Angela Hunt
Töchter der Wüste Roman
Miryam Wieder einmal wurde mein Vater von dem Aufseher aufgehalten und kam an diesem Abend nicht nach Hause. Und so hörte meine Mutter endlich auf zu weinen und gebrauchte ihren Verstand. Beim Schein des trüben Lichts unserer einzigen Öllampe nahm sie getrocknetes Schilf aus einem Behälter vor dem Haus und begann, es zu einem Korb zu flechten. Schweigend beobachtete ich sie. Das traurige Lächeln auf ihrem Gesicht machte mir Angst. „Ich werde vielleicht nicht mehr erleben, wie er unter einem Hochzeitsbaldachin steht“, murmelte Mutter, während ihre Finger geschickt die langen Stränge verflochten, „aber ich werde ihn jetzt mit einem Baldachin beschirmen.“ Sie würde es nicht erleben? Ich kauerte mich gegen die Wand, mein Herz klopfte zum Zerspringen in meiner Brust. Was hatte meine Mutter vor? Ich erschauerte, als eine Vision vor meinen müden Augen auftauchte – meine Mutter, die ihr Baby in diesem Korb in den Händen hielt und in den Fluss marschierte, bis das Wasser ihre Knie umspielte, ihre Oberschenkel, ihre Taille. Doch sie würde weitergehen, bis der Fluss sie und das Baby verschlungen hatte. Sie würde ihre Seele und die des Babys Gott geben, bevor sie zuließ, dass die Ägypter es ihr wegnahmen. „Miryam!“ Mutters Stimme riss mich aus meinen Tagträumen. „Nimm den Krug mit Pech und zünde draußen das Feuer an. Sofort.“ Ich starrte sie einen Augenblick lang verständnislos an, aber ihrer Entschlossenheit konnte ich mich nicht widersetzen. Gehorsam nahm ich den Krug mit Pech und
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brachte ihn nach draußen zur Feuergrube. Holz war ein Luxus, den Sklaven sich nicht leisten konnten, darum hatten wir gelernt, mit Holzkohle und dem vertrockneten Kraut des Beifuß zu kochen. Im Innern des Hauses flocht meine Mutter weiter, aber jetzt summte sie ein Lied, das sie von ihrer Mutter gelernt hatte, ein Lied von der Macht und dem Schutz Gottes. Wie konnte sie ein solches Lied singen? Seit Jahren hatten wir nichts mehr vom Schutz Gottes gemerkt. Unsere Männer starben von der Hand der Zuchtmeister des Pharaos, unsere Söhne ertranken im Nil. Unsere jungen Männer arbeiteten, bis ihre Knochen unter den schweren Lasten brachen, die ihre Herren ihnen auferlegten. „Pass auf, Miryam! Das Pech müsste mittlerweile rauchen.“ Und so war es auch. Mit einer Astgabel nahm ich den Krug aus der Kohle, dann trug ich ihn zu meiner Mutter hinein. Mit einer Entschlossenheit, die ich nur selten bei ihr erlebt hatte, tauchte sie ein flaches Holzstück in das Pech und begann es auf die Außenseite des geflochtenen Korbes zu streichen. In diesem Augenblick verstand ich. Sie machte – „Eine Teba.“ Sie erriet meine Gedanken. „Wie die von Noah. Wie Gott Noah und seine Familie in der Teba rettete, wird Gott auch meinen Sohn retten.“ Geräuschlos ließ ich mich auf den festgetretenen Lehmboden sinken. Ich wusste, meine Mutter liebte mich, aber wenn ich unter einem Todeserlass geboren worden wäre, hätte sie auch meinetwegen zu so extremen Mitteln gegriffen? Jetzt glaube ich das schon, aber als achtjähriges Kind konnte ich die Tiefen des Herzens einer Mutter nicht begreifen. Die ganze Nacht über sann ich über diese Geheimnisse nach, während ich aus dem Dunkeln heraus zusah, wie meine Mutter eine Arche für das Kind fertigte, das sie nicht mehr länger verstecken konnte.
Merytamon Tanut-Amun und drei Wachen brachen kurz nach Sonnenaufgang am folgenden Morgen zu der hebräischen Siedlung auf. Mein Magen krampfte sich zusammen, als ich ihnen nachsah. „Komm, Herrin“, sagte Nema. Sie spürte meine Erregung. „Wir wollen das Schiff verlassen und zum Wasser gehen. Während ich dein Haar wasche, wird der Fluss deine Sorgen forttragen.“ Und wenn wir zum Schiff zurückkehrten, würde ich entweder eine Antwort von Tanut-Amun haben … oder ein Kind, das ich dem Pharao vorzeigen konnte. Ich ging auf Nemas Vorschlag ein, legte meinen Umhang um und gesellte mich zu meinen Zofen an Land. Gemeinsam liefen wir barfuß über den kühlen Sand, der von der Sonne noch nicht erwärmt war.
