Patricia A. Pingry (Hrsg.)
Liebe
Genug f端r ein ganzes Leben und andere wahre Geschichten, die das Herz ber端hren
Aus dem Englischen 端bersetzt von Thorsten Kr辰mer
Inhalt Vorwort............................................................................ 08 Auf den Schwingen des Glaubens................................... 11 Mein Freund Gott..................................................................13 Gesegnete Gewissheit...........................................................17 Die Frau, die keine Angst hatte...........................................23 Seine unerklärlichen Wege.....................................................30 Zwölftausend Meter über Florida........................................32 Die Kraft des Gebets........................................................ 39 Ich glaube ans Gebet.............................................................41 Das Mädchen, das zu Eis erstarrt war................................45 Zehn Mann und ein Gebet...................................................53 Seine unerklärlichen Wege.....................................................56 Der Tag des Wunders............................................................58 Ein freudiges Ja zum Leben............................................. 67 Nur eine Biegung auf dem Weg...........................................69 Genug Liebe für ein ganzes Leben......................................75 Seine unerklärlichen Wege.....................................................84 Das Wunder des Lachens.....................................................86 Die fünf Gründe, warum ich mein Leben liebe................90
Den Herausforderungen des Lebens ins Auge sehen.... 99 Ihr Abschiedsgeschenk.........................................................101 Machen Sie es mit Angst!.....................................................105 Seine unerklärlichen Wege.....................................................110 Der Code................................................................................112 Neun Mann in Sicherheit.....................................................120 Das Wunder der Liebe..................................................... 129 Das Duell................................................................................131 Stark genug, um zu weinen..................................................137 Ein neues Paar Schuhe..........................................................143 Seine unerklärlichen Wege.....................................................138 Onkel „Ohne-mich“..............................................................150 Die Gabe der Güte........................................................... 159 Das Geheimnis der Bratpfanne...........................................161 Der Frieden, den wir in der Vergebung fanden................164 Seine unerklärlichen Wege.....................................................172 Brieffreunde...........................................................................174 Donnie und sein Van............................................................180
Mut zur Veränderung...................................................... 187 Die Bewährungsprobe eines Mannes.................................189 Wo Heilung anfängt..............................................................194 Ein Platz für Mike..................................................................202 Seine unerklärlichen Wege.....................................................210 Es fängt mit mir an................................................................212 Auf Gott vertrauen.......................................................... 