Monika Dockter
Im Schatten des Schwarzen R채chers
Über die Autorin Monika Dockter, Autorin der „Amy“- Serie, ist Mutter von vier Kindern und lebt mit ihrem Mann in Bayern. Schon als Kind liebte die Schriftstellerin Abenteuer-Romane. Heute liest sie gern Kindern vor, während ihr Mann Kunststücke mit Luftballons vorführt. Weitere Informationen unter: www.monikadockter.de.
Inhalt
Kapitel 1: Ein unerwartetes Geschenk . . . . . . .
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Kapitel 2: Bittere Wahrheit . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 3: Ungewiss in die Zukunft . . . . . . . .
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Kapitel 4: Karl, der Kesselflicker . . . . . . . . . .
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Kapitel 5: Besuch in finsterer Nacht . . . . . . . .
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Kapitel 6: Die Tochter des Tuchhändlers . . . . . .
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Kapitel 7: Der Dieb, der eigentlich keiner war . . .
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Kapitel 8: Im Kerker . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 9: Das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 10: Die Höhle . . . . . . . . . . . . . . .
104
Kapitel 11: Meister der Verwandlung . . . . . . . .
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Kapitel 12: In den Fängen des Fuchses . . . . . .
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Kapitel 13: Maurizios riskante Aufgabe . . . . . . .
143
Kapitel 14: Der Schatten wird lebendig . . . . . . .
157
Kapitel 15: Lenis Idee . . . . . . . . . . . . . . . .
171
Kapitel 16: Spione unterwegs . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 17: Reiter in der Nacht . . . . . . . . . . .
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Kapitel 18: Durchkreuzte Pläne . . . . . . . . . . .
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Kapitel 19: Zukunft und Hoffnung . . . . . . . . . .
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Kapitel 1:
Ein unerwartetes Geschenk
Bäng – bäng – bäng . . . Laut und aufdringlich hallten die Hammerschläge aus der offen stehenden Tür der Schmiede und durchbrachen die mittägliche Stille des schwäbischen Dorfes. Doch niemand schien sich an dem Lärm zu stören. Einzig ein Huhn, das in dem staubtrockenen Boden am Straßenrand nach Würmern scharrte, gackerte gewissermaßen im Takt mit den Schlägen. Im Innern der Schmiede, unmittelbar vor der offenen Feuerstelle, befand sich ein junger, breitschultriger Mann, der eine dicke Lederschürze trug: Wilhelm Kleiner, der Schmiedemeister. Auf seiner Stirn und den entblößten, muskulösen Oberarmen standen vereinzelte Schweißperlen, während der schwere Hammer in seiner Hand so regelmäßig wie ein Uhrwerk auf das glühende Metallstück in der Mitte des Amboss’ niedersauste. So etwas wie Müdigkeit schien der stämmigen Gestalt des Schmiedes fremd zu sein. Als das Werkstück allmählich die Form eines Axtblattes erkennen ließ, nickte er zufrieden. Er machte zwei 7
Schritte nach rechts und hielt die eiserne Schmiedezange samt Axtblatt* zum Abkühlen in einen Eimer kalten Wassers. Das Wasser brodelte und zischte auf. Der Meister sah sich suchend um. Von Hannes, dem Lehrling, der eigentlich den Blasebalg unter der Feuerstelle treten und seinem Meister zur Hand gehen sollte, war weit und breit nichts zu sehen. Meister Wilhelms gerötetes Gesicht verzog sich unwillig. „Hannes!“, brüllte er in Richtung der Türe, die zur angrenzenden Wohnung führte, und noch einmal: „Hannes! Wo zum Donnerwetter noch mal steckst du denn schon wieder?! Ich brauch dich . . .“ Noch ehe er seinen Satz beendet hatte, stand der Gesuchte vor ihm. Allerdings war er nicht – wie erwartet – durch die Wohnungstür gekommen, sondern durch das Tor der Werkstatt, das sich unmittelbar zu der steinigen Hauptstraße des Dorfes hin öffnete. Der dunkelblonde Haarschopf des Jungen, der vierzehn bis fünfzehn Jahre zählen mochte, stand in alle Himmelsrichtungen. Seine Augen blitzten erregt, während er, ohne auf die Worte seines Lehrherrn zu achten, keuchend hervorstieß: „Sie kommen, Meister, sie kommen!“ „Wer kommt?“, fragte der unwirsch zurück, nachdem er Hannes vorsorglich am Arm ergriffen hatte, um ihn nicht wieder entwischen zu lassen. * Axtblatt: das scharfe, eiserne Vorderteil, das am Stiel der Axt befestigt ist
