreckte, und Amy musste sich ein Kissen vors Gesicht halten, um nicht laut herauszuplatzen vor Lachen. Sogar Miss Prince *
eine Brille, die nicht mit Bügeln hinter den Ohren festgehalten wird, sondern allein dadurch, dass sie auf dem Nasenrücken „kneift“
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verzog ihr strenges Gesicht zu einem leisen Lächeln, wenn das passierte. Aber an diesem speziellen Abend brachte jeder Millimeter, den der Kneifer die Nase entlangwanderte, Amy näher an ihr großes Abenteuer, und deshalb konnte sie kaum ihre Augen davon lassen. Und endlich, endlich war es so weit: Tante Katherine sprach die erlösenden Worte und Amy zog sich eilig in ihr Zimmer zurück. Dort tauschte sie ihr elegantes blassgrünes Taftkleid mit dem weit aufgebauschten Rockteil gegen ein einfacheres Kleid aus braun gemustertem Wollstoff. Darüber würde sie ein ebenso braunes wollenes Cape tragen, um sich möglichst unauffällig durch die nächtlichen Straßen bewegen zu können. So angekleidet legte Amy sich ins Bett, zog die Decke bis zum Hals und wartete und lauschte. Man konnte nie wissen, ob ihre Gouvernante nicht noch einmal nach ihr sehen würde. Doch diese ließ sich nicht mehr blicken. Die Stimmen im Haus verstummten, der Hausdiener löschte die Lichter, schloss die Eingangstür ab und begab sich selbst zur Ruhe. Nicht einmal er bemerkte die schattenhafte kleine Gestalt, die auf Zehenspitzen die Treppen hinunterhuschte und das Haus durch den Dienstboteneingang verließ.
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