223 Glauben, Glauben, Glauben.................................................225 Joeys Prüfung.........................................................................231 Seine unerklärlichen Wege.....................................................238 Näher zu Ihm.........................................................................240 Fürchte kein Unheil...............................................................245 Überraschender Segen..................................................... 251 Wer hat das Gewand gewoben?...........................................253 Abschied auf dem Berg.........................................................257 Hier lang zum Kürbiskuchen...............................................261 Seine unerklärlichen Wege.....................................................264 Der Schlangenbiss.................................................................266
Das Mädchen, das zu Eis erstarrt war Jean Hilliard Vig Februar 1984
I
ch schnappte mir meine Handtasche und den Autoschlüssel, warf mir meinen neuen grünen, hüftlangen Parka über und lief zur Tür. Mom rief: „Jean, willst du nicht die Stiefel und die Schneehose mitnehmen? Es soll heute Nacht noch kälter werden.“ Ich hatte mein ganzes Leben auf einer Farm im nördlichen Minnesota verbracht und war Kälte gewohnt. „Ist schon okay, Mom. Ich fahre nur in die Stadt und treffe ein paar Freunde. So kalt ist es nicht.“ Ich war 19, und für einen netten Abend mit Freunden hielt ich Cowboy-Stiefel und Jeans für angebrachter als warme Kleidung. Ich hatte keine Ahnung, dass in den nächsten Stunden die Temperatur auf rund minus 30 Grad Celsius sinken würde, begleitet von eisigen Böen mit bis zu 80 Kilometern pro Stunde ... Nachdem ich mit meinen Freunden einen lustigen Abend in Fosston verbracht hatte, machte ich mich gegen Mitternacht auf den Heimweg. Ich fuhr im großen weißen Ford LTD meines Vaters. Normalerweise nahm ich Dads Pick-Up mit Vierradantrieb, aber der hatte an diesem Abend nicht mehr viel im Tank, deswegen hatte Dad mir erlaubt, seinen Wagen zu nehmen. Wie ich so fuhr, tanzten die Schneeflocken feierlich im Licht der Scheinwerfer. Ich beschloss, den alten Kiesweg zu nehmen, weil der einige Kilometer kürzer ist als die asphaltierte Straße. Außerdem liebte ich diese alte Straße, die kreuz und quer durch einen Wald mit hohen Pinien führte. Alle paar Kilometer stand ein Haus oder eine Farm, aber der Rest des Weges war wie ein Postkarten-Idyll: kühl-blaue Minnesota-Seen, hohe Bäume und die schmale, gewundene, hügelige Kiesstraße. • 45 •
Wegen des Neuschnees konnte ich die gefrorene Stelle mitten auf der Straße nicht erkennen. Ehe ich begriff, was hier vor sich ging, rutschte ich seitlich weg und das Vorderrad kam dem Straßengraben gefährlich nahe. Ich versuchte, vorsichtig zurückzusetzen, aber die Räder drehten durch. Als ich deshalb wieder in den Vorwärtsgang schaltete, rutschte das Vorderrad in den Graben, und es ging nun weder vor noch zurück. Ich hatte keine Angst, aber ich war ganz schön genervt! Ich hörte schon Dads dröhnende Stimme, wenn er erfahren würde, was ich mit seinem guten Wagen angestellt hatte. Ich wusste, dass ungefähr eine halbe Meile weiter ein Haus stand, also stieg ich aus, knallte die Tür zu und stapfte die Straße entlang – meine Mütze vergaß ich im Auto. Ich kochte innerlich und ärgerte mich über das Chaos, in das ich mich manövriert hatte – dieser Ärger hielt mich auf den ersten Hundert Metern warm. Gegen den eisigen Wind zog ich den Reißverschluss meiner Jacke bis unter die Nase. Die Hände stopfte ich tief in die Taschen, während meine spitzen Cowboystiefel im Schnee versanken. Ich ging noch ein wenig weiter, dann fiel mir ein, dass in der entgegengesetzten Richtung Wallys Haus lag. Das kann höchstens eine halbe Meile sein, dachte ich. Wally war ein Bekannter unserer Familie, und ich wusste, dass er einen Truck mit Allradantrieb hatte, mit dem er meinen Wagen wieder aus dem Graben ziehen könnte. Als ich wieder an dem Auto vorbeikam, war mir danach, gegen den Reifen zu treten, aber ich trottete einfach weiter. Nach etwa einer halben Meile kam ich an einem Haus vorbei. Die Lichter waren aus und die Auffahrt wies keine frischen Spuren auf. Sind wahrscheinlich verreist, dachte ich. Ich kämpfte mich den nächsten Hügel hoch. Endlich meinte ich, in der Ferne Wallys Haus zu erkennen. Ja! Da war der lange Weg, der zu seinem Haus führte. Ich atmete schwerer. Und dann ... verlor ich das Bewusstsein. