Nancy Moser
So wahr mir Gott helfe Roman
Ăœber die Autorin Nancy Moser machte ihren Abschluss in Architektur und kam Ăźber Umwege zum Schreiben. Heute arbeitet sie als Lehrerin und Schriftstellerin. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Kansas und hat drei erwachsene Kinder.
Nancy Moser
So wa h r m ir Gott helfe Roman
Aus dem Amerikanischen 端bersetzt von Eva Weyandt
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Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Tyndale Publishers ������������������ unter dem Titel „Solemny Swear“. © 2007 by Nancy Moser © 2009 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Die Bibelzitate wurden der folgenden Bibelübersetzung entnommen: Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 1. Auflage 2009 Bestell-Nr. 816 365 ISBN 978-3-86591-365-4 ������������
Umschlaggestaltung: Hanni Plato ��������������������������������������� Umschlagfoto: A. Inden/zefa/Corbis �������������������������������������������������������������������� �������������������������������������������� Satz: Nicole Schol Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
KAPITEL 1 „Abigail Buchanan?“ „Das bin ich.“ Abigail erhob sich, ohne sich auf den Armlehnen des Stuhles abzustützen. Sie zwang sich, schneller zu gehen, als sie es sonst tat. Unter Aufbietung aller Willenskraft richtete sie sich hoch auf, sodass ihr Rückgrat genauso gerade war wie damals vor fünfzig Jahren, als sie ihr erstes Vorsprechen gehabt hatte. Als Schauspielerin über siebzig ohne Engagement sein Leben zu fristen war die Hölle. Eigentlich hatte diese Hölle begonnen, als sie vierzig wurde und aus den Hauptrollen langsam Charakterrollen wurden. Als ihr das erste Mal statt der Hauptrolle die Rolle der Mutter der Hauptdarstellerin angeboten wurde, hatten bei ihr die Alarmglocken geschrillt. Willkommen in der Realität. Die junge Frau, die sie aufgerufen hatte, hielt die Tür auf. Auf ihrer samtweichen Haut war keine einzige Falte
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zu finden. Abigail hasste es, wenn Menschen Bemerkungen machten wie: „Ich habe mir meine Falten verdient. Ich bin stolz auf jede einzelne.“ Solche Erklärungen waren armselige Rationalisierungsversuche eines Menschen, der mühsam seine Panik unterdrückte, eines Menschen, der verzweifelt nach einer Rechtfertigung suchte. Abigail blieb bei ihrer ursprünglichen Aussage: Das Älterwerden war die Hölle. Sie persönlich hatte sich nie unters Messer gelegt, obwohl sie Falten genauso hasste wie alle Frauen. Der Grund dafür war in erster Linie der, dass die Schönheitschirurgie damals, als sie das erste Mal in Versuchung geriet, noch in den Kinderschuhen steckte. Nachdem sie erlebt hatte, dass der Mund von einer ihrer Schauspielerkolleginnen nach einem solchen Eingriff so aussah wie der von Donald Duck, hatte sie sich in ihrem Entschluss bestätigt gesehen. Trotzdem hatte sie jede Gesichtslotion, jede Faltencreme, jede Bürste und jedes neue Produkt ausprobiert, von dem sie sich erhoffte, dass es den Zahn der Zeit aufhalten könnte. Doch schon nach kurzer Zeit wurde ihr klar, dass diese Mittel den Alterungsprozess bestenfalls verzögerten, falls sie überhaupt etwas bewirkten. Der Alterungsprozess war nicht aufzuhalten und er war sehr emsig bei der Arbeit. Ein ziemlich lausiger Job, diese Aufgabe, dafür zu sorgen, dass ein Mensch im Laufe der Tage, Monate und Jahre alt wird. „Stellen Sie sich bitte dorthin“, forderte die junge Frau sie auf und deutete auf eine Stelle vor dem Tisch der beiden Männer, die über Abigails Zukunft zu bestimmen hatten. Sie lächelte. „Guten Tag, meine Herren.“ Ein Nicken. „Sie sind Abigail Buchanan …“ Seinem Tonfall entnahm sie, dass er sie kannte. „Das bin ich. Hauptdarstellerin der Broadway-Show Winsome Girl und der The Jackie Daniels Show im Fernsehen.“ Der andere Mann blickte sie verständnislos an. Sie könnte weiter ausführen, dass sie die Rolle in Winsome Girl
