= Kapitel 1 Eunice Hogan hatte eigentlich vorgehabt, das Geheimnis mit ins Grab zu nehmen. Wenn man jedoch zum Tode verurteilt ist, dann erscheint die Realität plötzlich in einem ganz anderen Licht. Nein, das stimmte so auch nicht ganz, denn irgendwie hatte das, was hier gerade passierte, gar nichts mit der Realität zu tun. Noch immer saß sie neben Henry im Sprechzimmer des Arztes und sah sich mit der Tatsache konfrontiert, dass ihre Lebenszeit sehr begrenzt war. Sie fühlte sich wie betäubt und Henry offenbar auch. Sie hörten den Arzt sagen, dass Eunice das Glück gehabt hatte, die vergangenen zehn Jahre ohne Krebs gelebt zu haben. Es tat ihm sehr Leid, aber der Krebs sei jetzt doch wieder da. Es seien Metastasen in der Leber und im Beckenbereich festgestellt worden. Das sei auch der Grund für ihre Verdauungsprobleme – dafür, dass sie sich ständig aufgebläht fühlte und unter Schwindel und Übelkeit litt. Er nannte Möglichkeiten wie Chemotherapie, Bestrahlung sowie weitere diagnostische Maßnahmen. Vielleicht hatte sie ja auch irgendetwas nicht richtig verstanden. Vielleicht hatten der Arzt oder Henry ja gesagt, dass sie wieder gesund werden könnte. Vielleicht hatte Henry erklärt, dass er an ein Wunder glaube. Wenn eine solche Äußerung gefallen war, dann hatte Eunice sie jedenfalls nicht mitbekommen. Das Einzige, was sie hörte, war die bohrende Frage in ihrem Inneren: Was soll ich jetzt tun? Nach Hause gehen und Abendessen machen? Die Wäsche erledigen? Den Fußboden wischen? Sie musste sich sehr zusammenreißen, damit ihr nicht tatsächlich dieser hysterische Laut entfuhr, der versuchte, sich einen Weg ins Freie zu bahnen. Wenn sie jetzt anfinge zu lachen, dann würde sie nie wieder aufhören können. Sie wusste nicht, was sie fühlen oder denken oder sagen sollte. Wie ging man mit einer solchen Situation um? Nein, der Arzt setzte keine genaue Frist, sondern er gab ihr noch sechs Monate, plus minus – als ob ein Tag wie tausend Jahre wäre. 5
Dieses Gefühl der Zeitlosigkeit war plötzlich verschwunden, nachdem sie und Henry das Sprechzimmer des Arztes verlassen hatten. Der Tag verging viel zu schnell. Ihr Leben befand sich auf einer Art Autobahn in Richtung Tod. Auf der anderen Seite des Mittelstreifens bewegten sich die Fahrzeuge in die entgegengesetzte Richtung nach Asheville. Sie saß auf dem Beifahrersitz, Henry fuhr. Sie waren unterwegs zu ... seinem Zuhause in Laurel Ridge. Sie war unterwegs zu ... ihrem Zuhause in der Ewigkeit. Sie hörte ihn sagen: „Wir glauben an Wunder, das weißt du doch, oder?“ „Ja.“ Wie um alles in der Welt könnte sie Henry jemals verlassen? Er konnte sich doch sonntagmorgens nicht einmal eine passende Krawatte zu seinem Anzug heraussuchen! Wie sollte er sich um sie kümmern, sie vielleicht sogar pflegen, wenn sie schwächer werden würde? Ein halbes Jahrhundert lang hatte sie sich doch um ihn gekümmert. Sie hatte doch – genau wie so viele andere Leute auch – lockerflockig gesagt, dass wir an dem Tag, an dem wir geboren werden, anfangen zu sterben; dass es nichts gibt, was sicher ist, außer den Steuern und dem Tod; und dass wir nicht wissen, ob wir den nächsten Atemzug noch erleben. Jeden Augenblick kann uns der Tod ereilen ... außer in diesem Augenblick. Jetzt waren ihre Augenblicke gezählt. „Es ist so ein schöner Tag“, sagte Henry, als sie zu Hause ankamen. „Wir könnten uns doch ein bisschen auf die Veranda setzen und ich mache uns was zu essen, ja?“ War das nicht genau das, was normalerweise sie zu ihm sagte? Waren die Rollen so schnell getauscht? Sie saß im Schaukelstuhl, spürte die Wärme der Nachmittagssonne. Es war Frühling, die Zeit, in der das Leben neu begann. Henrys Narzissen schoben bereits die ersten grünen Blätterspitzen aus dem Boden. Eunices Blick schweifte zu den Bergen. Wie sollte sie nur diesen hohen Berg erklimmen, der jetzt vor ihr lag? Sie holte tief Luft. Sie hatte gehört, dass vor dem Sterben das Leben noch einmal blitzschnell an einem vorüberzieht. Was ge6