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, aber offenbar • 46 •
schaffte ich es bis zum Haus: halb gehend, halb fallend, zuletzt auf allen vieren kriechend. Eine bewusste Erinnerung daran habe ich nicht. Inzwischen entsprach der eisige Wind einer Kälte von rund minus 60 Grad. Direkt vor Wallys Tür brach ich zusammen und fiel mit dem Gesicht in den Schnee. Und so blieb ich die ganze Nacht liegen. Am nächsten Morgen kam Wally um kurz vor sieben aus dem Haus. Normalerweise ging er nicht vor acht zur Arbeit, aber an diesem Morgen – Gott sei Dank – entschied er sich dafür, etwas früher aufzubrechen. Wally sah meinen Körper im Schnee; er beugte sich hinab und suchte meinen Puls. Ich hatte keinen. Mein geschwollenes Gesicht wies eine aschgraue Farbe auf. Meine Augen waren in geöffnetem Zustand gefroren. Ich atmete nicht. Wally weiß bis heute nicht, wie er es geschafft hat, mich aufzuheben und in seinen Wagen zu verfrachten. Er sagte, es sei wie ein Kampf mit einem 120 Pfund schweren Baumstamm gewesen oder mit einem großen Stück Fleisch aus dem Kühlhaus. In der Notaufnahme des Krankenhauses in Fosston schrie Wally lauthals um Hilfe. Er nahm mich unter den Arm, mehrere Krankenschwestern fassten mich an den Fußknöcheln. Mein Körper war steif wie ein Stock. Als sie mich auf eine Trage legten, rief eine Schwester: „Sie ist zu Eis gefroren!“ Eine andere Schwester, die Mutter einer meiner besten Freundinnen, sagte: „Ich glaube, das ist Jean Hilliard! Ich erkenne ihre blonden Haare und die grüne Jacke wieder!“ Mrs Rosie Erickson, eine Angestellte in der Buchhaltung, lief in die Notaufnahme, als sie die allgemeine Aufregung mitbekam. Sie beugte sich über mich. „Wartet! Hört doch!“ Es wurde still um meine Trage herum. „Da ist so ein Stöhnen ... aus ihrer Kehle! Hört mal!“ Ich wurde in das Behandlungszimmer gefahren. Dr. George Sather, unser Hausarzt, hatte an diesem Morgen • 47 •
Dienst. Mit seinem Stethoskop konnte er weder Atem noch Herzschlag hören. Er schloss einen Herzmonitor an, der einen sehr langsamen, schwachen Herzschlag anzeigte. Ein Kardiologe meinte, es handele sich um „ein sterbendes Herz“. „Wir müssen ihr diese Stiefel ausziehen!“, erklärte Dr. Sather. „Bringt ein paar Decken! Sie lebt noch!“ Sofort kam Leben in die Notaufnahme. Meine Stiefel und meine Jacke waren die einzigen Kleidungsstücke, die sie mir auf Anhieb ausziehen konnten. Meine restliche Kleidung war an mir festgefroren. Als sie die Jeans aufschnitten, sah das Krankenhauspersonal, dass meine Füße schwarz waren und auch meine Beine und mein Gesäß schwarze Flecken aufwiesen. Meine Füße und Beine waren angeschwollen. Die Schäden am Gewebe schienen so schwer, dass Dr. Sather meinen Eltern bei ihrer Ankunft sagte, dass meine Beine wohl amputiert werden müssten, sollte ich überleben. Er wollte, dass sie auf diesen Fall vorbereitet waren. Dr. Sather veranlasste, dass mir Sauerstoff verabreicht wurde, und eine Schwester schlug vor, es mit Aqua-K-Pads zu versuchen. Just einen Tag zuvor hatte das Krankenhaus diese neuen, mit Wasser gefüllten Wärme-Pads geliefert bekommen. Eilig packten die Krankenschwestern eine Packung mit diesen Pads nach der anderen aus. Zum Glück hatte die einzige Schwester, die wusste, wie man die Pads an die spezielle Heißwasser-Maschine anschließen musste, gerade Dienst und leitete die Prozedur an. Mein Körper war so fest gefroren, dass keine Nadel die Haut durchstechen konnte, sodass mir keine Medikamente intravenös gegeben werden konnten, die das Auftauen beschleunigen oder einer Infektion hätten vorbeugen können. Doch die Ärzte wussten nicht, was Rosie Erickson im Sinn hatte. Rosie fand meine Eltern in der Wartehalle. „Mr und Mrs Hilliard, haben Sie etwas dagegen, dass ich Jean auf die Gebetsliste unserer Gemeinde setze?“ • 48 •