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„Na, sie!“ Hannes war es schier unbegreiflich, dass irgendein Dorfbewohner nicht wissen konnte, von wem hier die Rede war. „Der Oberamtmann und seine Leute mit der ganzen Bande des Schwarzen Rächers! Sie haben die Räuberbande wirklich gefasst! Jetzt sind sie auf dem Weg zum Gericht – ganze Wagen voller Räuber, bewacht von schwer bewaffneten Soldaten!“ „So, so“, murmelte Wilhelm Kleiner. Er erinnerte sich: Vor einigen Wochen war Oberamtmann Schäffer mit einem ganzen Trupp herzöglicher Soldaten durch ihr Dorf gezogen. Jedem, der es wissen wollte (und auch manchem, der das nicht wollte), verkündete er: „Wir sind dem Schwarzen Rächer auf der Spur, ich und meine Soldaten! Nicht mehr lange, und wir haben den ruchlosen Räuber gefangen!“ Wilhelm hatte damals nicht recht an den Erfolg dieses Unternehmens glauben wollen. Immerhin war der sogenannte „Schwarze Rächer“ ein gefürchteter Räuberhauptmann, der seit etwa drei Jahren sein Unwesen trieb, und zwar von Bayern über Schwaben bis ins Schweizerische hinein. Seinen bürgerlichen Namen, Rupert Mayerhofer, kannte kaum mehr jemand. Aufgrund der Tatsache, dass Rupert selbst sich nicht als Räuber, sondern als Rächer der Armen und Unterdrückten bezeichnete und stets eine schwarze Maske trug, hatte das einfache Volk ihn längst zum „Schwarzen Rächer“ ernannt. Diesen Namen sprachen seine Mitmenschen stets mit einer Mischung aus Bewunderung und leichtem Schaudern aus. Mindestens 9
ebenso bekannt wie dieser Titel war auch sein Wagemut. Mit List und Tücke überfiel er reisende Kaufleute und beraubte jeden, der einen halbwegs gefüllten Geldbeutel bei sich trug. Bislang war es noch keinem Menschen gelungen, den raffinierten Gauner zu fassen. „Schäffer hat die Bande tatsächlich erwischt?“, fragte er deshalb noch einmal zweifelnd. Hannes nickte eifrig. „In der Schweiz, soviel ich gehört habe! Und der Rückweg führt sie nun wieder durch unser Dorf !“, fügte er hinzu und zappelte unter dem festen Griff seines Meisters. Er wünschte sich sehnlichst, wieder ins Freie zu gelangen. Um nichts auf der Welt wollte er verpassen, wie die berühmt-berüchtigten, gefangenen Räuber ins Dorf einfuhren! „Wollt Ihr nicht auch den Schwarzen Rächer sehen, Meister? Der Wagenzug wird sicherlich gleich hier vorüberkommen, und das ganze Dorf ist bereits auf den Beinen!“ Hannes’ schlaue Bemerkung brachte den jungen Schmied in der Tat dazu, seinen Griff zu lockern und ihn laufen zu lassen. Wie der Blitz stob der Junge hinaus auf die Straße, während Wilhelm aus dem schweren Lederschurz schlüpfte, stattdessen sein Wams* überzog und ihm langsamer folgte. Hannes hatte nicht übertrieben, wie der Meister sogleich feststellte: Von der Ruhe, die noch vor wenigen Minuten auf der Dorfstraße geherrscht hatte, war nichts mehr zu * Wams: ärmellose Weste