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Mary Martin vor der Nase weggeschnappt und sich die Rolle in Jackie durch die Vielseitigkeit ihres Talents erarbeitet hatte, aber sie hatte das Gefühl, dass ihre Erklärungen ihr nur weitere verständnislose Blicke einbringen würden. „Hier steht, dass Sie auch einmal bei Friends mitgespielt haben.“ „Diese Kids waren so nett.“ Kids. Ich hätte sie nicht Kids nennen sollen. Doch an dem zustimmenden Nicken der Männer wurde deutlich, dass eine Mitwirkung bei Friends wichtiger war als Dutzende bedeutendere Rollen in der allzu fernen Vergangenheit. „Außerdem habe ich zwölf Werbespots für Ivory Soap gedreht …“ Der erste Mann, dem eines dieser ärgerlichen Haarbüschel in seinem Grübchen am Kinn wuchs, bemerkte: „Sie sehen älter aus.“ Wirklich sehr charmant. Sie reagierte nicht. Kinnhaar seufzte, als wäre er bereits zu dem Schluss gelangt, dass dies eine große Zeitvergeudung sei. Er winkte das Mädchen heran. „Geben Sie ihr das Manuskript.“ Wenn Abigail in den vergangenen neun Monaten ein Engagement gehabt hätte, hätte sie ihm die Seiten mit einer banalen (aber befriedigenden) Bemerkung wie zum Beispiel: „So etwas habe ich nicht nötig!“, ins Gesicht geschleudert. Aber da ihre Rente noch nicht ausgezahlt war und sie sich zum Abendessen wirklich gern etwas anderes gönnen wollte als eine Portion Käsemakkaroni für einen Dollar, nahm sie die Seiten entgegen und gab ihr Bestes. Als sie fertig war, besprachen sich die Männer nicht einmal miteinander. Kinnhaar sagte nur: „Wir melden uns bei Ihnen“, und das Püppchen sprang auf, um Abigail zur Tür zu begleiten. Sie brauchen uns nicht anzurufen; wir werden uns bei Ihnen melden. Bei solchen Gelegenheiten bedauerte Abigail, dass sie sich damals, im Jahr 1958, von ihrem Mann hatte schei-
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den lassen. Nicht weil sie ihn vermisste (Wie hieß er noch gleich?) oder weil sie der Meinung war, sie hätten doch besser zusammenbleiben sollen, sondern weil sie dann wenigstens einen Menschen an ihrer Seite gehabt hätte. Ihre Ehe hatte ihr jede Art der Bindung vermiest, und sie hatte keinen anderen Mann mehr gefunden, zumindest keinen, den sie hätte heiraten wollen. Und so hatte sie auch keine Kinder – die ihr im Alter hätten Gesellschaft leisten können. Da war es wieder. Das Alter. Garstiger Teufel. So wie die Dinge lagen, musste sie ihre Enttäuschung darüber, dass sie die Rolle nicht bekommen hatte, allein bewältigen. Sie war daran gewöhnt, aber das bedeutete nicht, dass es ihr nichts ausmachte. Nachdem sie in die goldenen Jahre gekommen war (wobei das Gold eher ein schmutziges Gelb war, wenn man sie fragte), musste sie feststellen, dass ihre Fähigkeit, wie ein Stehaufmännchen immer wieder auf die Beine zu kommen, ein wenig nachgelassen hatte. Und wenn sie ihren Freunden gegenüber erwähnte, dass sie gern arbeitete, starrten diese sie so entgeistert an, als sei sie geisteskrank. „Warum das denn? Genieße doch deinen Ruhestand, Abigail.“ Und wie? Womit? Und mit wem? „Aufhören!“, gebot sie ihren quälenden Gedanken Einhalt. Leider gab ihr der menschenleere Aufzug keine Antwort. Aber wenigstens konnte sie ihrem Ärger Luft machen … Schelmisch lächelnd wiederholte sie die Worte noch einmal, schrie sie gegen die Wände dieses herabschwebenden Kastens und fügte noch ein paar Worte zur Bekräftigung hinzu: „Hör auf, dich zu bemitleiden, Abigail Buchanan!“ Sie stellte sich vor, wie ihre Worte durch den Aufzugschacht nach oben stiegen und im achten Stock in den Ohren eines armen Kerls widerhallten, der seine Zahnschmerzen mit Novocain betäubt hatte.
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Vielleicht hätte sie ihren Namen nicht sagen sollen. Als die Aufzugtüren im Erdgeschoss aufglitten, lachte sie. Was machte es schon, wenn jemand ihren Namen hörte? Er würde ihn bald wieder vergessen haben – wie alle anderen auch. Abigail schloss ihren Briefkasten im Hausflur ihres alten Mietshauses auf, das früher einmal ein stattliches viktorianisches Gebäude gewesen war. Beim Durchblättern ihrer Post wurde ihr klar, wie erbärmlich ihr Leben geworden war – sie würde sich sogar über Angebote für Kreditkarten, die für sie nicht infrage kamen, für Vinylverkleidungen, die sie nicht brauchte, und für Kreuzfahrten, die sie sich nicht leisten konnte, freuen. C’est la vie. Sie war enttäuscht, dass keiner der gerade genannten Briefe dabei war, sondern nur eine Gasrechnung und ein Brief von irgendeiner Behörde. Beide Briefe steckte sie in ihre Tasche und stieg die Treppen