Rachel Hauck
Unter dem Magnolienbaum Roman
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Über die Autorin Rachel Hauck ist ein Kind der 1960er-Jahre. Nach dem Journalistik-Studium war sie als Software-Trainerin in der halben Welt unterwegs. Rachel ist seit 1992 verheiratet mit Tony. Die beiden haben keine Kinder, dafür aber zwei sehr verwöhnte Hunde und eine äußerst anspruchsvolle Katze. Rachels wunderbar erzählte, lebensnahe Romane voller Humor wurden vielfach ausgezeichnet.
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Rachel Hauck
Unter dem Magnolienbaum Roman
Deutsch von Eva Weyandt
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Für meine Oma Grace Fausnaugh
Zert.-Nr. SGS-COC-001940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifizierte Papier Super Snowbright für dieses Buch liefert Hellefoss AS, Hokksund, Norwegen.
Die amerikanische Originalausgabe erschien im Verlag Thomas Nelson, Nashville, Tennessee, unter dem Titel „Love Starts With Elle“. © 2008 by Rachel Hayes Hauck © der deutschen Ausgabe 2010 by Gerth Medien GmbH, Asslar, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München 1. Auflage 2010 Bestell-Nr. 816 457 ISBN 978-3-86591-457-6 Umschlaggestaltung: lüchtenborg informationsgestaltung, Oldenburg Umschlagfotos: Igor Tarasov-Fotolia/Claudiad-istockphoto Satz: Typostudio Rücker Druck und Verarbeitung: GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany
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„Ich stellte fest, dass ich mit Farbe und Formen ausdrücken konnte, was ich anders nicht sagen konnte – wofür ich keine Worte fand.“ Georgia O’Keefe (1887-1986)
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Kapitel 1 Beaufort, South Carolina 21. Dezember Im Loft ihrer Galerie in der Bay Street lehnte Ellen Garvey an der hüfthohen Wand und überschaute die „Weihnachtsausstellung“ der GG-Galerie. Besucher und Kunstmäzene, viele aus Beaufort, aber auch einige neugierige Touristen, schlenderten durch die Räume, plauderten leise miteinander, schlürften heißen Cidre und ließen sich von Andy Williams weicher Stimme einlullen. „Es ist die schönste Zeit des Jahres …“ „Na, Ellen, du fühlst dich doch bestimmt wie eine Königin, die auf ihr Reich herabblickt, was?“ Arlene Coulter schaute vom Fuß der Treppe zu ihr herauf. Ihr selbst entworfenes knallrotes Weihnachtskostüm war ein Kunstwerk für sich. „Ja, und du bist meine treue Dienerin?“ Arlene machte einen Hofknicks. Ihr flachsblondes Haar fiel ihr wie seidiges Engelshaar ins Gesicht und ihr Rocksaum rutschte über ihr Knie. „Dir und dir allein, oh du, von der die Art News schrieb: ‚Eine der besten Galerien des Lowcountry‘.“ „Das Bestechungsgeld, das mich das gekostet hat, hat sich wirklich gelohnt.“ Ellen kam die Treppe herunter. Ihr Blick fiel auf ihre kleine Schwester Julianne, die einer Frau mit einer Perlenkette gerade eine Bronzeskulptur verkaufte. „Schätzchen“, Arlene hakte sich bei Ellen ein und führte sie zur hinteren Wand, „dein Künstlerauge ist wahrhaftig eine Gottesgabe. Jetzt sag mir … stammt diese Arbeit von der großen Alyssa Porter?“ „Allerdings.“ Ellen betrachtete die Gemälde. Sie sprachen zu ihr, wann immer sie sie anschaute. Sie beneidete Alyssa und andere Künstlerinnen wie sie, die den Mut gehabt hatten, ihrem Traum zu folgen. Ellen hatte ihren schon vor langer Zeit verloren. 7