Mom, die noch völlig verwirrt war von dem Spektakel, antwortete sofort: „Nein ... bitte tun Sie das!“ Mrs Erickson eilte in ihr Büro und rief den Leiter der Gebetskette der Baptistengemeinde an, bei der ihr Mann Pastor ist. Die Gebetskette trat in Aktion. Die erste Person auf der Liste rief die zweite an, die wiederum die dritte anrief und so weiter. Mein Herz begann, ein wenig schneller zu schlagen. Obwohl der Puls immer noch weit unter den üblichen 72 Schlägen in der Minute lag, waren die Ärzte ganz außer sich. Allmählich fing ich an, selbstständig zu atmen. Die Gebetskette wurde immer länger. Mrs Erickson rief die Pastoren der Gemeinden in Fosston an, ob sie nun lutheranisch, katholisch, methodistisch oder was auch immer waren. Die wiederum riefen die jeweiligen Leiter ihrer Gebetsketten an, die die Information dann weitergaben. Während der ersten Stunden, in denen die Gebetskette in Aktion war, hellten sich meine Beine und Füße wieder auf und bekamen ihre natürliche Farbe zurück, anstatt, wie Dr. Sather erwartet hatte, noch dunkler zu werden. Einer nach dem anderen nahmen die Ärzte und die Schwestern den wundersamen rosa Schimmer in Augenschein, der auf meinem Oberschenkel entstand, genau dort, wo Dr. Sather in Gedanken schon die Amputation geplant hatte. Die Gebetskette griff auf die Nachbarstädte Crookston und Bemidji über sowie auf Grand Forks, North Dakota. Bald wussten zuerst Hunderte, dann Tausende von Menschen, dass dort eine zu Eis gefrorene junge Frau ins Krankenhaus nach Fosston gebracht worden war, die dringend Gottes wunderbare Heilung brauchte. Eine der Schwestern, die gerade noch mehr Decken holte, steckte ihren Kopf in Mrs Ericksons Büro und sagte: „Sie kann es schaffen! Ihre Beine bekommen wieder Farbe, und ihr Herz schlägt kräftiger!“ Mrs Erickson sah auf ihre Uhr und dachte: Die Gebetskette ist jetzt in voller Aktion. Gott hat schon damit angefangen, • 49 •
diese Gebete zu erhören. Natürlich wird sie es schaffen! In diesem Moment veränderte sich die Grundeinstellung der Menschen in meinem Krankenzimmer. Vorher hatte es geheißen: „Wahrscheinlich wird sie nicht überleben“, doch nun war der allgemeine Eindruck: „Vielleicht wird sie überleben, aber sicher verliert sie ihre Beine von den Knien abwärts.“ Noch vor Mittag bewegte ich mich leicht und stöhnte ein Wort, das wie „Mom“ klang. Meine Mutter und meine älteste Schwester Sandra wachten an meinem Bett, sie hielten, drückten und streichelten meine Hände. „Jean, Jean, wach auf! Jeannie, kannst du mich hören? Ich bin es, Mom. Sandra ist auch hier. Jeannie, wir lieben dich. Jeannie, hörst du?“ Gegen Mittag stammelte ich ein paar Worte zu ihnen. Die Gebetskette riss nicht ab. Am frühen Nachmittag wachte ich auf und bekam eine Art Anfall. Die Ärzte erzählten mir später, dass ich so sehr gestöhnt und geschrien habe, dass sie dachten, ich hätte einen schweren Hirnschaden erlitten. Den ganzen Tag hindurch beobachteten die Ärzte und Schwestern voller Erstaunen, wie die schwarzen Stellen auf meinen Füßen und Beinen Zentimeter um Zentimeter verschwanden. Am späten Nachmittag meinte Dr. Sather, meine Beine könnten vielleicht gerettet werden und er müsse nur meine Füße amputieren. Wenige Stunden später stellte er überrascht fest, dass ich vielleicht auch nur die Zehen verlieren würde. Letztlich musste überhaupt nichts amputiert werden! Die normale Farbe kehrte zurück, und das Blut zirkulierte selbst wieder in den schwärzesten Stellen meiner Beine, Füße und Zehen. Dr. Sather hatte auch befürchtet, mehrere Hautverpflanzungen an meinen Zehen vornehmen zu müssen. Aber auch diese Stellen heilten, ohne dass eine Transplantation nötig wurde. • 50 •