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spüren. Offenbar hatte sich alles, was irgend laufen konnte, am Straßenrand versammelt, um die seltene Prozession vorüberziehen zu sehen. Sogar Theresa, seine Frau, befand sich unter den Schaulustigen. Sie winkte ihm fröhlich zu, als sie ihn erblickte. Wilhelm nickte kaum merklich zurück. Er hielt nichts davon, seine Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen – was für die Gefühle zwischen Mann und Frau ganz besonders galt. Doch insgeheim war er recht stolz auf die achtzehn Jahre junge Frau, die er seit wenigen Monaten seine Gattin nannte. Mit ihrem vollem blonden Haar, den wohlgerundeten, roten Wangen und den fröhlichen blauen Augen strotzte sie geradezu vor Lebenslust und Gesundheit. Sicherlich würde sie ihm in absehbarer Zeit ein paar stramme, tüchtige Söhne schenken. Damit wäre die Zukunft der Schmiede, die sein eigener Vater aufgebaut hatte, gesichert und er durfte unbesorgt . . . An dieser Stelle unterbrach ein hörbares Raunen seine Gedanken. Einige Dorfjungen, die am Eingang des Dorfes Ausschau gehalten hatten, stürmten mit aufgeregten Rufen die Straße entlang, gleich darauf folgte das Rumpeln der angekündigten Wagen. Auf dem ersten Fuhrwerk thronte der Oberamtmann. Er trug eine ernste und – zumindest für seine Begriffe – äußerst bedeutsame, amtliche Miene zur Schau. Ganz offensichtlich sonnte er sich in der Aufmerksamkeit der versammelten Menschenmenge. Leider kam er nicht allzu 11
lange in diesen Genuss. Denn dicht hinter seiner Kutsche folgte ein Trupp Soldaten, die bis an die Zähne bewaffnet waren. In ihrer Mitte befand sich ein einfacher Ochsenkarren mit den Verbrechern. Sofort richteten sich die Augen aller Zuschauer auf den Karren. Starke Fesseln wickelten sich um Hände und Füße der Räuber, sodass sie aussahen wie ein sorgsam verschnürtes Postpaket. Einer von ihnen, ein hochgewachsener junger Mann, trug eine Gesichtsmaske. Zwei dunkle, zornige Augen blitzten durch die dafür vorgesehenen Löcher, die Lippen waren fest zusammengekniffen. Die Dorfbewohner stießen einander verstohlen an. „Seht nur, das muss er sein. Das ist der Schwarze Rächer – so jung und schon solch ein Verbrecher!“, murmelte einer, doch der vorlaute Hannes schnaubte beinahe verächtlich: „So hätte ich mir einen gefürchteten Räuberhauptmann aber nicht vorgestellt. Der sieht ja erbärmlich aus – allesamt sehen die ziemlich erbärmlich aus!“ Damit hatte er nicht ganz Unrecht. Die Räuber boten – trotz ihres verwegenen Gesichtsausdrucks – in der Tat eher einen bemitleidenswerten als einen gefährlichen Anblick: Ihre Kleider waren schmutzig und zerlumpt, die Haare verfilzt und die Gesichter bärtig und sichtbar ausgemergelt. Scheinbar hatte man sie seit ihrer Gefangennahme nicht gerade pfleglich behandelt, und auch zu essen konnten sie nicht allzu viel bekommen haben. Einige Zuschauer stießen Beschimpfungen und wüste Schmähungen gegen die Gefangenen aus. Meister Wil12
helms Gesicht dagegen zeigte eine Spur von Mitgefühl für sie. Nach dem zweiten, mit ehemaligen Räubern voll bepackten Wagen folgte noch ein letztes Fuhrwerk, das wie die beiden vorigen von Soldaten bewacht wurde. Es war mit langen hölzernen Bänken ausgestattet, auf denen sich etwa zehn Frauen und etliche Kinder zusammendrängten. Auch sie waren Gefangene, die Frauen und Kinder der Räuberbande des Schwarzen Rächers*. Die meisten Frauen hielten, genau wie die Räuber selbst, ihre Gesichter stolz und starr geradeaus gerichtet, ohne die Schaulustigen eines Blickes zu würdigen. Doch eine unter ihnen spähte suchend um sich. Blond und blauäugig war sie, beinahe wie die Frau des Schmiedemeisters. Prüfend musterte sie die Gesichter der Umstehenden, während die Fuhrwerke holpernd durch die Gasse rollten, welche die Dorfbewohner bildeten. An einer bestimmten Stelle blieb ihr Blick schließlich hängen. Langsam und unauffällig, um keine der Wachen auf sich aufmerksam zu machen, beugte sie sich über den Rand des Wagens, bis sie die Dorfleute beinahe berühren konnte. In ihren Armen hielt sie ein Bündel Decken, lose mit einem schmalen Stoffstreifen umwickelt. Sobald das Fuhrwerk die Stelle erreichte, auf die ihre Augen immer noch gerichtet waren, reckte sie blitzschnell ihre Arme, um das Bündel einer Zuschauerin in die Arme zu drücken. * Unter den Räuberbanden, die damals oft als feste Gemeinschaften im Wald oder auf einsamen alten Gehöften lebten, fanden sich fast immer auch Frauen, manchmal sogar deren Kinder.