„Und was genau magst du so an dieser Künstlerin?“ Arlene drückte Ellens Arm fester. „Ihre Gemälde berühren mich einfach.“ Ellen löste sich aus Arlenes Griff und ging weiter zu Alyssas Rosengarten. Dieses Gemälde würde eines Tages als Meisterwerk gehandelt werden, davon war sie überzeugt. „Sie berühren dich?“ Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete Arlene nachdenklich eines der abstrakten Gemälde, die rot lackierten Fingernägel an ihr Kinn gelegt. „Irgendwie berühren sie mich auch. Ich weiß nur nicht so genau, wo.“ „Du suchst nach einem deutlich erkennbaren Bild, Arlene. Sei nicht so konkret. Lass deine Fantasie wandern …“ Ellen legte ihren Arm um die Schultern ihrer Freundin. „Folge meiner Hand. Erkennst du, wie du dich gerade aus dem Sonnenlicht in den Schatten bewegt hast?“ „Nein, aber deine Armreifen gefallen mir. Wo hast du die denn her?“ Arlene umklammerte Ellens Handgelenk, um die dreifarbigen Reifen zu bestaunen. „Du bist wirklich unmöglich, Arlene.“ Ellen entwand ihr ihre Hand. „Na ja, schöne Armreifen sind schwer zu finden.“ Arlene konzentrierte sich wieder auf das Gemälde. „Also, wie war das jetzt mit dem Bild hier?“ „Kauf es. Die New Yorker Kunstszene hat Alyssa entdeckt, und wenn du nicht vor ihrer ersten Auktion etwas von ihr erwirbst, wirst du es dir nie mehr leisten können. Hier …“ Ellen ging zur anderen Seite der Ausstellung. „Das hier unten kostet nur zweitausend Dollar.“ Arlene trat einen Schritt von dem Gemälde zurück und legte den Kopf zur Seite. „Ich fürchte, wenn ich eines davon kaufe, wache ich eines Nachts auf und dieses verflixte Ding über meinem Kopf flüstert: ‚Ich sehe tote Menschen!‘“ „Wenn das so ist, dann ruf Pastor O’Neal an, nicht mich.“ Arlene beugte sich ein Stück vor, dann ruckte ihr Kopf plötzlich hoch. „Was ist denn mit dieser Künstlerin hier? Coco Nelson. Das will ich! Sieh nur – ein Frauengesicht mit Augen und Haaren.“ 8
„Coco ist eine wundervolle Künstlerin“, bemerkte Ellen. „Eine sehr realistische Arbeit. Diese Serie heißt ‚Liebe und Romantik‘.“ „Wie passend für dich, Süße.“ Arlene schaute Ellen mit hochgezogenen Augenbrauen bedeutungsvoll an. „Dieses Werk, Heiratsantrag, gefällt mir“, grinste sie. Ellen ignorierte ihren Spott. „Ja, es hat was. Ein Mann, der vor seiner Angebeteten einen Kniefall macht und sie bittet, seine Frau zu werden.“ In Wirklichkeit weckte diese Szene von Coco Nelson eine ganze Flut von Emotionen bei Ellen. Als die Künstlerin ihr dieses Bild geschickt hatte, hatte Ellen es zuerst nicht aufhängen können. Nach dem Fiasko vom vergangenen Jahr mit der „Operation Hochzeitstag“, in deren Rahmen sie sich mit beinahe jedem Junggesellen in Beaufort verabredet hatte, um „Mr Right“ zu finden, war ihr das zu peinlich. Sie hatte Liebe und Romantik gemieden, wo es ging. Bis Jeremiah Franklin kam. „Also gut.“ Arlene wirbelte herum. „Ich nehme das von Alyssa Porter und das hier von Coco Nelson.“ „Du wirst es nicht bereuen.“ „Sagt wer?“ Arlene kam erneut an Alyssas abstraktem Gemälde vorbei und machte einen großen Bogen darum, als könnte es lebendig werden und auf sie losgehen. Ellen lachte und führte sie zur Kasse auf der anderen Seite des ehemaligen Eisenwarenladens. Sie schätzte die talentierte, manchmal etwas verrückte Innenarchitektin, die ihr schon viele Kunden vermittelt hatte, Ärzte, Rechtsanwälte und Hotelentwickler. In der Anfangszeit der GG-Galerie hatten die Aufträge von Coulter Designs ihr geholfen, die Galerie zu halten und Ellens Hoffnung Nahrung gegeben. „Wie hoch beläuft sich der Schaden?“ Arlene zückte ihr Scheckbuch. „Einen Augenblick noch, ich muss zuerst noch ein paar Nullen anfügen.“ Ellen drückte die Null-Taste auf ihrer Rechenmaschine. 9