zu ihrer Dachgeschosswohnung hoch. Als sie vor fünfzehn Jahren in diese Wohnung eingezogen war, hatte sie gehofft, das Treppensteigen würde sie jung halten. Sehr lustig. Das Gute an den Treppen war, dass das Treppenhaus in der Mitte des Gebäudes lag und sehr herrschaftlich wirkte – irgendwo unter den zahllosen Farbschichten verbargen sich Treppenstufen aus Eiche oder Walnussholz. Eine Schande. Eine himmelschreiende Schande. Aber andererseits würde eine dicke Farbschicht auf dem Gesicht wohl auch ihr weiterhelfen und ihr Arbeit verschaffen … Sie erreichte den zweiten Treppenabsatz und lief durch den Flur, an dessen Ende eine kleine Tür zu der gewundenen Treppe in ihr Dachgeschoss führte, die so schmal war, dass sie sich – aus Gewohnheit und weil es ihr das Treppensteigen erleichterte – an beiden Wänden abstützte. Diese
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Angewohnheit hatte mittlerweile eine dunkle Spur an der weißen Wand hinterlassen. Sie sollte sie mal abwaschen. Irgendwann in den nächsten Tagen. Es war ja nicht so, als hätte sie keine Zeit dafür. Das Treppensteigen hatte sie ermüdet, und so ließ sie sich, nachdem sie die Briefe aus ihrer Tasche genommen hatte, in den mauvefarbenen Queen-Anne-Sessel sinken, der wirklich irgendwann einmal einen neuen Bezug bekommen müsste. Vielleicht in einer Farbe, die etwas modischer war. Falls sie sich dazu würde aufraffen können. Was unwahrscheinlich war. Sie warf die Gasrechnung auf den Boden und nahm sich den amtlich wirkenden Brief vor. Kaum hatte sie zu lesen begonnen, durchzuckte es sie und sie fuhr hoch. Abigail drückte den Brief an ihren Mund. Sie sollte Geschworene bei einer Gerichtsverhandlung werden? Das war eine Rolle, die sie schon immer mal spielen wollte. Ken Doolittle hörte das Wasser im Bad rauschen. Es dauerte einen Augenblick, bis er der Person, die sein Bad benutzte, einen Namen zuordnen konnte. Loretta. Lorena? Da er sich nicht sicher war, beschloss er, die Augen geschlossen zu halten und so zu tun, als würde er noch schlafen. Er hatte keine Lust auf eine ergreifende Abschiedsszene. In den fünfundfünfzig Jahren seines Lebens hatte das Wort ergreifend nie zu seinem Wortschatz gehört. Oder zu seiner Agenda. Als ob er eine hätte. Eine, die auch funktionierte. Das Wasser wurde abgedreht, und er hörte, wie das Licht ausgeknipst wurde. Die Frau kramte in ihrer Handtasche, und beinahe hätte Ken die Augen geöffnet, um zu sehen, was sie da tat … Doch dann spürte er ihre Gegenwart. Der Blumenduft ih-
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res Parfüms drang ihm in die Nase. Dann Schritte. Sie entfernten sich. Nun war sie auf der Treppe. Er hielt den Atem an und wartete, dass die Haustür – Klick. Ah. In Sicherheit. Beim Geräusch des davonfahrenden Wagens erlaubte er sich, sich aufzusetzen. Auf dem Kissen neben sich entdeckte er einen Zettel: „Danke“ stand darauf. Er starrte den Zettel an. Das war alles? Danke? Nicht: Du warst wundervoll. Ruf mich an. Nicht mal: Ruf mich an. Sie schrieben immer: Ruf mich an. Na ja, normalerweise. Manchmal. Er warf einen Blick auf die Uhr. Halb zwei. Mittags? Das Licht, das durch das Fenster strömte, beantwortete seine Frage. Wenigstens hatte Lor-wie-auch-immer es so lange ausgehalten. Natürlich waren sie erst gegen fünf Uhr morgens nach Hause gekommen. Er hatte sie in einer Bar kennengelernt, in der sie als Kellnerin arbeitete. Als sie gegen zwei Uhr morgens Feierabend hatte, hatten sie sich etwas zu essen geholt, dann waren sie zu seinem Haus gefahren, um … sich miteinander zu beschäftigen. Ken schwang die Beine über den Bettrand. Ganz vorsichtig bewegte er den Kopf, um zu sehen, ob er einen Kater hatte. Da dies nicht der Fall war, suchte er seinen Frotteebademantel, den er auf den Stuhl am Fenster geworfen hatte. Aus einer Laune heraus hatte er ihn vor zehn Jahren in einem Golfhotel in Arizona gekauft. Als er den Gürtel zuband, stach ihm der rote Fleck am Kragen ins Auge. Da fiel es ihm wieder ein. Rotwein. Aber nicht von gestern Nacht, sondern von einem kleinen Tête-à-tête, das er in der vergangenen Woche gehabt hatte. Auch mit einer Frau, die er in einer Bar aufgegabelt hatte. Irgendeiner Frau. Er sollte ihn wirklich in die Waschmaschine stecken.