Angela Hunt: Töchter der Wüste
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„Herrin, sieh nur!“ Eine meiner Zofen ließ ihr Gewand fallen und rannte ins Wasser und landete mit einem lauten Platschen auf dem Bauch. Mehrere der anderen Mädchen planschten in unserer Nähe, und als ich ins seichte Wasser stieg, sprach ich ein stummes Dankgebet zu Hap, dass er mir Ablenkung von meinen trüben Gedanken schenkte. Meine Worte erstarben, als ich eines ungewöhnlichen Anblicks gewahr wurde. Ein winziges Boot trieb ganz in der Nähe im Fluss. Das abgedeckte Gefährt hatte im Schilf gehangen und schaukelte nun im Wasser. Ich erstarrte, während mich meine Erinnerungen überfielen – Geschichten von Horus, der von Isis im Schilf versteckt worden war, um ihn vor dem Zorn seines bösen Onkels Seth zu schützen. Hatte jemand in dem Schilf am Flussufer ein Kind verborgen? Ich deutete auf den Gegenstand. „Mädchen! Seht ihr das da? Bringt es mir!“ Nema verfolgte mit offenem Mund, wie zwei der Mädchen durch das seichte Wasser rannten. Eines von ihnen teilte das Schilf, während das andere den im Wasser treibenden Korb hochhob. Ich trat aus dem Wasser. Erregung machte sich in mir breit und verursachte mir eine Gänsehaut. Nema eilte mir nach und hielt mir meinen Umhang hin. Ich schlüpfte hinein, während die Mädchen vor mir niederknieten. Eines von ihnen wollte den geflochtenen Deckel hochheben. „Nicht.“ Ich trat vor. „Das werde ich machen.“ „Aber Herrin, das könnte alles Mögliche sein!“ Sie hatte natürlich Recht. Ein Hebräer mit bösen Absichten hätte eine Kobra hineinlegen können, eine Natter oder ein Skorpionnest. Aber mein Herz wusste, was dieses kleine Boot enthielt. Mit zitternden Fingern griff ich nach dem Deckel. Ein leises Jammern durchbrach die angespannte Stille, und als ich den Deckel hochhob, begann das Wesen in seinem Innern, ernsthaft zu schreien. „Mutter Isis, hilf uns!“ Nemas Hand fuhr an die Kehle. „Ist das Horus?“ „Es ist ein Baby … von den Hebräern.“ Ein perfekt geformter, starker und hübscher Junge, so nackt wie an dem Tag, an dem er aus dem Schoß seiner Mutter gekommen war, aber zweifellos um einiges dicker und größer. Und bereits beschnitten, was an seiner Herkunft keinen Zweifel ließ. Ein entzückter Aufschrei kam von meinen Dienerinnen. „Er ist entzückend!“ Mit einer Sicherheit, die mich selbst überraschte, nahm ich den Säugling aus dem Korb und in meinen Arm. Er drückte sich an mich, doch nachdem er eine Weile an seinen Fingern gesaugt hatte, verzog sich sein Gesicht. Nema zog die Augenbrauen hoch. „Er hat Hunger. Und keine von uns hat Milch für ihn.“ Ich sah mich im Kreis meiner Dienerinnen um. Die meisten von ihnen waren noch jünger als ich. Keine von uns hatte ein Kind geboren und keine aus unserer
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Gruppe konnte Milch für dieses hungrige Baby beschaffen. Wir hatten nicht einmal eine Ziege dabei. Aus dem Schilf tauchte ein dürres Mädchen auf. „Große Herrin“, sagte sie in gestelztem Ägyptisch. Sie fiel auf die Knie. „Soll ich unter den hebräischen Frauen eine Amme für dich suchen?“ Ich lächelte sie erleichtert an. Wieder einmal hatte mir der Flussgott eine Antwort gegeben. „Ja, geh!“ Ich winkte ab und das dürre Mädchen eilte davon. Während wir warteten, vergnügten meine Dienerinnen und ich uns mit dem Baby. Nema versuchte, ihm ein Stück Brot zu geben, das sie vorgekaut hatte, aber das Kind spuckte den Bissen nur aus und jammerte umso lauter. Nach einiger Zeit kam zu meiner großen Erleichterung eine hebräische Frau heran. Ich erkannte sie. Unsere Blicke trafen sich. Einen Augenblick lang sahen wir uns an, dann fiel sie auf die Knie, wie ihre Tochter es getan hatte. Das dürre Kind hatte seine Mutter begleitet. Sie blieb am Flussufer stehen, genauso hoch und dünn wie die Schilfrohre, die dort wuchsen. „Dieses Kind“ – ich blickte die Frau an – „braucht eine Amme. Bist du in der Lage, einen Säugling zu nähren?“ Ich kannte die Antwort, und sie wusste, dass ich sie kannte. Aber sie spielte das Spiel mit und nickte stumm. „Dein Name?“ „Jochebed aus dem Stamm Levi.“ „Jochebed, nimm meinen Sohn.“ Widerstrebend reichte ich ihr das Kind; sie erhob sich eifrig, um mein Geschenk entgegenzunehmen. „Nimm dieses Kind mit und stille es für mich. Ich werde dir einen Lohn dafür zahlen.“ Sie hielt ihn sanft an sich gedrückt, und falls ich Zweifel gehabt hätte, dass sie das Kind geboren hatte, wären sie zerstreut worden, als das Baby sein Gesicht in die Falten ihres Gewandes drückte und die lebensspendende Brust suchte. „Wenn er entwöhnt ist, bringe ihn zu mir.“ Widerstrebend riss ich meinen Blick von dem Baby los. „Ich werde dir Nachricht schicken, damit du weißt, wo ich zu finden bin.“ „Und nach wem“, fragte sie mit zittriger Stimme, „soll ich fragen, wenn ich ihn bringe?“ „Frage nach der Tochter des Pharaos“, erwiderte ich mehr aus Gewohnheit. „Merytamon, die auch die Frau des Pharaos ist.“
Angela Hunt: Töchter der Wüste Gebunden, 360 Seiten • Bestell-Nr. 815 927 Lieferbar: Juli 2004