„Du kannst so viele Nullen anhängen, wie du möchtest. Ich schreibe nur drei aus.“ Arlene fächelte sich mit dem aufgeschlagenen Scheckbuch Luft zu. „Also, wie läuft es mit dem heißen Pastor?“ Allein die Erwähnung von Dr. Jeremiah Franklin ließ Ellens Knie weich werden. „Gut.“ „Wenn das Glühen deiner Wangen ein Hinweis ist, dann würde ich sagen, es läuft besser als gut. Wie lange seid ihr jetzt schon zusammen? Ein paar Monate?“ „Zwei.“ Ellen zog von Arlenes Rechnung 10 Prozent Rabatt ab. „Und ist es die wahre Liebe?“ Arlene beugte sich vor, um Ellen in die Augen zu sehen. „Sag nichts; ich kann in deinem Gesicht lesen.“ „Hier.“ Ellen lachte leise und reichte ihr die Rechnung. Die Gesamtsumme hatte sie eingekreist. „Ich weiß deinen Einkauf – und deine Neugier – zu schätzen, Arlene.“ „Jederzeit gern, Süße. Jederzeit.“ Arlene warf einen Blick auf die Gesamtsumme und machte sich ans Unterschreiben. „Hallo, Schatz.“ Jeremiah. Selbst nach zwei Monaten stockte Ellen bei seinem Anblick immer noch der Atem. Als er ihr bei einem Spaziergang bei Sonnenuntergang am Strand gesagt hatte, dass er sie liebte, hatte ihm Ellen ihr Herz auf einem Silber-, nein, auf einem Goldtablett gereicht. Samt Schlüssel. „Jerry, was machst du denn hier?“ Sie kam um ihren Tresen herum und umarmte ihn. Sein Duft weckte Sehnsüchte in ihr. „Ich will in der Kirche noch etwas vorbereiten. Und ich konnte nicht an der Galerie vorbeigehen, ohne kurz hereinzuschauen.“ Sein Kuss war sanft und pastorenhaft-zurückhaltend, aber trotzdem war Ellen in diesem Moment sehr froh, eine Frau zu sein. Seine Frau. „Unsere Verabredung zum Abendessen steht?“ „Absolut. Du hast mir noch nicht gesagt, wo wir hingehen.“ Jeremiah zwinkerte ihr zu. „Geduld, Mädchen. Du musst nicht alles wissen.“ 10
„Kennst du mich nach diesen zwei Monaten denn immer noch nicht?“ „Eben doch …“ Er beugte sich vor und gab ihr einen weiteren, weichen Kuss, dann trat er zurück. „Schön, Sie zu sehen, Arlene.“ „Gleichfalls, Dr. Franklin.“ Arlene schaute Jeremiah nach, wie er das Gebäude mit einem Winken verließ. „Hmm-hmm, Ellen, das bricht dir doch bestimmt das Herz.“ Sie reichte ihr den Scheck. „Was? Was meinst du denn?“ Ellen drehte den Scheck zerstreut zwischen den Fingern. Arlene starrte sie mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck an, dann biss sie sich auf die Unterlippe. „Ich und mein Mundwerk. Verflixt, Dirk wird mich umbringen.“ Sie drückte ihre teure Handtasche an sich. „Vergiss einfach, was ich gesagt habe, Ellen. Es tut mir so leid.“ Sie wirbelte herum und eilte hüftschwingend davon. „Wir sehen uns in der Kirche.“ „Oh nein, das machst du nicht!“ Arlene war berüchtigt für ihr hervorragendes Netzwerk – sie verfügte immer über die neusten Informationen, eine wilde Mischung aus Wahrheit und Gerüchten, aber meist auf unheimliche Weise zutreffend. Ellen eilte ihr nach und stellte sich ihr in den Weg, bevor sie durch die Tür verschwinden konnte. „Du kannst doch nicht eine solche Bombe abwerfen und dich dann mit einem eleganten Hüftschwung verdünnisieren. Was hast du gemeint?“ „Zuerst einmal: Mein Hüftschwung ist mir angeboren. Das war es übrigens, was Dirks Aufmerksamkeit zuerst an mir gefesselt hatte. Was das andere betrifft, nun, Ellen, Jeremiah wird dir das sicher selbst sagen. Keine Sorge. Es ist eine gute Nachricht, glaube ich.“ Sie straffte ihre Schultern in der roten Jacke. „Also, wie gesagt, wir sehen uns in der Kirche.“ Ellen schaute ihr verblüfft nach. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Jeremiah war doch gerade erst hier gewesen. Er hatte sich ganz normal verhalten, wie immer. Was hatte Arlene gemeint? Dieses Mal hatte ihr Informationsnetzwerk sie anschei11