Nachdem ich gesehen hatte, wie mein Körper wieder heil geworden war, war ich überzeugt, dass sich ein Wunder ereignet hatte. Selbst Dr. Sather sagte: „Ich habe mich nur um sie gekümmert, geheilt hat sie Gott.“ Die Ärzte ließen mich sieben Wochen im Krankenhaus bleiben, um sicherzustellen, dass ich mich von den Erfrierungen erholte, und um das Risiko einer Infektion meiner Zehen zu minimieren. Während dieser ganzen Zeit habe ich kein einziges Mal Angst verspürt. Ich bin sicher, es war die Gebetskette, die mir diese innere Ruhe gab und meinen Glauben stärkte, dass ich geheilt werden würde. Diese Nacht, in der ich beinahe erfroren wäre, liegt nun mehr als drei Jahre zurück – es war der 20. Dezember 1980. Seitdem habe ich einen wunderbaren Mann kennengelernt und geheiratet, ich habe ein schönes Mädchen zur Welt gebracht und erwarte unser zweites Kind. Mein Mann, meine Tochter und ich leben auf einer Farm außerhalb von Fosston, und ich führe ein beschauliches, glückliches Leben. Aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an die Nacht denke, in der ich beinahe erfroren wäre. Ich bin durch diese Erfahrung ein anderer Mensch geworden. Im letzten Winter habe ich mich mit einem Experten im Bürgerschutz, einem Sergeanten der Streitkräfte, einem Highway-Polizisten und einem Arzt aus Crookston, der sich auf Unterkühlung spezialisiert hat, zusammengetan. Gemeinsam führen wir in den Nachbarstädten und -bezirken Veranstaltungen durch, bei denen wir über das Überleben im Winter reden. Ich erzähle meine Geschichte und führe den Menschen vor Augen, was passieren kann, wenn sie sich im Winter nicht auf das Wetter einstellen und sich angemessen kleiden. Es überrascht mich selbst, dass ich das tun kann, denn in der Highschool hatte ich immer Angst, vor der Klasse zu sprechen. Allein der Gedanke, vor einer Gruppe von Leuten zu stehen, deren aller Augen auf mich gerichtet sind, verursachte mir Bauchschmerzen. Aber das ist alles wie • 51 •
v erflogen. Ich bin stolz darauf, mit meiner Geschichte vielleicht dazu beizutragen, andere Menschen vor demselben Fehler zu bewahren – und wenn es nur ein einziger ist. Ich glaube, dass Gott mich deshalb bewahrt hat: damit ich anderen Menschen dabei helfen kann zu verstehen, wie sie die unberechenbaren und sehr kalten Winter überleben können. Ich habe mich auch in anderer Hinsicht verändert. Meine Familie und ich sind uns jetzt viel näher. Jeden Tag freue ich mich darüber, am Leben zu sein, und ich habe enormen Respekt vor der Macht des Gebets. Ich glaube, dass die Gebetsketten mein Leben gerettet haben. Tausende von Menschen, die ich nicht einmal kannte, bombardierten den Himmel mit kraftvollen Gebeten für mich, und gegen jede medizinische Wahrscheinlichkeit überlebte ich. Ich überlebte nicht nur gerade so, ich überstand diese Sache als ein völlig intaktes, normales menschliches Wesen. Nicht einmal eine Hautverpflanzung musste vorgenommen werden. Und während andere Menschen, die einmal Erfrierungen erlitten haben, auch danach noch anfällig für Kälte bleiben, habe ich damit keine Probleme. Wie es ein Gemeindemitarbeiter sagte, als wir im Krankenhaus über die Gebetskette sprachen: Uns als Gottes Kindern ist es aufgetragen worden, „ohne Unterlass zu beten“ (1. Thess. 5,17). Und ich bin überzeugt, dass genau dies mein Wunder ausgelöst hat – all diese Menschen, die ohne Unterlass für mich gebetet haben.