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„Ich schenke ihn Euch, junge Frau. Bitte sorgt für ihn – so gut, als wäre er Euer Eigen!“, raunte sie mit flehender Stimme. Im selben Augenblick stieß einer der Bewaffneten einen Warnruf aus, ein anderer Soldat versetzte der Gefangenen einen Stoß mit der stumpfen Seite seines Schwertes, sodass sie äußerst unsanft auf ihren Platz im Wagen zurückfiel, und der ganze Zug beschleunigte sein Tempo. Minuten später war alles vorüber. Die Staubwolke, die der Aufmarsch der Soldaten hinterlassen hatte, legte sich und die Dorfbewohner begaben sich schwatzend zurück an ihre alltäglichen Pflichten. Allein Theresa Kleiner blieb am Wegesrand zurück. In ihren Händen, die sich der Verbrecherin fast wie von selbst entgegengestreckt hatten, lag deren ungewöhnliches „Geschenk“. Die übrigen Frauen des Dorfes hatten dem schmuddeligen Deckenbündel kaum Beachtung geschenkt. Eine unter ihnen hatte Theresa empfohlen, den wertlosen Plunder gleich auf den Misthaufen zu werfen, doch noch zögerte sie. Das Bündel war weich und warm, außerdem bewegte es sich. Schließlich löste sie entschlossen die Bänder, schlug die verschmutzte obere Deckenschicht zurück, dann eine zweite, die aus kostbarem, grün und golden gemusterten Brokatstoff bestand – und im selben Augenblick stockte ihr vor Verwunderung der Atem. Sie blickte direkt in ein Paar große blaue Augen. In die Augen eines rundlichen Säuglings mit dichtem, dunklem 14
Haar und samtweicher Haut: Das Geschenk, das Theresa an diesem denkwürdigen Tag im Sommer 1778 von der Räuberbraut erhielt, war nichts anderes als deren kleiner Sohn!*
* Diese Geschichte basiert auf einer historischen Überlieferung (Quelle: Edle Räuber, große Gauner von Ludwig Barring, 1973): Im Jahr 1786 nahm ein württembergischer Amtmann namens Schäffer einen berüchtigten Räuberhauptmann gefangen. Der Zug der Gefangenen durchquerte etliche schwäbische Ortschaften und in einer davon verschenkte eine der mitgefangenen „Räuberbräute“ ihr Kind an eine Zuschauerin.
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Kapitel 2:
Bittere Wahrheit
11 Jahre später Sehnsüchtig blickte Moritz durchs Werkstattfenster. Selbst durch die Spinnweben und den Schmutz hindurch, welche die Glasscheibe überzogen, erkannte er den strahlend blauen Himmel. Ein lauer, von den fernen Bergen herabwehender Westwind trieb vereinzelte, bauschige weiße Wolken vor sich her. Die Sonne sorgte dafür, dass es heute für einen Apriltag ungewöhnlich warm war. Wenn es nach ihm, Moritz, ginge, wäre er jetzt draußen im Freien und an der frischen Luft statt in der heißen, stickigen Schmiedewerkstatt. Aber Hannes, der Geselle, kannte keine Nachsicht mit derartigen Wünschen. Unbarmherzig trieb er Moritz zur Arbeit. „Stehst du schon wieder da und träumst zum Fenster hinaus, Bursche?!“, fuhr er ihn an. „Marsch, an deine Arbeit! Du solltest den Eimer schon längst mit frischem Wasser gefüllt haben – und sieh dir nur mal das Feuer in der Esse* an! * Esse: offene Feuerstelle in einer Schmiede
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Denkst du etwa, mit diesen paar Kohlen und einem solchen Flämmchen kann ich irgendetwas Vernünftiges schmieden? Wenn der Meister dich so faul hier herumstehen sähe, würde er dir schön das Fell über die Ohren ziehen!