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Irgendwann. Er schlurfte die Treppe hinunter, um sich einen Kaffee zu kochen. Haferbrei wäre jetzt gut. Der würde seinen Cholesterinspiegel senken. Es war zwar schon ein wenig spät für ein Frühstück, doch Ken scherte sich schon lange nicht mehr um reguläre Essenszeiten. Und wen kümmerte das? Solange er rechtzeitig zu seinen Privatstunden im Marlborough Country Club erschien … wann er aufstand und was er aß, war seine Angelegenheit. Ken schaltete die Kaffeemaschine an und stellte eine Schale mit Instant-Haferbrei in die Mikrowelle. Während er wartete, ging er die Post durch, die er auf die Arbeitsplatte geworfen hatte. Post von zwei Tagen. Mindestens. Werbung, Werbung, Rechnung, Gutschein, Rechnung, Werbung … Was war das denn? Ein Brief vom Bezirksgericht. In Gedanken ging er alle Verfehlungen durch, die ihm einen Brief vom Bezirksgericht einbringen könnten. Unbezahlte Knöllchen? Das wegen Trunkenheit am Steuer? Nein. Das hatte er schon lange bezahlt. Er riss den Brief auf. Geschworenenpflicht? Was war das denn? Damit hatte er nicht gerechnet … Voller Interesse las er den Brief – und begann zu strahlen. Mit so etwas konnte man die Frauen beeindrucken … vor allem, wenn es sich bei dem Prozess um einen Skandalprozess handelte. Das würde bestimmt Spaß machen. Diana Kelly saß mit ihrer zwölfjährigen Tochter im Zimmer der Direktorin. Ihre Tochter weinte. „Das können wir nicht hinnehmen“, erklärte Diana der Direktorin. „Es ist untragbar, dass Nelly von einem Raufbold drangsaliert wird.“ Sie wandte sich an Nellys Sportlehrerin, die an der Tür stand. „Wo waren Sie während des Zwischenfalls?“
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„Ich habe dreißig Schüler zu beaufsichtigen, nicht nur Nelly“, verteidigte sich Miss Hollings. „Wollen Sie mir etwa weismachen, so etwas sei an Ihrer Schule noch nie vorgekommen, bei einem anderen Kind?“ „Ich fürchte, dazu können wir nichts sagen“, redete sich die Direktorin heraus. „Die Schülerakten sind vertraulich und –“ „Als Leon Nelly umgeschubst und seinen Fuß auf ihren Arm gestellt hat, war das nicht vertraulich.“ Sie ertappte Miss Hollings dabei, wie sie mit den Achseln zuckte. „Er wird seine Strafe erhalten.“ Die Direktorin klappte die Akte auf ihrem Schreibtisch zu. „Ich versichere Ihnen, Mrs Kelly, dass wir ein solches Verhalten an unserer Schule nicht dulden.“ „Aber offensichtlich unternehmen Sie wenig, um es zu unterbinden. Leon hat Nelly auch schon nach der Schule drangsaliert.“ „Und nicht nur mich. Andere Mädchen auch“, schniefte Nelly. „Nach Unterrichtsschluss, wenn die Kinder das Schulgelände verlassen haben, unterliegen die Schüler nicht mehr unserer Aufsicht“, erklärte die Direktorin. „Wie es scheint, lässt Ihre Aufsicht generell zu wünschen übrig.“ Diana erhob sich und forderte Nelly mit einer Kopfbewegung auf, ebenfalls aufzustehen. „Jungen, die Mädchen ärgern, sind später einmal Männer, die Frauen drangsalieren. Dazu gibt es sicherlich Hunderte statistische Erhebungen.“ „Da könnte ein Zusammenhang bestehen, aber Leon –“ Diana marschierte mit Nelly zur Tür. „Leon wird meine Tochter und die anderen Mädchen an dieser Schule in Zukunft in Ruhe lassen, sonst werde ich mich bei der Schulaufsicht beschweren.“ „Drohungen mögen wir nicht so besonders“, wandte Miss Hollings ein.
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„Und ich mag keine Untätigkeit. Sie haben ein Problem an Ihrer Schule. Es besteht Handlungsbedarf; das sind Kinder, die Hilfe brauchen – also unternehmen Sie doch endlich etwas. Guten Tag, meine Damen.“ Als sie im Auto saßen, sagte Nelly: „Danke, Mom.“ „Jederzeit, mein Schatz. Egal, worum es geht.“ Die Aufforderung, bei einer Gerichtsverhandlung seiner Geschworenenpflicht nachzukommen, war nichts, worüber sich ein Bürger – ob patriotisch eingestellt oder nicht – freute. Nachdem Diana den Brief überflogen hatte, las sie ihn noch einmal in aller Ruhe durch. Nein. Nicht gerade jetzt. Das ging nicht. In den vergangenen Monaten hatte sie so viel Stress gehabt. Sie hatte sich bereits in eines dieser nervösen Weibchen verwandelt, die bei dem kleinsten Geräusch zusammenzuckten und sich immer gleich das Schlimmste ausmalten. Und außerdem … ihre Nelly hielt sie schon genug auf Trab. Abgesehen von dem Problem mit diesem Rüpel in der Schule war Nellys Terminplan so vollgestopft wie der eines Präsidenten. Ihre Aufgaben als Chauffeurin und Beschützerin waren so uninteressant, wie sie erschienen, und oft hatte Diana das Gefühl, dass ihr einziger Lebenszweck darin bestand zu verabreden, wo sie ihre Tochter absetzen oder abholen sollte. Ihr Mann Sig war ihr keine Hilfe bei der Koordinierung von Nellys Terminen. Er war Kinderorthopäde und Chirurg und reiste häufig durch die ganze Welt, um für seine Kelly-Pädiatrie-Stiftung kostenlose Operationen durchzuführen. Das Motto der Stiftung lautete: „Hilfe für die Hilflosen“. Ein nobles Ziel, aber manches Mal hätte sich Diana auch über ein wenig Entlastung gefreut, wenn es darum ging, Nelly zu den Klavierstunden zu bringen oder Elternsprechstunden wahrzunehmen.