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Stark genug, um zu weinen Marion Bond West Februar 2002
M
eine Heimatstadt Elberton, Georgia, lag für meinen Mann Gene und mich nur eine Stunde von unserem Wohnort entfernt, aber heute kam es mir wie Lichtjahre vor. Meine Mutter war drei Wochen zuvor gestorben. Gene und ich mussten noch einige Dinge bei der Bank regeln, für die sie 38 Jahre lang gearbeitet hatte. Als wir uns Elberton näherten, spürte ich, wie die Trauer sich wie eine schwere Last auf mich legte. Doch ich schüttelte sie ab. Wir fuhren in die Stadt hinein und umkreisten den ordentlich gepflegten Marktplatz, auf dem Ringelblumen und Zinnien prachtvoll in der Sommerhitze blühten. Gene beugte sich zu mir und nahm meine Hand, aber ich sah nur starr geradeaus wie eine Schaufensterpuppe. Er sah mich an. „Schatz, ist es dafür vielleicht noch zu früh?“, fragte er. „Natürlich nicht“, sagte ich. „Ich krieg das schon hin.“ Schließlich hatte meine Mutter ein langes und glückliches Leben gehabt. Sie war 92 Jahre alt geworden, war die meiste Zeit ihres Lebens gesund gewesen und hatte eine liebevolle Familie und gute Freunde besessen. Meine Vernunft sagte mir, dass sie und ich sehr viel Glück gehabt hatten und dass der Tod ein natürlicher Teil des Lebens ist. Und weil ich so vernünftig war, hatte ich kein einziges Mal geweint – nicht während ihrer langen Krankheit und der Zeit in der Klinik, nicht einmal bei der Beerdigung oder auf dem Friedhof. Ich sah keinen Sinn darin, mich so gehen zu lassen. Mutter hätte gewollt, dass ich mich zusammenreiße. „Bist du so weit, dass wir zur Bank gehen können?“, fragte Gene. „Klar, dafür sind wir ja hergekommen.“ Wir gingen auf das schicke neue Bankgebäude zu, in dem meine Mutter bis zu ihrer Pensionierung 1974 stell• 137 •
vertretende Vize-Präsidentin gewesen war. Das Backsteingebäude, das ursprünglich als Bank diente, stand immer noch auf der Nordseite des Platzes. Jetzt befand sich dort das Büro der Lokalzeitung. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, wenn ich das alte Gebäude sah; es war der Ort, an dem meine Mutter damals arbeitete. Mein Vater war 1938 überraschend an einer Rachenentzündung gestorben – kurz bevor Penicillin in Umlauf kam. Meine Mutter musste seitdem alleine für uns sorgen; sie war damals 29, ich kaum zwei Jahre alt. Als sie bei der Bank anfing, gab es gerade mal drei Angestellte: den Präsidenten, den Vize-Präsidenten und meine Mutter, die für alles Mögliche zuständig war; sie fegte den Boden und polierte die Spucknäpfe. Damals dachte ich mir nichts dabei, wenn meine Mutter anderthalb Meilen zur Arbeit und den gleichen Weg wieder zurückgehen musste, im glühend heißen Sommer genauso wie im Winter. Ich dachte, dass alle Mütter so sparsam waren, dass sie mit einer Stecknadel den letzten Rest Lippenstift herauskratzten. Sie war groß, schlank und schön. Ich liebte es, an ihrer Seite gesehen zu werden. Sie trug ihr dichtes schwarzes Haar zurückgekämmt, was ihren Clara-Bow-Mund betonte und ihre Grübchen hervorhob. Sie trug elegante Maßkleidung aus zweiter Hand, die ihr meine Tante aus New York schickte, und benutzte als Parfüm White Shoulders, immer nur einen Tupfer, sodass die Flasche nie leer wurde. Bevor ich in die Schule kam, blieb ich bei der Nachbarin nebenan, wenn Mutter arbeitete. Wenn mir danach war, nahm ich den Hörer des großen schwarzen Telefons ab und sagte der Vermittlung: „Nummer sieben, bitte.“ „Granite City Bank, Jewette Bond am Apparat“, meldete sich dann meine Mutter. Diese Worte begeisterten mich jedes Mal. „Hallo, Mama“, sagte ich dann. „Mannie!“, rief sie. „Wie geht’s meinem Mädchen?“ Als Gene und ich nun an dem alten Bankgebäude vorbeifuhren, schaute ich das kleine Fenster im Erdgeschoss an, • 138 •