“ Schweigend legte der Junge die schwere eiserne Zange beiseite, die er untätig in den Händen gehalten hatte. Stattdessen griff er nach dem Henkel des Wassereimers und trottete zum Holzbach, der hinter der Schmiede leise vor sich hin plätscherte. Hannes’ Schelte war nichts Neues für Moritz. Sie schlüpfte zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Doch diesmal ärgerten die Worte des Gesellen ihn maßlos. Zu behaupten, der Meister hätte ihm das Fell über die Ohren gezogen, war schlicht und einfach unwahr! Meister Wilhelm Kleiner, sein Vater, hatte niemals eines seiner Kinder geschlagen! Wohl war er manchmal ungeduldig gewesen und hatte von seinen Söhnen verlangt, dass sie bei ihrer Mithilfe in der Schmiede stets ihr Bestes gaben. Aber die Prügel, die in anderen Familien durchaus üblich waren, hatte es bei ihm niemals gegeben. Außerdem hatte Moritz damals, als sein Vater noch das Sagen in der Werkstatt hatte, sogar Spaß an der Arbeit gefunden. Er war gerne von der Schule nach Hause gekommen, um mit Willi, seinem jüngeren Bruder, und dem Vater dafür zu sorgen, dass die Familie ihr Auskommen hatte. Oftmals hatten sie geredet, gescherzt und gelacht, während das Kohlenfeuer knisterte und das heiße Eisen im Wasser zischte . . . aber diese Zeiten waren für immer vorbei. 17
Vater und Willi waren nicht mehr da. Anfang des letzten Herbstes, als die Nächte frostig kalt wurden und feuchter Nebel über den Fluss und die Felder kroch, hatte Willi, genau wie sein Vater Wilhelm, begonnen zu keuchen, zu husten und schließlich zu fiebern. Kein Hausmittel und auch nicht der zuletzt herbeigerufene Arzt hatten das Fieber senken können. Der zehnjährige Willi starb zuerst, sein kräftiger, muskulöser Vater folgte ihm wenige Tage darauf. Theresa Kleiner, Moritz und drei jüngere Schwestern waren alleine zurückgeblieben. Hannes, der ehemalige Lehrling der Schmiede, führte das Geschäft weiter. Nichtsdestotrotz ging es ständig bergab. Meister Wilhelm fehlte an allen Ecken und Enden, und der Lohn, den die junge Witwe an den Gesellen zahlen musste, fraß die mageren Einkünfte mehr oder weniger auf. An manchen Tagen besaß die Familie eben noch einen Kreuzer – gerade genug Geld, um beim Bäcker Brot zu holen. Allein der Gedanke, einmal ein Stück Fleisch zu seiner wässrigen Linsensuppe zu bekommen, ließ Moritz den Speichel im Munde zusammenlaufen. Missmutig beugte er sich über den Bach, um seinen Eimer zu füllen. Das Gesicht, das sich in der ruhigen Wasseroberfläche spiegelte, erschien ihm seltsam fremd: Seine Wangen waren so mager, dass die Knochen hervorstachen. Die Augen, die genau wie sein kinnlanges Haar das satte Braun von herbstlich-reifen Haselnüssen besaßen, wirkten wie zwei große, dunkle Höhlen. 18
Er wusste, dass seine Mutter und die jüngeren Schwestern nicht besser aussahen als er – von dem jüngsten Bruder, der einige Wochen nach dem Tod des Vaters geboren war, ganz zu schweigen. Der Körper des Kleinen bestand praktisch nur aus Haut und Knochen. Moritz seufzte abgrundtief. Wenn er doch nur irgendetwas tun könnte, um sich selbst und seiner Familie aus dieser Armut herauszuhelfen! Mit seinen (fast) zwölf Jahren war er schließlich der Mann im Hause, der für seine Familie zu sorgen hatte. Für einen kurzen Augenblick streifte ihn der Gedanke, den ewig scheltenden Hannes, dessen Mundwerk stets größer und gewichtiger war als sein Fleiß bei der Arbeit, einfach zu entlassen und die Schmiede selbst weiterzuführen. Aber er verwarf ihn sofort wieder. Dafür verstand er noch viel zu wenig vom Handwerk – ganz abgesehen davon, dass so etwas gar nicht erlaubt war . . . „Moritz !“, ertönte da die nörgelnde Stimme, an die er soeben gedacht hatte. Diesmal klang sie deutlich gereizter als noch wenige Minuten zuvor. „Herrschaft noch mal, wo bleibt denn jetzt mein Wasser!?“ Mit einem abermaligen Seufzen rappelte Moritz sich auf und lief hastig zurück zur Werkstatt. Da er Hannes nicht noch mehr zum Zorn reizen wollte, als er es ohnehin schon getan hatte, richtete er seine Sinne für den Rest des Tages auf seine Tätigkeit an der Esse und am Amboss. Nachts jedoch, als er alleine auf der unebenen Strohmatratze lag, die er früher mit Willi geteilt hatte, ließen sein nagender Hunger und die sorgenvollen Gedanken ihn 19