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Und jetzt noch dieser Ruf, ihrer Geschworenenpflicht nachzukommen … Diana schleppte bereits die ganze Last der Welt mit sich herum. Sie lastete so schwer auf ihren Schultern wie das Joch eines Milchmädchens, das zwei überschwappende Milcheimer schleppte. Ihre Füße waren ständig in Gefahr, in Milch getränkt zu werden, ihre Schultern waren wund gescheuert und sie stand kurz vor einem Zusammenbruch. Neben den vielfältigen Aufgaben, die ihr Muttersein mit sich brachte, musste sie auch noch ihre Pflichten als Ehefrau eines pädiatrischen Chirurgen erfüllen. Um Gelder für die Stiftung zu beschaffen, musste sie an zahllosen Banketten und Galadinners teilnehmen. Normalerweise hatte Diana Freude daran, sich hübsch zu machen und gesellschaftliche Termine wahrzunehmen, zu lächeln und die richtigen Leute zu umgarnen, um die richtigen Ergebnisse zu erzielen. Schließlich hatte sie sich nicht aus armen Verhältnissen hochgearbeitet, um ein Schattendasein zu fristen. Doch manchmal war es ziemlich anstrengend, immer präsent und in Aktion zu sein. Wenn auch längst nicht so anstrengend wie das Leben, das sie geführt hatte, bevor sie Sig kennenlernte. Dianas erster Mann Don war fünf Jahre zuvor nach einem langen Kampf gegen den Krebs gestorben. Da sie keine Versicherung abgeschlossen hatten, war sie nach seinem Tod gezwungen gewesen, ihr kleines Haus zu verkaufen und bei Dons Mutter Karla einzuziehen. Das Haus der Pollands war ein renovierungsbedürftiges Gebäude, in dem der Kühlschrank immer wieder den Dienst versagte und viele Lichter überhaupt nicht funktionierten (und nicht repariert wurden aus Angst, der Elektriker könnte darauf hinweisen, dass die elektrischen Leitungen im ganzen Haus erneuert werden müssten) und mit einer Heizung, die zwar viel Lärm machte, aber kaum Wärme abgab.
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Das einzig Gute an dem Haus war, dass Karla darin lebte. Die typischen Schwiegermutterwitze ließen sich auf sie nicht anwenden. Karla war die fürsorgliche Mutter, die Diana nie gehabt hatte. Die drei Generationen von PollandFrauen hatten sich in dem alten Haus gegenseitig getröstet, ihren Kummer miteinander geteilt und versucht, sich von einem Tag zum anderen zu retten. Bis Diana Dr. Sigmund T. Kelly kennenlernte. Nach ihrer Blitzromanze und Hochzeit zogen Diana, die kleine Nelly und sogar Karla in Sigs 500 Quadratmeter großes Haus, das ausgestattet war mit einer Kühl-/ Gefrierschank-Kombination aus rostfreiem Edelstahl, mit Lichtern, die es nicht wagen würden, den Dienst zu versagen, und einer Heizung, die leise schnurrend ihr Leben gemütlich warm machte. Ja, es stimmte, das Leben, das sie führte, verlief relativ problemlos und war beinahe perfekt. Vor ihrer Hochzeit mit Sig hatte Diana, die damals noch Didi genannt wurde, als medizinisch-technische Assistentin im Mountain Valley Hospital in Branson in Missouri gearbeitet. Im Rahmen ihrer Arbeit hatte sie immer wieder mit Dr. Kelly zu tun. Er hatte ihr sofort gefallen. Erstaunlicherweise hatte auch er sich zu ihr hingezogen gefühlt. Sie war ziemlich attraktiv, hatte lange blonde Haare, und ihr Körper wies gerade so viele Kurven auf, dass er interessant war. Was die Äußerlichkeiten anging, waren sie sich ebenbürtig. Aber ansonsten? Sie war ein Niemand, eine Arbeitssklavin, die den Patienten in den Finger stach und Blut abnahm, während er ein international anerkannter Arzt war, der darüber hinaus noch für seine Menschenfreundlichkeit gepriesen wurde. Didi hatte bis dahin nicht einmal die Bedeutung des Wortes Menschenfreundlichkeit gekannt. Als Dr. Kelly sie das erste Mal zum Abendessen einlud, verschwieg sie ihm ihre Vergangenheit und ließ auch nichts über ihre derzeitigen Wohnverhältnisse verlauten. Sig
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brauchte nicht mit ihren Sorgen und Unsicherheiten oder ihren erbärmlichen Lebensumständen belastet zu werden. Nicht bis sie ihn becirct hatte. Was sie mit großer Geschicklichkeit tat. Das war eine Gemeinsamkeit – sie waren zwei Charmeure, die nach einem dankbaren Gegenüber suchten. Nicht dass daran irgendetwas falsch gewesen wäre. Wenn Sig nur seinen Charme nicht auch bei anderen Frauen spielen lassen würde. Im vergangenen Winter hatte Diana bei einem Bankett auf der Damentoilette mitbekommen, wie einige Frauen über ihren Mann und eine Frau mit Namen Audrey herzogen. Sie hatte Sig zur Rede gestellt, aber er hatte es mit großem Geschick so gedreht, dass sie sich am Ende lächerlich vorgekommen war. In ihrer Erinnerung an jenen Abend übersprang sie ganz schnell das, was als Nächstes passiert war. Wenn sie nur jenen Abend ungeschehen machen könnte, jene Anklagen, jene … alles. Dieses Alles hatte alles verändert. Und doch hatte sich nichts verändert. Obwohl Sig ihr versichert hatte, dass sie sich wegen dieser Person namens Audrey (oder irgendeines anderen Namens) keine Sorgen zu machen brauchte, glaubte sie ihm nicht. Sie wusste, was für ein guter Fang ihr Mann war – immerhin hatte auch sie ihn sich geschnappt – und so blieb sie misstrauisch, bereit, bei dem kleinsten Hinweis darauf, dass in ihrem Leben nicht alles in Ordnung war, loszuspringen. Sie hatte nicht vor, alles verloren zu geben, was sie sich mühsam aufgebaut hatte. Auf keinen Fall. Unter gar keinen Umständen. „Ist was für mich dabei?“ Die Stimme ihrer Schwiegermutter riss Diana aus ihren Gedankengängen und holte sie ruckartig in die Gegenwart zurück. Sie reichte die restliche Post an Karla weiter. Eigentlich … Vielleicht war Karla ihre Lebensretterin in diesem Dilemma mit der Geschworenenpflicht.