hinter dem ihr Büro lag. Wenn meine Freunde und ich nach der Schule noch zum Tante-Emma-Laden gingen, um uns eine Cola zu kaufen, dann linsten wir oft durch das Fenster und kratzten an der Scheibe. Meine Mutter blickte dann von ihrer Schreibmaschine auf, hüpfte von ihrem Drehstuhl und öffnete die schwere Glastür, um mich zu umarmen. „Wie war dein Tag, Mannie?“ Am Mittwochnachmittag hatte Mutter stets frei, das war mein Lieblingstag in der Woche. Am lebhaftesten sind mir die drückend heißen Sommer in Erinnerung, wenn sich kein Lüftchen in unserer Küche regte. Mutter und ich gingen dann zu dem alten Wagen eines Farmers, an dem Wassermelonen verkauft wurden, und klopften so lange die Früchte ab, bis wir genau die richtige gefunden hatten. Zu Hause trug Mutter kurze blaue Hosen und ging barfuß, genau wie ich. Sie legte eine alte Zeitung auf den Küchentisch, anschließend die Melone darauf und schnitt sie auf. Das machte immer ein ganz bestimmtes Geräusch, und ich stellte mich dann auf die Zehenspitzen, um den ersten Blick auf das rote Innere der Melone zu erhaschen. Wir hatten uns eine gute ausgesucht! Dann setzten wir uns mit den dicken Scheiben auf die Stufen zum Hinterhof, versenkten unsere Gesichter in das Fruchtfleisch, lachten und spuckten die Kerne aus, während uns der Fruchtsaft die Arme hinabrann. Ich konnte beinahe diesen süßen Geschmack auf der Zunge spüren, wenn ich an diese Zeit zurückdachte. Gene und ich fuhren jetzt zu der eindrucksvollen neuen Granite City Bank – inzwischen hieß sie Regions Bank –, die ein Stück weit vom Marktplatz entfernt lag. Seit ich mich erinnern kann, hatte Mutter ein Schließfach in der Bank, und das war eines der Dinge, die sie in den Monaten vor ihrem Tod erwähnte. „Denk an das Schließfach, Mannie“, sagte sie. „Werde ich, Mutter“, gab ich zurück und cremte ihr die zerbrechlichen Hände ein. Dieselben Hände, die einst so stark gewesen waren, die mich gehalten hatten, wenn ich • 139 •
mir wehgetan hatte, die stundenlang in der Bank auf der Schreibmaschine getippt hatten und die am Ende des Tages immer zum Gebet gefaltet waren. Wir fanden einen Parkplatz, dann gingen Gene und ich in das Gebäude. Die Klimaanlage verströmte eine fast eisige Luft, aber wir wurden von den Angestellten freundlich begrüßt; viele von ihnen hatten meine Mutter gekannt. Ich holte tief Luft und rang mir ein Lächeln ab. Es wäre zu peinlich, jetzt vor ihnen zu weinen, dachte ich. Eine der Kassiererinnen führte uns in den Raum mit den Schließfächern. Sie gab mir einen großen Briefumschlag. „Hier können Sie alles reinfüllen“, sagte sie. Gene half mir, das Schließfach zu öffnen. Ich leerte es komplett in den großen Umschlag – ein Haufen alter Sparbücher, zerknitterte Blätter, alte Münzen und eine kleine Dose, in der Schmuck klapperte. Ich spürte, wie sich mir die Kehle zusammenzog. „Willst du dir das nicht genauer anschauen?“, fragte Gene. „Später“, sagte ich. Als wir wieder in den Wagen einstiegen, sackte ich vor Erleichterung in den Sitz. Zum Glück war ich nicht in Tränen ausgebrochen oder sonst wie zu emotional geworden. Gene fuhr los. Ich griff in den Umschlag und zog einen Brief heraus, der auf Luftpostpapier geschrieben war, das schon ganz vergilbt aussah. Ich erkannte, dass er auf Mutters alter Schreibmaschine getippt worden war. Ich faltete ihn auf und sah ganz oben das Datum: 27. Juni 1938. Der Brief war unmittelbar nach dem Tod meines Vaters entstanden. „Mein kostbares Baby“, waren die ersten Worte. Ich hielt den Atem an, während ich weiterlas. „Mannie, du warst ein Kind, das sich deine Mutter und dein Vater sehnlich gewünscht haben.“ Nach Meinung meiner Mutter hatte nie „eine treuere Seele“ gelebt als mein Vater. Sie fuhr damit fort zu schildern, wie glücklich sie zusammen gewesen waren, weil sie sich einfach vollkommen verstanden. Mit heftig zuckenden Augenlidern las ich weiter. „Mama wünscht dir ein glückliches Leben. Ich hoffe und bete, dass • 140 •