schah eigentlich mit dem Leben, wenn man gerade erfahren hatte, dass man nur noch ein halbes Jahr zu leben hatte? Drieselte es langsam auf wie ein handgestrickter Pullover? Man zieht am Faden, der dann im Zickzack am Muster entlangläuft, bis nur noch ein Haufen Garn auf dem Boden liegt. Der Pullover sollte eigentlich ein Weihnachtsgeschenk werden, aber es ist schon Heiligabend, und man hat nicht mehr genug Zeit, ihn neu zu stricken. Und nun schaut man sich das Durcheinander auf dem Fußboden an, das so gar keine Ähnlichkeit mit einem Pullover hat . . . Es ist nur Garn . . . nur Garn. Würde ihr Leben so enden, so scheinbar sinnlos? Worin lag jetzt ihre Verantwortung? Ihr Leben würde nicht durch einen plötzlichen Autounfall oder durch einen Flugzeugabsturz zu Ende gehen – den schnellen Abgang würde es nicht geben. Sechs Monate. Zu wenig Zeit, um noch etwas für die Zukunft zu planen. Zu viel Zeit, um über die Geschichte mit dem Strickgarn nachzudenken. Gerade genug Zeit, um sich mit dem Geheimnis zu befassen, das im hinteren Umschlag ihrer Bibel verborgen war.
= Kapitel 2 Annette Billings war an diesem Morgen früh aufgewacht und hatte nicht wieder einschlafen können. Deshalb war sie schon vor Tagesanbruch aufgestanden, hatte ihr kastanienbraunes Haar mit einem Gummiband zusammengebunden, sich dann die Zähne geputzt und das Gesicht mit kaltem Wasser abgewaschen. Beim Abtrocknen schaute sie im Spiegel in ihre graublauen Augen, die sie fragten: Bist du wirklich sicher? 7
Sie blinzelte ihre Schläfrigkeit fort, legte Lipgloss auf, damit in ihrem Gesicht wenigstens ein Farbtupfer vorhanden war und entfernte dann wieder das Gummiband aus dem Haar. Ganz sicher? Ein paar entschlossene Striche mit der Haarbürste erinnerten sie daran, dass sie wohl mal wieder zum Friseur musste. Das Kinn trotzig vorgereckt, sagte sie: „Aber natürlich bin ich sicher.“ Sie löste sich von ihren Gedanken und schauderte. Es war ein langer Winter gewesen. Es gab zwar direkt vor ihrer Haustür Anzeichen für den Frühling, aber die Bergluft wurde nachts und bis in den frühen Morgen hinein immer noch sehr kühl. Sie spürte, wie sich die Kälte des Winters immer noch mit aller Macht festklammerte, als sie in die Jeans und die Tennisschuhe schlüpfte und ein Sweatshirt überzog. Sie beschloss, die Heizung nicht einzuschalten, weil sie ohnehin bald das Haus verlassen würde. Später würde dann die Sonne durch die Fenster scheinen und die zweite Etage des großen viktorianischen Hauses erwärmen, in der sich ihre Wohnung befand. Und schon bald würde es durch die Aktivitäten im Erdgeschoss auch dort warm werden. Während der Kaffee in die Glaskanne tröpfelte, umkreiste Annette immer wieder den Tresen, der wie eine Insel im Raum stand und die Küche vom Essbereich trennte. Der Tresen stand neben dem runden Tisch im viktorianischen Stil mit der Glasplatte. Dieser Tisch und zwei weiße schmiedeeiserne Stühle waren das Einzige im Raum, was Ähnlichkeit mit der Einrichtung in der unteren Etage hatte, die in der Öffentlichkeit „Bei Annette“ genannt wurde. Sie wusste, dass die private und die öffentliche Sphäre so unterschiedlich wie Tag und Nacht sein konnten. Ihr öffentliches Leben spielte sich im Erdgeschoss, in ihrem Restaurant ab. Ihr Privatleben behielt sie für sich und gab davon nicht mehr preis als das, was sie Ruby und Lara mitteilte. Sie trat an die Glastüren heran, die auf den Balkon führten und schaltete das Licht aus. Statt eines hellen Morgens hatte sie eine Landschaft vor sich, die man gerade so erahnen konnte und die sich jenseits ihres dunklen, schattenhaften Spiegelbildes erstreckte. 8