nend mit falschen Informationen versorgt. Was weißt du, Arlene Coulter? „Ellen, Mrs Meissner möchte wissen, wie viel Rabatt du ihr gibst, wenn sie drei Kunstwerke kauft.“ Ellens Schwester Julianne hielt ihr den Auftragsblock hin und deutete auf die Gesamtsumme. Bei Ausstellungseröffnungen und Kunstmessen half ihr Julianne öfters in der Galerie aus. „Was meinst du – fünfzehn Prozent?“ „Klar.“ Ellen fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. „Sicher.“ Julianne betrachtete ihre Schwester mit zusammengekniffenen Augen. „Ellen, alles in Ordnung?“ „Ich weiß nicht.“ Ellen trat um Julie herum an den Tresen und zog die untere Schublade auf, in der ihre Handtasche lag. „Kannst du hier die Stellung halten?“ „Was hast du vor?“ „Ich muss einem Gerücht nachgehen.“ Sie hatte das Gefühl, nicht bis zum Abendessen warten zu können, um die Neuigkeiten zu erfahren – falls es Neuigkeiten gab. „Jetzt?“, rief Julianne hinter ihr her. „Ich bin bald wieder da.“ Aber in der Eingangstür stand Huckleberry Jones mit seinem Öko-Kunst-Aquarium und versperrte ihr den Weg. Oh, bitte nicht heute. „Huck, was machst du da? Das Schmutzwasser tropft auf meinen sauberen Boden.“ Mit einem schiefen Grinsen wanderte sein Blick durch die Galerie. „Ich nenne es Tod am Coffin Creek.“ Er hob seine neueste Komposition aus stinkendem Schlick und Marschgras hoch. „Die Projektentwickler ruinieren unser Ökosystem.“ Ellen ließ die Schultern in vorgetäuschter Ergebenheit sinken. „Huckleberry, du siehst zu gut aus und bist zu jung, um so durchgedreht zu sein.“ Sie packte ihn an den Schultern und drehte ihn um. „Raus. Du verpestest den Laden. Julianne, wir brauchen hier einen Mopp.“ Huck hatte die Kunstschule abgebrochen, oder besser gesagt, man hatte ihn rausgeschmissen. Nun machte er fürchterliche „Installationen“ aus Pflanzen und Treibgut in einem ausgedien12
ten Aquarium und versuchte diese unter dem Begriff „ÖkoKunst“ an den Mann zu bringen. Protestierend trat er auf den Bürgersteig. „Ich habe ein Recht, angehört zu werden.“ „Nicht in meiner Galerie.“ Ellen verließ hinter ihm die Galerie. „Richtige Botschaft, falscher Weg, Huck.“ „Du Snob.“ Ellens Lächeln erstarb. „Du bist unverschämt, Junge. Lass uns später darüber reden.“ „Dann könnte es zu spät sein.“ „Für wen? Für dich oder für den Coffin Creek?“ Ellen schob sich rückwärts über den Bürgersteig in Richtung ihres Wagens. „Für dich!“, rief Huck breit grinsend im Davongehen.
Ellen hielt die Kirchentür fest, damit sie nicht laut ins Schloss fiel oder quietschte. Sie wartete ab, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Schließlich entdeckte sie Jeremiah. Er ging auf der Bühne auf und ab und schien seine Predigt zu proben. Nur die Lippen bewegten sich, während er stumm rezitierte. „Er kann einen Sturm herbeipredigen.“ Die zierliche Miss Anna Carlisle trat aus einer dunklen Nische im Kirchenschiff und deutete mit dem Finger auf Jeremiah. „Dann sollten wir morgen unsere Regenschirme mitbringen“, grinste Ellen und umarmte Miss Anna. „Wir sollten zumindest darauf vorbereitet sein, schätze ich.“ Miss Anna stieß die Tür zum Foyer auf. „Ich bete für diesen Jungen“, sagte sie. „Und für dich.“ Sie sprach ruhig und sehr entschlossen. „Für mich?“, fragte Ellen. „Ja.“ Ellen runzelte die Stirn und begleitete die ältere Frau durch das Foyer zu den Eingangstüren. „Es ist ein so schöner, kühler Abend, genau richtig für einen Spaziergang.“ Miss Anna knöpfte den obersten Knopf ihrer blauen Strickjacke zu und steckte die Hände in die ausgefrans13