dir gute Dinge begegnen. Möge Gott über dir wachen und dich stets bewahren. Für mich bist du das Kostbarste und Liebste, das es hier auf Erden gibt. Mit all meiner Liebe, deine Mutter.“ Ich hielt die vergilbten Seiten in der Hand und war überwältigt von meinen Gefühlen. Meine Mutter hatte gewollt, dass ich nach ihrem Tod diesen Brief las. „Hast du Hunger?“, fragte Gene. Ohne eine Antwort abzuwarten, bog er auf den Parkplatz eines Fast-Food-Restaurants ab. Gleich am Eingang stand dort ein alter Truck, dessen Ladefläche mit Wassermelonen beladen war, genau wie damals die Trucks in meiner Kindheit. „Gene! Wassermelonen! Lass uns eine große besorgen!“ Gene dachte nur noch ans Mittagessen. „Jetzt nicht, Liebling“, sagte er. „Die könnte brechen und eine Sauerei verursachen.“ Er stieg aus und ging auf das Restaurant zu. Einen Moment lang blieb ich apathisch sitzen. Vielleicht sollte ich einfach in dieser schrecklichen Hitze sitzen bleiben und langsam wie Butter zerfließen? Herr, was ist nur los mit mir? „Marion?“ Das war Gene, der vom Eingang aus nach mir rief. Er wirkte leicht irritiert. Atme, sagte ich mir. Beweg dich. Ich stopfte den Brief zurück in den Umschlag, stieg wie in Trance aus dem Wagen aus, ging hinein und setzte mich an einen Tisch. Gene wollte das Essenholen übernehmen. „Was willst du denn, Liebling?“ „Nichts“, murmelte ich. Gene kam mit einem Hamburger und Pommes frites zurück. Ich saß da und versuchte verzweifelt, meine Emotionen in den Griff zu kriegen. O Herr, welche erwachsene Frau bricht mitten in einem McDonald’s in Tränen aus? Hilf mir, mich zusammenzureißen! Ich legte den Kopf zurück, als könnte ich so die Tränen aufhalten, und kämpfte um Beherrschung. Aber ich verlor den Kampf. Während die Leute in unserer Nähe dezent wegschauten, brach ich zusammen. Ich legte die Hände vors Gesicht und begann heftig zu weinen. Die Tränen kamen tief aus meinem Inneren, von dem Ort, wo die Wurzel meiner Liebe • 141 •
zu Mutter lag. So eine ähnlich schmerzliche Trauer musste sie gefühlt haben, als mein Vater starb. Sie war für mich so stark gewesen. Und doch hatte meine Tante Liz mir erzählt, wie Mama nach der Beerdigung meines Vaters geweint hatte. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich die Hände wieder vom Gesicht nahm. Gene hielt mir ein Taschentuch hin. „Ist schon okay, Marion“, sagte er. „Brauchst du irgendwas?“ „Ja“, sagte ich und nannte es ihm. Sofort stand Gene auf und ging nach draußen. Durchs Fenster sah ich, wie er dem Mann am Wassermelonen-Wagen Geld gab und dann unseren Kofferraum öffnete, um die Frucht dort zu verstauen. „Leg sie nach vorne zu mir!“, rief ich, sprang vom Tisch auf und lief nach draußen zum Wagen. Ich schlüpfte aus den Sandalen und stellte meine nackten Füße auf die kühle Wassermelone. Ich wusste, dass die Trauer und der Schmerz in meinem Herzen niemals ganz verschwinden würden. Aber warum sollten sie das auch? Je mehr man liebt, desto mehr schmerzt der Verlust. Aber als wir zum letzten Mal an dem alten Bankgebäude vorbeifuhren, regten sich neue Gefühle in mir – Frieden, Annahme, Verständnis. Mutter war fort, aber Gott würde mir helfen, das durchzustehen. Und wenn ich die Trauer doch noch einmal abwaschen musste, konnte ich weinen. Ja, die Liebe macht einen Verlust schlimmer. Aber sie macht uns auch stark – stark genug, um zu weinen.
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