Sie musste dabei an Henry Hogans Predigt vom Sonntag denken. Er hatte über die Bibelstelle gepredigt, in der davon die Rede war, dass Paulus sein Leben so sah, als schaue er durch ein dunkles Glas, durch das er nur Bruchstücke erkennen konnte. Annette wusste, wie real dieser Vergleich war, aber sie wusste auch, dass Gott sie trotzdem führte. Sie hatte es allerdings wesentlich lieber, wenn alles kristallklar war. Viel zu oft suchte sie nach der Antwort auf die Frage, warum alles ausgerechnet so und nicht anders geschehen war. Das Wasser lief durch den Kaffeefilter, verwandelte sich zu einer braunen Flüssigkeit. Diese Verwandlung erinnerte sie an die Veränderungen, die sie erlebt hatte. Nachdem sie sich eine Tasse mit dampfendem, duftendem Kaffee gefüllt hatte, zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich in das dämmrige Morgenlicht. Ihre kalten Finger hatte sie um die heiße Tasse gelegt. Die Flüssigkeit wärmte sie von innen. Langsam wurde es heller. Wie auf einem impressionistischen Gemälde stieg grauer Dunst vom Waldboden auf, waberte um die Baumwurzeln herum und umgab die fahlen, unbelaubten Äste. Die Berggipfel konkurrierten um die Vorherrschaft an einem Himmel, der sie an ein schmuddeliges Handtuch erinnerte, das in der Bleiche lag, sich aber hartnäckig dem Aufhellungsprozess widersetzte. Sie trank in großen Schlucken rasch den restlichen Kaffee aus. Weil sie sich jetzt ganz aufgekratzt fühlte, nahm sie an, dass sie eigentlich gar kein Koffein gebraucht hätte. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch ungestört und unter vier Augen mit Louis reden wollte. Sie hatte vor, nicht nur ihrem Mann zu sagen, dass sie Curt heiraten wollte; auch Curts Frau musste es noch von ihr persönlich erfahren. Ü
Annette fuhr mit dem Wagen die kurvige, auf beiden Seiten mit Pinien gesäumte Zufahrt ihres Hauses in Richtung Hauptstraße hinunter. Weil sie wusste, dass noch nicht einmal die Schulbusse zu dieser frühen Stunde unterwegs waren, nahm sie Nebenstraßen und fuhr durch Wohngebiete. Dabei versuchte sie, sich auf den beginnenden Frühling zu konzentrieren. Überall waren bereits die 9
grünen Spitzen sichtbar, in Beeten und an Büschen – aber für sie sah alles so aus, wie sie sich innerlich fühlte: trostlos und grau. Der Himmel hatte anscheinend beschlossen, dass dies kein Anlass sei, der Sonne zu erlauben sich zu zeigen. Sie fühlte sich oft sehr mit der Natur verbunden, als ob sie mit ihr eine innige Zwiesprache führte. Diese Verbundenheit spürte sie jetzt mehr denn je. Keine fünf Minuten später, als sie den Wagen abbremste, um auf den langen Betonweg einzubiegen, der zu ihrem Ziel führte, schlug ihr Herz schneller. Das geneigte Dach des Verwaltungsgebäudes wurde hinter einem lang gestreckten Hügel sichtbar. Eine leichte Brise bewegte die Flaggen an den hohen Masten am Haus. Die Fahnen gaben sich zwar alle Mühe, majestätisch zu wirken, fielen aber immer wieder schlaff in sich zusammen. Es sah so aus, als ob sie in ihrem Bemühen stets aufs Neue besiegt würden. Annette parkte vor dem Gebäude. Die Büros waren bestimmt noch geschlossen. Sie nahm den Blumenstrauß und stieg aus dem Wagen. Sie konzentrierte sich auf ihre Füße und eilte den Hauptweg entlang auf die Betonfläche zu, um die im Kreis die Fahnenmasten standen. Als sie die Treppe erreichte, die in zwei Fluchten nach oben führte, griff sie nach dem kalten Stahlgeländer, um das Gleichgewicht zu halten und hinaufgehen zu können. In der Hand hatte sie einen Bund schlanker grüner Stängel mit langen Blättern, an deren Ende geschlossene, fingerartige Knospen saßen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Annette gelächelt – in dem Wissen, dass die Lilien nur auf Sonnenschein warteten, um sich in aller Pracht zu öffnen. Und um ihre orangefarbigen Trompeten zu zeigen, als wären sie bereit, gute Nachrichten zu verkünden. Als Annette schließlich die oberste Stufe erreichte, hatte sich der graue Himmel dem Licht ergeben. Tränen liefen ihr über die Wangen und nässten sie, so wie das taunasse Gras ihre Schuhe nässte. Sie kannte die Stelle genau. Fünf Reihen nach unten und dann zehn nach rechts. Nur einen kurzen Moment gestattete sie es sich, ihren Blick über das Kriegsgräberfeld schweifen zu lassen, das aussah, als ob Baisers in Reih und Glied in einem unendlichen grünen Meer stünden. Einige der Gräber waren mit Flaggen, andere mit echten oder künstlichen Blumen geschmückt. 10