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Diana schwenkte den Brief vom Gericht. „Ich wurde zur Geschworenen bestellt.“ Karla salutierte. „Gratulation, o mächtige Bürgerin!“ „Sag mir nicht, das sei eine Ehre, denn ich weiß, der Zufall entscheidet, wer Geschworener wird. Das hat mit Ehre nichts zu tun.“ „Es ist aber eine Ehre, deine Pflicht zu tun.“ Karla blätterte einen Katalog von Chico durch. Als sie auf einer Seite mit einem Coupon anlangte, hielt sie inne und riss ihn heraus. Dianas spontane Reaktion war zu rufen: Hey, der gehört mir!, aber sie erinnerte sich gerade noch rechtzeitig daran, dass sie es sich seit der Hochzeit mit Sig leisten konnte, den vollen Preis zu zahlen. Im Gegensatz zu Karla. Alte Angewohnheiten – und Sparsamkeit – ließen sich nicht so schnell abschütteln. Als Diana Don heiratete, wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, bei Chico einzukaufen. Wenn sie sich damals etwas zum Anziehen kaufen musste, ging sie zu Wal Mart oder wartete bis zum Ausverkauf, um das eine oder andere Teil für wenig Geld zu erstehen. Genau wie Karla. Immerhin war sie Dons Mutter und selbst die Frau eines Arbeiters. Vor ihrem Einzug bei Diana und Sig hatte Karla noch nicht einmal gewusst, dass ein Geschäft wie Chico überhaupt existierte. Sicherlich gab es Menschen, die ihre Wohngemeinschaft argwöhnisch betrachteten (und ihre Bedenken auch äußerten), doch das störte Diana nicht. Sie liebte Karla und Karla liebte sie – und Nelly. Und darum hatte Diana Karla ein Heim angeboten, als der Unterhalt für das Haus der Pollands zu kostspielig wurde. Natürlich hatte sie Sig vorher gefragt. Sig, der immer bereit war, Bedürftigen Hilfe zu geben, war damit einverstanden gewesen. Und mal ehrlich, was kümmerte es ihn? Er war sowieso nur selten zu Hause. Und wenn er dadurch, dass Karla bei
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ihnen wohnte, entlastet wurde und Diana ihn nicht ständig bedrängte, ihr zu helfen, Nelly zu ihren Terminen zu kutschieren, dann war ihm alles recht. In dieser Hinsicht (und in jeder anderen) war Karla ein Juwel. Sie war erst zweiundsechzig, verfügte über mehr Energie, als Diana an einem guten Tag aufbringen konnte, und ihr Witz und Elan kamen bei Nelly gut an. Als Nelly einmal mit einer Halsentzündung im Bett gelegen hatte, war Karla mit einem Diadem und einem alten Petticoat verkleidet durch ihr Zimmer getanzt und hatte sie ein wenig aufgeheitert. Doch was an ihrer Vorstellung wirklich denkwürdig gewesen war, waren die rote Jogginghose und ihre Tennisschuhe unter dem Petticoat gewesen. In dem ganzen Aufruhr der vergangenen Monate war Karla Dianas Rettungsleine gewesen, eine Oase der Normalität und des gesunden Menschenverstandes, der Kraft und des Humors … Karla riss sie aus ihren Gedanken. „Ich kümmere mich schon um Nelly, solange du im Gericht bist.“ Wieder einmal hatte Karla ein Bedürfnis erkannt und sich angeboten, es zu erfüllen. „Das wäre wundervoll“, dankte ihr Diana. „Hey, vielleicht wirst du ja einem Mordprozess zugeteilt. Einem ganz gruseligen und blutrünstigen.“ „Karla!“ Sie zuckte mit den Achseln. „Wer will sich denn schon mit den Schilderungen des Tathergangs eines Raubes auseinandersetzen oder schlimmer noch, im Gericht einen Prozess um Steuerflucht oder einer anderen Art von Wirtschaftskriminalität verfolgen? Wenn du schon Tag für Tag dabeisitzen musst, dann sollte der Prozess wenigstens interessant sein. Außerdem wüsstest du dann, dass du eine wichtige Aufgabe hast, dass du einen Mörder von der Straße holst und damit die Welt für die Menschen sicherer machst.“ „Das klingt so, als hättest du den Täter bereits verurteilt.