ten Taschen. Ellen fand, dass der grobe Stoff sie kaum vor der Kälte zu schützen vermochte. „Einen schönen Abend noch, Ellen.“ „Sind Sie sicher, dass Sie zu Fuß gehen wollen, Miss Anna?“ „Ich bin sicher.“ Ellen sah ihr nach, bis sie in der Dunkelheit verschwunden war. Wieder im Kirchenschiff rutschte sie in eine der hinteren Bänke und beobachtete Jeremiah bei seiner Predigt. Sie war noch nie einem Mann wie ihm begegnet – einem Mann, der so viel Selbstbewusstsein und Sicherheit verströmte. Ihre Gefühle schwankten zwischen Zuversicht und Zweifel. Arlenes Bemerkung ließ ihr keine Ruhe. Was ist los, Jeremiah? Ist überhaupt etwas los? Selbst jetzt am Samstagabend trug Jeremiah eine edle graue Hose und ein Hemd. Zum hundertsten Mal fragte sich Ellen, wie er drei Jahre als Profi-Footballspieler, drei Jahre Bibelschule und sieben Jahre Pastorentätigkeit überstanden hatte, ohne von einer Frau eingefangen zu werden. Aber sie wollte sich nun wirklich nicht beschweren. Gott hatte ihn anscheinend extra für sie aufgehoben. Jeremiah blieb auf der Bühne stehen, als warte er auf eine Reaktion. Dann lachte er kurz auf und ging zur Kanzel. Er umklammerte beide Seitenwände mit den Händen und schien der Gemeinde seine finalen Worte entgegenzuschleudern. Könnte bitte jemand „Amen“ rufen? Warum nicht? „Amen.“ Ellen erhob sich aus der Bank, während Jeremiah ins dunkle Kirchenschiff spähte. „Ellen? Bist du das?“ Mit energischen Schritten kam er von dem Podest herunter. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja, prima, aber ...“, sie traf ihn in der Mitte des Ganges, „ich muss einem Gerücht nachgehen.“ Brummend neckte er sie. „Na, ob das so gut ist?“ Er gab ihr einen Kuss. Wenn sie allein waren, konnten sie ihre Leidenschaft kaum im Zaum halten. „Was ist das für ein Gerücht?“ „Irgendetwas über dich und dass es mir das Herz brechen wird, Jeremiah.“ 14
„Und wer hat dir solche schlimmen Dinge gesagt?“ Er legte seine Arme um ihre Taille und schaute sie mit seinen dunklen Augen prüfend an. „Arlene Coulter, obwohl sie sich gerade noch rechtzeitig bremsen konnte, als sie merkte, dass ich keine Ahnung hatte, wovon sie redet.“ „Und sie hat es von ihrem Mann, einem unserer vertrauenswürdigen Ältesten?“ „Von wem sonst?“ Ellen riss ihren Blick von Jeremiahs Augen los und fuhr mit der Hand über den rauen Stoff seines Hemdes. „Eigentlich sollte er es nach fünfundzwanzig Jahren mit ihr doch besser wissen.“ „Und was sollte ich nach zwei Monaten Beziehung vielleicht wissen?“ Er strich ihr die Haare nach hinten und ließ seine Fingerspitzen über ihre Haut gleiten. „Hat das nicht Zeit bis zum Abendessen?“ Seine Berührung brannte auf ihrer Haut. „Sag du es mir. Hat es?“ „Beantworten wir jetzt Fragen mit Gegenfragen?“ „Tun wir das?“ Irgendwann in der vergangenen Woche hatten sie mit diesem Fragen- und Gegenfragentanz begonnen. „Habe ich damit angefangen oder du?“ „Ist das von Bedeutung?“ „Nur wenn wir mit diesem Spiel aufhören wollen.“ Er drückte seine Lippen auf ihren Mund und brachte sie damit zum Schweigen. Das Gefühl, das in seinem Kuss lag, widerlegte alle bösen Gerüchte. „Ich sag dir was.“ Er hielt sein Handgelenk in die Höhe, um seine Uhr im Licht von der Bühne erkennen zu können. „Ich brauche hier ungefähr noch eine halbe Stunde. Wann bist du in der Galerie fertig?“ „Um neun.“ „Kann Julianne für dich zumachen? Dann könnten wir schon früher zum Abendessen gehen.“ 15
„Wenn ich sie bezahle, sicher.“ Ellen ließ ihre Hand über den Ärmel seines Hemdes gleiten. „Also, holst du mich in einer halben Stunde ab?“ Er ging zurück zum Podest. „Und denk daran, ich liebe dich.“ „Was ist los, Dr. Franklin? Wenn du mich besonders daran erinnern musst …“ Das Licht des Altarraums unterstrich die markanten Konturen seines Gesichts. „Das ist kein gutes Zeichen.“ Sein Lächeln ließ keinen Raum für Selbstmitleid. „Denk einfach daran, Ellen.“
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