Vor Louis blieb sie stehen. Es gab keinen einfachen Weg. Lange Vorreden waren unnötig. „Louis.“ Sie holte Luft, um ihre Kehle zu kühlen. „Ich werde wieder heiraten.“ Es war windstill. Die Vögel fingen an zu lärmen. Annette beugte sich hinunter, um sechs gelbe Rosen niederzulegen, ja, sie ging sogar in die Knie. Und dann schrie sie plötzlich auf und lag bäuchlings, lang hingestreckt auf seinem Grab. „Oh, Louis. Ich verlasse dich nicht. Du wirst immer in meinem Herzen sein. Ich liebe dich und werde dich immer lieben. Aber in meinem Herzen ist auch Platz für Curt.“ Sie weinte wie lange nicht mehr. Genauer gesagt, wie seit dem Zeitpunkt, als Louis bereits drei Monate lang tot war und sie sich endlich eingestanden hatte, dass er nicht wiederkommen würde. Es war Realität. Er war fort. In den vierzehn Jahren seit seinem Tod hatte sie ihr Bestes gegeben, um die Erwartungen zu erfüllen, die ihr Umfeld an das Leben einer allein erziehenden Mutter und an die Witwe eines jungen Mannes stellte, der als Held sein Leben für sein Land gelassen hatte. Annette schluchzte lange, als sie sich der Endgültigkeit des Todes bewusst wurde. Sie wusste, dass er nicht hier war, und sie war auch in all den Jahren kaum auf diesem Friedhof gewesen. Aber auf dem Grabstein stand sein Name: Korporal Louis Andrew Billings. Er war so stolz darauf gewesen, seinem Land zu dienen, und Annette war so stolz auf ihn gewesen. Aber er war nicht zurückgekommen. Manchmal schien ein Jahrzehnt eine lange, lange Zeit zu sein. Heute kam es ihr jedoch so vor, als wäre das alles erst gestern gewesen. Sie wusste nicht, wie lange sie dort auf dem Grab gelegen hatte, als wäre es ihre Schmusedecke. Es war ihr auch egal, bis sie ein Geräusch hörte, das sie in die Gegenwart zurück holte. Sie schaute sich um und sah in einiger Entfernung einen Mann in orangefarbenem Overall, der auf einem Aufsitzrasenmäher saß. Sie drehte sich wieder um, erhob sich und arrangierte die Blumen in einer Grabvase. Sie hellten den dunklen Grabstein ein wenig auf. Im Weggehen warf sie noch einmal einen Blick auf den gepflegten 11
Friedhof, auf die in Reih und Glied stehenden Grabsteine. Die Begräbnisstätte wirkte fast wie eine Miniaturausgabe des Heldenfriedhofs Arlington. Blumen wurden entfernt, wenn sie verwelkt waren, und an staatlichen Feiertagen wurde das Gräberfeld beflaggt. Der Himmel war jetzt noch heller geworden. Annette klopfte sich das feuchte Gras von ihrem Sweatshirt und ging weiter. Als sie diesmal an den Flaggen vorbeikam, schaute sie zur amerikanischen hinauf. In ihrer Erinnerung hörte sie noch einmal die 21 Salutschüsse, die zu Ehren der tapferen, gefallenen Soldaten abgefeuert wurden. Als sie ihren Weg fortsetzte, kamen ihr auch Melodiefetzen in den Sinn. „Was für ein Moment, was für ein Tag“, hatten Sänger auf einer anderen Beerdigung gesungen. Und: „Wir werden auferstehen.“ – Auch die Beerdigung von Curts Frau hatte sie durchgestanden. Sie musste aus Respekt noch einen weiteren Friedhof aufsuchen und Blumen auf Sybil Crowders Grab legen. Und dann keine Beerdigungen mehr. Nicht mehr an den Tod denken. Sie hatte solche Dinge in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins verdrängt. Im nächsten Herbst würde ihr Sohn mit dem College beginnen. Dann wäre sie allein. Sie würde ein neues Leben anfangen, ein Leben in Sicherheit, zusammen mit Curt. Sollte sie mit Curt über ihre Vergangenheit sprechen? Nein. Ihre Beziehung litt ja nicht darunter. Das alles war ja gewesen, lange bevor sie sich überhaupt kennen gelernt hatten. Alles würde gut werden . . . gut. Sie sah geradeaus, nach vorn. Keine Geister aus der Vergangenheit flatterten um sie herum und forderten ihre Aufmerksamkeit. Sie zwang sich, das auch selbst zu glauben, auch wenn ihr plötzlich eine frische Brise durch das Haar fuhr und dafür sorgte, dass sich die Wolkenformation am Himmel rasch veränderte. Annette holte tief Luft.
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