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Was ist mit der Annahme der Unschuld, bis die Schuld erwiesen ist?“ Karla klappte den Katalog von Chico zu und schnappte sich den Katalog von Coldwater Creek. „Das ist auch gut. Einen unschuldigen Menschen vor einem Leben im Gefängnis bewahren. Ein hehres Ziel, meine Liebe.“ Diana starrte auf den Brief in ihrer Hand. „Vielleicht werde ich ja nicht ausgewählt. Dann wären alle Überlegungen umsonst gewesen –“ „Oh, du wirst bestimmt ausgewählt. Sei einfach du selbst – und zieh deinen braunen Hosenanzug an. Darin wirkst du sehr respekteinflößend.“ „Ich glaube nicht, dass respekteinflößende Geschworene erwünscht sind.“ „Hmm. Vielleicht doch besser das rosa Kostüm mit den Punkten. Um eindrucksvoll auszusehen.“ „Eindrucksvoll? In einem Kostüm mit Punkten sehe ich eindrucksvoll aus?“ „Rosa Punkte sind durchaus dazu angetan.“ Plötzlich bohrte Karla ihren Finger in die aufgeschlagene Seite. „Das. Ooh! Das hier möchte ich haben.“ Diana blickte über ihre Schulter auf die Katalogseite. „Welches denn?“ Nach einem kurzen Zögern nahm Karla den Finger fort und erklärte: „Alles, was auf der Seite ist. Ja, das ist es. Ich möchte alles, was auf der Seite ist. Du meine Güte, ich liebe diesen Katalog!“ „Du hilfst mir, diese Verhandlung zu überstehen, und ich kaufe dir alles, was auf dieser Seite abgebildet ist.“ Karlas Augen begannen zu funkeln. „Abgemacht.“ Wenn Bobby Mann noch ein einziges Mal „Willkommen im Burger-Paradies. Kann ich Ihnen helfen?“ sagen müsste, dann würde er platzen. Seine Eingeweide könnten sie dann ganz fein durch den Wolf drehen und zu einem extradün-
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nen Bratling verarbeiten. Und geben Sie mir Pommes und ein Getränk dazu, aber dalli. Ja, er war verbittert. Und resigniert. Welcher achtundzwanzigjährige Mann mit einer Frau und zwei Kindern arbeitete schon in einem Burger-Restaurant? Wenn er Manager wäre oder wenigstens Assistent des Managers, das wäre etwas. Aber Burger an einem Drive-in-Schalter auszugeben … Erbärmlich. Als er in die Magnolia Lane einbog, in die Straße, in der er wohnte, sah er auf seine Uhr. Er hatte noch zwei Stunden Zeit, bevor er zu seinem zweiten Job losmusste – Eintrittskarten bei der Higgins Family Variety Extravanza Show kontrollieren. Wenn er nur an den Geruch von Fritten und Popcorn dachte, wurde ihm übel … Früher hatte er Pommes Frites und Popcorn geliebt. Früher hatte er vieles geliebt. Das Leben zum Beispiel. Er bog in die Einfahrt ein und parkte hinter dem jadegrünen 85er-Grand Prix seiner Frau, der dringend neue Stoßdämpfer brauchte, eine neue Lackierung des Kofferraumdeckels, der von einem blauen Grand Prix stammte, und eine neue Stoßstange, die braun war. „Mein PatchworkAuto“, nannte Becky den Wagen liebevoll. Becky war von Grund auf gutmütig. So etwas wie Verbitterung kannte sie nicht. Becky war eine Heilige. Und sie muss mich ertragen. Bobby stieß die Fliegengittertür auf und bemerkte, dass die Haustür offen stand. Vermutlich damit Luft ins Haus zog. Es war ein heißer Septembertag und eine Klimaanlage war teuer. Aber Becky beklagte sich nie. Er wollte gerade rufen: „Ich bin zu Hause“, als er sie schlafend auf dem Sofa entdeckte, einen Plüschbären an ihren dicken Bauch gedrückt. Die Schwangerschaft wurde ihr bereits beschwerlich, obwohl das Baby erst in zwei Monaten kommen sollte. Das, was ihr eigentlich die Kraft raubte, befand sich aber im anderen Zimmer.
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Auf Zehenspitzen schlich Bobby die Treppe hoch ins Kinderzimmer. Der vierjährige Tanner lag schlafend auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt. Die zweijährige Teresa hatte sich wie eine Kugel zusammengerollt und nuckelte an ihrem Daumen. Mittagsschlaf bei den Manns. Er sollte ihrem Beispiel folgen. Seine Schicht im Theater würde nicht vor Mitternacht zu Ende sein. Aber er durfte keine Zeit mit Schlafen vergeuden. Bobby steuerte das Elternschlafzimmer an und tauschte das grüne Poloshirt von Burger Madness gegen sein rotes T-Shirt. Er hatte es bei einem Konzert zum 250. Geburtstag Mozarts gekauft, das er vor ein paar Jahren mit Becky besucht hatte. So leise wie möglich bewegte er sich durch das Haus und verließ es durch die Küchentür. Mit wenigen Schritten hatte er die Garage erreicht, in der seine Werkstatt eingerichtet war. Sobald er sie betreten und das Licht angeknipst hatte, fiel alle Anspannung von Bobbys Körper ab. Er atmete tief durch. Das volle Aroma der Holzspäne gab ihm neue Energie. Andere Menschen hielten ihn für verrückt, weil Holz und Werkzeug ihn so belebten, aber das änderte nichts an dem Gefühl, das ihn immer dann befiel, wenn er seine Werkstatt betrat. Es war verlässlich, es gehörte zu den wenig verlässlichen Dingen in seinem unkalkulierbaren Leben. Abgesehen von Becky … auf Becky konnte er sich immer verlassen. Liebe, süße Becky … Die Gedanken an sie nahm er mit zum Schmirgeltisch. Darauf lag die Platte eines Couchtisches mit Einlegearbeit. In mühevoller Kleinarbeit hatte er winzige Dreiecke und Vierecke aus Walnussfurnier geschnitten und damit zwei Zentimeter vom Tischrand entfernt eine Schmuckleiste gelegt. Es war ein Kunstwerk geworden – falls er das so sagen durfte. Was er nicht tat.
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Denn es war eine Liebhaberarbeit, ein dummer Traum, eine Fantasterei. Solche Gedanken waren nicht neu für ihn und mit einem Kopfschütteln schob er sie beiseite. Er nahm den Schmirgelblock und zog ihn mit langen Strichen über die Tischplatte. Den Hauptteil des Tisches hatte er mit dem elektrischen Schleifgerät bearbeitet, aber bei dem Furnier … da musste er vorsichtig vorgehen. Er hielt inne und strich über die Kanten der Einlegearbeit. Er schloss die Augen und verließ sich ganz und gar auf das Gefühl in seinen Händen. Noch ein wenig am rechten Rand … Er beugte sich über seine Arbeit und bearbeitete mit größter Vorsicht die vorstehende Kante. Schließlich hielt er inne und strich erneut darüber. Bobby hörte, wie die Tür zu seiner Werkstatt geöffnet wurde. Becky kam herein. Wie immer strahlte sie ihn an. „Du hättest mich wecken sollen.“ „Du sahst so süß aus. Vielleicht sollte ich dir auch einen Teddybären kaufen, damit du dir nicht den von Teresa ausborgen musst.“ Sie fuhr ihm mit den Fingerspitzen über seine Schulter, bevor sie sie küsste. In der Hand hielt sie einen Stapel Briefe. „Da ist ein Brief für dich gekommen.“ „Lass mich raten. Eine Rechnung?“ „Rechnungen sind auch dabei, aber dieser spezielle sieht amtlich aus.“ Sie hielt ihm den Brief hin. Er warf einen Blick auf den Absender. Bezirksgericht? „Ich hoffe nicht, dass ich wegen eines Vergehens verhaftet werde“, witzelte er. „Ich würde dich im Gefängnis besuchen.“ „Nur wenn du mir deine leckeren Haferkekse mit Rosinen mitbringst.“ „Mach ihn auf“, forderte sie ihn auf. Sie schaute ihm über die Schulter. „Geschworenenpflicht?“
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Bobby schüttelte den Kopf. „Dafür habe ich keine Zeit.“ Er wies mit dem Finger auf den Tisch, an dem er gerade arbeitete. „Ich habe auch keine Zeit dafür.“ Er zeigte auf sie. „Ich habe nicht einmal Zeit für dich, für die Kinder. Für –“ „Schsch. Alles wird gut werden. Es ist doch eine Ehre.“ „Eine Pflicht.“ „Das ist dasselbe.“ Das war es nur in ihren Augen. Mit einer heftigen Bewegung warf er das Schmirgelpapier auf die Werkbank. Ihm war die Lust vergangen. „Das kann ewig dauern. Du weißt doch, dass sich manche Verhandlungen über Wochen und Monate hinziehen.“ „Vielleicht handelt es sich ja nur um einen unbedeutenden Prozess, der schnell zu Ende ist. Rein, raus, fertig.“ Ein Gedanke durchzuckte ihn. „Vielleicht werde ich ja nicht ausgewählt.“ Er schwenkte den Brief. „Hier steht, dass ich für eine Woche verpflichtet werde. Ich muss mich am Abend vorher melden und nachfragen, ob ich kommen soll. Dann werde ich entweder ausgewählt oder eben nicht. Vielleicht nehmen sie mich ja nicht. Es geht einfach nicht. Ich habe drei Jobs. Zweieinhalb Kinder.“ „Ich habe doch noch meinen Job bei Pretty Lady Cosmetics …“ Beide wussten, dass der Verkauf von Kosmetikartikeln aus einem Katalog kaum etwas einbrachte. Heutzutage wurde online bestellt. Und in ihrem Zustand konnte Becky ja auch schlecht von Haus zu Haus gehen und wie früher die Avon-Beraterinnen ihre Produkte verkaufen. Bobby verließ die Werkstatt und knipste das Licht aus. „Ich darf einfach nicht gewählt werden. Damit basta. Es geht nicht – und ich will nicht.“
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